C-101/22 P – Kommission/ Sopra Steria Benelux und Unisys Belgium

C-101/22 P – Kommission/ Sopra Steria Benelux und Unisys Belgium

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2023:396

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

11. Mai 2023(*)

„Rechtsmittel – Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Art. 169 – Rechtsmittel, das gegen die Entscheidungsformel der Entscheidung des Gerichts gerichtet ist – Öffentliche Dienstleistungsaufträge – Ausschreibungsverfahren – Verordnung (EU, Euratom) 2018/1046 – Art. 170 Abs. 3 – Anhang I Nr. 23 – Abgelehnter Bieter, der der Europäischen Kommission Hinweise darauf übermittelt, dass das ausgewählte Angebot ungewöhnlich niedrig ist – Umfang der Begründungspflicht des öffentlichen Auftraggebers“

In der Rechtssache C‑101/22 P

betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 10. Februar 2022,

Europäische Kommission, vertreten durch L. André, M. Ilkova und O. Verheecke als Bevollmächtigte,

Rechtsmittelführerin,

andere Parteien des Verfahrens:

Sopra Steria Benelux mit Sitz in Brüssel (Belgien),

Unisys Belgium mit Sitz in Brüssel,

vertreten durch Rechtsanwälte L. Masson und G. Tilman,

Klägerinnen im ersten Rechtszug,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Safjan sowie der Richter N. Piçarra und M. Gavalec (Berichterstatter),

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Mit ihrem Rechtsmittel begehrt die Europäische Kommission die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 1. Dezember 2021, Sopra Steria Benelux und Unisys Belgium/Kommission (T‑546/20, im Folgenden: angefochtenes Urteil, EU:T:2021:846), mit dem das Gericht ihre Entscheidung vom 2. Juli 2020 zum einen über die Ablehnung des von Sopra Steria Benelux und Unisys Belgium (im Folgenden: S2U-Unternehmen) im Rahmen des Ausschreibungsverfahrens TAXUD/2019/OP/0006 abgegebenen gemeinsamen Angebots für das Los A betreffend Dienstleistungen in den Bereichen Spezifikation, Entwicklung, Wartung und 3.‑Ebene-Unterstützung von IT‑Plattformen der Generaldirektion „Steuern und Zollunion“ sowie zum anderen über die Vergabe des Auftrags betreffend dieses Los an das andere Konsortium, das ein Angebot abgegeben hatte (im Folgenden: streitige Entscheidung), für nichtig erklärt hat.

 Rechtlicher Rahmen

 Verfahrensordnung des Gerichtshofs

2        Art. 169 (Rechtsmittelanträge, ‑gründe und ‑argumente) der Verfahrensordnung lautet:

„(1)      Die Rechtsmittelanträge müssen auf die vollständige oder teilweise Aufhebung der Entscheidung des Gerichts in der Gestalt der Entscheidungsformel gerichtet sein.

(2)      Die geltend gemachten Rechtsgründe und ‑argumente müssen die beanstandeten Punkte der Begründung der Entscheidung des Gerichts genau bezeichnen.“

3        Art. 170 der Verfahrensordnung („Anträge für den Fall der Stattgabe des Rechtsmittels“) bestimmt in Abs. 1:

„Die Rechtsmittelanträge müssen für den Fall, dass das Rechtsmittel für begründet erklärt werden sollte, darauf gerichtet sein, dass den erstinstanzlichen Anträgen vollständig oder teilweise stattgegeben wird; neue Anträge sind nicht zulässig. Das Rechtsmittel kann den vor dem Gericht verhandelten Streitgegenstand nicht verändern.“

 Haushaltsordnung

4        Die Verordnung (EU, Euratom) 2018/1046 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juli 2018 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union, zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 1296/2013, (EU) Nr. 1301/2013, (EU) Nr. 1303/2013, (EU) Nr. 1304/2013, (EU) Nr. 1309/2013, (EU) Nr. 1316/2013, (EU) Nr. 223/2014, (EU) Nr. 283/2014 und des Beschlusses Nr. 541/2014/EU sowie zur Aufhebung der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 966/2012 (ABl. 2018, L 193, S. 1) (im Folgenden: Haushaltsordnung) bestimmt in Art. 161 („Anhang zur Auftragsvergabe und zur Befugnisübertragung“):

„Ausführliche Vorschriften zur Auftragsvergabe sind in Anhang I dieser Verordnung geregelt. Um dafür zu sorgen, dass die Unionsorgane bei der Vergabe von Verträgen auf eigene Rechnung die gleichen Standards anwenden, denen die von den Richtlinien 2014/23/EU [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die Konzessionsvergabe (ABl. 2014, L 94, S. 1)] und 2014/24/EU [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG (ABl. 2014, L 94, S. 65)] erfassten öffentlichen Auftraggeber unterliegen, ist die Kommission befugt, gemäß Artikel 269 dieser Verordnung delegierte Rechtsakte zu erlassen, um Anhang I dieser Verordnung mit dem Ziel zu ändern, diesen Anhang an die Änderungen jener Richtlinien anzupassen und die damit verbundenen technischen Anpassungen vorzunehmen.“

5        Art. 170 („Vergabeentscheidung und Unterrichtung der Bewerber oder Bieter“) Abs. 2 und 3 der Haushaltsordnung sieht vor:

„(2)      Der öffentliche Auftraggeber unterrichtet alle Bewerber oder Bieter, deren Teilnahmeantrag oder Angebot abgelehnt wurde, über die Gründe für die Ablehnung und die Dauer der in Artikel 175 Absatz 2 und Artikel 178 Absatz 1 genannten Stillhaltefristen.

(3)      Der öffentliche Auftraggeber unterrichtet auf schriftlichen Antrag jeden Bewerber, für den keine der in Artikel 136 Absatz 1 genannte Ausschlusssituation vorliegt und dessen Angebot den Auftragsunterlagen entspricht, über folgende Aspekte:

a)      den Namen des Bieters bzw. die Namen der Bieter, wenn es sich um einen Rahmenvertrag handelt, dem bzw. denen der Zuschlag für den Vertrag erteilt wurde, sowie – außer im Fall eines Einzelvertrags innerhalb eines Rahmenvertrags mit erneutem Aufruf zum Wettbewerb – die Merkmale und relativen Vorteile des erfolgreichen Angebots, den Preis bzw. den Vertragswert;

Er kann jedoch beschließen, bestimmte Angaben nicht mitzuteilen, wenn die Offenlegung dieser Angaben den Gesetzesvollzug behindern, dem öffentlichen Interesse zuwiderlaufen, den berechtigten geschäftlichen Interessen von Wirtschaftsteilnehmern schaden oder den lauteren Wettbewerb zwischen den Wirtschaftsteilnehmern verfälschen würde.“

6        In Anhang I Nr. 23 („Ungewöhnlich niedrige Angebote“) der Haushaltsordnung heißt es:

„23.1.      Scheinen die bei einem bestimmten Vertrag im Angebot vorgeschlagenen Preise oder Kosten ungewöhnlich niedrig zu sein, so verlangt der öffentliche Auftraggeber schriftlich Aufklärung über die wesentlichen Bestandteile der Preise oder Kosten, die er für relevant hält, und gibt dem Bieter Gelegenheit zur Stellungnahme.

Der öffentliche Auftraggeber kann insbesondere Stellungnahmen berücksichtigen, die Folgendes betreffen:

a)      die Wirtschaftlichkeit des Herstellungsprozesses, der Leistungserbringung oder des Bauverfahrens;

b)      die gewählten technischen Lösungen oder außergewöhnlich günstige Bedingungen, die dem Bieter zur Verfügung stehen;

c)      die Originalität des Angebots;

d)      die Einhaltung der umwelt-, sozial- und arbeitsrechtlichen Verpflichtungen durch den Bieter;

e)      die Einhaltung der umwelt-, sozial- und arbeitsrechtlichen Verpflichtungen durch Unterauftragnehmer;

f)      die Möglichkeit für den Bieter, gemäß den geltenden Bestimmungen staatliche Beihilfen zu erhalten.

23.2.      Der öffentliche Auftraggeber lehnt das Angebot nur dann ab, wenn die beigebrachten Nachweise das niedrige Niveau des vorgeschlagenen Preises beziehungsweise der vorgeschlagenen Kosten nicht zufriedenstellend erklären.

Der öffentliche Auftraggeber lehnt das Angebot ab, wenn er feststellt, dass das Angebot ungewöhnlich niedrig ist, weil es den geltenden umwelt-, sozial- und arbeitsrechtlichen Verpflichtungen nicht genügt.

…“

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

7        Die Vorgeschichte des Rechtsstreits wird in den Rn. 1 bis 8 des angefochtenen Urteils folgendermaßen dargelegt:

„1      Am 6. Dezember 2019 veröffentlichte die Europäische Kommission in der Beilage zum Amtsblatt der Europäischen Union (ABl. 2019/S 236‑577462) eine Bekanntmachung über die Vergabe eines öffentlichen Auftrags mit der Referenznummer TAXUD/2019/OP/0006 für Dienstleistungen in den Bereichen Spezifikation, Entwicklung, Wartung und 3.‑Ebene-Unterstützung von IT‑Plattformen der Generaldirektion ‚Steuern und Zollunion‘ der Kommission. Dieser Auftrag bestand aus zwei Losen, nämlich Los A, ‚Evolution Services für die CCN/CSI-Plattform‘, und Los B, ‚Evolution Services für die CCN2(ng), SPEED2(ng), CDCO/TSOAP und SSV‑Plattformen‘, und sah als Zuschlagskriterium das beste Preis-Leistungs-Verhältnis vor, wobei die technische Qualität bei der Bewertung der Angebote 70 % ausmachen sollte und der Preis 30 %. Für jedes der beiden Lose war zwischen der Kommission und dem Bieter, dessen Angebot das beste Preis-Leistungs-Verhältnis aufwies, ein Rahmenvertrag mit einer Laufzeit von 36 Monaten abzuschließen, verlängerbar dreimal um jeweils zwölf Monate, sofern der Bieter hinsichtlich der Teilnahmefähigkeit, des Nichtausschlusses, der Leistungsfähigkeit und der Ordnungsmäßigkeit des Angebots bestimmte Mindestkriterien erfüllt.

2      Am 27. Februar 2020 gaben die [S2U-Unternehmen] in der Form eines Konsortiums unter der Leitung von Sopra ein gemeinsames Angebot ab. Das einzige andere Angebot, das innerhalb der Frist für das Los A abgegeben wurde, stammte vom Konsortium ARHS‑IBM, das sich aus der ARHS Developments SA und der International Business Machines of Belgium SA zusammensetzte.

3      Mit Schreiben vom 2. Juli 2020 teilte die Kommission den [S2U-Unternehmen] mit, dass ihr Angebot für das Los A abgelehnt worden sei, weil es sich nicht um das wirtschaftlich günstigste handele, und dass der Auftrag an einen anderen Bieter vergeben worden sei … Sie fügte einen Auszug aus dem Bewertungsbericht zum Angebot der [S2U-Unternehmen] bei, der die vergebenen Punkte samt Erläuterungen enthielt, und teilte ihnen mit, dass ihnen die Merkmale und relativen Vorteile des ausgewählten Angebots, der Auftragswert und der Name des Zuschlagsempfängers auf schriftlichen Antrag übermittelt würden. Die [S2U-Unternehmen] stellten am selben Tag einen entsprechenden Antrag.

4      Aus dem übermittelten Auszug aus dem Bewertungsbericht geht hervor, dass das Angebot der [S2U-Unternehmen] insgesamt mit 90,81 Punkten bewertet wurde …

5      Mit Schreiben vom 3. Juli 2020 teilte die Kommission den [S2U-Unternehmen] mit, dass der Auftrag an das Konsortium ARHS‑IBM vergeben worden sei, und übermittelte ihnen einen Auszug aus dem Bewertungsbericht zu dem entsprechenden Angebot, einschließlich der vergebenen Punkte und mit Erläuterungen.

6      Aus diesem Auszug aus dem Bewertungsbericht geht hervor, dass das Angebot des Zuschlagsempfängers insgesamt 98,53 Punkte erhielt …

7      Mit Schreiben vom 10. Juli 2020 [(im Folgenden: Ersuchen vom 10. Juli 2020)] beanstandeten die [S2U-Unternehmen] das Ergebnis des Ausschreibungsverfahrens und äußerten hinsichtlich des im ausgewählten Angebot angegebenen Preises Zweifel in Bezug auf den Umstand, dass ein deutlich niedrigerer Preis als der von ihnen angebotene, der ihrer Ansicht nach angemessen ist und den Marktbedingungen entspricht, ohne Gefahr von ,Sozialdumping‘ rentabel sein könne. Daher forderten sie den öffentlichen Auftraggeber insbesondere auf, zu bestätigen, dass er geprüft habe, dass das Angebot des Zuschlagsempfängers keine derartige Gefahr darstelle.

8      Mit Schreiben vom 20. Juli 2020 [(im Folgenden: Antwort vom 20. Juli 2020)] antwortete die Kommission u. a., dass eine eingehende Prüfung des finanziellen Aspekts des ausgewählten Angebots ergeben habe, dass es den Marktbedingungen der Länder entspreche, von denen aus die Vertragspartner und ihre Unterauftragnehmer die in Auftrag gegebenen Dienstleistungen erbringen würden.“

 Klage vor dem Gericht und angefochtenes Urteil

8        Mit Klageschrift, die am 2. September 2020 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhoben die S2U-Unternehmen Klage auf Nichtigerklärung der streitigen Entscheidung.

9        Die Klage wurde auf zwei Gründe gestützt. Mit dem ersten Klagegrund wurden ein Verstoß gegen Anhang I Nr. 23 der Haushaltsordnung sowie ein offensichtlicher Beurteilungsfehler geltend gemacht und mit dem zweiten ein Begründungsmangel der streitigen Entscheidung hinsichtlich des Umstands, dass das ausgewählte Angebot eventuell ungewöhnlich niedrig sei.

10      Mit dem angefochtenen Urteil hat das Gericht dem zweiten Klagegrund, den es zuerst geprüft hat, stattgegeben.

11      In den Rn. 38 bis 54 des angefochtenen Urteils ist das Gericht auf die Vorgaben zur Begründungspflicht des öffentlichen Auftraggebers in öffentlichen Vergabeverfahren der Union eingegangen, die sich hauptsächlich aus Art. 170 der Haushaltsordnung, aus deren Anhang I Nr. 23 sowie aus der dazu ergangenen Rechtsprechung ergeben.

12      Den Rn. 47 bis 49 des angefochtenen Urteils ist darüber hinaus zu entnehmen, dass die Frage, ob ungewöhnlich niedrige Angebote vorliegen, vom öffentlichen Auftraggeber in zwei Schritten geprüft wird. In einem ersten Schritt beurteilt der öffentliche Auftraggeber prima facie, ob der Preis oder die Kosten eines Angebots ungewöhnlich niedrig zu sein „scheinen“, ohne die Einzelpositionen eingehend zu prüfen. Gibt es keine Hinweise, die den Verdacht erwecken können, dass das Angebot ungewöhnlich niedrig sein könnte, setzt der öffentliche Auftraggeber seine Bewertung und das Vergabeverfahren fort. Liegen hingegen solche Hinweise vor, hat der öffentliche Auftraggeber in einem zweiten Schritt die Einzelpositionen des Angebots detaillierter zu prüfen, um sich zu vergewissern, dass es nicht ungewöhnlich niedrig ist. Hierzu hat er zunächst dem betreffenden Bieter die Möglichkeit zu geben, die Gründe darzulegen, aus denen er der Ansicht ist, dass sein Angebot nicht ungewöhnlich niedrig sei. Sodann hat der öffentliche Auftraggeber die gegebenen Erläuterungen zu beurteilen und festzustellen, ob das in Rede stehende Angebot ungewöhnlich niedrig ist. Ist dies der Fall, so ist er zu dessen Ablehnung verpflichtet.

13      In den Rn. 51 bis 53 des angefochtenen Urteils hat das Gericht darauf hingewiesen, dass der Umfang der Begründungspflicht, die dem öffentlichen Auftraggeber obliegt, wenn er der Ansicht ist, dass das ausgewählte Angebot nicht ungewöhnlich niedrig erscheine, begrenzt sei. Insbesondere sei der öffentliche Auftraggeber, wenn er ein Angebot auswähle, nicht gehalten, ausdrücklich auf jedes Begründungsersuchen hin, das nach Art. 170 Abs. 3 der Haushaltsordnung an ihn gerichtet werde, die Gründe anzugeben, aus denen ihm dieses Angebot nicht ungewöhnlich niedrig erschienen sei. Der Umstand, dass er das Angebot angenommen habe, zeuge implizit, aber notwendig davon, dass es keine Hinweise gab, dass das Angebot ungewöhnlich niedrig sei. Eine ausdrückliche Begründung müsse hingegen einem abgelehnten Bieter, der ausdrücklich darum ersucht, mitgeteilt werden, um ihn gemäß Art. 170 Abs. 3 der Haushaltsordnung über einen wichtigen Aspekt der Merkmale und relativen Vorteile des ausgewählten Angebots zu unterrichten. Hierzu hat das Gericht in Rn. 54 des angefochtenen Urteils festgehalten, dass es nicht ausreiche, dass sich der öffentliche Auftraggeber auf die Feststellung beschränkt, dass das im Rahmen des Vergabeverfahrens ausgewählte Angebot nicht ungewöhnlich niedrig sei.

14      In Rn. 55 des angefochtenen Urteils hat das Gericht festgestellt, dass sich die Kommission im vorliegenden Fall gemäß Art. 170 der Haushaltsordnung und deren Anhang I Nr. 31 in einem ersten Schritt darauf beschränkt habe, den S2U-Unternehmen mitzuteilen, dass ihr Angebot abgelehnt worden sei, und ihnen einen Auszug aus dem Bericht des Bewertungsausschusses zu ihrem Angebot zu übermitteln. In einem zweiten Schritt habe sie diesen Unternehmen auf ihren schriftlichen Antrag hin lediglich den Namen des Zuschlagsempfängers, den Preis des ausgewählten Angebots, die Punktzahl für das finanzielle Angebot und das Preis-Leistungs-Verhältnis des Angebots, das durch die Gesamtpunktzahl zum Ausdruck komme, mitgeteilt. Insbesondere hätten die übermittelten Details nicht die Prüfung des Preises des ausgewählten Angebots im Hinblick darauf betroffen, ob dieser möglicherweise ungewöhnlich niedrig gewesen sei.

15      In Rn. 59 des angefochtenen Urteils hat das Gericht darauf hingewiesen, dass der Zuschlagsempfänger den Zuschlag aufgrund der signifikanten Differenz zwischen den von den S2U-Unternehmen angebotenen Preisen und den von ihm angebotenen Preisen erhalten habe. In diesem Zusammenhang haben die S2U-Unternehmen die Kommission, wie in Rn. 56 des angefochtenen Urteils ausgeführt, aufgefordert, u. a. zu bestätigen, dass sie geprüft habe, dass das ausgewählte Angebot im Hinblick auf seinen Preis keine Gefahr von „Sozialdumping“ und keine Risiken in Bezug auf die Erfüllung des Vertrags mit sich bringe.

16      Den Rn. 57 und 66 des angefochtenen Urteils ist zu entnehmen, dass sich die S2U-Unternehmen zwar nicht ausdrücklich auf den Begriff „ungewöhnlich niedriges Angebot“ gestützt, sie aber klar auf die möglichen Folgen hingewiesen haben, die sich aus der Abgabe eines ungewöhnlich niedrigen Angebots ergäben, nämlich die Gefahr von Sozialdumping und ein Risiko für die Kontinuität der Erbringung dieser Dienstleistungen.

17      Aus den Ausführungen des Gerichts in Rn. 58 des angefochtenen Urteils ergibt sich, dass sich die Kommission in ihrer Antwort vom 20. Juli 2020 auf die Aussage beschränkt hat, dass eine eingehende Prüfung des Angebots des Zuschlagsempfängers in finanzieller Hinsicht ergeben habe, dass es den Marktbedingungen der Länder entspreche, von denen aus die Auftragnehmer und ihre Unterauftragnehmer die in Auftrag gegebenen Dienstleistungen erbringen würden.

18      In den Rn. 60 und 61 des angefochtenen Urteils hat das Gericht die Auffassung vertreten, dass dies unzureichend sei, da für das Los A nur zwei Angebote eingereicht worden seien und es daher nur eine Vergleichsgröße für die Prüfung gebe, ob ein Anhaltspunkt dafür vorliege, dass der Preis des ausgewählten Angebots als ungewöhnlich niedrig angesehen werden könne. Da nämlich das Kriterium des Preises für die Einstufung der Angebote entscheidend gewesen sei und der Preis des ausgewählten Angebots seinen einzigen Vorteil dargestellt habe, hätte die Kommission zumindest Informationen über den Anteil des Auftrags übermitteln müssen, der von Subunternehmern ausgeführt werden sollte, sowie Informationen zu den Ländern, von denen aus die in Rede stehenden Dienstleistungen erbracht werden sollten.

19      Wenn die Kommission ferner diese Informationen übermittelt hätte, wie sie es in der Klagebeantwortung und in der mündlichen Verhandlung vor dem Gericht getan habe, hätten die S2U-Unternehmen die Gründe für den Preisunterschied zwischen den beiden Angeboten besser nachvollziehen können. Mit diesen Informationen hätten ihnen auch genügend Hinweise vorgelegen, um die Gründe zu verstehen, aus denen die Kommission davon ausgegangen sei, dass das ausgewählte Angebot nicht ungewöhnlich niedrig erschien, und sie hätten dann gegebenenfalls die Richtigkeit dieser Beurteilung in Frage stellen können.

20      In Rn. 68 des angefochtenen Urteils hat das Gericht festgehalten, dass nicht zugelassen werden könne, dass ein öffentlicher Auftraggeber sich auf Anhang I Nr. 23.1 der Haushaltsordnung berufe und sich der in Art. 170 Abs. 3 der Haushaltsordnung vorgesehenen Verpflichtung entziehe, dem abgelehnten Bieter, der schriftlich darum ersuche, die Merkmale und Vorteile des ausgewählten Angebots mitzuteilen, insbesondere die Gründe, aus denen dieses Angebot nicht ungewöhnlich niedrig erscheine. Die Kommission hätte sich nach Ansicht des Gerichts also nicht auf die Feststellung beschränken dürfen, dass sie das ausgewählte Angebot nicht als ungewöhnlich niedrig angesehen habe, ohne den S2U-Unternehmen, die ausdrücklich darum ersucht hatten, die Gründe für diese Schlussfolgerung mitzuteilen.

21      Schließlich hat das Gericht in Rn. 69 des angefochtenen Urteils entschieden, dass die Erläuterungen der Kommission im Lauf des Verfahrens, wonach ein großer Teil der im ausgewählten Angebot vorgesehenen Leistungen an Unterauftragnehmer vergeben werde, die im Wesentlichen in Griechenland und Rumänien ansässig seien, so dass der erhebliche Preisunterschied zwischen den eingereichten Angeboten durch die Lohnunterschiede an den Orten der Leistungserbringung erklärt werden könne, zu spät abgegeben worden seien. Es könnten nur Informationen berücksichtigt werden, die die S2U-Unternehmen vor der Erhebung der betreffenden Klage erhalten hätten, da die Begründung grundsätzlich nicht zum ersten Mal und nachträglich vor dem Unionsrichter erfolgen könne.

22      In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen hat das Gericht in den Rn. 70 und 71 des angefochtenen Urteils festgestellt, dass die S2U-Unternehmen unter Berücksichtigung der ihnen von der Kommission übermittelten Angaben nicht von allen Informationen über die Einzelposten des Angebots des Zuschlagsempfängers Kenntnis haben konnten, die es der Kommission ermöglichten, davon auszugehen, dass dieses Angebot nicht ungewöhnlich niedrig erschien. Das Gericht hat daher dem zweiten Klagegrund der S2U-Unternehmen stattgegeben und die streitige Entscheidung für nichtig erklärt, ohne eine Prüfung des ersten Klagegrundes für erforderlich zu erachten.

 Anträge der Parteien

23      Mit ihrem Rechtsmittel beantragt die Kommission,

–        die Rn. 52 bis 57, 60, 61, 66, 68 und 69 des angefochtenen Urteils aufzuheben;

–        die Nichtigkeitsklage abzuweisen;

–        den S2U-Unternehmen die Kosten des Verfahrens vor dem Gerichtshof und des Verfahrens vor dem Gericht aufzuerlegen.

24      In ihrer Erwiderung beantragt die Kommission außerdem,

–        das Rechtsmittel in vollem Umfang für zulässig zu erklären;

–        das angefochtene Urteil aufzuheben.

25      Die S2U-Unternehmen beantragen,

–        das Rechtsmittel vollständig zurückzuweisen und der Kommission sämtliche Kosten aufzuerlegen;

–        hilfsweise, für den Fall, dass dem Rechtsmittel stattgegeben wird, den Rechtsstreit an das Gericht zurückzuverweisen.

 Zum Rechtsmittel

 Zur von den S2U-Unternehmen erhobenen Einrede der Unzulässigkeit

 Vorbringen der Parteien

26      Die S2U-Unternehmen machen die Unzulässigkeit des Rechtsmittels geltend, da die Kommission gegen die Art. 169 und 170 der Verfahrensordnung verstoßen habe. Die Kommission beantrage nämlich nur die Aufhebung der Rn. 52 bis 57, 60, 61, 66, 68 und 69 des angefochtenen Urteils, ohne in weiterer Folge gemäß Art. 169 Abs. 1 der Verfahrensordnung die vollständige oder teilweise Aufhebung der Entscheidung in der Gestalt der Entscheidungsformel zu beantragen.

27      Die Kommission gehe auch nicht gegen die Rn. 70 und 71 des angefochtenen Urteils vor, so dass davon auszugehen sei, dass sie diese akzeptiere. Diese enthielten aber das Ergebnis der Überlegungen, die das Gericht im Wesentlichen zu der Feststellung geführt hätten, dass zum einen die S2U-Unternehmen keine Kenntnis der Informationen über die Einzelposten des Angebots des Zuschlagsempfängers gehabt hätten, auf deren Grundlage die Kommission zu der Ansicht gelangt sei, dass das Angebot nicht ungewöhnlich niedrig sei, und dass zum anderen die Kommission die Gründe, die diese Schlussfolgerung rechtfertigen könnten, unzureichend dargetan habe, so dass die streitige Entscheidung für nichtig zu erklären gewesen sei, ohne dass es erforderlich gewesen sei, den ersten Klagegrund zu prüfen.

28      Die S2U-Unternehmen machen auch die Unzulässigkeit der neuen, in der Erwiderung der Kommission gestellten Anträge geltend, die zum einen darauf abzielten, das Rechtsmittel in vollem Umfang für zulässig zu erklären, und zum anderen darauf, das angefochtene Urteil aufzuheben.

29      Die Kommission beantragt, die Einrede der Unzulässigkeit zurückzuweisen.

 Würdigung durch den Gerichtshof

30      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die S2U-Unternehmen – wie von der Kommission in ihrer Erwiderung geltend gemacht – nichts vorbringen, worauf ein Verstoß gegen Art. 170 der Verfahrensordnung gestützt werden kann. Folglich ist die Einrede der Unzulässigkeit nur im Hinblick auf Art. 169 der Verfahrensordnung zu prüfen.

31      Der fundamentale Grundsatz, wonach das Rechtsmittel gegen die Entscheidungsformel der Entscheidung des Gerichts gerichtet sein muss und sich nicht auf die Änderung bestimmter Gründe dieser Entscheidung beschränken kann, ergibt sich aus Art. 169 Abs. 1 der Verfahrensordnung (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. November 2012, Al‑Aqsa/Rat und Niederlande/Al-Aqsa, C‑539/10 P und C‑550/10 P, EU:C:2012:711, Rn. 43 bis 45, sowie vom 16. Juli 2020, Inclusion Alliance for Europe/Kommission, C‑378/16 P, EU:C:2020:575, Rn. 57). Der Gerichtshof hat jedoch auch klargestellt, dass ein überschießender Formalismus bei der Anwendung dieser Bestimmung im Widerspruch zu dieser Rechtsprechung steht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2020, Inclusion Alliance for Europe/Kommission, C‑378/16 P, EU:C:2020:575, Rn. 59 und 60).

32      Im vorliegenden Fall hat die Kommission im Abschnitt „Schlussfolgerungen“ ihres Rechtsmittels lediglich beantragt, die Rn. 52 bis 57, 60, 61, 66, 68 und 69 des angefochtenen Urteils aufzuheben, die von den S2U-Unternehmen vor dem Gericht erhobene Nichtigkeitsklage abzuweisen und den S2U-Unternehmen sämtliche Kosten aufzuerlegen.

33      Aus dem Deckblatt des von der Kommission eingelegten Rechtsmittels geht jedoch eindeutig hervor, dass sie förmlich die Aufhebung des angefochtenen Urteils beantragt. Zudem hat sie, obwohl sie im zusammenfassenden letzten Absatz ihres Rechtsmittels nicht ausdrücklich die Aufhebung des angefochtenen Urteils beantragt hat, am Ende ihrer Ausführungen zu jedem der drei Rechtsmittelgründe die Randnummern des Urteils angeführt, die ihrer Ansicht nach mit einem Rechtsfehler behaftet sind, und hat daraus ausdrücklich abgeleitet, dass Nr. 1 des Tenors des angefochtenen Urteils aufzuheben sei, da er auf die in Rede stehenden Randnummern gestützt sei.

34      Vor diesem Hintergrund können die Rechtsmittelanträge, auch wenn sie genau genommen nicht ausdrücklich auf die Aufhebung von Nr. 1 des Tenors des angefochtenen Urteils gerichtet sind, nur so verstanden werden, dass sie in der Sache dieses Ziel verfolgen. Insoweit ergibt sich aus der Rechtsmittelbeantwortung und der Gegenerwiderung der S2U-Unternehmen, dass diese der von der Kommission in ihrem Rechtsmittel dargelegten Argumentation folgen konnten und deren Auswirkungen auf Nr. 1 des Tenors des angefochtenen Urteils verstanden haben.

35      Das Vorbringen, dass die Kommission nicht gegen die Rn. 70 und 71 des betreffenden Urteils vorgegangen sei, kann nicht durchgreifen. Diese beiden Punkte der Begründung haben nämlich nur deklaratorischen Charakter und enthalten lediglich die Schlussfolgerungen, die sich aus den Randnummern ergeben, gegen die die Kommission ausdrücklich vorgeht. Auch wenn die Kommission sie vorzugsweise ebenfalls hätte in Frage stellen sollen, bleibt dieses Versäumnis ohne Folgen.

36      Die von den S2U-Unternehmen erhobene Einrede der Unzulässigkeit ist somit zurückzuweisen.

 Zur Begründetheit

37      Die Kommission stützt ihr Rechtsmittel auf drei Gründe. Erstens wirft sie dem Gericht vor, einen Rechtsfehler begangen zu haben, als es das Ersuchen vom 10. Juli 2020 als „ausdrückliches Ersuchen“ eingestuft habe, mit dem habe in Erfahrung gebracht werden sollen, warum das ausgewählte Angebot dem öffentlichen Auftraggeber nicht ungewöhnlich niedrig erschien. Zweitens sei der Inhalt der Antwort der Kommission vom 20. Juli 2020 verfälscht worden. Drittens sei der Umfang der Begründungspflicht des öffentlichen Auftraggebers gemäß Art. 296 AEUV und Art. 170 Abs. 3 der Haushaltsordnung verkannt worden.

 Zum ersten Rechtsmittelgrund, mit dem geltend gemacht wird, dass das Gericht einen Rechtsfehler begangen habe, als es das Ersuchen vom 10. Juli 2020 als „ausdrückliches Ersuchen“ eingestuft habe, mit dem habe in Erfahrung gebracht werden sollen, warum der öffentliche Auftraggeber das ausgewählte Angebot nicht als ungewöhnlich niedrig betrachtet habe

–       Vorbringen der Parteien

38      Im Rahmen des ersten Rechtsmittelgrundes macht die Kommission geltend, dass die Rn. 52 bis 57 des angefochtenen Urteils widersprüchlich seien, was in dessen Rn. 66 und 68 zu einer fehlerhaften rechtlichen Einordnung des Sachverhalts durch das Gericht geführt habe.

39      Aus dem Urteil vom 4. Juli 2017, European Dynamics Luxembourg u. a./Eisenbahnagentur der Europäischen Union (T‑392/15, EU:T:2017:462, Rn. 93) gehe nämlich hervor, dass der öffentliche Auftraggeber nur bei Vorliegen eines ausdrücklichen Ersuchens eines Bieters – also wenn im Ersuchen ausdrücklich darauf hingewiesen werde, dass das vom öffentlichen Auftraggeber ausgewählte Angebot ungewöhnlich niedrig sei – rechtfertigen müsse, warum ihm das ausgewählte Angebot nicht außergewöhnlich niedrig erschienen sei.

40      Diese Anforderung eines ausdrücklichen Ersuchens, auf die in den Rn. 52 und 63 bis 65 des angefochtenen Urteils Bezug genommen werde, sei im vorliegenden Fall nicht erfüllt, da das Gericht in Rn. 57 seines Urteils festgestellt habe, dass sich im Ersuchen vom 10. Juli 2020 „die [S2U‑Unternehmen] nicht ausdrücklich auf den Begriff ‚ungewöhnlich niedriges Angebot‘ gestützt“ hätten.

41      Nach Ansicht der Kommission kann der Umstand, dass ein Bieter auf eine der „möglichen Folgen hingewiesen [hat], die sich aus der Abgabe eines ungewöhnlich niedrigen Angebots ergäben, nämlich die Gefahr von Sozialdumping … und ein Risiko für die Kontinuität der Erbringung der Dienstleistungen“, nicht einem ausdrücklichen Ersuchen gleichgestellt werden und auch nicht dazu führen, dass der öffentliche Auftraggeber verpflichtet ist, die Gründe darzulegen, aus denen ihm ein Angebot nicht ungewöhnlich niedrig erschienen sei. Die beiden geltend gemachten Risiken seien nämlich dem Begriff des ungewöhnlich niedrigen Angebots weder gleichzusetzen noch würden sie diesem entsprechen.

42      Der Begriff „Sozialdumping“, der im Unionsrecht nicht definiert werde, komme in Anhang I Nr. 23.1 der Haushaltsordnung, der die Aspekte aufliste, die bei der Beurteilung, ob ein Angebot ungewöhnlich niedrig ist, zu berücksichtigen seien, nicht vor. Auch das Risiko für die Kontinuität der Erbringung der Dienstleistungen, das die S2U-Unternehmen in ihrem Ersuchen vom 10. Juli 2020 angeführt hätten, werde in dieser Bestimmung nicht genannt. Im Übrigen hätten die S2U-Unternehmen den öffentlichen Auftraggeber nur zum Vorliegen einer Gefahr von Sozialdumping befragt.

43      Wie dem Urteil vom 26. April 2018, European Dynamics Luxembourg und Evropaïki Dynamiki/Kommission (T‑752/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:233, Rn. 78 bis 81) zu entnehmen sei, verpflichte das Gericht den öffentlichen Auftraggeber demnach, auch wenn er mit einem nicht ausdrücklichen Ersuchen befasst sei eine teleologische Auslegung der vom Bieter gestellten Fragen vorzunehmen, statt sich an eine wörtliche Auslegung dieser Fragen zu halten. Diese neue Auslegung führe außerdem zu einer Rechtsunsicherheit, da die öffentlichen Auftraggeber nicht wüssten, ob sie jedes Ersuchen, das auf eine „mögliche Folge eines ungewöhnlich niedrigen Angebots“ Bezug nehme, wie ein ausdrückliches Ersuchen zu behandeln hätten, mit dem die Gründe in Erfahrung gebracht werden sollten, aus denen der öffentliche Auftraggeber keine Bedenken hatte, dass das ausgewählte Angebot außergewöhnlich niedrig sei.

44      Im Übrigen habe die Kommission, wie es sich aus den Rn. 66 und 68 des angefochtenen Urteils ergebe, der Einstufung des Ersuchens vom 10. Juli 2020 als ausdrückliches Ersuchen, das die Frage aufwerfe, ob es sich um ein ungewöhnlich niedrig erscheinendes Angebot handele, nicht zugestimmt.

45      Die S2U-Unternehmen machen geltend, dass der erste Rechtsmittelgrund unzulässig sei, da der Gerichtshof damit aufgefordert werde, hinsichtlich des Begriffs „ausdrückliches Ersuchen“ eine Tatsachenwürdigung vorzunehmen. Hilfsweise beantragen sie, diesen Rechtsmittelgrund als unbegründet zurückzuweisen.

–       Würdigung durch den Gerichtshof

46      Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund, der sich gegen die Rn. 52 bis 57, 66 und 68 des angefochtenen Urteils richtet, wirft die Kommission dem Gericht im Wesentlichen vor, einen Rechtsfehler begangen zu haben, als es die Auffassung vertreten habe, dass das Ersuchen vom 10. Juli 2020 ausdrücklich darauf abziele, die Gründe in Erfahrung zu bringen, aus denen das ausgewählte Angebot dem öffentlichen Auftraggeber nicht als ungewöhnlich niedrig erschienen sei.

47      Soweit die S2U-Unternehmen geltend machen, dass der erste Rechtsmittelgrund unzulässig sei, weil der Gerichtshof damit aufgefordert werde, hinsichtlich des Begriffs „ausdrückliches Ersuchen“ eine Tatsachwürdigung vorzunehmen, ist darauf hinzuweisen, dass die rechtliche Qualifizierung einer Tatsache oder Handlung durch das Gericht eine Rechtsfrage ist, die im Rahmen eines Rechtsmittels aufgeworfen werden kann (Urteile vom 19. Oktober 1995, Rendo u. a./Kommission, C‑19/93 P, EU:C:1995:339, Rn. 26, und vom 12. Mai 2022, Klein/Kommission, C‑430/20 P, EU:C:2022:377, Rn. 41). Daraus folgt, dass die Frage, ob das Ersuchen vom 10. Juli 2020 ein „ausdrückliches“ Ersuchen darstellt, d. h. ein Ersuchen, mit dem die Gründe in Erfahrung gebracht werden sollen, aus denen dem öffentlichen Auftraggeber das ausgewählte Angebot nicht im Sinne von Art. 170 Abs. 3 Buchst. a der Haushaltsordnung in Verbindung mit deren Anhang I Nr. 23 als ungewöhnlich niedrig erschien, eine Rechtsfrage ist, die im Rechtsmittelverfahren geprüft werden kann. Dieser Rechtsmittelgrund ist folglich zulässig.

48      In der Sache ist festzustellen, dass Art. 170 Abs. 3 Buchst. a der Haushaltsordnung jedem Bieter, für den keine Ausschlusssituation vorliegt und dessen Angebot den Auftragsunterlagen entspricht, die Möglichkeit einräumt, vom öffentlichen Auftraggeber schriftlich Informationen wie den Namen des Bieters, dem der Zuschlag für den Vertrag erteilt wurde, sowie die Merkmale und relativen Vorteile des erfolgreichen Angebots, den Preis bzw. den Vertragswert anzufordern.

49      Ein abgelehnter Bieter kann somit von der in dieser Bestimmung eröffneten Möglichkeit Gebrauch machen, den öffentlichen Auftraggeber zu ersuchen, seine Entscheidung, das ausgewählte Angebot nicht als ungewöhnlich niedrig im Sinne von Anhang I Nr. 23 der Haushaltsordnung zu betrachten, zu begründen. Eine solche Frage kann sich als nützlich erweisen, da bei der Auswahl eines Angebots unterstellt wird, dass der öffentliche Auftraggeber zumindest implizit davon ausgegangen ist, dass keine Anhaltspunkte dafür vorgelegen hätten, dass das Angebot ungewöhnlich niedrig gewesen sei.

50      Diese durch Art. 170 Abs. 3 Buchst. a der Haushaltsordnung in Verbindung mit deren Anhang I Nr. 23 eingeräumte Möglichkeit soll in der letzten Phase eines Vergabeverfahrens abgelehnte Bieter vor Willkür des öffentlichen Auftraggebers schützen und einen gesunden Wettbewerb zwischen den Unternehmen gewährleisten (vgl. entsprechend Urteil vom 27. November 2001, Lombardini und Mantovani, C‑285/99 und C‑286/99, EU:C:2001:640, Rn. 44 und 57).

51      Das Gericht hat daher in Rn. 52 des angefochtenen Urteils zu Recht entschieden, dass ein öffentlicher Auftraggeber nicht gehalten ist, ausdrücklich die Gründe anzugeben, aus denen ihm das Angebot, das er ausgewählt hat, nicht als ungewöhnlich niedrig erschien, es sei denn, der abgelehnte Bieter ersucht ausdrücklich darum.

52      Insoweit ist es zwar vorzugswürdig, dass ein solcher Bieter den Wortlaut „ungewöhnlich niedriges Angebot“ im Sinne von Anhang I Nr. 23 der Haushaltsordnung verwendet, wenn er den öffentlichen Auftraggeber hierzu befragen möchte, doch ist eine ausdrückliche Bezugnahme auf diesen Begriff nicht unerlässlich. Zum einen darf nämlich ein „ausdrückliches Ersuchen“ im Sinne von Art. 170 Abs. 3 Buchst. a der Haushaltsordnung nicht mit der ausdrücklichen Verwendung des Ausdrucks „ungewöhnlich niedriges Angebot“ vermengt werden. Zum anderen findet dieser Ausdruck in Art. 170 Abs. 3 Buchst. a dieser Verordnung selbst keine unmittelbare Verwendung; dort wird vielmehr allgemein von „Merkmale[n] und relativen Vorteile[n] des erfolgreichen Angebots“ gesprochen, weshalb es ausreicht, wenn sich das ausdrückliche Ersuchen mit hinreichender Genauigkeit und Klarheit auf solche Merkmale und Vorteile bezieht, ohne zwangsläufig die genaue Terminologie anderer Bestimmungen der Haushaltsordnung zu übernehmen.

53      Ausschlaggebend ist jedoch, dass das Ersuchen des abgelehnten Bieters so formuliert ist, dass es keinen Zweifel an seiner Absicht lässt, den öffentlichen Auftraggeber zu veranlassen, seine Entscheidung, das ausgewählte Angebot nicht als ungewöhnlich niedrig anzusehen, zu rechtfertigen. Dies ist der Fall, wenn – wie im vorliegenden Fall – ein abgelehnter Bieter den öffentlichen Auftraggeber auf zwei mögliche, allgemein bekannte Folgen der Auswahl eines ungewöhnlich niedrigen Angebots hinweist, nämlich die Gefahr von Sozialdumping und das Risiko, die Kontinuität der Dienstleistungen zu gefährden.

54      Dass zwischen diesen Risiken und dem Begriff „ungewöhnlich niedriges Angebot“ ein Zusammenhang besteht, ergibt sich unzweifelhaft aus Anhang I Nr. 23.1 Buchst. a, b, d und e der Haushaltsordnung, der insoweit vorsieht, dass der öffentliche Auftraggeber bei der Prüfung, ob ein Angebot nicht ungewöhnlich niedrig ist, insbesondere die Wirtschaftlichkeit des Herstellungsprozesses, der Leistungserbringung oder des Bauverfahrens, die gewählten technischen Lösungen oder außergewöhnlich günstige Bedingungen, die dem Bieter zur Verfügung stehen, sowie die Einhaltung der umwelt-, sozial- und arbeitsrechtlichen Verpflichtungen durch den Bieter oder durch die Unterauftragnehmer berücksichtigen kann.

55      Daher hat das Gericht in den Rn. 56 und 57 des angefochtenen Urteils zu Recht festgestellt, dass die S2U-Unternehmen klar auf die möglichen Folgen hingewiesen hätten, die sich aus der Abgabe eines ungewöhnlich niedrigen Angebots ergäben. Um zu dieser Schlussfolgerung zu gelangen, hat das Gericht ausgeführt, dass die S2U-Unternehmen den realistischen und wettbewerbsfähigen Preis ihres eigenen Angebots unter Berücksichtigung der Marktbedingungen, ihre Erfahrung als Vertragspartnerinnen der Kommission und die Risiken in Bezug auf die Erfüllung des Vertrags hervorgehoben hätten, die mit einem Angebot verbunden seien, dessen Preis erheblich unter dem von ihnen angebotenen Preis liege.

56      Außerdem hat das Gericht betont, dass die S2U-Unternehmen die Kommission ersucht hätten, namentlich zu bestätigen, dass sie geprüft habe, dass das ausgewählte Angebot im Hinblick auf seinen Preis keine Gefahr von „Sozialdumping“ mit sich bringe. Damit hat das Gericht zutreffend festgestellt, dass die S2U-Unternehmen hervorheben wollten, dass beim ausgewählten Angebot die Rechtsvorschriften im Bereich der Vergütung des Personals, der Sozialversicherungsbeiträge und der Einhaltung der Bestimmungen über die Sicherheit und den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz der Länder, in denen die Dienstleistungen erbracht werden sollten, möglicherweise nicht eingehalten würden, so dass das Angebot auch ein Risiko für die Kontinuität der Erbringung dieser Dienstleistungen darstellen könnte.

57      Das Gericht konnte daher in den Rn. 66 und 68 des angefochtenen Urteils das Ersuchen vom 10. Juli 2020 rechtsfehlerfrei als „ausdrückliches Ersuchen“ einstufen, mit dem die Gründe in Erfahrung gebracht werden sollten, aus denen das ausgewählte Angebot dem öffentlichen Auftraggeber nicht als ungewöhnlich niedrig erschien.

58      Der erste Rechtsmittelgrund ist daher als unbegründet zurückzuweisen.

 Zum dritten Rechtsmittelgrund, mit dem geltend gemacht wird, dass der Umfang der Begründungspflicht des öffentlichen Auftraggebers gemäß Art. 296 AEUV und Art. 170 Abs. 3 der Haushaltsordnung verkannt worden sei

–       Vorbringen der Parteien

59      Die Kommission rügt, dass das Gericht einen Rechtsfehler begangen habe, indem es den Umfang der Begründungspflicht des öffentlichen Auftraggebers nach Art. 296 AEUV und Art. 170 Abs. 3 der Haushaltsordnung verkannt habe.

60      Als Erstes macht die Kommission geltend, dass die Ausführungen des Gerichts zum einen in den Rn. 51 und 52 des angefochtenen Urteils und zum anderen in dessen Rn. 53, 54, 60, 61 und 68 zum Umfang der Begründungspflicht widersprüchlich seien und zu einer Verkennung der gemäß Anhang I Nr. 23 der Haushaltsordnung vom öffentlichen Auftraggeber in zwei Schritten durchzuführenden Prüfung ungewöhnlich niedrig erscheinender Angebote führe. Außerdem überdehne das Gericht mit der Einführung einer derart umfassenden Begründungspflicht Art. 170 Abs. 3 der Haushaltsordnung, der nicht vorsehe, dass in der Begründung darauf einzugehen sei, ob ein Angebot ungewöhnlich niedrig sei.

61      In Rn. 51 des angefochtenen Urteils bestätige das Gericht, dass der Umfang der Begründungspflicht im Rahmen des ersten Schritts der Prüfung, also wenn der öffentliche Auftraggeber der Ansicht sei, dass das Angebot nicht ungewöhnlich niedrig sei, begrenzt sei. Die Begründungspflicht in dieser Phase der Prüfung, die auf einer Prima-facie-Beurteilung beruhe, umfassender auszugestalten, liefe darauf hinaus, dem öffentlichen Auftraggeber eine probatio diabolica aufzuerlegen.

62      Nur wenn Bedenken bestünden, dass das Angebot ungewöhnlich niedrig sei, sei der öffentliche Auftraggeber gehalten, den betreffenden Bieter zu konsultieren, um mehr Informationen zur Zusammensetzung des Preises und der Kosten zu erlangen. Bei diesem zweiten Schritt der Prüfung bestehe, da der öffentliche Auftraggeber das Angebot eingehend habe prüfen können, eine umfassende Begründungspflicht, wie das Gericht im Urteil vom 4. Juli 2017, European Dynamics Luxembourg u. a./Eisenbahnagentur der Europäischen Union (T‑392/15, EU:T:2017:462, Rn. 91), entschieden habe.

63      Im Widerspruch zur in Rn. 51 des angefochtenen Urteils dargelegten begrenzten Begründungspflicht sei das Gericht im letzten Satz von Rn. 52 seines Urteils zu dem Ergebnis gelangt, dass, wenn das Angebot nicht ungewöhnlich niedrig erscheine, die Gründe darzutun seien, aus denen das Angebot nicht diesen Anschein erwecke, wenn der öffentliche Auftraggeber ausdrücklich darum ersucht werde, und dass diese Gründe sowie die ihnen zugrunde liegenden Erwägungen Merkmale und Vorteile im Sinne von Art. 170 Abs. 3 der Haushaltsordnung darstellten. Die Argumentation des Gerichts sei widersprüchlich, da sie impliziere, dass allein schon das ausdrückliche Ersuchen eines abgelehnten Bieters zur Frage, ob ein Angebot ungewöhnlich niedrig sei, dazu führe, dass die Unterscheidung zwischen dem Umfang der Begründungspflicht in der ersten Phase der Prüfung, in der er mutmaßlich begrenzt sei, und in der zweiten Phase der Prüfung, in der die Gründe und die Erwägungen darzulegen seien, entfalle.

64      Aufgrund dieses Widerspruchs sei das Gericht in den Rn. 60 und 61 des angefochtenen Urteils zu Unrecht zu dem Ergebnis gelangt, dass die Begründung der Kommission unzureichend sei, so dass diese, „um dem Antrag der [S2U-Unternehmen] angemessen zu entsprechen, zumindest Informationen über den Anteil des Auftrags [hätte] übermitteln müssen, der von Subunternehmern ausgeführt werden sollte, sowie Informationen zu den Ländern, von denen aus die in Rede stehenden Dienstleistungen erbracht werden sollten“.

65      Als Zweites weist die Kommission darauf hin, dass das Gericht ihr in Rn. 69 des angefochtenen Urteils anlaste, den S2U-Unternehmen erst im Lauf des Verfahrens zusätzliche Erläuterungen zum erheblichen Preisunterschied zwischen den Angeboten geliefert zu haben. Damit verwechsle das Gericht die Begründungspflicht in der Verwaltungsphase des Vergabeverfahrens mit der Verpflichtung der Kommission als Beklagte, im Rahmen der gerichtlichen Kontrolle Erläuterungen und Informationen zu übermitteln, was die Begründungspflicht der Kommission ohne jede Rechtsgrundlage erweitere.

66      Der Gerichtshof habe jedoch bereits im Urteil vom 14. Oktober 2020, Close und Cegelec/Parlament (C‑447/19 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:826, Rn. 43 und 44), entschieden, dass „angesichts der Rolle der Bieter und der Kontrollinstanzen nicht verlangt werden kann, dass die Informationen, die ein öffentlicher Auftraggeber einem abgelehnten Bieter im Rahmen der ihm obliegenden Begründungspflicht übermitteln muss, und die Informationen, die dieser öffentliche Auftraggeber im Rahmen der Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Entscheidung über die Vergabe eines Auftrags den Gerichten zu übermitteln hat, vollkommen identisch sind. Im Übrigen fällt der Umstand, dass die dem Gericht im Rahmen einer Beweiserhebung übermittelten Dokumente später auch dem Kläger, gegebenenfalls in einer nicht vertraulichen Fassung, übermittelt werden, unter den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens, bedeutet aber nicht, dass der öffentliche Auftraggeber diese Dokumente auf der Grundlage des Unionsrechts bereits im Rahmen der Begründung hätte vorlegen müssen“.

67      Die S2U-Unternehmen machen geltend, der dritte Rechtsmittelgrund sei unbegründet.

–       Würdigung durch den Gerichtshof

68      Der Gerichtshof hält es für zweckmäßig, den dritten Rechtsmittelgrund vor dem zweiten zu prüfen.

69      Als Erstes ist das Vorbringen der Kommission zu prüfen, wonach die Ausführungen des Gerichts zum einen in den Rn. 51 und 52 des angefochtenen Urteils sowie zum anderen in dessen Rn. 53, 54, 60, 61 und 68 zum Umfang der Begründungspflicht widersprüchlich seien und zu einem Verstoß sowohl gegen Art. 170 Abs. 3 der Haushaltsordnung als auch gegen deren Anhang I Nr. 23 führten.

70      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht in den Rn. 51 bis 54 des angefochtenen Urteils seine eigene Rechtsprechung zur Pflicht des öffentlichen Auftraggebers zusammengefasst hat, seine Entscheidung, das ausgewählte Angebot nicht als ungewöhnlich niedrig zu betrachten, zu begründen.

71      Diese Randnummern sind jedoch im Licht der Rn. 47 bis 50 des angefochtenen Urteils zu lesen, die sie lediglich konkretisieren und die von der Kommission nicht beanstandet werden. Das Gericht hat dort hervorgehoben, dass die Frage, ob ungewöhnlich niedrige Angebote vorliegen, vom öffentlichen Auftraggeber in zwei Schritten beurteilt wird. In einem ersten Schritt beurteilt der öffentliche Auftraggeber, ob der Preis oder die Kosten des Angebots ungewöhnlich niedrig zu sein „scheinen“. Die Verwendung des Verbs „scheinen“ in Anhang I Nr. 23.1 der Haushaltsordnung bedeutet, dass der öffentliche Auftraggeber eine Prima-facie-Beurteilung der Frage vornimmt, ob ein Angebot ungewöhnlich niedrig ist, nicht aber, dass er von Amts wegen die Einzelpositionen jedes Angebots eingehend prüft, um festzustellen, ob es nicht ungewöhnlich niedrig ist.

72      Somit muss der öffentliche Auftraggeber in dieser ersten Phase nur feststellen, ob die eingereichten Angebote einen Hinweis enthalten, dass sie ungewöhnlich niedrig sein könnten. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der in einem Angebot angeführte Preis erheblich niedriger ist als derjenige der anderen Angebote oder als der übliche Marktpreis. Enthalten die eingereichten Angebote keinen solchen Hinweis und erscheinen sie daher nicht ungewöhnlich niedrig, kann der öffentliche Auftraggeber ihre Bewertung und das Vergabeverfahren fortsetzen.

73      In einem zweiten Schritt hat der öffentliche Auftraggeber, wenn Hinweise vorliegen, dass ein Angebot ungewöhnlich niedrig sein könnte, die Einzelpositionen des Angebots zu prüfen, um sich zu vergewissern, dass dies nicht zutrifft. Zu diesem Zweck hat der öffentliche Auftraggeber dem betreffenden Bieter die Möglichkeit zu geben, die Gründe darzulegen, aus denen er der Ansicht ist, dass sein Angebot nicht ungewöhnlich niedrig sei.

74      Der öffentliche Auftraggeber hat sodann die gegebenen Erläuterungen zu beurteilen und festzustellen, ob das in Rede stehende Angebot ungewöhnlich niedrig ist. Ist dies der Fall, so ist er zu dessen Ablehnung verpflichtet. Um hinreichend zu begründen, dass das ausgewählte Angebot nach eingehender Prüfung nicht ungewöhnlich niedrig ist, muss der öffentliche Auftraggeber die Überlegungen darlegen, aufgrund deren er zum einen zu dem Ergebnis gelangt ist, dass dieses Angebot in Anbetracht hauptsächlich seiner finanziellen Merkmale insbesondere die Rechtsvorschriften im Bereich der Vergütung des Personals, der Sozialversicherungsbeiträge und der Einhaltung der Bestimmungen über die Sicherheit und den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz des Landes beachtet, in dem die Dienstleistungen erbracht werden sollen, und zum anderen festgestellt hat, dass die angebotenen Preise alle mit den technischen Aspekten dieses Angebots einhergehenden Kosten umfassen.

75      Rn. 51 des angefochtenen Urteils betrifft den ersten Prüfungsschritt, der in Rn. 48 des betreffenden Urteils erläutert wird. Insoweit hat das Gericht ausgeführt, dass die Begründungspflicht des öffentlichen Auftraggebers, da er nur eine Prima-facie-Prüfung – anders ausgedrückt eine auf dem Anschein beruhende Prüfung – durchzuführen hat, lediglich begrenzt sei, und sogar mit einer impliziten Begründung vereinbar sein könne. Wie sich nämlich aus Rn. 52 des angefochtenen Urteils ergibt, bedeutet dem Gericht zufolge der bloße Umstand, dass ein öffentlicher Auftraggeber ein Angebot auswählt, implizit, aber notwendig, dass keine Hinweise dafür vorlagen, dass dieses Angebot ungewöhnlich niedrig war.

76      Zwar ist der letzte Satz dieser Rn. 52 nicht eindeutig. Das Gericht stellt dort nämlich im Wesentlichen fest, dass der öffentliche Auftraggeber dem abgelehnten Bieter, der ausdrücklich darum ersuche, die Gründe mitteilen müsse, aus denen ihm das von ihm ausgewählte Angebot nicht ungewöhnlich niedrig erschienen sei. Aus dieser Formulierung geht jedoch nicht hervor, ob die Gründe gemeint sind, die den öffentlichen Auftraggeber veranlasst haben, das ausgewählte Angebot prima facie als nicht ungewöhnlich niedrig anzusehen, oder vielmehr die Gründe, die ihn nach einer eingehenden Prüfung zu diesem Ergebnis geführt haben.

77      Die Kommission macht geltend, das Gericht habe einen Rechtsfehler begangen, als es in den Rn. 60, 61 und 68 des angefochtenen Urteils verlangt habe, dass sie dem abgelehnten Bieter, der sie ausdrücklich darum ersucht habe, die Gründe darzutun, aus denen sie nicht davon ausgegangen sei, dass das ausgewählte Angebot ungewöhnlich niedrig sei, bereits in der ersten Phase der Prüfung eine ausführliche Begründung zukommen lasse.

78      Diese Auslegung des letzten Satzes von Rn. 52 des angefochtenen Urteils ist jedoch zurückzuweisen.

79      Zwar kann ein öffentlicher Auftraggeber, wie das Gericht in Rn. 48 des angefochtenen Urteils dargelegt hat, hinsichtlich der Frage, ob ein Angebot ungewöhnlich niedrig ist, eine bloße Prima-facie-Beurteilung vornehmen, doch diese summarische Prüfung dient nur dem internen Gebrauch und kann einem abgelehnten Bieter, der Zweifel an dieser Beurteilung zum Ausdruck bringt, nicht entgegengehalten werden.

80      Folglich ist der öffentliche Auftraggeber, wenn ein abgelehnter Bieter, der sich nicht in einer Ausschlusssituation befindet und die Eignungskriterien erfüllt, ihn schriftlich und unter Angabe von Gründen ersucht, die Gründe darzulegen, aus denen er das ausgewählte Angebot nicht als ungewöhnlich niedrig angesehen hat, gehalten, ausführlich darauf zu antworten.

81      In diesem Zusammenhang bestimmt Anhang I Nr. 23.1 der Haushaltsordnung nämlich, dass der öffentliche Auftraggeber, wenn die bei einem bestimmten Vertrag im Angebot vorgeschlagenen Preise oder Kosten ungewöhnlich niedrig zu sein scheinen, schriftlich Aufklärung über die wesentlichen Bestandteile der Preise oder Kosten verlangt, die er für relevant hält, und dem Bieter Gelegenheit zur Stellungnahme gibt. Der Wortlaut dieser Bestimmung schließt nicht aus, dass die Bedenken, dass das ausgewählte Angebot ungewöhnlich niedrig sein könnte, von einem abgelehnten Bieter aufgeworfen wurden. Der Umstand, dass ein solcher Bieter substantiiert darlegt, dass Bedenken bestünden, dass das ausgewählte Angebot ungewöhnlich niedrig sei, hat somit zur Folge, dass der öffentliche Auftraggeber in die zweite Prüfungsphase übergeht.

82      Abgesehen von dem Fall, dass das Vorbringen des abgelehnten Bieters unerheblich oder gänzlich unbegründet ist, ist der öffentliche Auftraggeber also gehalten, zum einen das ausgewählte Angebot eingehend zu prüfen, um festzustellen, dass es tatsächlich nicht ungewöhnlich niedrig ist, und zum anderen den abgelehnten Bieter zusammenfassend zu informieren, der sich ausdrücklich zu diesem Punkt erkundigt hat.

83      Jede andere Auslegung würde den abgelehnten Bieter seines in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankerten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf berauben. Es wäre einem Bieter nämlich unmöglich, die Begründetheit der Entscheidung des öffentlichen Auftraggebers, dass das ausgewählte Angebot nicht ungewöhnlich niedrig sei, zu beurteilen, wenn sich dieser öffentliche Auftraggeber darauf beschränken könnte, entschieden und ohne dies ansatzweise zu begründen, festzustellen, dass ihm dieses Angebot mit den Marktbedingungen der Länder, von denen aus die in Rede stehenden Dienstleistungen von den Auftragnehmern und ihren Unterauftragnehmern zu erbringen sind, vereinbar erschienen sei oder dass der Preis des ausgewählten Angebots nicht ungewöhnlich niedrig sei.

84      Wie das Gericht in Rn. 60 des angefochtenen Urteils ausgeführt hat, gilt dies im vorliegenden Fall umso mehr, da beim öffentlichen Auftraggeber nur zwei Angebote eingereicht worden waren, das Kriterium des Preises für die Einstufung der Angebote entscheidend war und der Preis des ausgewählten Angebots seinen einzigen relativen Vorteil darstellte. Rn. 56 des angefochtenen Urteils ist außerdem zu entnehmen, dass die Erfahrung der S2U-Unternehmen als Vertragspartnerinnen der Kommission diese auch hätte veranlassen müssen, die von den S2U-Unternehmen geäußerten Bedenken zu berücksichtigen, dass das ausgewählte Angebot eine Gefahr von „Sozialdumping“ sowie Risiken im Zusammenhang mit der Vertragserfüllung mit sich bringe, da der vom Zuschlagsempfänger angebotene Preis erheblich niedriger gewesen sei als der von den S2U-Unternehmen angebotene Preis.

85      Das Gericht hat daher in Rn. 68 des angefochtenen Urteils zu Recht entschieden, dass sich die Kommission nicht auf die Feststellung beschränken durfte, dass ihr das ausgewählte Angebot nicht ungewöhnlich niedrig erschienen sei, ohne den S2U-Unternehmen, die ausdrücklich darum ersucht hatten, die Gründe für diese Schlussfolgerung mitzuteilen.

86      Als Zweites wirft die Kommission dem Gericht vor, in den Rn. 60 und 69 des angefochtenen Urteils die Begründungspflicht des öffentlichen Auftraggebers mit dessen Befugnis, als Beklagter seine Verteidigungsrechte nach Art. 47 Abs. 2 der Charta geltend zu machen, verwechselt zu haben.

87      Dieses Vorbringen ist offensichtlich unbegründet.

88      Der Umstand, dass die Kommission die Gründe für die streitige Entscheidung im Lauf des Verfahrens erläutert hat, kann nämlich die Unzulänglichkeit der ursprünglichen Begründung dieser Entscheidung nicht aufwiegen. Denn die Begründung kann nicht zum ersten Mal und nachträglich vor dem Unionsrichter erfolgen, sofern nicht außergewöhnliche Umstände gegeben sind, die mangels Dringlichkeit im vorliegenden Fall fehlen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. November 1981, Michel/Parlament, 195/80, EU:C:1981:284, Rn. 22, vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri u. a./Kommission, C‑189/02 P, C‑202/02 P, C‑205/02 P bis C‑208/02 P und C‑213/02 P, EU:C:2005:408, Rn. 463, sowie vom 11. Juni 2020, Kommission/Di Bernardo, C‑114/19 P, EU:C:2020:457, Rn. 51).

89      Dem betroffenen Organ zu ermöglichen, seine Entscheidung, das ausgewählte Angebot nicht als außergewöhnlich niedrig zu betrachten, erst später zu begründen, würde das Recht abgelehnter Bieter auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz beeinträchtigen, da diese die Begründung eines Rechtsakts nicht nur kennen müssen, um ihre Rechte unter den bestmöglichen Bedingungen zu verteidigen, sondern auch, um in voller Kenntnis der maßgeblichen Umstände entscheiden zu können, ob es für sie zweckmäßig ist, den Unionsrichter anzurufen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Oktober 1987, Heylens u. a., 222/86, EU:C:1987:442, Rn. 15, sowie vom 7. September 2021, Klaipėdos regiono atliekų tvarkymo centras, C‑927/19, EU:C:2021:700, Rn. 120).

90      Außerdem hat das Gericht von der Kommission keineswegs gefordert, sicherzustellen, dass die Informationen, die sie zum einen einem abgelehnten Bieter und zum anderen den Unionsgerichten zu übermitteln hat, gänzlich identisch sind. Das im Wege der Analogie aus dem Urteil vom 14. Oktober 2020, Close und Cegelec/Parlament (C‑447/19 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:826, Rn. 43) abgeleitete Argument ist daher unerheblich.

91      Der dritte Rechtsmittelgrund ist somit zur Gänze als unbegründet zurückzuweisen.

 Zum zweiten Rechtsmittelgrund, mit dem geltend gemacht wird, dass der Sachverhalt durch eine fehlerhafte Beurteilung des Inhalts der Antwort vom 20. Juli 2020 verfälscht worden sei

–       Vorbringen der Parteien

92      Mit ihrem zweiten Rechtsmittelgrund macht die Kommission geltend, das Gericht habe den Inhalt der Antwort vom 20. Juli 2020 verfälscht und deshalb zu Unrecht angenommen, dass sie gegen ihre Begründungspflicht nach Art. 170 Abs. 3 der Haushaltsordnung verstoßen habe. Nachdem das Gericht in Rn. 8 des angefochtenen Urteils zu Recht darauf hingewiesen habe, dass die Kommission in dieser Antwort ausgeführt habe, „dass eine eingehende Prüfung des finanziellen Aspekts des ausgewählten Angebots ergeben habe, dass es den Marktbedingungen der Länder entspreche, von denen aus die Vertragspartner und ihre Unterauftragnehmer die in Auftrag gegebenen Dienstleistungen erbringen würden“, habe es in den Rn. 61 und 68 des angefochtenen Urteils fälschlicherweise angenommen, dass sich die Kommission in dieser Antwort auf die bloße Behauptung beschränkt habe, dass der Preis des ausgewählten Angebots nicht ungewöhnlich niedrig sei und somit den S2U-Unternehmen, die ausdrücklich darum ersucht hatten, die Gründe für diese Schlussfolgerung nicht mitgeteilt habe.

93      Die Kommission macht geltend, sie habe in der Antwort vom 20. Juli 2020 nicht zu der Frage Stellung genommen, ob das ausgewählte Angebot ungewöhnlich niedrig sei. Sie habe sich darauf beschränkt, die Frage der S2U-Unternehmen zum Sozialdumping zu beantworten, indem sie erklärt habe, dass eine eingehende Prüfung des von ihr ausgewählten finanziellen Angebots ergeben habe, dass das erfolgreiche Angebot mit den Marktbedingungen der Länder, von denen aus die Auftragnehmer und ihre Unterauftragnehmer ihre Dienstleistungen erbringen würden, in Einklang stehe.

94      Diese Verfälschung des Inhalts der Antwort vom 20. Juli 2020 in Verbindung mit der falschen Einstufung des Ersuchens vom 10. Juli 2020 habe dazu geführt, dass das Gericht in Rn. 68 des angefochtenen Urteils zu Unrecht festgestellt habe, dass die Kommission gegen ihre Begründungspflicht verstoßen habe.

95      Nach Ansicht der S2U-Unternehmen ist dieser Rechtsmittelgrund als unbegründet zurückzuweisen.

–       Würdigung durch den Gerichtshof

96      Mit ihrem zweiten Rechtsmittelgrund macht die Kommission im Wesentlichen geltend, dass sie sich darauf beschränkt habe, das Ersuchen der S2U-Unternehmen im Hinblick auf das Vorliegen eines Risikos von Sozialdumping zu beantworten, da die S2U-Unternehmen nicht ausdrücklich darum ersucht hätten, über die Gründe unterrichtet zu werden, aus denen die Kommission das ausgewählte Angebot nicht als außergewöhnlich niedrig betrachtet habe. Das Gericht sei daher zu Unrecht davon ausgegangen, dass in der Antwort vom 20. Juli 2020 bestätigt worden sei, dass der Preis des ausgewählten Angebots nicht ungewöhnlich niedrig sei, und habe auf diese Weise den Inhalt dieser Antwort verfälscht.

97      Da sich indes aus der Prüfung des ersten Rechtsmittelgrundes ergibt, dass die S2U-Unternehmen tatsächlich ein „ausdrückliches Ersuchen“ an die Kommission zu der Frage gerichtet haben, ob das ausgewählte Angebot ungewöhnlich niedrig sei, musste die Kommission den besonderen Begründungsanforderungen von Art. 170 Abs. 3 und Anhang I Nr. 23 der Haushaltsordnung Genüge tun. Um das in Art. 47 der Charta verankerte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf für den abgelehnten Bieter zu gewährleisten, konnte sich die Kommission in ihrer Eigenschaft als öffentlicher Auftraggeber also nicht darauf beschränken, entschieden und ohne dies ansatzweise zu begründen, vorzugeben, dass das ausgewählte Angebot keine Gefahr von Sozialdumping berge.

98      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das in Art. 47 der Charta verankerte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf aus sich heraus Wirkung entfaltet und nicht durch Bestimmungen des Unionsrechts konkretisiert werden muss, um dem Einzelnen ein Recht zu verleihen, das er als solches geltend machen kann (Urteile vom 17. April 2018, Egenberger, C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 78, und vom 14. Juli 2022, EPIC Financial Consulting, C‑274/21 und C‑275/21, EU:C:2022:565, Rn. 83).

99      Unter diesen Umständen kann, selbst wenn das Gericht mit der Annahme, dass in der Antwort vom 20. Juli 2020 lediglich behauptet werde, dass der Preis des ausgewählten Angebots nicht ungewöhnlich niedrig sei, den Inhalt dieser Antwort verfälscht hätte, eine solche Verfälschung nicht die Feststellung in Rn. 97 des vorliegenden Urteils in Frage stellen, wonach die Kommission die besonderen Begründungsanforderungen gemäß Art. 170 Abs. 3 und Anhang I Nr. 23 der Haushaltsordnung hätte beachten müssen und sich nicht ohne dies ansatzweise zu begründen auf die Behauptung hätte beschränken dürfen, dass das ausgewählte Angebot kein Risiko von Sozialdumping berge.

100    Der zweite Rechtsmittelgrund ist demnach als ins Leere gehend zurückzuweisen.

101    Da keiner der drei Gründe, auf die die Kommission ihr Rechtsmittel gestützt hat, durchgreift, ist das Rechtsmittel insgesamt zurückzuweisen.

 Kosten

102    Nach Art. 184 Abs. 2 der Verfahrensordnung entscheidet der Gerichtshof über die Kosten, wenn das Rechtsmittel unbegründet ist.

103    Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission mit ihrem Rechtsmittel unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der S2U-Unternehmen die Kosten aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen.

2.      Die Europäische Kommission trägt die Kosten.

Unterschriften



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