Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTS (Vierte Kammer)
29. Oktober 2025(* )
[Text berichtigt mit Beschluss vom 13. November 2025]
„ Öffentlicher Dienst – Beamte – Soziale Sicherheit – Art. 73 des Statuts – Unfall – Zurückweisung der Unfallmeldung – Verspätete Meldung – Überschreitung der Frist von zehn Werktagen ab dem Zeitpunkt des Unfalls – Begriff des berechtigten Grundes “
In der Rechtssache T‑530/24,
FU, vertreten durch Rechtsanwalt S. Orlandi,
Klägerin,
gegen
Europäisches Parlament, vertreten durch M. Mão Cheia Carreira und D. Boytha als Bevollmächtigte,
Beklagter,
unterstützt durch
Rat der Europäischen Union, vertreten durch M. Bauer und M. Alver als Bevollmächtigte,
und durch
Europäische Kommission, vertreten durch J.‑F. Brakeland und O. Dani als Bevollmächtigte,
Streithelfer,
erlässt
DAS GERICHT (Vierte Kammer)
zum Zeitpunkt der Beratung unter Mitwirkung des Präsidenten R. da Silva Passos sowie der Richterinnen N. Półtorak und T. Pynnä (Berichterstatterin),
Kanzler: V. Di Bucci,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
aufgrund des Umstands, dass keine der Parteien innerhalb von drei Wochen nach Bekanntgabe des Abschlusses des schriftlichen Verfahrens die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung beantragt hat, und der Entscheidung gemäß Art. 106 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichts, ohne mündliches Verfahren zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Mit ihrer auf Art. 270 AEUV gestützten Klage beantragt die Klägerin, FU, die Aufhebung der Entscheidung des Europäischen Parlaments vom 30. November 2023, mit der dieses ihre Unfallmeldung vom 27. November 2023 als verspätet zurückgewiesen hat (im Folgenden: angefochtene Entscheidung).
Vorgeschichte des Rechtsstreits
2 Am 20. August 2023 verspürte die Klägerin, eine Beamtin des Parlaments, während einer Reise in Griechenland beim Aufkommen nach einem Sprung Schmerzen im rechten Knie.
3 Am 21. August 2023 suchte die Klägerin in Griechenland einen Arzt auf, der ihr insbesondere riet, vor der Durchführung einer Magnetresonanztomographie (MRT) abzuwarten, bis die Schwellung am Knie zurückgegangen sei.
4 Als die Klägerin am 12. September 2023 nach ihrer Rückkehr von der Reise immer noch Schmerzen im Knie verspürte, konsultierte sie ihren behandelnden Arzt, der ihr nahelegte, medizinische Untersuchungen durch einen anderen Arzt vornehmen zu lassen.
5 Am 12. Oktober 2023 unterzog sich die Klägerin einer MRT‑Untersuchung.
6 Am 19. Oktober 2023 empfahl ein Facharzt für Orthopädie der Klägerin auf Grundlage der MRT‑Ergebnisse, einen Chirurgen zu konsultieren, um eine zweite Meinung einzuholen, und gegebenenfalls einen chirurgischen Eingriff in Betracht zu ziehen.
7 Am 24. Oktober 2023 bestätigte ein Chirurg die Notwendigkeit eines chirurgischen Eingriffs.
8 Am 15. November 2023 empfahl ein weiterer Facharzt ebenfalls einen chirurgischen Eingriff.
9 Am 27. November 2023 meldete die Klägerin ihren Unfall dem Parlament (im Folgenden: Unfallmeldung). In der Unfallmeldung gab der behandelnde Arzt der Klägerin an, dass es am Tag der Untersuchung nicht möglich gewesen sei, die Schwere der Verletzung einzuschätzen.
10 Am 30. November 2023 teilte die Anstellungsbehörde der Klägerin im Wege der angefochtenen Entscheidung mit, dass ihre Unfallmeldung als verspätet zurückgewiesen werde.
11 Am 27. Februar 2024 legte die Klägerin Beschwerde gegen die angefochtene Entscheidung ein, die mit Entscheidung des Parlaments vom 12. Juli 2024, die der Klägerin am selben Tag übermittelt wurde, zurückgewiesen wurde.
Anträge der Parteien
12 Die Klägerin beantragt,
– die angefochtene Entscheidung aufzuheben;
– dem Parlament die Kosten aufzuerlegen.
13 Das Parlament, unterstützt durch den Rat der Europäischen Union, beantragt,
– die Klage abzuweisen;
– der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
14 Die Europäische Kommission beantragt, die Klage abzuweisen.
Rechtliche Würdigung
15 [Berichtigt mit Beschluss vom 13. November 2025] Die Klägerin stützt ihre Klage auf drei Klagegründe. Mit dem ersten Klagegrund werden ein Verstoß gegen die Begründungspflicht und gegen Art. 15 Abs. 2 der Gemeinsamen Regelung zur Sicherung der Beamten der Europäischen Gemeinschaften bei Unfällen und Berufskrankheiten (im Folgenden: Sicherungsregelung) sowie ein offensichtlicher Beurteilungsfehler geltend gemacht, mit dem zweiten Klagegrund wird ein Verstoß gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Verhältnismäßigkeit gerügt und mit dem dritten, hilfsweise geltend gemachten Klagegrund wird eine Einrede der Rechtswidrigkeit von Art. 15 Abs. 2 der Sicherungsregelung erhoben.
Zur Zulässigkeit der Klage
16 Ohne förmlich eine Einrede der Unzulässigkeit zu erheben, führt das Parlament zwei Argumente an, mit denen es die Zulässigkeit der Klage in Abrede stellt.
Zum ersten Unzulässigkeitsgrund: Mangelnde Klarheit der Klageschrift
17 Das Parlament macht geltend, dass die Klägerin ihre Klage weder in klar identifizierbare Klagegründe untergliedert noch die am Beginn ihrer Klageschrift dargelegte Reihenfolge eingehalten noch ihre Argumente unter Überschriften zusammengefasst habe, die der Bezeichnung dieser Klagegründe entsprächen. Darüber hinaus habe die Klägerin auch Schlussfolgerungen auf der Basis von Gründen gezogen, die rechtlich nicht hinreichend ausgeführt worden seien, wie der Verstoß gegen die Art. 4 und 7 der Sicherungsregelung, die Verletzung der Fürsorgepflicht und des Rechts auf eine gute Verwaltung sowie der Verstoß gegen die Begründungspflicht.
18 Die Klägerin tritt diesem Vorbringen entgegen.
19 Diesbezüglich ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 76 Buchst. d der Verfahrensordnung des Gerichts die Klageschrift „die geltend gemachten Klagegründe und Argumente sowie eine kurze Darstellung der Klagegründe“ enthalten muss. Somit müssen die Unionsgerichte nach ständiger Rechtsprechung nicht auf ein Vorbringen einer Partei eingehen, das nicht hinreichend klar und bestimmt ist, soweit es nicht anderweitig ausgeführt und von einer spezifischen Argumentation, die es stützt, begleitet wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Dezember 2024, EBB Sektion Rat/Rat, T‑179/23, EU:T:2024:897, Rn. 128 und die dort angeführte Rechtsprechung).
20 Im vorliegenden Fall führt die Klägerin zwar aus, dass sie die drei oben in Rn. 15 genannten Klagegründe geltend mache, jedoch trifft es zu, dass in der Klageschrift nicht nacheinander und unter separaten Überschriften auf die Klagegründe eingegangen wird. Die Darstellung der Argumente im Text der Klageschrift ermöglicht es jedoch, die drei geltend gemachten Klagegründe und die zu ihrer Stützung vorgebrachten Argumente hinreichend nachvollziehbar zu identifizieren.
21 Was ferner das Vorbringen zum geltend gemachten Verstoß gegen die Art. 4 und 7 der Sicherungsregelung betrifft, führt die Klägerin aus, dass eine verspätete Unfallmeldung keinen Fall des Ausschlusses der Sicherung oder des Leistungsausschlusses nach diesen Artikeln darstelle. Hierzu ist festzustellen, dass dieses Vorbringen zwar nicht durch eigene Ausführungen untermauert wird, es aber offenbar mit der gerügten fehlerhaften Auslegung von Art. 15 Abs. 2 der Sicherungsregelung in Verbindung steht, die Gegenstand des ersten Klagegrundes ist, mit dem ein Verstoß gegen diesen Artikel und ein offensichtlicher Beurteilungsfehler gerügt werden.
22 Dasselbe gilt für den Vorwurf der Verletzung der Fürsorgepflicht und des Rechts auf eine gute Verwaltung. Die Klägerin macht insoweit geltend, dass eine enge Auslegung von Art. 15 Abs. 2 der Sicherungsregelung sowohl gegen das Recht auf eine gute Verwaltung verstoße, das die Verwaltung verpflichte, die Angelegenheiten aller Personen gerecht zu behandeln, als auch gegen die Fürsorgepflicht der Verwaltung gegenüber ihren Bediensteten, die sie zu einer eingehenden Prüfung aller Umstände des Einzelfalls verpflichte.
23 Schließlich macht die Klägerin hinsichtlich des Verstoßes gegen die Begründungspflicht geltend, dass die Anstellungsbehörde ihre Begründungspflicht missachtet habe, da sie weder den Begriff „berechtigter Grund“ noch die im vorliegenden Fall anwendbaren Kriterien präzisiert habe. Dieses Vorbringen steht in engem Zusammenhang mit dem im Rahmen des ersten Klagegrundes dargelegten Vorbringen zum Begriff des „berechtigten Grundes“ in Art. 15 Abs. 2 der Sicherungsregelung, so dass es als damit verbunden anzusehen ist.
24 Der erste Unzulässigkeitsgrund ist somit zurückzuweisen.
Zum zweiten Unzulässigkeitsgrund: Nichtbeachtung des Grundsatzes der Übereinstimmung
25 Das Parlament bringt vor, dass die Klägerin den Grundsatz der Übereinstimmung zwischen Beschwerde und Klage nicht gewahrt habe. In ihrer Beschwerde habe die Klägerin keine Argumente zum Verstoß gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Verhältnismäßigkeit, zum Verstoß gegen die Art. 4 und 7 der Sicherungsregelung und zum Verstoß gegen die Begründungspflicht sowie zur Einrede der Rechtswidrigkeit von Art. 15 Abs. 2 der Sicherungsregelung vorgebracht.
26 Die Klägerin tritt diesem Vorbringen entgegen.
27 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der Übereinstimmung zwischen Beschwerde und Klage verlangt, dass ein vor den Unionsgerichten geltend gemachter Klagegrund bereits im Rahmen des Vorverfahrens vorgetragen worden ist, so dass die Verwaltung von den Rügen des Betroffenen gegen die angefochtene Entscheidung Kenntnis nehmen konnte; andernfalls ist der Klagegrund unzulässig. Somit können in Klagen im Bereich des öffentlichen Dienstes vor den Unionsgerichten nur Anträge gestellt werden, mit denen Rügen erhoben werden, die auf demselben Grund beruhen wie die in der Beschwerde genannten Rügen, wobei diese Rügen vor den Unionsgerichten auf Klagegründe und Argumente gestützt werden können, die nicht notwendigerweise in der Beschwerde enthalten sind, sich aber eng an diese anlehnen. Ferner ist zum einen zu betonen, dass, da das vorgerichtliche Verfahren informeller Natur ist und die Betroffenen im Allgemeinen in diesem Verfahrensstadium nicht von einem Rechtsanwalt unterstützt werden, die Verwaltung die Beschwerden nicht eng auslegen darf, sondern im Gegenteil in einem Geist der Aufgeschlossenheit prüfen muss, und zum anderen, dass Art. 91 des Statuts der Beamten der Europäischen Union (im Folgenden: Statut) den möglichen Rechtsstreit nicht streng und endgültig begrenzen soll (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. November 2024, WS/EUIPO, T‑221/23, nicht veröffentlicht, EU:T:2024:820, Rn. 47 bis 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).
28 Wie oben in den Rn. 21 bis 23 dargelegt, dient das Vorbringen der Klägerin zum Verstoß gegen die Art. 4 und 7 der Sicherungsregelung, zur Fürsorgepflicht und zum Recht auf eine gute Verwaltung sowie zum Verstoß gegen die Begründungspflicht der Stützung des ersten Klagegrundes. Dieser Klagegrund beruht auf demselben Grund wie die in der Beschwerde geltend gemachten Rügen. Was den Vorwurf des Verstoßes gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Verhältnismäßigkeit angeht, so bezieht sich die Beanstandung auf denselben Grund wie die in der Beschwerde genannten Rügen. Diese Argumente können somit mit Blick auf die Beschwerde nicht als neue Klagegründe betrachtet werden.
29 Was die im Rahmen des dritten Klagegrundes geltend gemachte Einrede der Rechtswidrigkeit betrifft, so ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass die Systematik des inzidenten Rechtsbehelfs, den die Einrede der Rechtswidrigkeit darstellt, grundsätzlich rechtfertigt, eine Einrede der Rechtswidrigkeit, die erstmals vor den Unionsgerichten erhoben wird, in Abweichung vom Grundsatz der Übereinstimmung zwischen Klage und Beschwerde für zulässig zu erklären (Urteil vom 16. Dezember 2020, RN/Kommission, T‑442/17 RENV, EU:T:2020:618, Rn. 60).
30 Folglich führt der Umstand, dass die Einrede der Rechtswidrigkeit von Art. 15 Abs. 2 der Sicherungsregelung erstmals im Stadium der Klage erhoben wurde, nicht zur Unzulässigkeit dieser Einrede.
31 Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist der Unzulässigkeitsgrund der Nichtbeachtung des Grundsatzes der Übereinstimmung zurückzuweisen.
Zur Begründetheit
Zum ersten Klagegrund: Verstoß gegen die Begründungspflicht sowie gegen Art. 15 Abs. 2 der Sicherungsregelung und Vorliegen eines offensichtlichen Beurteilungsfehlers
32 Die Klägerin macht zum einen geltend, dass der Beginn der Frist, innerhalb derer die Unfallmeldung erfolgen müsse, sich nach dem Zeitpunkt richten müsse, zu dem sich der Versicherte bewusst werde, dass er einen Unfall erlitten habe. Sie sei sich der Erheblichkeit ihrer Verletzung aufgrund der geringen Schwere des Unfalls und des verzögerten Auftretens der Symptome jedoch erst nach und nach bewusst geworden. Die Verzögerung bei der Meldung des Unfalls sei daher unbeabsichtigt eingetreten. Die bis zur Unfallmeldung verstrichene Zeit sei angesichts der Tatsache, dass sie bis zum 15. November 2023 keine Kenntnis von der Beeinträchtigung ihrer körperlichen Unversehrtheit gehabt habe, angemessen gewesen.
33 Zum anderen macht die Klägerin geltend, dass die Verzögerung bei der Übermittlung der Unfallmeldung auch dadurch gerechtfertigt sei, dass es ihr unmöglich gewesen sei, einen Arzt zu konsultieren, der die erforderliche Diagnose hätte stellen können. Gemäß Art. 15 Abs. 1 der Sicherungsregelung und dem Wortlaut des Unfallmeldeformulars sei der Unfallmeldung ein ärztlicher Bericht über die Art der Verletzungen und die voraussichtlichen Folgen des Unfalls beizufügen.
34 Das Parlament, unterstützt durch den Rat und die Kommission, tritt diesem Vorbringen entgegen.
35 Die Sicherungsregelung wurde von den Organen der Union auf der Grundlage von Art. 73 Abs. 1 des Statuts erlassen.
36 Art. 2 Abs. 1 der Sicherungsregelung definiert den Begriff „Unfall“ als „jedes plötzliche, durch einen außerhalb des Organismus des Betroffenen liegenden Umstand verursachtes oder mitverursachtes Ereignis, das eine Beeinträchtigung der körperlichen oder seelischen Unversehrtheit des Versicherten zur Folge hat“.
37 Außerdem sieht Art. 15 Abs. 1 („Unfallmeldung“) der Sicherungsregelung vor, dass „[d]er Versicherte, der einen Unfall erleidet, oder die sonstigen Anspruchsberechtigten … den Unfall der Verwaltung des Organs, dem der Versicherte angehört, anzuzeigen [haben]“. Abs. 2 dieses Artikels bestimmt:
„Die Anzeige ist innerhalb der auf den Unfalltag folgenden zehn Werktage zu machen. Bei höherer Gewalt oder bei Vorliegen eines sonstigen berechtigten Grundes kann diese Frist jedoch überschritten werden, sofern der Versicherte in der Lage ist, den Unfall und den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Unfall und der Beeinträchtigung der körperlichen und seelischen Unversehrtheit nachzuweisen.“
38 Aus Art. 15 Abs. 2 der Sicherungsregelung geht hervor, dass die Frist von zehn Werktagen, innerhalb derer die Anzeige zu machen ist, mit dem Unfalltag beginnt, und nicht mit dem Tag, an dem sich der Versicherte seines Unfalls bewusst wird. Ferner sieht Art. 15 Abs. 2 der Sicherungsregelung vor, dass der Versicherte die Frist von zehn Tagen für die Anzeige bei höherer Gewalt oder bei Vorliegen eines sonstigen berechtigten Grundes überschreiten kann, sofern er in der Lage ist, den Unfall und den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Unfall und der Beeinträchtigung der körperlichen und seelischen Unversehrtheit nachzuweisen.
39 Der Begriff „berechtigter Grund“ für eine verspätete Unfallmeldung ist weder in der Sicherungsregelung noch in der Rechtsprechung definiert. Dieser Begriff sollte aus zwei Gründen eng ausgelegt werden: zum einen, weil er eine Ausnahme von der klar festgelegten Verpflichtung darstellt, die Unfallmeldung innerhalb von zehn Werktagen zu übermitteln, und zum anderen, weil es sich um einen Begriff handelt, der sich auf Bestimmungen des Unionsrechts bezieht, die einen Anspruch auf finanzielle Leistungen eröffnen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juni 2023, OP/Parlament, T‑143/22, EU:T:2023:313, Rn. 99 und die dort angeführte Rechtsprechung). Nach der Rechtsprechung zu einem Antrag auf Übertragung erworbener Ruhegehaltsansprüche muss ein Beamter, um eine Fristüberschreitung in einem Fall zu rechtfertigen, der nicht als höhere Gewalt angesehen werden kann, nachweisen, dass er sich in einer außergewöhnlichen Situation befand, die auf Gründe zurückzuführen ist, die ihm nicht zurechenbar sind. Die Voraussetzungen für die Rechtfertigung einer solchen Situation sind weniger streng als jene für die Rechtfertigung eines Falls höherer Gewalt, und es obliegt der betroffenen Person, das Vorliegen oder das Eintreten äußerer Umstände nachzuweisen, die sie an der Erfüllung einer Verpflichtung gehindert haben, während sie zur Rechtfertigung des Vorliegens höherer Gewalt nicht nur das Eintreten außergewöhnlicher und von ihrem Willen unabhängiger Ereignisse nachweisen muss, sondern auch, dass sie sich umsichtig verhalten hat, um sich vor den Folgen dieser Ereignisse zu schützen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Oktober 2024, CF/Kommission, T‑51/24, nicht veröffentlicht, EU:T:2024:686, Rn. 77).
40 Insoweit ist der Begriff „berechtigter Grund“ dahin auszulegen, dass der Versicherte nachweisen muss, dass er sich in einer außergewöhnlichen Situation befand, die auf Gründe zurückzuführen ist, die ihm nicht zuzurechnen sind und die damit zusammenhängen, dass er nicht innerhalb von zehn Werktagen nach dem Unfall eine Unfallmeldung einreichen konnte.
41 Was erstens ihr Vorbringen zum geltend gemachten Begründungsmangel betrifft, so trägt die Klägerin vor, dass in der angefochtenen Entscheidung der Begriff „berechtigter Grund“ und die anzuwendenden Kriterien nicht präzisiert würden. Aus dieser Entscheidung geht jedoch hervor, dass die Unfallmeldung als verspätet zurückgewiesen wurde und dass sich die Frist für die Meldung eines Unfalls nach dem Tag des Unfalls richtet und nicht nach dem Tag, an dem der Versicherte eine Verschlechterung seines Gesundheitszustands festgestellt hat, oder nach dem Tag, an dem eine vollständige Diagnose gestellt worden ist. In dieser Entscheidung wurde auch festgestellt, dass der Klägerin der Unfall am selben Tag bewusst wurde und dass sie keinerlei Nachweis für höhere Gewalt oder das Vorliegen eines berechtigten Grundes erbracht hat, wodurch sie daran gehindert worden wäre, die Unfallmeldung innerhalb der vorgesehenen Frist einzureichen. Die angefochtene Entscheidung enthält demnach eine klare und eindeutige Erläuterung, warum die von der Klägerin angeführten Gründe keinen berechtigten Grund darstellen, der die Verzögerung bei der Einreichung der Unfallmeldung rechtfertigt, so dass die Klägerin dieser Entscheidung ihre Gründe entnehmen und das Gericht seine Kontrollaufgabe im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung wahrnehmen konnte. Daraus folgt, dass das Parlament nicht gegen die Begründungspflicht gemäß Art. 296 Abs. 2 AEUV und Art. 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verstoßen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. November 2017, Icap u. a./Kommission, T‑180/15, EU:T:2017:795, Rn. 287 und die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Zweitens vertritt die Klägerin im Hinblick auf Rn. 40 oben zu Unrecht die Auffassung, dass die bloße Vorlage eines Nachweises des Unfalls ausreiche, um die Verzögerung bei der Übermittlung der Unfallmeldung zu rechtfertigen. Daraus folgt auch, dass die verspätete Unfallmeldung mangels einer Rechtfertigung durch höhere Gewalt oder einen anderen berechtigten Grund dazu führt, dass in Bezug auf den Unfall die Sicherung verweigert wird. Wie das Parlament, der Rat und die Kommission klarstellen, hat der Versicherte jedoch, auch wenn er mangels eines Nachweises höherer Gewalt oder des Vorliegens eines anderen berechtigten Grundes keinen Anspruch auf den zusätzlichen Schutz durch die Unfallversicherung hat, weiterhin Anspruch auf Erstattung seiner Behandlungskosten im Rahmen des Gemeinsamen Krankenfürsorgesystems.
43 Im vorliegenden Fall ist im Hinblick auf die Frage, ob die Verzögerung bei der Meldung des Unfalls durch berechtigte Gründe gerechtfertigt werden konnte, festzustellen, dass die Klägerin in ihrer Unfallmeldung die Symptome – d. h. das angeschwollene Knie und die Schwierigkeiten beim Gehen – beschrieben hat, die sie bereits am Tag nach dem Unfall festgestellt hatte. Sie hat dargelegt, dass der Arzt, den sie an diesem Tag im medizinischen Zentrum konsultiert habe, ihr geraten habe, nach ihrer Rückkehr von der Reise eine MRT‑Untersuchung durchführen zu lassen. Die Schmerzen hätten nach ihrer Rückkehr angehalten. Unter diesen Umständen konnte sie vor Ablauf der Frist von zehn Werktagen nach dem Unfalltag nicht in Unkenntnis darüber gewesen sein, dass sie einen Unfall im Sinne von Art. 2 Abs. 1 der Sicherungsregelung erlitten hatte. Sie kann somit nicht geltend machen, dass ihr die Schwere ihrer Verletzungen erst zu einem späteren Zeitpunkt bewusst geworden sei, um nachzuweisen, dass die Verzögerung bei der Übermittlung ihrer Unfallmeldung durch einen berechtigten Grund gerechtfertigt war.
44 Im Übrigen geht aus dem Formular für die Unfallmeldung zwar hervor, dass der Meldung ein ärztliches Gutachten beizufügen ist. Es wird jedoch keineswegs vorausgesetzt, dass eine vollständige Diagnose gestellt wurde, um einen Unfall melden zu können. Art. 15 Abs. 1 der Sicherungsregelung verlangt nämlich nur ein ärztliches Attest „über die Art der Verletzungen und die voraussichtlichen Folgen des Unfalls“. Aus der Unfallmeldung geht hervor, dass sich die Klägerin innerhalb der in Art. 15 Abs. 1 der Sicherungsregelung vorgesehenen Frist von zehn Tagen in ein medizinisches Zentrum begeben hat, und sie weist nicht nach, dass der von ihr konsultierte Arzt die Ausstellung eines ärztlichen Attests verweigert hätte.
45 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen hat die Klägerin weder höhere Gewalt noch das Vorliegen eines berechtigten Grundes nachgewiesen, wodurch sie daran gehindert gewesen wäre, die in Art. 15 Abs. 2 der Sicherungsreglung vorgesehene Frist von zehn Werktagen einzuhalten. Da sie keinen berechtigten Grund vorgebracht hat, der die verzögerte Einreichung ihrer Unfallmeldung rechtfertigt, hat das Parlament weder einen Beurteilungsfehler begangen noch Art. 15 der Sicherungsreglung fehlerhaft angewandt. Die angefochtene Entscheidung ist insoweit nicht mit einem Fehler behaftet.
46 Diese Feststellung kann durch das weitere Vorbringen der Klägerin nicht in Frage gestellt werden.
47 Die Klägerin macht geltend, dass Fälle verspäteter Unfallmeldungen keinen Grund für den Ausschluss der Sicherung oder den Leistungsausschluss gemäß den Art. 4 und 7 der Sicherungsregelung darstellten. Diesbezüglich ist darauf hinzuweisen, dass die Art. 4 und 7 der Sicherungsregelung wesentliche Voraussetzungen für die Anerkennung eines Unfalls festlegen, die nicht von der in Art. 15 Abs. 2 der Sicherungsregelung vorgesehenen Frist abhängen.
48 Darüber hinaus verstößt nach Ansicht der Klägerin die in der angefochtenen Entscheidung vorgenommene Auslegung von Art. 15 Abs. 2 der Sicherungsregelung gegen das Recht auf eine gute Verwaltung, das die Verwaltung verpflichte, die Angelegenheiten jeder Person gerecht zu behandeln, sowie gegen die Fürsorgepflicht der Verwaltung gegenüber ihren Bediensteten, die sie zu einer eingehenden Prüfung aller Umstände des Einzelfalls verpflichte. Wie aus Rn. 41 oben hervorgeht, hat die Anstellungsbehörde die Umstände des vorliegenden Falls eingehend geprüft, und es wurde mangels weiterer Erläuterungen der Klägerin nicht nachgewiesen, dass die Auslegung von Art. 15 Abs. 2 der Sicherungsregelung gegen den Grundsatz der guten Verwaltung und die Fürsorgepflicht verstößt.
49 Nach alledem ist der erste Klagegrund zurückzuweisen.
Zum zweiten Klagegrund: Verstoß gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Verhältnismäßigkeit
50 Mit ihrem zweiten Klagegrund macht die Klägerin geltend, dass gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Verhältnismäßigkeit verstoßen worden sei.
51 Das Parlament, unterstützt durch den Rat, hält den zweiten Klagegrund für unzulässig.
52 Zur Stützung dieses Klagegrundes beschränkt sich die Klägerin auf das Vorbringen, dass zum einen das Parlament das in Art. 15 Abs. 2 der Sicherungsregelung vorgesehene Kriterium des „berechtigten Grundes“ willkürlich angewandt habe, und dass zum anderen die Zurückweisung ihrer Unfallmeldung gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße, da die Fristüberschreitung nicht auf Fahrlässigkeit beruhe, ohne dies konkreter auszuführen.
53 Da die Klägerin ihr Vorbringen nicht näher erläutert, ist der zweite Klagegrund gemäß der oben in Rn. 19 angeführten Rechtsprechung als unzulässig zurückzuweisen.
Zum dritten Klagegrund: Einrede der Rechtswidrigkeit von Art. 15 der Sicherungsregelung
54 Hilfsweise erhebt die Klägerin eine Einrede der Rechtswidrigkeit im Hinblick auf Art. 15 Abs. 2 der Sicherungsregelung. Falls dieser Artikel so auszulegen sei, dass er eine Frist von zehn Werktagen für die Meldung eines Unfalls zwingend vorschreibe, wäre diese Bestimmung wegen der ungerechtfertigten und unverhältnismäßigen Beeinträchtigung des in Art. 73 des Statuts vorgesehenen Rechts auf Sicherung in Bezug auf Unfallrisiken für rechtswidrig zu erklären. Der Wortlaut dieser Bestimmung stehe hinsichtlich der Gründe, die bei der Prüfung, ob eine Überschreitung der Meldungsfrist gerechtfertigt sei, berücksichtigt werden könnten, einer engen Auslegung entgegen. In der von der Anstellungsbehörde vorgenommenen Auslegung komme die Klausel einer missbräuchlichen Klausel gleich, die zu einem Ungleichgewicht zwischen den Rechten der Versicherten und denen des Versicherers führe und gegen das in Art. 73 des Statuts verankerte Recht auf soziale Sicherheit verstoße.
55 Das Parlament, unterstützt durch den Rat und die Kommission, tritt diesem Vorbringen entgegen.
56 Die von der Klägerin geltend gemachte Einrede der Rechtswidrigkeit betrifft die Unanwendbarkeit von Art. 15 Abs. 2 der Sicherungsregelung aufgrund der Unvereinbarkeit dieses Artikels mit Art. 73 des Statuts, soweit er vorsehe, dass die Unfallmeldung innerhalb der auf den Unfalltag folgenden zehn Werktage gemacht werden müsse.
57 Insoweit geht zunächst aus Art. 73 Abs. 1 des Statuts eindeutig hervor, dass der Beamte „gemäß einer von den Anstellungsbehörden der Organe … im gegenseitigen Einvernehmen … beschlossenen Regelung“ für den Fall von Unfällen gesichert ist. Dieser Artikel diente als Rechtsgrundlage für den Erlass der Sicherungsregelung; die Festlegung der Bedingungen für die Erstattung der entstandenen Kosten fällt somit unter die den Organen durch Art. 73 des Statuts übertragene Zuständigkeit.
58 Sodann gibt es Ausnahmen von der in Art. 15 Abs. 2 der Sicherungsregelung vorgesehenen Frist, nämlich höhere Gewalt und das Vorliegen berechtigter Gründe.
59 Des Weiteren stellt die Festlegung einer zeitlichen Bedingung für die Einreichung einer Unfallmeldung, wie vom Parlament, von der Kommission und vom Rat geltend gemacht, eine notwendige Maßnahme dar, um Rechtsmissbrauch und Betrug zu verhindern. Eine solche Bedingung soll es den Organen nämlich ermöglichen, mit hinreichender Sicherheit zu überprüfen, ob der gemeldete Unfall tatsächlich stattgefunden hat und ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfall und den Verletzungen besteht.
60 Schließlich ist, da die Versicherten ihrer Unfallmeldung ein ärztliches Attest über die Erstuntersuchung beifügen können und die Unfallmeldung später ergänzt werden kann, eine Frist von zehn Tagen nicht unangemessen.
61 Somit kann die in Art. 15 Abs. 2 der Sicherungsregelung festgelegte Frist, innerhalb derer – außer bei höherer Gewalt oder aus berechtigten Gründen – ein Unfall gemeldet werden muss, um eine Erstattung der entstandenen Kosten zu erhalten, nicht gegen Art. 73 Abs. 1 des Statuts verstoßen.
62 Folglich ist die Einrede der Rechtswidrigkeit als unbegründet zurückzuweisen, so dass die Klage in vollem Umfang abzuweisen ist.
Kosten
63 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag des Parlaments ihre eigenen Kosten sowie die Kosten des Parlaments aufzuerlegen.
64 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten und die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Der Rat und die Kommission tragen somit ihre eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Vierte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. FU trägt ihre eigenen Kosten sowie die Kosten des Europäischen Parlaments.
3. Der Rat der Europäischen Union und die Europäische Kommission tragen ihre eigenen Kosten.
da Silva Passos
Półtorak
Pynnä
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 29. Oktober 2025.
Unterschriften