C-819/21 – Staatsanwaltschaft Aachen

C-819/21 – Staatsanwaltschaft Aachen

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2023:386

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NICHOLAS EMILIOU

vom 4. Mai 2023(1)

Rechtssache C819/21

Staatsanwaltschaft Aachen,

Beigeladener:

MD

(Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Aachen [Deutschland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Rahmenbeschluss 2008/909/JI – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Freiheitsstrafe, die in einem Mitgliedstaat verhängt wurde, in dem nach Ansicht des Gerichts des Vollstreckungsmitgliedstaats das Justizsystem das Recht auf ein faires Verfahren nicht mehr garantiert – Möglichkeit, die Vollstreckung eines ausländischen Urteils zu verweigern“

I.      Einführung

1.        MD ist ein polnischer Staatsangehöriger, der vom Sąd Rejonowy Szczecin-Prawobrzeże (Rayongericht Szczecin-Prawobrzeże, Polen) zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt wurde. Die ursprüngliche Aussetzung der Vollstreckung dieses Urteils wurde später von demselben Gericht widerrufen, und der Sąd Okręgowy Szczecin (Regionalgericht Szczecin, Polen) erließ zur Vollstreckung dieses Urteils einen Europäischen Haftbefehl, auf dessen Grundlage MD in Deutschland festgenommen wurde. Die Vollstreckung dieses Europäischen Haftbefehls wurde jedoch von den deutschen Behörden mit der Begründung abgelehnt, dass MD seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland habe. Daher ersuchte das zuständige polnisches Gericht die deutschen Behörden, die gegen MD verhängte Freiheitsstrafe gemäß der im Rahmenbeschluss 2008/909/JI(2) eingeführten Regelung zu vollstrecken.

2.        Das Landgericht Aachen (Deutschland), das vorlegende Gericht in dieser Rechtssache, möchte wissen, ob es angesichts der Situation aufgrund der umstrittenen Justizreformen in Polen, die Anlass für eine Reihe von Entscheidungen des Gerichtshofs gegeben haben, ein solches Ersuchen ablehnen kann. Diese Situation erzeugt beim vorlegenden Gericht Zweifel, ob das Recht von MD auf ein faires Verfahren in einem Kontext als gewahrt angesehen werden kann, in dem nach Ansicht des vorlegenden Gerichts die Rechtsstaatlichkeit und das Erfordernis der Unabhängigkeit der Justiz dieses Mitgliedstaats durch allgemeine Mängel beeinträchtigt werden.

3.        Das vorlegende Gericht möchte insbesondere wissen, ob die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl(3), wonach die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls ausnahmsweise über die darin ausdrücklich genannten Gründe hinaus abgelehnt werden kann, auf die mit dem Rahmenbeschluss 2008/909 eingeführte Regelung der gegenseitigen Anerkennung anwendbar ist, wenn sich nach einer zweistufigen Prüfung (deren Art in den vorliegenden Schlussanträgen näher erläutert und erörtert werden wird) herausstellt, dass eine solche Vollstreckung zu einer echten Gefahr einer Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta)(4) verankerten Grundrechts auf ein faires Verfahren führen würde. Insoweit möchte das vorlegende Gericht klären lassen, unter welchen Voraussetzungen eine solche Prüfung vorzunehmen ist und auf welchen Zeitpunkt hierfür richtigerweise abzustellen ist.

II.    Rechtlicher Rahmen

4.        Art. 47 Abs. 2 Satz 1 der Charta bestimmt, dass „[j]ede Person … ein Recht darauf [hat], dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird“.

5.        In Art. 3 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/909 heißt es, dass dieser „nicht die Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und der allgemeinen Rechtsgrundsätze gemäß Artikel 6 [EUV] [berührt]“.

6.        In Art. 4 Abs. 1 Buchst. a bis c dieses Rahmenbeschlusses werden drei Kategorien von Vollstreckungsmitgliedstaaten aufgeführt, denen ein Ersuchen um Anerkennung eines Urteils und Vollstreckung einer Sanktion übermittelt werden kann. Diese sind a) der Mitgliedstaat der Staatsangehörigkeit der verurteilten Person, in dem sie lebt, oder b) der Mitgliedstaat der Staatsangehörigkeit der verurteilten Person, in den sie, auch wenn sie nicht dort lebt, aufgrund einer Ausweisungs- oder Abschiebungsanordnung, die im Urteil oder in einer infolge des Urteils getroffenen gerichtlichen Entscheidung oder Verwaltungsentscheidung oder anderen Maßnahme enthalten war, nach der Entlassung aus dem Strafvollzug abgeschoben werden wird, oder c) ein Mitgliedstaat, auf den Buchst. a oder b nicht zutrifft und dessen zuständige Behörde der Übermittlung des Urteils und der Bescheinigung an diesen Mitgliedstaat zustimmt.

7.        In Art. 8 Abs. 1 heißt es: „Die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats erkennt ein gemäß Artikel 4 und im Verfahren gemäß Artikel 5 übermitteltes Urteil an und ergreift unverzüglich alle für die Vollstreckung der Sanktion erforderlichen Maßnahmen, es sei denn, sie beschließt, einen der Gründe für die Versagung der Anerkennung und der Vollstreckung gemäß Artikel 9 geltend zu machen.“

8.        In Art. 9 Abs. 1 Buchst. a bis l des Rahmenbeschlusses 2008/909 sind die Gründe aufgeführt, aus denen „[d]ie zuständige Behörde des [Mitglied]staats … die Anerkennung des Urteils und die Vollstreckung der Sanktion versagen [kann]“.

III. Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

9.        MD ist ein polnischer Staatsangehöriger, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat. Am 7. August 2018 verurteilte der Sąd Rejonowy Szczecin-Prawobrzeże (Rayongericht Szczecin-Prawobrzeże) ihn zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten und setzte die Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung aus (im Folgenden: ursprüngliches Urteil). MD war bei der Verhandlung nicht anwesend.

10.      Mit Beschluss vom 16. Juli 2019 widerrief dasselbe Gericht die Bewährung und ordnete die Vollstreckung der Freiheitsstrafe an.

11.      Am 17. Dezember 2020 entschied die Generalstaatsanwaltschaft Köln (Deutschland), den vom Sąd Okręgowy Szczecin (Regionalgericht Szczecin) ausgestellten Europäischen Haftbefehl nicht zu vollstrecken, da MD seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland habe und er der Auslieferung an die polnischen Behörden widersprochen habe(5).

12.      Am 26. Januar 2021 übermittelte der Sąd Okręgowy Szczecin (Regionalgericht Szczecin) der Generalstaatsanwaltschaft Berlin (Deutschland) für die Zwecke der Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe eine beglaubigte Abschrift des ursprünglichen Urteils sowie die in Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/909 genannte Bescheinigung. Diese Unterlagen wurden an die örtlich zuständige Staatsanwaltschaft Aachen (Deutschland, im Folgenden: Staatsanwaltschaft Aachen) weitergeleitet.

13.      Nach Anhörung von MD war die Staatsanwaltschaft Aachen der Auffassung, dass die Voraussetzungen für die Vollstreckung der fraglichen Freiheitsstrafe vorlägen, und beantragte beim Landgericht Aachen die Vollstreckung des ursprünglichen Urteils in Verbindung mit dem Beschluss, mit dem die Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe widerrufen wurde, sowie die Anordnung einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten.

14.      Dem vorlegenden Gericht stellt sich jedoch die Frage, ob es die Anerkennung der in Rede stehenden gerichtlichen Entscheidungen und die Vollstreckung der verhängten Sanktion im Hinblick darauf verweigern kann, dass seiner Ansicht nach aufgrund objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben über das Funktionieren des Justizsystems in Polen die Annahme gerechtfertigt ist, dass die im Zeitpunkt des ursprünglichen Urteils und des Beschlusses über den Widerruf der Bewährung bestehenden Verhältnisse mit dem in Art. 2 EUV verankerten Rechtsstaatsprinzip und dem Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit, das den Wesensgehalt des Grundrechts von MD auf ein faires Verfahren gemäß Art. 47 Abs. 2 der Charta bildet, unvereinbar waren (und immer noch sind).

15.      In diesem Zusammenhang stützt sich das vorlegende Gericht auf den Vorschlag der Kommission zur Feststellung der eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Rechtsstaatlichkeit durch die Republik Polen(6), auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Unabhängigkeit des polnischen Justizwesens(7), auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie der nationalen Gerichte. Es weist auch auf mehrere Konstellationen hin, in denen sich die polnischen Behörden an den Vorrang des Unionsrechts nicht gebunden fühlten.

16.      Unter diesen Umständen hat das Landgericht Aachen beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Kann das zur Entscheidung über die Vollstreckbarkeitserklärung berufene Gericht des vollstreckenden Mitgliedstaats gestützt auf Art. 3 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/909 in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta die Anerkennung des Urteils eines anderen Mitgliedstaats und die Vollstreckung der durch dieses Urteil verhängten Sanktion gemäß Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2008/909 ablehnen, wenn Anhaltspunkte bestehen, dass die Verhältnisse in diesem Mitgliedstaat im Zeitpunkt des Erlasses der zu vollstreckenden Entscheidung bzw. der sie betreffenden Folgeentscheidungen unvereinbar mit dem Grundrecht auf ein faires Verfahren sind, weil in diesem Mitgliedstaat das Justizsystem selbst nicht mehr im Einklang mit dem in Art. 2 EUV verankerten Rechtsstaatsprinzip steht?

2.      Kann das zur Entscheidung über die Vollstreckbarkeitserklärung berufene Gericht des vollstreckenden Mitgliedstaats gestützt auf Art. 3 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/909 in Verbindung mit dem in Art. 2 EUV verankerten Rechtsstaatsprinzip die Anerkennung des Urteils eines anderen Mitgliedstaats und die Vollstreckung der durch dieses Urteil verhängten Sanktion gemäß Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2008/909 ablehnen, wenn Anhaltspunkte bestehen, dass das Justizsystem in diesem Mitgliedstaat im Zeitpunkt der Entscheidung über die Vollstreckbarkeitserklärung nicht mehr im Einklang mit dem in Art. 2 EUV verankerten Rechtsstaatsprinzip steht?

3.      Soweit Frage 1 bejaht wird:

Ist, bevor die Anerkennung eines Urteils eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats und die Vollstreckung der durch dieses Urteil verhängten Sanktion unter Verweis auf Art. 3 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/909 in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta abgelehnt wird, weil Anhaltspunkte bestehen, dass die Verhältnisse in diesem Mitgliedstaat unvereinbar mit dem Grundrecht auf ein faires Verfahren sind, weil in diesem Mitgliedstaat das Justizsystem selbst nicht mehr im Einklang mit dem Rechtsstaatsprinzip steht, in einem zweiten Schritt zu überprüfen, ob sich die mit dem Grundrecht auf ein faires Verfahren unvereinbaren Verhältnisse in dem betreffenden Verfahren konkret zulasten des Verurteilten/der Verurteilten ausgewirkt haben?

4.      Soweit Frage 1 und/oder Frage 2 dahin gehend verneint werden, dass die Entscheidung, ob die Verhältnisse in einem Mitgliedstaat unvereinbar mit dem Grundrecht auf ein faires Verfahren sind, weil in diesem Mitgliedstaat das Justizsystem selbst nicht mehr im Einklang mit dem Rechtsstaatsprinzip steht, nicht den mitgliedstaatlichen Gerichten, sondern dem Gerichtshof der Europäischen Union obliegt:

Stand das Justizsystem in der Republik Polen am 7. August 2018 und/oder 16. Juli 2019 beziehungsweise steht das Justizsystem in der Republik Polen derzeit im Einklang mit dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 2 EUV?

17.      Die Regierungen der Niederlande und Polens sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Diese Beteiligten haben auch auf die ihnen gestellte Frage des Gerichtshofs geantwortet.

IV.    Würdigung

18.      Mit seinen vier Fragen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob und unter welchen Umständen es sich ausnahmsweise weigern kann, ein Urteil anzuerkennen, das ihm gemäß der mit dem Rahmenbeschluss 2008/909 eingeführten Regelung im Hinblick auf die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe übermittelt worden ist, und zwar über die in diesem Rechtsakt dafür ausdrücklich vorgesehenen Gründe hinaus, wenn die Anwendung dieser Regelung im Wesentlichen zur Duldung eines früheren Verstoßes gegen das Recht auf ein faires Verfahren führen würde. Dieser Verstoß ergibt sich nach Ansicht des vorlegenden Gerichts aus den allgemeinen Mängeln, die die Unabhängigkeit der Justiz des Ausstellendungsmitgliedstaats betreffen und die es unmöglich machen, dieses Recht angemessen zu schützen.

19.      Zu Beginn meiner Analyse werde ich zunächst einige Vorbemerkungen zum Kontext und zum Inhalt des Vorlagebeschlusses machen (A). Anschließend werde ich die Vorlagefragen prüfen, indem ich zunächst auf den ungeschriebenen Grund für die ausnahmsweise Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls eingehe, den der Gerichtshof im Zusammenhang mit dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl entwickelt hat und auf den sich das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen stützt, das insbesondere den Rahmenbeschluss 2008/909 betrifft (B). Sodann werde ich prüfen, ob und inwieweit dieser ungeschriebene Grund auf diesen Rechtsakt übertragbar ist, der ein anderes Instrument der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen innerhalb der Europäischen Union darstellt, im Hinblick auf welches sich der Gerichtshof zum ersten Mal mit dieser Frage befasst (C). Schließlich werde ich auf die Frage eingehen, welches der angemessene Zeitpunkt ist, auf den es für die Anwendung dieses ungeschriebenen und ausnahmsweisen Grundes ankommt (D).

A.      Vorbemerkungen zum Kontext und zum Inhalt des Vorlagebeschlusses

20.      Wie bereits ausgeführt, betrifft das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen die Anwendung des Rahmenbeschlusses 2008/909. Dieser Rechtsakt fällt in den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, der von dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung getragen ist und auf dem gegenseitigen Vertrauen beruht, das die Mitgliedstaaten in die Strafrechtssysteme der anderen Mitgliedstaaten haben müssen(8). Kurz gesagt, dieses gegenseitige Vertrauen setzt voraus, dass jeder Mitgliedstaat davon ausgeht, dass das Unionsrecht, einschließlich der hierdurch garantierten Grundrechte, in allen anderen Mitgliedstaaten beachtet wird(9).

21.      Aus diesen kurzen Ausführungen ergibt sich, dass der Rahmenbeschluss 2008/909, soweit es um die Fragen geht, die im vorliegenden Zusammenhang relevant sind, denselben allgemeinen Grundsätzen wie der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl unterliegt(10).

22.      Wie noch näher darzulegen sein wird, beruht dieser Rahmenbeschluss auf der Verpflichtung zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, die nur durch die erschöpfend aufgeführten Ablehnungsgründe eingeschränkt ist. Gleichzeitig hat der Gerichtshof klargestellt, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls die betreffende Person nicht der echten Gefahr aussetzen darf, dass bestimmte von der Charta garantierte Grundrechte verletzt werden, und zudem später entschieden, dass durch seine Anwendung bestimmte bereits eingetretene Verstöße nicht geduldet werden können. Um zu verhindern, dass sich solche Situationen verwirklichen, hat der Gerichtshof einen zusätzlichen, ungeschriebenen Grund für die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls entwickelt, der jedoch nur unter außergewöhnlichen Umständen zur Anwendung kommen kann.

23.      Um festzustellen, ob solche Umstände vorliegen, hat der Gerichtshof eine zweistufige Prüfung entwickelt, die von der jeweils zuständigen nationalen Behörde vorzunehmen ist. Kurz gesagt erfordert diese Prüfung als ersten Schritt die Feststellung, ob im Ausstellungsmitgliedstaat systemische oder allgemeine Mängel vorliegen, die das in Rede stehende Grundrecht beeinträchtigen können. Ist dies der Fall, so ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob diese systemischen oder allgemeinen Mängel eine echte Gefahr der Verletzung des fraglichen Grundrechts begründen oder ob sie dieses Recht bereits spürbar beeinträchtigt haben.

24.      Mir ist klar, dass das vorlegende Gericht aufgrund der Ähnlichkeit der Grundsätze, die der justiziellen Zusammenarbeit nach dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl einerseits und dem Rahmenbeschluss 2008/909 andererseits zugrunde liegen, zu der Frage veranlasst wurde, ob der oben genannte ungeschriebene Grund auch im Anwendungsbereich dieses letztgenannten Rahmenbeschlusses zur Anwendung kommt. Zugleich verstehe ich, dass bestimmte Unterschiede zwischen diesen Rechtsakten das vorlegende Gericht zu der Frage veranlassen, ob dieser Grund unter den gleichen Voraussetzungen zur Anwendung kommt.

25.      Neben der impliziten Hauptfrage, die sich auf die Anwendbarkeit des in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl entwickelten ungeschriebenen Ablehnungsgrundes bezieht, wirft das vorlegende Gericht ausdrücklich oder stillschweigend vier spezifische Fragen auf, die sich wie folgt darstellen.

26.      Erstens fragt es sich, ob die zweistufige Prüfung, die nach diesem ungeschriebenen und ausnahmsweisen Grund erforderlich ist, auf die erste Stufe beschränkt werden kann oder ob auch die zweite Stufe zu durchlaufen und zu prüfen ist, ob die festgestellten Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit des Justizwesens des Ausstellungsmitgliedstaats das Grundrecht von MD auf ein faires Verfahren verletzt haben, bevor es die Vollstreckung des Urteils des Gerichts des anderen Mitgliedstaats verweigert werden kann (dritte Frage in Verbindung mit der ersten und der zweiten Frage).

27.      Zweitens hat das vorlegende Gericht unter den besonderen Umständen der vorliegenden Rechtssache Zweifel, was den Zeitpunkt betrifft, in Bezug auf den diese Prüfung durchzuführen ist: Ist es der Zeitpunkt, in dem das ursprüngliche, die Strafe verhängende Urteil ergangen ist, oder der Zeitpunkt, in dem die Aussetzung der Vollstreckung der Strafe widerrufen wurde (erste Frage), oder aber auf der Zeitpunkt, in dem die Vollstreckungsbehörde über die Anerkennung des Urteils und die Vollstreckung der Strafe zu entscheiden hat (zweite Frage).

28.      Schließlich ist das vorlegende Gericht sich nicht sicher, ob die Beurteilung der in Bezug auf das Justizwesen des Ausstellungsmitgliedstaats herrschenden Situation Sache des nationalen Gerichts ist oder ob es sich hierbei um eine Frage über die „Auslegung der Verträge“ handelt, die dem Gerichtshof vorbehalten ist. Im letztgenannten Fall fragt sich das vorlegende Gericht, ob dieses Justizsystem zu den maßgeblichen Zeitpunkten mit dem Rechtsstaatsprinzip in Einklang stand (vierte Frage).

29.      In den folgenden Abschnitten der vorliegenden Schlussanträge werde ich auf diese Fragen eingehen, indem ich mich als Erstes der Entstehung des ungeschriebenen Grundes für die ausnahmsweise Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zuwende, bevor ich als Zweites die Anwendbarkeit dieses Ablehnungsgrundes und die Bedingungen für seine Anwendung auf den Rahmenbeschluss 2008/909 in den Blick nehme, was als Drittes den für seine Anwendung maßgeblichen zeitlichen Bezugsrahmen umfasst.

B.      Der ungeschriebene Grund für die ausnahmsweise Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls

30.      Der Gerichtshof hat den ungeschriebenen Grund für die ausnahmsweise Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls im Urteil Aranyosi und Căldăraru(11) entwickelt, in dem angenommen wurde, dass die Übergabe der betreffenden Personen die Gefahr begründe, dass diese Personen angesichts der systemischen Mängel bezüglich der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat einem Verstoß gegen das absolute Verbot einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung(12) ausgesetzt sein würden.

31.      In diesem Zusammenhang erinnerte der Gerichtshof daran, dass die Mitgliedstaaten grundsätzlich zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verpflichtet seien(13), vorbehaltlich der Gründe für die zwingende und fakultative Ablehnung der Vollstreckung, die in den Art. 3, 4 und 4a dieses Rahmenbeschlusses abschließend geregelt sind. Keiner der in diesen Bestimmungen aufgeführten Gründe kam im gegebenen Fall zur Anwendung. Der Gerichtshof stellte jedoch fest, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls unter außergewöhnlichen Umständen auch dann abgelehnt werden könne, wenn zum einen systematische oder allgemeine Mängel festgestellt würden, die den Schutz eines betroffenen Grundrechts beeinträchtigen können, und zum anderen schwerwiegende Gründe für die Annahme bestünden, dass die Person, gegen die sich ein Europäischer Haftbefehl richtet, im Fall ihrer Übergabe einer echten Gefahr einer Verletzung ihrer in Rede stehenden Grundrechte ausgesetzt sein wird(14).

32.      Der Gerichtshof bekräftigte die Anwendung dieses ungeschriebenen Grundes für die ausnahmsweise Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls und der ihm zugrunde liegenden zweistufigen Prüfung im Urteil Minister for Justice and Equality  (Mängel des Justizsystems) im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen Gericht, wie es in Art. 47 Abs. 2 der Charta verankert ist. Aus diesem Urteil ergibt sich, dass vollstreckende Justizbehörde berechtigt ist, einem Europäischen Haftbefehl keine Folge zu leisten, wenn sie, erstens, aufgrund objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben über das Funktionieren des Justizsystems im Ausstellungsmitgliedstaat feststellt, dass eine echte Gefahr der Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren gegeben ist, die mit einer mangelnden Unabhängigkeit der Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel zusammenhängt, und wenn es, zweitens, unter den besonderen Umständen des Falles ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die gesuchte Person im Anschluss an ihre Übergabe einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird(15).

33.      In seinen Urteilen Openbaar Ministerie (Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde)(16) und Openbaar Ministerie (Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht)(17) hat der Gerichtshof bestätigt, dass das nationale Gericht, nachdem es festgestellt hat, dass die erste Stufe der zweistufigen Prüfung erfüllt ist, dennoch zur zweiten Stufe übergehen und die besonderen Umstände des Falles beurteilen muss.

34.      Während die Anwendung des ungeschriebenen Grundes der ausnahmsweisen Ablehnung eines Europäischen Haftbefehls Ablehnungsgrundes zunächst vor dem Hintergrund tatsächlicher Umstände beurteilt wurde, die nur die Prüfung einer möglichen Verletzung des in Rede stehenden Grundrechts (die echte Gefahr) nahelegten, hat der Gerichtshof ferner klargestellt, dass dieser Grund auch auf Situationen Anwendung finde, in denen Anhaltspunkte für einen in der Vergangenheit liegenden Verstoß vorliegen (wenn der betreffende Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellt wurde, die in einem Strafverfahren verhängt wurde, das spürbar von den festgestellten systemischen oder allgemeinen Mängeln in Bezug auf die Unabhängigkeit des Justizwesens des Ausstellungsmitgliedstaats betroffen war)(18).

C.      Der ungeschriebene Grund der ausnahmsweisen Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls und der Rahmenbeschluss 2008/909

35.      Bevor ich mich der Hauptfrage zuwende, ob der ungeschriebene Grund für eine ausnahmsweise Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in entsprechender Weise auch auf den Rahmenbeschluss 2008/909 Anwendung findet (2), werde ich mich dazu äußern, ob eine solche Erwägung für die Situation im Ausgangsverfahren überhaupt relevant ist. Relevanz dürfte insoweit nämlich nur dann anzunehmen sein, wenn sich das vorlegende Gericht in einer Situation befindet, in der die rechtliche Regelung dieses Rechtsakts eine Verpflichtung zur Anerkennung des Urteils und zur Vollstreckung der in Rede stehenden Sanktion vorschreibt (1).

1.      Zum Bestehen einer Verpflichtung zur Anerkennung des Urteils und zur Vollstreckung der Sanktion

36.      Ich erinnere daran, dass der ungeschriebene Grund der ausnahmsweisen Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls entwickelt worden ist, um der echten Gefahr einer Verletzung bestimmter durch die Charta geschützter Grundrechte vorzubeugen (oder um zu verhindern, dass eine solche Verletzung nachträglich geduldet wird), was, wenn ein Bedürfnis für die Anwendung dieses ungeschriebenen Grundes festgestellt wird, eine Ausnahme von der Verpflichtung zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls begründet.

37.      Damit dieser Grund im Kontext des Rahmenbeschlusses 2008/909 zum Tragen kommt, muss also festgestellt werden, dass sich die Vollstreckungsbehörde in einer Situation befindet, in der sie verpflichtet ist, das ihr übermittelte Urteil anzuerkennen und die durch dieses Urteil verhängte Sanktion zu vollstrecken. Eine solche Verpflichtung besteht jedoch nicht in allen Fällen, die von diesem Rechtsakt erfasst werden.

38.      Dieser Rechtsakt unterscheidet nämlich zwischen verschiedenen Situationen, je nachdem, in welchem Verhältnis die betreffende verurteilte Person zu dem Mitgliedstaat steht, an den das Ersuchen um Anerkennung gerichtet worden ist.

39.      Gemäß Art. 4 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/909 kann der Ausstellungsmitgliedstaat ein entsprechendes Ersuchen richten: a) an den Mitgliedstaat der Staatsangehörigkeit der verurteilten Person, in dem sie lebt, b) an den Mitgliedstaat der Staatsangehörigkeit der verurteilten Person, in den sie, auch wenn sie nicht dort lebt, nach der Entlassung aus dem Strafvollzug abgeschoben werden wird, oder c) an jeden anderen Mitgliedstaat, „dessen zuständige Behörde der Übermittlung des Urteils und der Bescheinigung an diesen Mitgliedstaat zustimmt“.

40.      Anders gesagt hängt der dritte Fall von einer Zustimmung abhängt, die erteilt, aber auch versagt werden kann, während die ersten beiden Fälle zur Anerkennung des Urteils und zur Vollstreckung der fraglichen Sanktion verpflichten(19). Folglich führt diese dritte Fallkonstellation für sich betrachtet nicht zu einer Verpflichtung, einem entsprechenden Ersuchen stattzugeben.

41.      Nach den Angaben im Vorlagebeschluss ist MD ein Staatsangehöriger des Ausstellungsmitgliedstaats und wohnt im Vollstreckungsmitgliedstaat. Diese Angaben scheinen, vorbehaltlich der Prüfung durch das vorlegende Gericht, darauf hinzudeuten, dass er nicht auch ein Staatsangehöriger des letztgenannten Staates ist. Meines Erachtens kommt es auf die in Art. 4 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/909 getroffene Unterscheidung jedoch jedenfalls dann nicht an, wenn das Ersuchen um Anerkennung im Anschluss an die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls im Sinne von Art. 4 Abs. 6 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl erfolgte. Nach dieser Bestimmung kann nämlich, wie bereits erwähnt, der Vollstreckungsmitgliedstaat die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls dann ablehnen, wenn er sich verpflichtet, die betreffende Strafe zu vollstrecken(20).

42.      Den dem Gerichtshof vorliegenden Akten entnehme ich, dass dies offenbar die Situation des Ausgangsverfahrens ist(21), die sich allgemein in Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909 widerspiegelt, wonach „die Bestimmungen [dieses Rechtsakts], unbeschadet des Rahmenbeschlusses [über den Europäischen Haftbefehl] und soweit sie mit diesem vereinbar sind, sinngemäß für die Vollstreckung von Sanktionen in Fällen [gelten], in denen ein Mitgliedstaat sich zur Vollstreckung der Sanktion in Fällen gemäß Artikel 4 Absatz 6 des [Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl] verpflichtet“.

43.      Wenn der Vollstreckungsmitgliedstaat befugt wäre, die Anerkennung eines Urteils gemäß Art. 4 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2008/909 zu verweigern, nachdem er die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gestützt auf Art. 4 Abs. 6 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl verweigert hat, würde dies meines Erachtens zu einer Situation führen, die mit dem letztgenannten Rechtsakt unvereinbar ist(22). Ich bin daher der Ansicht, dass kein Ermessensspielraum besteht, wenn das Ersuchen um Anerkennung und Vollstreckung in diesem spezifischen Kontext gestellt wird, selbst wenn die in Rede stehende Situation andernfalls unter das in Art. 4 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2008/909 vorgesehene Ermessensszenario fallen würde(23).

44.      Unter diesen Umständen ist genauer zu prüfen, ob und unter welchen Voraussetzungen der oben genannte ungeschriebene und ausnahmsweise Grund auf diesen Rechtsakt anwendbar ist.

2.      Anwendbarkeit des ungeschriebenen Grundes der ausnahmsweisen Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls auf den Rahmenbeschluss 2008/909

45.      Um diese Frage zu prüfen, möchte ich zunächst an meine frühere Feststellung erinnern, dass der Rahmenbeschluss 2008/909 ebenso wie der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl ein Rechtsakt im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist.

46.      Sodann beruht er, wie bereits festgestellt, ebenso wie der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl, auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der sich wiederum aus dem gegenseitigen Vertrauen ergibt, das die Mitgliedstaaten in ihre jeweiligen Rechtsordnungen haben sollten. Dieses gegenseitige Vertrauen verlangt, dass die Mitgliedstaaten, sofern nicht außergewöhnliche Umstände vorliegen, davon ausgehen, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und die durch dieses anerkannten Grundrechte beachten(24).

47.      Drittens sollte daher in der Regel, wenn dieser Rechtsakt die Vollstreckungsbehörde zur Anerkennung eines Urteils und zur Vollstreckung einer Strafe verpflichtet, einem entsprechenden Ersuchen gemäß Art. 8 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/909 stattgegeben werden, wenn nicht einer der in Art. 9 Abs. 1 dieses Rechtsakts abschließend aufgeführten Versagungsgründe eingreift(25). Ich gehe davon aus, dass keiner dieser Gründe auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens Anwendung findet(26).

48.      Wie bereits erwähnt, bedeutet gegenseitiges Vertrauen jedoch kein blindes Vertrauen(27). Das Unionsrecht muss stets im Einklang mit der Charta ausgelegt werden, um Situationen zu vermeiden, in denen seine Anwendung eine echte Gefahr einer Verletzung der in der Charta garantierten Grundrechte begründen würde oder in denen, was im vorliegenden Fall von Bedeutung ist, seine Anwendung dazu führen würde, bestimmte Situationen, in denen eine solche Verletzung bereits stattgefunden hat, zu dulden. Dieser Gedanke kommt in der „Grundrechtsklausel“ von Art. 3 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses zum Ausdruck, in der es – ebenso wie Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl – heißt, dass dies nicht die Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und der allgemeinen Rechtsgrundsätze gemäß Art. 6 EUV berührt(28).

49.      Aus der im vorangegangenen Abschnitt dieser Schlussanträge zitierten Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich Folgendes: Wenn die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zur Vollstreckung einer Sanktion führen würde, die im Rahmen eines Strafverfahrens verhängt wurde, das durch systemische oder allgemeine Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit des Justizwesens des Ausstellungsmitgliedstaats gekennzeichnet war und daher die Art und Weise, in der das betreffende Strafverfahren geführt wurde, spürbar beeinträchtigt hat, hätte dies zur Folge, dass eine Verletzung des Rechts der betroffenen Person auf ein faires Verfahren geduldet würde(29).

50.      Da der Rahmenbeschluss 2008/909 und der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl auf derselben Grundlage des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung beruhen, auf der eine wirksame Vollstreckung einer Freiheitsstrafe beruhen kann, bin ich der Ansicht, dass für diese beiden Rechtsakte der ungeschriebene Grund gelten muss, der es ausnahmsweise gestattet, das Ersuchen der zuständigen Behörde eines anderen Mitgliedstaats abzulehnen. Die praktische Anwendung beider Rechtsakte kann nämlich zu einer Situation führen, in der es erforderlich ist, die in der vorstehenden Nummer allgemein beschriebenen negativen Folgen zu vermeiden.

51.      Aufgrund der Vergleichbarkeit der Merkmale, die diesen beiden Rechtsakten zugrunde liegen, bin ich zudem zu der Auffassung gelangt, dass der in Rede stehende ungeschriebene Grund unter denselben Voraussetzungen anwendbar ist, unabhängig davon, welcher dieser beiden Rechtsakte geltend gemacht wird. Das bedeutet, dass, wie auch die niederländische und die polnische Regierung sowie die Kommission ausgeführt haben, die Anwendung dieses Grundes auf derselben zweistufigen Prüfung beruhen muss, die der Gerichtshof im Kontext des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl entwickelt hat. Entsprechend dem, was der Gerichtshof in diesem Zusammenhang festgestellt hat, bin ich nämlich der Ansicht, dass sich unabhängig davon, wie schwerwiegend die systemischen oder allgemeinen Mängel sein mögen, die bloße Tatsache ihres Bestehens nicht zwingend auf jede Entscheidung auswirkt, die die Gerichte des betreffenden Mitgliedstaats im jeweiligen Einzelfall erlassen können(30).

52.      Deshalb bedarf es des zweiten und individualisierten Prüfungsschritts beim Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl erforderlich, und deshalb bedarf es dieses Schrittes auch im Zusammenhang mit dem Rahmenbeschluss 2008/909.

53.      Diese Feststellung wird meines Erachtens weder durch das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache OG und PI (Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau)(31) noch dadurch in Frage gestellt, dass im Rahmenbeschluss 2008/909 eine Bestimmung fehlt, die dem zehnten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl entspricht. Das vorlegende Gericht stützt seine Auffassung, dass die Anwendung des ersten Prüfungsschritts genüge, auf diese beiden Elemente.

54.      Was erstens das Urteil OG und PI (Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau) betrifft, so hat der Gerichtshof in diesem Urteil zusammengefasst dargelegt, welchen Voraussetzungen eine „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl genügen muss, um als „unabhängig“ gelten und somit Europäische Haftbefehle ausstellen zu können, denen die Rechtswirkungen zukommen, die das Unionsrecht ihnen beimisst. Die in diesen Rechtssachen in Rede stehenden Staatsanwaltschaften erfüllten diese Voraussetzungen nicht, weshalb ihnen nicht die Eigenschaft als „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl zukam.

55.      Als Reaktion auf dieses Urteil sah sich der Gerichtshof mit der Frage konfrontiert, ob die in diesen Rechtssachen getroffene Entscheidung bedeutet, dass das Feststellen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit des Justizwesens impliziert, dass alle Gerichte des betreffenden Mitgliedstaats den Status der „ausstellenden Justizbehörde“ verlieren, was die Vollstreckungsbehörde dann von dem Erfordernis entbinden würde, den zweiten Schritt der Prüfung durchzuführen, die der Anwendung des ungeschriebenen Grundes für die ausnahmsweise Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zugrunde liegt(32).

56.      Der Gerichtshof hat dies verneint. Er führte aus, dass das Ergebnis, zu dem er im Urteil OG und PI (Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau) gelangt war, nicht auf systemischen oder allgemeinen Mängeln des betreffenden nationalen Justizsystems, sondern auf der Tatsache beruht habe, dass die betreffenden Staatsanwaltschaften in jenen Rechtssachen der Exekutive unterstellt waren, die ihnen Weisungen erteilen konnte, ob in einem bestimmten Fall ein Europäischer Haftbefehl erlassen werden soll oder nicht(33).

57.      Die Situationen, die zur Entwicklung des oben genannten ungeschriebenen Grundes für die ausnahmsweise Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls geführt haben, betreffen dagegen einen Fall, in dem ein Europäischer Haftbefehl von einem Gericht erlassen wurde, dessen strukturelle Unabhängigkeit von der Exekutive nicht von vornherein in Zweifel gezogen werden kann, weil es sich eben um ein Gericht und nicht um eine Staatsanwaltschaft handelt. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich, dass diese Prämisse nur in der Ausnahmesituation systemischer oder allgemeiner Mängel des Justizsystems als solchem in Frage gestellt werden kann, die Zweifel an der tatsächlichen Funktionsweise der Gerichte, die Teil dieses Systems sind, begründen. Da sich solche systemischen oder allgemeinen Mängel jedoch in den verschiedenen Gerichtsbarkeiten des in Rede stehenden Staates unterschiedlich auswirken können, muss nicht nur festgestellt werden, dass sie bestehen (erster Schritt), sondern auch, dass sie sich auf den konkreten Fall auswirken können oder bereits ausgewirkt haben (zweiter Schritt).

58.      Die gleiche Argumentation muss meines Erachtens auch im Zusammenhang mit dem Rahmenbeschluss 2008/909 zur Anwendung kommen. Die Funktionsweise dieses Rechtsakts beruht nämlich auf der gegenseitigen Anerkennung der Urteile der Gerichte der Mitgliedstaaten, deren Unabhängigkeit, von Ausnahmefällen abgesehen, nicht in Zweifel gezogen werden darf. Da sich diese besonderen Umstände, wie bereits ausgeführt, im Justizwesen des betroffenen Ausstellungsstaats unterschiedlich auswirken können, sind ihre konkreten Folgewirkungen für den Einzelfall zu prüfen.

59.      Zweitens ändert sich, was die Frage der Anwendbarkeit beider Prüfungsschritte betrifft, das Ergebnis entgegen der Auffassung des vorlegenden Gerichts nicht dadurch, dass der Rahmenbeschluss 2008/909 keine Entsprechung zum zehnten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl enthält. In diesem Erwägungsgrund heißt es, dass die Anwendung des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls „nur ausgesetzt werden [darf], wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in [Art. 2 EUV] enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt“ und diese Verletzung gemäß dem in Art. 7 EUV vorgesehenen Verfahren festgestellt wird.

60.      Es trifft zu, dass sich der Gerichtshof im Urteil Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) auf diesen Erwägungsgrund gestützt hat, um festzustellen, dass der zweite Prüfungsschritt nicht durchgeführt werden muss, wenn der Rat den Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl in Bezug auf den betreffenden Mitgliedstaat aufgrund des in Art. 7 Abs. 2 EUV vorgesehenen Verfahrens aussetzt(34).

61.      Daraus folgt jedoch nicht, dass das Fehlen einer Bestimmung im Rahmenbeschluss 2008/909 bedeutet, dass dieses Verfahren durch die Entscheidung eines nationalen Gerichts ersetzt werden kann.

62.      Im Zusammenhang mit dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl war der Gerichtshof sehr deutlich, als er feststellte, dass die Nichtanwendung des zweiten Prüfungsschritts zu einem (unzulässigen) allgemeinen Ausschluss der Anwendung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung auf die von den Gerichten des betreffenden Mitgliedstaats getroffenen Entscheidungen führen würde(35).

63.      Ich bin der Ansicht, dass diese Feststellung auch in Bezug auf den Rahmenbeschluss 2008/909 gilt. Wie im Grundsatz auch von der niederländischen und der polnischen Regierung sowie von der Kommission angemerkt wurde, ändert das Fehlen einer ausdrücklichen Bezugnahme auf den in Art. 7 Abs. 2 EUV vorgesehenen Aussetzungsmechanismus in einem solchen Rechtsakt des Sekundärrechts nichts daran, dass sich die generelle Aussetzung seines Vollzugs gegenüber einem bestimmten Mitgliedstaat nur aus diesem Mechanismus ergeben kann.

64.      Was schließlich die Zweifel des vorlegenden Gerichts betrifft, ob der erste Prüfungsschritt von den nationalen Gerichten vorzunehmen ist oder ob es sich dabei um eine dem Gerichtshof vorbehaltene Frage der Auslegung des Unionsrechts handelt, so erkenne ich die Bedenken des vorlegenden Gerichts hinsichtlich der Bedeutung dieser Feststellung voll an. Hinsichtlich des Vorschlags des vorlegenden Gerichts (wie dieser in der Formulierung der vierten Vorlagefrage zum Ausdruck kommt)(36), dass eine solche Feststellung einheitlich getroffen werden sollte, um Rechtsunsicherheit in der Europäischen Union zu vermeiden, weise ich allerdings darauf hin, dass sich eine solche einheitliche Feststellung nur aus dem oben erwähnten, auf Art. 7 Abs. 2 EUV beruhenden Verfahren ergeben kann, das seinerseits dazu führt, dass die Anwendung des in Rede stehenden Rechtsakts gegenüber dem betreffenden Mitgliedstaat ausgesetzt wird. Mangels einer solchen Feststellung findet der Rahmenbeschluss 2008/909 weiterhin Anwendung. Dessen ungeachtet bin ich aus den oben dargelegten Gründen der Auffassung, dass die Grundrechtsklausel in Art. 3 Abs. 4 dieses Rahmenbeschlusses der Vollstreckungsbehörde die Möglichkeit eröffnet oder sie sogar dazu verpflichtet, durch die ausnahmsweise Ablehnung der Anerkennung eines Urteils und der Vollstreckung einer Sanktion unter den oben in den vorliegenden Schlussanträgen beschriebenen Voraussetzungen zu verhindern, dass frühere Verstöße gegen das Grundrecht auf ein faires Verfahren geduldet werden.

65.      Insoweit stelle ich zudem fest, dass die Frage, ob der in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehende ungeschriebene Grund, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ausnahmsweise abzulehnen, generell auf den Rahmenbeschluss 2008/909 übertragen werden kann, ebenso wie die Voraussetzungen seiner Anwendbarkeit zwar eine Frage der Auslegung des Unionsrechts sind, über die der Gerichtshof in seiner Antwort auf eine ihm gemäß Art. 267 AEUV vorgelegte Frage entscheiden kann, dass aber die Feststellung, ob dieser Grund in einer bestimmten Situation zur Anwendung kommen muss, von den Umständen des konkreten Falles abhängt und eine Frage der Anwendung des Unionsrechts darstellt, die allein in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts fällt(37). Dies gilt nicht nur für den zweiten Schritt der Prüfung, der die besonderen Umstände des konkreten Falles zum Gegenstand hat, sondern auch für den ersten Schritt und für die Feststellung des Bestehens allgemeiner oder systemischer Mängel im vorliegenden Fall im Hinblick auf das Justizwesen des Ausstellungmitgliedstaats. Im Einklang mit dieser Ausgangsprämisse gibt die Rechtsprechung zum Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl, auf die in den vorliegenden Schlussanträgen vielfach Bezug genommen wird, dem nationalen Gericht Orientierungshilfen, welches die hierfür zu berücksichtigenden Faktoren sind(38).

66.      In Anbetracht der vorstehenden Analyse komme ich daher zu dem Ergebnis, dass Art. 3 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/909 dahin auszulegen ist, dass die Vollstreckungsbehörde in Fällen, in denen sie nach diesem Rechtsakt zur Anerkennung eines Urteils und zur Vollstreckung einer Sanktion verpflichtet ist und in denen diese Behörde erstens über Anhaltspunkte für systemische oder allgemeine Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit des Justizwesens im Ausstellungsmitgliedstaat verfügt, sie eine solche Anerkennung und Vollstreckung nur dann verweigern kann, wenn sie, zweitens, zu dem Schluss gelangt, dass unter den Umständen des konkreten Falles stichhaltige Gründe die Annahme rechtfertigen, dass u. a. in Anbetracht der von der verurteilten Person vorgebrachten sachdienlichen Informationen in Bezug auf die Art und Weise, in der ihr Strafverfahren geführt wurde, das Grundrecht dieser Person auf ein faires Verfahren gemäß Art. 47 Abs. 2 der Charta verletzt worden ist.

D.      Der maßgebliche zeitliche Bezugsrahmen

67.      Es bleibt zu klären, welches der maßgebliche Zeitpunkt ist, in Bezug auf den die Anwendung des oben genannten ungeschriebenen Grundes zu prüfen und die im vorliegenden Fall erörterte zweistufige Prüfung vorzunehmen ist.

68.      Unter den Umständen des Ausgangsverfahrens stellt sich insbesondere die Frage, ob, erstens, dieser Zeitpunkt entweder der Erlass des ursprünglichen Urteils ist, mit dem eine Freiheitsstrafe gegen MD verhängt wurde, oder ob dies, zweitens, auch der Zeitpunkt des Erlasses des Beschlusses sein könnte, mit dem die Aussetzung der Vollstreckung dieser Strafe widerrufen wurde (im Folgenden: Widerrufsbeschluss), oder ob dies, drittens, auch den Zeitpunkt umfassen kann, in dem das vorlegende Gericht über das Ersuchen um Vollstreckung der fraglichen Freiheitsstrafe zu entscheiden hat.

69.      Ich stelle fest, dass die Maßgeblichkeit des ersten vom vorlegenden Gericht genannten Zeitpunkts keinen besonderen Bedenken begegnet. Soviel ich weiß, wurde die in Rede stehende Freiheitsstrafe gegen MD zu jenem Zeitpunkt aufgrund eines Verfahrens verhängt, in dem die Schuld von MD festgestellt wurde. Ein solches Verfahren muss zweifellos die angemessenen verfahrensrechtlichen Garantien einhalten, einschließlich des in Art. 47 Abs. 2 der Charta verankerten Rechts auf ein faires Verfahren, um das es im Ausgangsverfahren geht. Wie auch die Kommission und die polnische Regierung vorgetragen haben, muss daher die Anwendung des vom vorlegenden Gericht erwogenen ungeschriebenen Grundes logischerweise auf die zum Zeitpunkt dieses Verfahrens im Ausstellungsmitgliedstaat herrschende Situation Bezug nehmen, um festzustellen, ob das Verfahren vor dem Hintergrund systemischer oder allgemeiner Mängel stattfand, die die Unabhängigkeit des Justizwesens des Ausstellungsstaats in Frage stellen, und ob diese Mängel darüber hinaus das Grundrecht von MD auf ein faires Verfahren spürbar beeinträchtigten.

70.      Sollte das vorlegende Gericht zu dem Ergebnis kommen, dass die zweistufige Prüfung zu einer positiven Antwort führt, gehe ich davon aus, dass sich – wie auch die Kommission vorschlägt – die Prüfung etwaiger späterer Entscheidungen, die im Anschluss an das ursprüngliche Urteil ergangen sind, erübrigt, da die Möglichkeit ihrer Anerkennung und Vollstreckung von der Möglichkeit der Anerkennung und Vollstreckung des ursprünglichen Urteils abhängt.

71.      Sollte jedoch die in Bezug auf das ursprüngliche Urteil vorgenommene Prüfung die Möglichkeit seiner Anerkennung und Vollstreckung offenlassen, so stellt sich die Frage, ob die Anwendung des in Rede stehenden ungeschriebenen Grundes auch unter Bezugnahme auf die Situation erfolgen kann, die im Ausstellungsmitgliedstaat zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerrufsbeschlusses herrschte (zweiter oben in Nr. 68 genannter Zeitpunkt).

72.      Zu dieser Frage vertreten die polnische Regierung und die Kommission unterschiedliche Auffassungen. Während die Kommission diesen Zeitpunkt für den maßgeblichen hält (wenn auch nur subsidiär, wie ich oben in den Nrn. 70 und 71 dargelegt habe), vertritt die polnische Regierung die gegenteilige Auffassung.

73.      Ich stimme grundsätzlich mit der Kommission überein, auch wenn ich diese Aussage im Folgenden noch weiter differenzieren werde.

74.      Zur Begründung ihres Standpunkts, dass der zweite oben genannte Zeitpunkt nicht relevant sei, führt die polnische Regierung aus, dass der Widerrufsbeschluss nicht die Definition des Begriffs der Entscheidung im Sinne von Art. 1 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2008/909 erfülle und daher nicht in den Anwendungsbereich dieses Rechtsakts falle.

75.      Insoweit trifft es zu, dass der Rahmenbeschluss 2008/909 nach seinem Art. 3 Abs. 3 „nur für die Anerkennung von Urteilen … im Sinne [dieses Rahmenbeschlusses]“ gilt. In Art. 1 Buchst. a des Rahmenbeschlusses wird der Begriff „Urteil“ als „eine rechtskräftige Entscheidung eines Gerichts des Ausstellungs[mitglied]staats, durch die eine Sanktion gegen eine natürliche Person verhängt wird“ definiert. Auch wurde die in Rede stehende Sanktion gegen MD durch das ursprüngliche Urteil verhängt, während der spätere Beschluss „lediglich“ die ursprüngliche Aussetzung ihrer Vollstreckung widerrufen hat.

76.      Diese Feststellung bedeutet jedoch meines Erachtens nicht, dass dieser Beschluss für die Anwendung des Rahmenbeschlusses 2008/909 ohne Bedeutung wäre.

77.      In Übereinstimmung mit der Kommission stelle ich fest, dass im vorliegenden Fall das ursprüngliche Urteil die spezifische Anwendung der Anerkennungsregelung des Rahmenbeschlusses 2008/909 nur auslösen konnte, als die ursprüngliche Aussetzung der Vollstreckung der Sanktion durch den streitigen Beschluss widerrufen wurde, weil MD vor dessen Erlass noch nicht verpflichtet war, mit der Verbüßung der gegen ihn verhängten Sanktion zu beginnen. Es ist daher dieser Beschluss (in Zusammenschau mit dem ursprünglichen Urteil), der bei Erfüllung der einschlägigen Voraussetzungen grundsätzlich die Verpflichtung der Vollstreckungsbehörde auslöst, die verhängte Sanktion zu vollstrecken. Dies genügt meines Erachtens, um zumindest in diesem Stadium der Analyse nicht auszuschließen, dass der zweite oben in Nr. 68 genannte Zeitpunkt für die Prüfung des in Rede stehenden ungeschriebenen Grundes, es ausnahmsweise abzulehnen, einem Ersuchen gemäß dem Rahmenbeschluss 2008/909 nachzukommen, von Bedeutung ist.

78.      Dessen ungeachtet macht die polnische Regierung auch geltend, dass es auf die Berücksichtigung der Situation im Ausstellungsmitgliedstaat zu diesem Zeitpunkt nicht ankomme, weil der Widerrufsbeschluss weder die Natur noch die Höhe der verhängten Strafe geändert habe. Dies mache eine Berücksichtigung der herrschenden Situation kurz gesagt überflüssig. Die polnische Regierung hat weiter ausgeführt, dass der Widerruf der Aussetzung nach dem geltenden nationalen Recht zwingend vorgeschrieben sei, wenn der Betroffene während der Bewährungszeit eine vorsätzliche Straftat begangen habe(39) und dass das nationale Gericht in einem solchen Fall über keinerlei Ermessensspielraum verfüge, so dass es die Aussetzung der Strafe zu Bewährung widerrufen müsse.

79.      Ich stelle fest, dass der Gerichtshof in der Rechtssache Ardic über eine ähnliche Situation zu entscheiden hatte(40). In dieser Rechtssache wurde die Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe widerrufen, weil der Betroffene die für die Bewährungszeit geltenden Auflagen nicht erfüllt hatte. Der Betroffene nahm an der Verhandlung teil, die mit dem eine Freiheitsstrafe verhängenden Urteil endete, beteiligte sich aber nicht an dem anschließenden Verfahren, in dem die Aussetzung der Vollstreckung dieser Strafe widerrufen wurde. Unter diesen Umständen wurde der Gerichtshof ersucht, zu prüfen, ob die Abwesenheit der betreffenden Person in dem Verfahren, das zu diesem späteren Widerrufsbeschluss führte, unter bestimmten Voraussetzungen einen Grund für die Verweigerung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gemäß Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl darstellen kann.

80.      Der Gerichtshof verneinte dies und führte aus, dass dieser Ablehnungsgrund nur in Bezug auf eine Entscheidung Berücksichtigung finden könne, die aus einem Verfahren resultiere, das in Abwesenheit des Betreffenden stattgefunden habe und in dem endgültig über die Schuld und gegebenenfalls über die Freiheitsstrafe entschieden werde. Dagegen betreffe dieser Grund keine Entscheidungen über die Vollstreckung oder die Anwendung einer Freiheitsstrafe, es sei denn, sie ändere die Natur oder die Höhe dieser Strafe und die Behörde, die sie erlassen habe, verfüge insoweit über einen Ermessensspielraum(41).

81.      Aus den Akten geht hervor, dass der in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehende Widerrufsbeschluss weder die Natur noch die Höhe der verhängten Strafe geändert hat. Außerdem verfügte das nationale Gericht, vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht, bezüglich der Frage des Erlasses dieses Beschlusses über keinerlei Ermessensspielraum.

82.      Meines Erachtens ergibt sich hieraus jedoch nicht, dass die Umstände im Ausstellungsmitgliedstaat, die zu diesem Widerruf geführt haben, für die Prüfung der Frage, ob der ungeschriebene Grund für die ausnahmsweise Ablehnung der Anerkennung eines Urteils und der Vollstreckung einer Sanktion im vorliegenden Fall zur Anwendung kommen kann, zwangsläufig ohne Bedeutung sind. Der Grund hierfür besteht darin, dass der Betroffene möglicherweise spezifische Informationen liefern kann, um darzutun, dass der maßgebliche Umstand, der zum Widerruf der Aussetzung der Strafvollstreckung geführt hat, eine spürbare Folge der oben genannten allgemeinen oder systemischen Mängel war.

83.      Allerdings ergeben sich aus dem Vorlagebeschluss keine derartigen spezifischen Informationen, und es wird darin auch nicht ausgeführt, was genau der maßgebliche Umstand war, der zum Erlass des streitigen Widerrufsbeschlusses geführt hat.

84.      Dementsprechend können die Gründe, die zu dem Beschluss, eine Aussetzung einer Freiheitsstrafe zu widerrufen, verschiedene sein und von dem anwendbaren nationalen Recht abhängen. Der Erläuterung der polnischen Regierung, wie diese oben in Nr. 78 beschrieben worden ist, entnehme ich, dass der Erlass eines Widerrufsbeschlusses wie der vorliegenden in Rede stehende eine zwingende Folge des Umstands ist, dass eine neue (vorsätzliche) Straftat begangen wurde.

85.      Sollte festgestellt werden, dass der Erlass eines Widerrufsbeschlusses eine zwingende Folge der erneuten strafrechtlichen Verurteilung von MD ist, bin ich daher, wie grundsätzlich auch die Kommission, der Auffassung, dass die Umstände, unter denen diese Verurteilung erfolgte (und mithin der Zeitpunkt dieser neuen strafrechtlichen Verurteilung) für die hilfsweise Anwendung des in Rede stehenden ungeschriebenen und ausnahmsweisen Grundes von Bedeutung sind, sofern vor die der Vollstreckungsbehörde dargelegten Anhaltspunkte ein solches Vorgehen nahelegen.

86.      Sollte nämlich festgestellt werden, dass sich die systemischen oder allgemeinen Mängel im Justizwesen des Ausstellungsmitgliedstaats spürbar auf das Recht des Betroffenen auf ein faires Verfahren in diesem neuen Strafverfahren ausgewirkt haben, in dem er wegen einer neuen Straftat für schuldig befunden wurde, wird diese Feststellung notwendigerweise dafür von Bedeutung sein, den späteren Widerruf im Hinblick auf die Anerkennungs- und Vollstreckungsregelung des Rahmenbeschlusses 2008/909 zu prüfen. Denn ohne einen solche erneute strafrechtliche Verurteilung wäre es nicht zum Widerruf der Aussetzung der Strafvollstreckung gekommen(42).

87.      Was schließlich den dritten oben in Nr. 68 genannten Zeitpunkt betrifft, nämlich den Zeitpunkt, zu dem die Vollstreckungsbehörde über die Anerkennung des Urteils und die Vollstreckung der Sanktion zu entscheiden hat, vermag ich dagegen, ebenso wie die polnische Regierung und die Kommission, dessen Relevanz für die Anwendung des in Rede stehenden ungeschriebenen Grundes nicht zu erkennen, da die Situation im Ausstellungsmitgliedstaat zu diesem Zeitpunkt das dort bereits abgeschlossene Strafverfahren nicht rückwirkend beeinträchtigen kann(43).

88.      In Anbetracht der vorstehenden Analyse komme ich zu dem Ergebnis, dass in dem Fall, in dem ein Ersuchen um Anerkennung und Vollstreckung nach dem Rahmenbeschluss 2008/909 ein Urteil betrifft, mit dem eine Freiheitsstrafe verhängt wurde, deren Vollstreckung – nach ursprünglicher Aussetzung – in der Folge ohne Änderung der Natur oder der Höhe dieser Strafe angeordnet wurde, die Anwendung des ungeschriebenen Grundes der ausnahmsweisen Ablehnung der Anerkennung eines Urteils und der Vollstreckung einer Sanktion (wie oben in Nr. 66 der vorliegenden Schlussanträge beschrieben) in Betracht zu ziehen und die zweistufige Prüfung, auf der dieser Grund beruht, unter Bezugnahme auf den Zeitpunkt vorzunehmen ist, in dem das ursprüngliche, die Freiheitsstrafe verhängende Urteil ergangen ist. Führt diese Prüfung nicht zu dem Ergebnis, dass die Anerkennung und Vollstreckung zu verweigern ist, so ist, sofern vor der Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats Anhaltspunkte dargelegt werden, die ein solches Vorgehen nahelegen, die gleiche Prüfung unter Bezugnahme auf den Zeitpunkt vorzunehmen, in dem der maßgebliche Umstand eingetreten ist, der zum Widerruf der Aussetzung der Strafvollstreckung geführt hat.

V.      Ergebnis

89.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Landgericht Aachen (Deutschland) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

Art. 3 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union

ist dahin auszulegen, dass in Fällen, in denen die Vollstreckungsbehörde nach diesem Rahmenbeschluss zur Anerkennung eines Urteils und zur Vollstreckung einer Sanktion verpflichtet ist und in denen diese Behörde erstens über Anhaltspunkte für systemische oder allgemeine Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit des Justizwesens im Ausstellungsmitgliedstaat verfügt, sie eine solche Anerkennung und Vollstreckung nur dann verweigern kann, wenn sie zweitens zu dem Schluss gelangt, dass unter den konkreten Umständen des Falles stichhaltige Gründe die Annahme rechtfertigen, dass u. a. in Anbetracht der von der verurteilten Person vorgebrachten sachdienlichen Informationen in Bezug auf die Art und Weise, in der ihr Strafverfahren geführt wurde, das Grundrecht dieser Person auf ein faires Verfahren gemäß Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verletzt worden ist.

In dem Fall, dass das Ersuchen um Anerkennung und Vollstreckung nach dem Rahmenbeschluss 2008/909 ein Urteil betrifft, mit dem eine Freiheitsstrafe verhängt wurde, deren Vollstreckung – nach ursprünglicher Aussetzung – in der Folge ohne Änderung der Natur oder der Höhe dieser Strafe angeordnet wurde, ist die Anwendung des ungeschriebenen Grundes der ausnahmsweisen Ablehnung der Anerkennung eines Urteils und der Vollstreckung einer Sanktion in Betracht zu ziehen und die zweistufige Prüfung, auf der dieser Grund beruht, unter Bezugnahme auf den Zeitpunkt vorzunehmen, in dem das ursprüngliche, die Freiheitsstrafe verhängende Urteil ergangen ist. Führt diese Prüfung nicht zu dem Ergebnis, dass die Anerkennung und Vollstreckung zu verweigern ist, so ist, sofern vor der Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats Anhaltspunkte dargelegt werden, die ein solches Vorgehen nahelegen, die gleiche Prüfung unter Bezugnahme auf den Zeitpunkt vorzunehmen, in dem der maßgebliche Umstand eingetreten ist, der zum Widerruf der Aussetzung der Strafvollstreckung geführt hat.













































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