Vorläufige Fassung
SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN
JULIANE KOKOTT
vom 25. April 2024(1 )
Rechtssache C ‑741/22
Casino de Spa SA u. a.
gegen
État belge (SPF Finances),
Beteiligte:
État belge (SPF Justice),
La Chambre des Représentants
(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal de première instance de Liège [Gericht Erster Instanz von Lüttich, Belgien])
„Vorabentscheidungsersuchen – Steuerrecht – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 135 Abs. 1 Buchst. i – Befreiung von Glücksspielen mit Geldeinsatz – Unmittelbare Wirkung der Steuerbefreiungsvorschrift – Differenzierung zwischen Online-Glücksspielen und analogen Glücksspielen – Differenzierung zwischen unterschiedlichen Arten von Online-Glücksspielen (Lotterien und sonstigem Online-Glücksspiel) – Unzulässigkeit von Vorlagefragen – Zeitlich befristete Fortgeltung innerstaatlichen Rechts ohne vorheriges Vorabentscheidungsersuchen – Mehrwertsteuerbefreiung als Beihilfe“
I. Einführung
„Beim Spielen müssen viele verlieren, damit wenige gewinnen können“ (George Bernard Shaw, irisch-britischer Dramatiker und Politiker, 1856 bis 1950).
1. Obwohl dies und die Gefahren des Glücksspiels allgemein bekannt sind, findet sich in Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie)(2 ) seit jeher eine Steuerbefreiung für Wetten, Lotterien und sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz. Die Union scheint auf den ersten Blick mehrwertsteuerrechtlich das Glückspiel fördern zu wollen. Allerdings gilt diese Befreiung nur „unter den Bedingungen und Beschränkungen, die von jedem Mitgliedstaat festgelegt werden.“
2. Belgien hat sich dafür entschieden, seit dem 1. Juli 2016 Online-Glücksspiele oder Online-Geldspiele, die keine Lotterien sind, nicht mehr von der Mehrwertsteuer zu befreien. Anderes Glücksspiel (inklusive der Lotterien) bleibt hingegen weiterhin mehrwertsteuerbefreit. Diese selektive Befreiung halten Online-Glücksspielanbieter in Belgien hier und in der ähnlich gelagerten Rechtssache Chaudfontaine Loisirs SA (C‑73/23)(3 ) für einen Verstoß gegen den Neutralitätsgrundsatz. Dabei wird auch vertreten, das die Befreiung der anderen Glücksspielanbieter eine unerlaubte Beihilfe sei. Im Ergebnis soll unmittelbar aus dem Unionsrecht eine Mehrwertsteuerbefreiung für das Online-Glücksspiel abgeleitet werden. Dies kann nur Erfolg haben, wenn die Mehrwertsteuerrichtlinie insoweit unmittelbar anwendbar ist, mithin sich diese Befreiung bereits aus ihr ergibt.
3. Auch wenn der Gerichtshof in der Vergangenheit mehrfach mit der unterschiedlichen Besteuerung verschiedener Glücksspielarten im Mehrwertsteuerrecht befasst war,(4 ) gibt die jüngere Rechtsprechung Anlass, über eine unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Mehrwertsteuerrichtlinie in einer solchen Konstellation (selektive Befreiung einzelner Glücksspielarten) vertieft nachzudenken. Zugleich bietet sich dem Gerichtshof die Möglichkeit, klarzustellen, ob und inwiefern der Neutralitätsgrundsatz oder das Beihilferecht einer selektiven Mehrwertsteuerbefreiung einzelner Glücksspielarten entgegensteht.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
4. Art. 107 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (im Folgenden: AEUV) enthält ein Beihilfeverbot:
„(1) Soweit in den Verträgen nicht etwas anderes bestimmt ist, sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Binnenmarkt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen.“
5. Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Mehrwertsteuerrichtlinie regelt die Steuerbefreiung des Glücksspiels und lautet wie folgt:
„(1) Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:
i) Wetten, Lotterien und sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz unter den Bedingungen und Beschränkungen, die von jedem Mitgliedstaat festgelegt werden“.
B. Belgisches Recht
6. Art. 8 der Loi spéciale sur la Cour constitutionnelle du 6 janvier 1989 (Sondergesetz über den Verfassungsgerichtshof vom 6. Januar 1989) bestimmt:
„Wenn die Klage begründet ist, erklärt der Verfassungsgerichtshof das Gesetz, das Dekret oder die in Artikel 134 der Verfassung erwähnte Regel, das bzw. die Gegenstand der Klage ist, ganz oder teilweise für nichtig. …
Wenn der Verfassungsgerichtshof es für notwendig erachtet, gibt er im Wege einer allgemeinen Verfügung die Wirkungen der für nichtig erklärten Bestimmungen an, die als endgültig zu betrachten sind oder für die von ihm festgelegte Frist vorläufig aufrechterhalten werden.“
7. Art. 9 des Sondergesetzes sieht vor:
„§ 1 – Die vom Verfassungsgerichtshof erlassenen Nichtigkeitsentscheide haben absolute materielle Rechtskraft ab ihrer Veröffentlichung im Belgischen Staatsblatt.
§ 2 – Die vom Verfassungsgerichtshof erlassenen Entscheide, durch die Nichtigkeitsklagen abgewiesen werden, sind, was die durch diese Entscheide entschiedenen Rechtsfragen betrifft, verbindlich für die Gerichte.“
8. Art. 44 § 3 Nr. 13 des Mehrwertsteuergesetzbuchs (in der vom 1. Juli 2016 bis zum 21. Mai 2018 geltenden Fassung) lautet:
„Steuerfrei sind ebenfalls: …
13.
a) Lotterien,
b) sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz, ausgenommen Glücksspiele mit Geldeinsatz, die wie in Artikel 18 § 1 Absatz 2 Nr. 16 erwähnt auf elektronischem Wege bereitgestellt werden, …“
III. Sachverhalt und Vorabentscheidungsverfahren
9. 27 Gesellschaften belgischen Rechts, darunter die Casino de Spa SA, die zusammen die „Mehrwertsteuereinheit“ GAMING ARDENT (im Folgenden: die Klägerin) bilden und somit mehrwertsteuerrechtlich als ein einziger Steuerpflichtiger angesehen werden, betreiben Online-Glücksspiele.
10. Ursprünglich waren in Belgien die Umsätze bei Online-Glücksspielen mehrwertsteuerbefreit. Durch die Artikel 29 bis 34 des Gesetzes vom 1. Juli 2016 wurde diese Befreiung aufgehoben. Damit wurden diese Umsätze steuerpflichtig, während „klassische“ Glücksspiele sowie alle Lotterien (online wie „analog“) weiterhin von der Steuer befreit blieben.
11. Die Cour constitutionnelle (Verfassungsgerichtshof, Belgien) erklärte die betreffenden Bestimmungen des Gesetzes vom 1. Juli 2016 jedoch mit Entscheidung vom 22. März 2018 für nichtig, da es gegen die Vorschriften über die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen dem belgischen Föderalstaat und den Regionen (Art. 177 der belgischen Verfassung) verstoße. Er stellte aber fest, dass die für den Zeitraum vom 1. Juli 2016 bis zum 21. Mai 2018 bereits gezahlten Steuern dennoch einbehalten würden, um den budgetären und administrativen Schwierigkeiten Rechnung zu tragen, die deren Rückzahlung verursachen würde.
12. Die Klägerin beantragte dennoch die Erstattung eines Betrags in Höhe von 15 581 402,06 Euro, den sie als Mehrwertsteuer auf vom 1. Juli 2016 bis zum 21. Mai 2018 durchgeführte Online-Spiele nach Abzug der entsprechenden Vorsteuern abgeführt hatte.
13. In einem Protokoll vom 5. Dezember 2019 lehnte die Verwaltung diesen Antrag ab, da die Voraussetzungen für eine Rückerstattung nicht erfüllt seien. Die Klägerin hat daraufhin beim vorlegenden Gericht Klage erhoben.
14. Die Klägerin ist der Ansicht, dass die Aufrechterhaltung des nichtigen Gesetzes gegen den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer verstoße, da andere Glücksspiele mit Geldeinsatz steuerbefreit seien, sowie gegen andere Vorschriften des Unionsrechts, darunter das Verbot staatlicher Beihilfen. Hilfsweise beruft sie sich auf die Haftung des belgischen Staats aufgrund eines Fehlers des Verfassungsgerichtshofs, da die vorübergehende Aufrechterhaltung der Wirkungen der für nichtig erklärten Bestimmungen gegen Art. 1 des Ersten Zusatzprotokolls zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, der das Recht auf Eigentum gewährleiste, verstoße. Der beklagte belgische Staat ist hingegen der Ansicht, dass der Antrag unbegründet sei und dass er nicht zur Erstattung der Mehrwertsteuer verurteilt werden könne.
15. Das für die Klage zuständige Tribunal de première instance de Liège (Gericht Erster Instanz von Lüttich, Belgien) hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV folgende sechs Fragen vorgelegt:
1. Sind Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Mehrwertsteuerrichtlinie und der Grundsatz der Neutralität dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat verwehren, von der Nationallotterie, einer öffentlichen Einrichtung, angebotene Online-Lotterien, die von der Mehrwertsteuer befreit sind, und sonstige, von privaten Wirtschaftsteilnehmern angebotene Online-Glücksspiele, die der Mehrwertsteuer unterliegen, ungleich zu behandeln, sofern es sich um gleichartige Dienstleistungen handelt?
2. Hat das nationale Gericht im Rahmen der Beantwortung der vorstehenden Frage bei der Beurteilung, ob es sich um zwei gleichartige Kategorien handelt, die miteinander im Wettbewerb stehen und die hinsichtlich der Mehrwertsteuer die gleiche Behandlung erfordern, oder ob es sich um gesonderte Kategorien handelt, die eine differenzierte Behandlung zulassen, nur darauf zu achten, ob die beiden Arten von Spielen aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers miteinander im Wettbewerb stehen, in dem Sinne, dass Dienstleistungen gleichartig sind, wenn sie ähnliche Eigenschaften haben und beim Verbraucher nach einem Kriterium der Vergleichbarkeit in der Verwendung denselben Bedürfnissen dienen und wenn die bestehenden Unterschiede die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers zwischen diesen Dienstleistungen nicht erheblich beeinflussen (Substitutionskriterium), oder hat es andere Kriterien zu berücksichtigen, wie z. B. das Ermessen des Mitgliedstaats, bestimmte Kategorien von Spielen von der Steuer zu befreien und andere der Mehrwertsteuer zu unterwerfen, die Zugehörigkeit der Lotterien zu einer gesonderten Kategorie von Spielen, die in Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Mehrwertsteuerrichtlinie genannt wird, die unterschiedlichen gesetzlichen Rahmenbedingungen, die für die Nationallotterie und sonstige Glücksspiele gelten, die unterschiedlichen Aufsichtsbehörden oder gesellschaftliche und dem Schutz der Spieler dienende Ziele, die mit den auf die Nationallotterie anwendbaren Rechtsvorschriften verfolgt werden?
3. Ist der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 des Vertrags über die Europäische Union in Verbindung mit Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, den Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie und gegebenenfalls dem Effektivitätsgrundsatz dahin auszulegen, dass er es dem Verfassungsgerichtshof eines Mitgliedstaats erlaubt, von sich aus und ohne Vorlage zur Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV auf der Grundlage einer Bestimmung des innerstaatlichen Rechts – im vorliegenden Fall Art. 8 des Sondergesetzes vom 6. Januar 1989 über den Verfassungsgerichtshof – die Wirkung von nationalen Bestimmungen im Bereich der Mehrwertsteuer, die als gegen die nationale Verfassung verstoßend angesehen und aus diesem Grund für nichtig erklärt wurden und deren Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht auch zur Begründung der Nichtigkeitsklage vor dem nationalen Gericht geltend gemacht wurde, ohne dass diese Rüge jedoch von diesem geprüft wurde, für die Vergangenheit aufrechtzuerhalten, indem er sich allgemein auf die mit der „Erstattung bereits gezahlter Steuern [verbundenen] budgetären Engpäss[e] und administrativen Schwierigkeiten“ stützt und damit den Mehrwertsteuerpflichtigen den Anspruch auf Erstattung der unter Verstoß gegen das Unionsrecht abgeführten Mehrwertsteuer vollständig vorenthält?
4. Falls die vorstehende Frage verneint wird: Verpflichten diese Bestimmungen und Grundsätze, insbesondere bei einer Auslegung im Licht des Urteils vom 10. April 2008, Marks & Spencer, C‑309/06, wonach die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts, inklusive des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität, dem Wirtschaftsteilnehmer, der Leistungen erbracht hat, einen Anspruch auf Rückerstattung der Beträge verleihen, die irrtümlicherweise bezüglich der Leistungen verlangt wurden, den betreffenden Mitgliedstaat, den Steuerpflichtigen die unter Verstoß gegen das Unionsrecht abgeführte Mehrwertsteuer zu erstatten, wenn sich dieser Verstoß, wie im vorliegenden Fall, später aus einem Urteil des Gerichtshofs ergibt, in dem dieser in Beantwortung von Vorlagefragen zum einen die Unvereinbarkeit der für nichtig erklärten nationalen Bestimmungen mit der Mehrwertsteuerrichtlinie und zum anderen die Unvereinbarkeit der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs, die Wirkung der von ihm für nichtig erklärten Bestimmungen für die Vergangenheit aufrechtzuerhalten, mit dem Unionsrecht bejaht?
5. Wird mit der durch die Art. 29, 30, 31, 32, 33 und 34 des Programmgesetzes vom 1. Juli 2016, die mit dem Entscheid des Verfassungsgerichtshofs Nr. 34/2018 vom 22. März 2018 für nichtig erklärt wurden, deren Wirkungen aber nach diesem Zeitpunkt auf bereits gezahlte Steuern für den Zeitraum vom 1. Juli 2016 bis zum 21. Mai 2018 aufrechterhalten wurden, eingeführten unterschiedlichen Behandlung von Lotterien, ob offline oder online, und sonstigen Online-Spielen und -Wetten ein selektiver Vorteil geschaffen, der die Betreiber dieser Lotterien begünstigt, und somit eine vom belgischen Staat oder aus Mitteln des belgischen Staats gewährte Beihilfe, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen den Wettbewerb verfälscht oder zu verfälschen droht und mit dem Binnenmarkt unvereinbar ist im Sinne von Art. 107 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union?
6. Für den Fall, dass die vorstehende Frage bejaht wird: Ermöglichen die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, für den Schutz der Rechte des von der rechtswidrigen Durchführung der betreffenden Beihilfe betroffenen Einzelnen zu sorgen, wie sie sich insbesondere aus dem Urteil vom 5. Oktober 2006, Transalpine Ölleitung in Österreich, C‑368/04, ergibt, der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit und die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts, inklusive des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität, die dem Wirtschaftsteilnehmer, der Leistungen erbracht hat, einen Anspruch auf Rückerstattung der Beträge verleihen, die irrtümlicherweise bezüglich der Leistungen verlangt wurden (Urteil vom 10. April 2008, Marks & Spencer, C‑309/06), es den Steuerpflichtigen, die auf der Grundlage der rechtswidrigen staatlichen Beihilfe Mehrwertsteuer in Rechnung gestellt haben, das Äquivalent der gezahlten Steuer in Form von Ersatz des erlittenen Schadens zurückzufordern?
16. Im Verfahren vor dem Gerichtshof haben die Klägerin, das Königreich Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, die Tschechische Republik und die Europäische Kommission schriftlich Stellung genommen. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung hat der Gerichtshof gemäß Art. 76 Abs. 2 der Verfahrensordnung abgesehen.
IV. Rechtliche Würdigung
17. Die sechs Vorlagefragen betreffen im wesentlichen drei Komplexe.
18. Da sich die Klägerin im Ausgangsverfahren gegen eine Mehrwertbesteuerung ihrer Dienstleistungen nach nationalem Recht wendet, beziehen sich die Fragen 1 und 2 darauf, ob diese Dienstleistungen nach Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Mehrwertsteuerrichtlinie mehrwertsteuerbefreit sind und der Klägerin deshalb trotz Fortgeltung entgegenstehenden nationalen Rechts die abgeführte unionsrechtswidrige Steuer zu erstatten ist. Dies setzt voraus, dass sich aus der Mehrwertsteuerrichtlinie unmittelbar eine Steuerbefreiung von Online-Glücksspielen ergibt, auf die sich die Klägerin berufen kann (dazu unter B.).
19. Die Fragen 3 und 4 beziehen sich hingegen darauf, ob der belgische Verfassungsgerichtshof ohne vorheriges Vorabentscheidungsersuchen wegen einer möglichen Unionsrechtswidrigkeit dennoch die Fortgeltung des nationalen Rechts anordnen durfte, weswegen die Steuer nach nationalem Recht doch entstanden ist, und ob dies einem Erstattungsanspruch der möglicherweise unionsrechtswidrig abgeführten Steuer entgegensteht. Dies wirft bereits die Frage nach der Zulässigkeit dieser beiden Vorlagefragen auf (dazu unter A.).
20. Die Fragen 5 und 6 hingegen betreffen die Frage, ob eine unterschiedliche Mehrwertbesteuerung von Lotterien (steuerfrei) und sonstigen Online-Spielen und Online-Wetten (steuerpflichtig) zugleich eine verbotene staatliche Beihilfe ist (dazu unter C.).
A. Zur Zulässigkeit der Vorlagefragen 3 und 4
21. Die Fragen 3 und 4 sind nur dann im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens zulässig, wenn ihre Beantwortung für den Erlass des Urteils im Ausgangsverfahren erforderlich und erheblich ist.
22. Grundsätzlich hat allein das innerstaatliche Gericht, das mit dem Rechtsstreit befasst ist, die Aufgabe, sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der Fragen zu beurteilen, die es dem Gerichtshof vorlegt. Für Fragen, die die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts betreffen, gilt eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit.(5 ) Der Gerichtshof kann die Beantwortung daher nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind.(6 )
23. Selbst unter Anwendung der oben genannten Vermutung sind die Fragen 3 und 4 hier unzulässig. Im Ausgangsverfahren geht es um die Erstattung einer möglicherweise unionsrechtswidrig (genauer: richtlinienwidrig) abgeführten Steuer. Das nationale Gesetz wurde, obwohl es aus Gründen des innerstaatlichen Rechts aufzuheben war, für eine bestimmte Zeit ebenfalls aus Gründen des innerstaatlichen Rechts von dem dafür zuständigen nationalen Gericht als fortgeltend festgestellt (Anordnung der zeitlich begrenzten Fortgeltung).
24. Damit verlangt das nationale Recht eine Besteuerung, die möglicherweise gegen die Mehrwertsteuerrichtlinie verstößt. Ob die Klägerin zur Zahlung der bereits abgeführten Mehrwertsteuer für den Zeitraum vom 1. Juli 2016 bis zum 21. Mai 2018 verpflichtet bleibt, ergibt sich mithin allein aus der Auslegung der Mehrwertsteuerrichtlinie und damit bereits aus der Antwort auf die Fragen 1 und 2. Damit reduziert sich der verbleibende Inhalt der Fragen 3 und 4 auf die Frage, ob der belgische Verfassungsgerichtshof vor der Anordnung der Fortgeltung der innerstaatlichen Steuer den Gerichtshof hätte anrufen können oder gar müssen und ob, bei Bejahung dieser Pflicht, ein Erstattungsanspruch daraus folgt. Eine potenzielle Vorlagepflicht des Verfassungsgerichtshofs ist für das Bestehen oder Nichtbestehen einer Zahlungspflicht der Klägerin jedoch irrelevant.
25. Darüber hinaus ist nicht ersichtlich, wieso ein Verstoß eines Gerichts, nämlich des Verfassungsgerichts, gegen Art. 267 AEUV Auswirkungen auf die Entscheidung eines anderen Gerichts haben sollte, welches die entscheidenden unionsrechtlichen Fragen dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt hat. Die Unzufriedenheit über das Vorlageverhalten des belgischen Verfassungsgerichtshofs und die daher erbetene Auslegung von Art. 267 AEUV steht folglich mit dem Ausgangsrechtsstreit in keinem Zusammenhang. Mithin sind die Fragen 3 und 4 unzulässig.
26. Hinzu kommt schließlich, dass das vorlegende Gericht dem Gerichtshof nicht mitteilt, was der belgische Verfassungsgerichtshof wirklich prüfen kann und darf. Sollte seine innerstaatliche Prüfungskompetenz z. B. auf die Einhaltung der innerstaatlichen Zuständigkeitsvorschriften beschränkt sein, kommt ein Vorabentscheidungsersuchen kaum in Betracht. Daher verfügt der Gerichtshof auch nicht über die notwendigen Informationen, um einen Verstoß gegen Art. 267 AEUV prüfen zu können. Auch deshalb sind die Fragen 3 und 4 unzulässig.
B. Zur Steuerbefreiung von Online-Glücksspielen nach der Mehrwertsteuerrichtlinie (Fragen 1 und 2)
27. Im Ausgangsverfahren wendet sich die Klägerin gegen die Besteuerung ihrer Dienstleistungen im Online-Glücksspiel nach dem (fortgeltenden) nationalen Recht. Dieses ist insofern eindeutig und kann nicht unionsrechtskonform ausgelegt werden. Daher ist die Auslegung von Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Mehrwertsteuerrichtlinie nur entscheidungserheblich, wenn dieser Artikel unmittelbar anwendbar ist (dazu unter 1.). Im Kern ist die Klägerin der Ansicht, dass ihre Dienstleistungen genauso wie die anderen steuerbefreiten Glücksspieldienstleistungen behandelt werden müssten. Dies könnte sich möglicherweise auch aus dem mehrwertsteuerrechtlichen Neutralitätsgrundsatz ergeben (dazu unter 2.).
1. Unmittelbare Anwendbarkeit der Steuerbefreiungsvorschrift?
28. Nach ständiger Rechtsprechung kann sich der Einzelne in allen Fällen, in denen die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, gegenüber einem Mitgliedstaat vor dessen Gerichten auf sie berufen, wenn der Mitgliedstaat die Richtlinie nicht fristgemäß oder nicht ordnungsgemäß in nationales Recht umgesetzt hat.(7 )
29. Eine Bestimmung des Unionsrechts ist unbedingt, wenn sie eine Verpflichtung begründet, die weder an eine Bedingung geknüpft ist noch zu ihrer Erfüllung oder Wirksamkeit einer Maßnahme der Organe der Europäischen Union oder der Mitgliedstaaten bedarf.(8 ) Hingegen hat eine Vorschrift einen bedingten Charakter, wenn sie die Anwendung nationaler Rechtsvorschriften voraussetzt, die den konkreten Umfang der unionsrechtlichen Tatbestandsmerkmale bestimmen.(9 ) Sie ist hinreichend genau, wenn sie in unzweideutigen Worten eine Verpflichtung festlegt.(10 )
30. Gemessen an dieser ständigen Rechtsprechung ist Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Mehrwertsteuerrichtlinie weder unbedingt noch hinreichend genau. Er sieht vor, dass Glücksspiele mit Geldeinsatz „unter den Bedingungen und Beschränkungen, die von jedem Mitgliedstaat festgelegt werden“, zu befreien sind. Weder ergibt sich daraus, welche Glücksspiele konkret zu befreien sind, so dass dem Mitgliedstaat nicht mit unzweideutigen Worten eine Verpflichtung auferlegt wird. Im Gegenteil folgt aus dem Wortlaut, dass auch nur einige, bestimmte Glücksspiele mit Geldeinsatz befreit werden können.
31. Noch ist diese Verpflichtung unbedingt, denn sie ist bereits nach dem klaren Wortlaut von Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Mehrwertsteuerrichtlinie an „Bedingungen und Beschränkungen, die von jedem Mitgliedstaat festgelegt werden“, geknüpft. Mithin bedarf die Befreiung von Glücksspielen mit Geldeinsatz zu ihrer Erfüllung oder Wirksamkeit einer Maßnahme der Mitgliedstaaten.
32. Wohl aus diesem Grund hat der Gerichtshof(11 ) im Jahre 2010 ausdrücklich entschieden: „Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der [Mehrwertsteuerrichtlinie] ist dahin auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten in Ausübung ihrer Befugnis, Bedingungen und Beschränkungen für die in dieser Bestimmung vorgesehene Befreiung von der Mehrwertsteuer festzulegen, gestattet ist, nur bestimmte Glücksspiele mit Geldeinsatz von dieser Steuer zu befreien.“ Diese Auslegung hat er anschließend zweimal bestätigt.(12 )
33. Wenn aber – nach Auslegung des Gerichtshofs – Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Mehrwertsteuerrichtlinie den Mitgliedstaaten erlaubt, nur bestimmte Glücksspiele mit Geldeinsatz zu befreien, dann gilt hier das Gleiche, was der Gerichtshof zu anderen Steuerbefreiungsvorschriften entschieden hat. Sofern danach die Mitgliedstaaten nur bestimmte Dienstleistungen zu befreien hatten (so in Art. 132 Abs. 1 Buchst. n und m der Mehrwertsteuerrichtlinie), sind diese nicht unmittelbar anwendbar.(13 )
34. Denn die Wendung „bestimmte Glücksspiele“ in der Entscheidung des Gerichtshofs(14 ) weist darauf hin, dass diese Vorschrift die Mitgliedstaaten nicht dazu verpflichtet, allgemein alle Dienstleistungen von der Steuer zu befreien, die Glücksspiele mit Geldeinsatz darstellen.(15 ) Eine Auslegung von Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Mehrwertsteuerrichtlinie, wonach die Mitgliedstaaten trotz des Wortes „bestimmte“ verpflichtet wären, „alle“ Glücksspiele mit Geldeinsatz von der Steuer zu befreien, wäre geeignet, den sachlichen Anwendungsbereich dieser Befreiung auszudehnen. Dies widerspräche auch der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach die Steuerbefreiungen in der Mehrwertsteuerrichtlinie eng auszulegen sind.(16 )
35. Gerade die Tatsache, dass Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Mehrwertsteuerrichtlinie den Mitgliedstaaten erlaubt, nur „bestimmte“(17 ) Glücksspiele zu befreien, spricht gegen die unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Mehrwertsteuerrichtlinie.(18 )
36. Die einzige (frühere) Entscheidung des Gerichtshofs, die der Vorgängervorschrift in Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie 77/388 hingegen unmittelbare Wirkung zusprach, um die Anwendung mit dieser Bestimmung unvereinbarer innerstaatlicher Rechtsvorschriften zu verhindern,(19 ) ist meines Erachtens durch die jüngere Rechtsprechung zur unmittelbaren Wirkung von Mehrwertsteuerbefreiungen(20 ) und von mehrwertsteuerrechtlichen Wahlrechten(21 ) sowie durch die Entscheidung des Gerichtshofs aus dem Jahre 2010(22 ) überholt.
37. Dies überzeugt auch inhaltlich. Denn mit der Steuerbefreiung des Glücksspiels mit Geldeinsatz in Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Mehrwertsteuerrichtlinie ist keine besondere unionsrechtliche Wertung verbunden. Dem Gerichtshof zufolge ist diese Steuerbefreiung lediglich durch praktische Erwägungen veranlasst, da sich Glücksspielumsätze schlecht für die Anwendung der Mehrwertsteuer eignen. Anders als bei bestimmten im sozialen Bereich erbrachten Dienstleistungen von allgemeinem Interesse besteht hier nicht der Wille, diesen Tätigkeiten eine günstigere mehrwertsteuerliche Behandlung zu gewähren.(23 ) Wahrscheinlicher dürfte sein, dass diese Befreiung einen Kompromiss der damaligen sechs Mitgliedstaaten widerspiegelt, die schon damals teilweise besondere Glücksspielgesetze kannten und daher einzelne Glücksspiele besteuerten. Mit der Befreiung nach Maßgabe der Bedingungen und Beschränkungen der Mitgliedstaaten konnten diese ihre Glücksspielgesetze beibehalten und eine Doppelbesteuerung mit Mehrwertsteuer vermeiden.
38. Jedenfalls ist kein Grund ersichtlich, warum eine solche Steuerbefreiung aus rein technischen Gründen (unpraktische Erhebung bzw. Vermeidung von Doppelbesteuerung) nach Maßgabe der Bedingungen und Beschränkungen der einzelnen Mitgliedstaaten unmittelbare Wirkung entfalten können sollte. Für eine besonders extensive Annahme einer unmittelbaren Wirkung dieser Steuerbefreiung besteht daher keinerlei Bedarf. Es bleibt damit dabei, dass diese Steuerbefreiung nicht unmittelbar anwendbar ist.
39. Wenn sich aber die Klägerin hier ohnehin nicht unmittelbar auf die Steuerbefreiung von Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Mehrwertsteuerrichtlinie berufen kann, dann müssen die Fragen 1 und 2 nicht beantwortet werden. Es obliegt der Kommission, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Belgien einzuleiten, wenn sie meint, dass die Besteuerung der Klägerin (und anderer Online-Glücksspielbetreiber) gegen die Mehrwertsteuerrichtlinie verstößt. Aus der Stellungnahme der Kommission ergeben sich solche Bedenken jedoch nicht.
2. Verstoß gegen den Neutralitätsgrundsatz?
40. Auch der Grundsatz der steuerrechtlichen Neutralität hilft der Klägerin hier nicht weiter. Ein Mitgliedstaat muss zwar auch bei der Ausübung ihm obliegender Wahlrechte bzw. seines Ermessens den Grundsatz der steuerrechtlichen Neutralität beachten.(24 ) Dies kann aber zum einen nicht dazu führen, dass eine nicht ausreichend präzise oder eine bedingt formulierte Richtlinienvorschrift unmittelbar anwendbar wird. Zum anderen verbietet dieser Grundsatz „lediglich“, gleichartige Gegenstände oder Dienstleistungen, die miteinander in Wettbewerb stehen, hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln.(25 )
41. Gegenstände oder Dienstleistungen sind gleichartig, wenn sie ähnliche Eigenschaften haben und beim Verbraucher nach einem Kriterium der Vergleichbarkeit in der Verwendung denselben Bedürfnissen dienen. Darüber hinaus dürfen die bestehenden Unterschiede die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers zwischen diesen Gegenständen oder Dienstleistungen nicht erheblich beeinflussen,(26 ) mithin müssen sie für ihn austauschbar sein.(27 ) Die Beurteilung der Gleichartigkeit von Gegenständen oder Dienstleistungen aus der Perspektive eines Endverbrauchers beinhaltet naturgemäß einen gewissen Entscheidungsspielraum.
42. Dem Unionsgesetzgeber gesteht der Gerichtshof im Zusammenhang mit dem Erlass steuerrechtlicher Maßnahmen zu, dass er Entscheidungen politischer, wirtschaftlicher und sozialer Art treffen, divergierende Interessen in eine Rangfolge bringen oder komplexe Beurteilungen vornehmen müsse. Infolgedessen ist ihm ein weites Ermessen zuzuerkennen, so dass sich die gerichtliche Kontrolle auf offensichtliche Fehler beschränken müsse.(28 ) Insbesondere könne der Gerichtshof die Beurteilung des Unionsgesetzgebers nicht durch seine eigene ersetzen.(29 )
43. Unter Berücksichtigung der jüngsten Rechtsprechung des Gerichtshofs gilt Gleiches für die Kontrolle des Ermessens der nationalen Gesetzgeber . So betont der Gerichtshof zunehmend, dass die Union aus Staaten besteht, die die in Art. 2 EUV genannten Werte achten und teilen.(30 ) Zu den in Art. 2 EUV genannten Werten, auf die sich die Union gründet, gehört insbesondere das Demokratieprinzip. Danach ist primär der demokratisch legitimierte Gesetzgeber für die Ausfüllung gesetzgeberischer Entscheidungsspielräume zuständig.
44. Gewährt das Unionsrecht daher einem Mitgliedstaat einen solchen Spielraum, ist dafür vorrangig das gewählte Parlament dieses Mitgliedstaats zuständig. Folglich sind andere Organe bei der Überprüfung dieses parlamentarischen Entscheidungsspielraums per se beschränkt. Sie können nicht ihre eigene Auffassung von der Gleichartigkeit der Gegenstände oder Dienstleistungen an die Stelle des dazu demokratisch legitimierten Organs setzen. Dies gilt für nationale Gerichte ebenso wie für Unionsgerichte.
45. Insofern kann sowohl der Gerichtshof als auch ein mitgliedstaatliches Gericht wie das vorlegende Gericht eine Verletzung des Neutralitätsgrundsatzes durch einen demokratisch legitimierten Gesetzgeber in der Regel nur feststellen, wenn dieser seinen Entscheidungsspielraum offensichtlich überschritten hat.
46. Dies ist aber erst der Fall, wenn aus Perspektive des Durchschnittsverbrauchers die unterschiedlich besteuerten Dienstleistungen oder Lieferungen nahezu identisch sind, so dass sie ohne Weiteres – wie auch die Kommission vorträgt – substituiert(31 ) werden könnten. Nur dann besteht auch eine Verzerrung des Wettbewerbs der Anbieter dieser Dienstleistungen oder Lieferungen untereinander, die mit dem Neutralitätsprinzip nicht mehr vereinbar ist.
47. Aus diesem Grund hat sich der Gerichtshof bislang grundsätzlich zurückgehalten, eine Verletzung des Neutralitätsgrundsatzes festzustellen, wenn z. B. die Mitgliedstaaten nur frische Backwaren (nicht solche, die ein bestimmtes Mindesthaltbarkeitsdatum überschreiten(32 )), nur Schausteller auf mobilen Jahrmärkten (und nicht stationäre Vergnügungsparks(33 )), nicht alle Arzneimittel (sondern nur bestimmte, auch in Abhängigkeit zu ihrer Verwendung(34 )), nur Taxis (nicht aber alle Personenbeförderungen mit Pkws(35 )) oder nur gedruckte Bücher (nicht Bücher auf anderen physischen Trägermedien(36 )) ermäßigt besteuern oder befreien.
48. Unter Berücksichtigung dieser gerichtlich eingeschränkten Überprüfungsbefugnis liegt hier keine offensichtliche Überschreitung des gesetzgeberischen Entscheidungsspielraums vor. Die unterschiedlich besteuerten Dienstleistungen (Online-Glücksspiele oder Online-Geldspiele, die keine Lotterien sind, einerseits und „analoges“ Glücksspiel bzw. Online-Lotterien andererseits) unterscheiden sich – anders als die Klägerin meint – aus Sicht eines Durchschnittsverbrauchers in mehreren Punkten.
49. So unterscheidet sich Online-Glücksspiel vom „analogen“ Glücksspiel sowohl durch den Ort (jederzeit und überall versus bestimmte Lokalitäten); den Aufwand, ein solches zu beginnen (kein Aufwand, da jederzeit und überall per Smartphone möglich versus physische Bewegung zu einem bestimmten Ort nötig); die fehlende „soziale Kontrolle“ eines im privaten Bereich jederzeit möglichen Glücksspiels; das Suchtpotenzial bzw. die Gefährlichkeit eines jederzeit verfügbaren und leicht zugänglichen Glücksspiels und auch die Art und Weise des Spiels (Klick auf dem Computer versus physische Aktion am Automaten oder gar Interaktion mit einer Person [z. B. einem Croupier] vor Ort). Der Besuch eines „analogen“ Casinos kann eher als ein „Erlebnis“, der „Besuch“ einer Website („Online-Casino“) eher als „Spielen im Internet“ bezeichnet werden.
50. Das alleinige Abstellen auf den Inhalt der Leistung (hier die Befriedigung eines Spielbedürfnisses) hilft daher nicht weiter. Es sind vielmehr auch die äußeren faktischen und rechtlichen Rahmenbedingungen in die Sicht eines Durchschnittsverbrauchers einzubeziehen.(37 ) Gleiches gilt für etwaige Lenkungsziele, die ein parlamentarischer Gesetzgeber möglicherweise mit der Differenzierung verfolgt. Der Grundsatz der mehrwertsteuerrechtlichen Neutralität verbietet keine sachlich begründeten Differenzierungen.
51. Dass das Medium (online versus „analog“) ein aus Sicht des Unionsgesetzgebers beachtliches Differenzierungskriterium ist, zeigen im Übrigen schon die Regelungen der Mehrwertsteuerrichtlinie, die teilweise auch danach differenzieren, ob eine Dienstleistung auf elektronischem Wege erbracht wird (vgl. nur Ort der Besteuerung [Sonderregelung in Art. 58 der Mehrwertsteuerrichtlinie] oder Steuersatz [Art. 98 Abs. 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie schließt bestimmte ermäßigte Steuersätze für elektronisch erbrachte Dienstleistungen aus]). All dies wäre entbehrlich, wenn elektronische und „analoge“ Umsätze ohne Weiteres austauschbar wären.
52. Folglich reicht es für einen Verstoß gegen den Neutralitätsgrundsatz nicht aus, dass unterschiedliche Arten eines Glücksspiels ein vergleichbares Spielbedürfnis (oder auch eine vergleichbare Spielsucht) befriedigen. Weiter reicht es nicht aus, dass der eine oder andere Verbraucher von der einen Glücksspielart zur anderen wechselt, so dass ein gewisser Wettbewerb zwischen den unterschiedlichen Anbietern nicht ausgeschlossen werden kann. Entscheidend ist vielmehr, ob nach Ansicht des Gesetzgebers beide Dienstleistungen (offensichtlich) für einen durchschnittlichen Verbraucher austauschbar sind.
53. Aufgrund der anderen Umstände der Nutzung der Dienstleistungen und der damit verbundenen unterschiedlichen Risiken des Glücksspiels kann daher – wie die Kommission und Belgien übereinstimmend vortragen – „online“ und „analoges“ Glücksspiel unterschiedlich besteuert werden.
54. Ebenso wenig ist die Unterscheidung in Belgien zwischen Online-Lotterien und sonstigem Online-Glücksspiel mit Geldeinsatz zu beanstanden. Lotterien sind eine besondere Art des Glücksspiels, welches üblicherweise nach einem bestimmten Spielplan gegen einen festgelegten Einsatz mit der Aussicht auf bestimmte Geld- oder Sachgewinne veranstaltet wird. Sein Ausgang beruht auf dem Zufall und wird zumeist öffentlich bekannt gegeben. Bei dieser Art von Glücksspiel beschränkt sich die Aktivität – wie die Kommission zutreffend betont – auf den Kauf eines Loses und unterscheidet sich bereits insofern von den übrigen Online-Glücksspielen, die auf wiederholte Aktivitäten des Spielers angelegt sind, der sofort von seinem Glück (häufiger wohl von seinem Unglück) erfährt und darauf spontan reagiert. Wie Belgien vorträgt, fehlt hier das spielerische Element. Ebenso bestehen Unterschiede bei den Mindest- und Höchsteinsätzen, den Gewinnen und Gewinnchancen.(38 )
55. Im Übrigen zeigen die Geschichte der Lotterie und einige (historische) Steuergesetze der Mitgliedstaaten eine traditionelle Trennung zwischen Lotterien und anderen Glücksspielarten auf.(39 ) Das indiziert, dass für einen Durchschnittsverbraucher eine Lotterie schon immer etwas anderes war als das Glücksspiel im Casino oder am Automaten. Daher kann kaum behauptet werden, dass Online-Lotterien und sonstiges Online-Glücksspiel aus Sicht des Durchschnittsverbrauchers austauschbar sind. Ein Verstoß gegen den Neutralitätsgrundsatz ist insofern ebenfalls nicht ersichtlich.
3. Zwischenergebnis
56. Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Mehrwertsteuerrichtlinie ist nicht unmittelbar anwendbar. Selbst wenn Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Mehrwertsteuerrichtlinie unmittelbar anwendbar wäre, läge in der Differenzierung Belgiens zwischen elektronisch erbrachten Glücksspielen mit Geldeinsatz und nicht elektronisch erbrachten Glücksspielen mit Geldeinsatz kein Verstoß gegen den Grundsatz der mehrwertsteuerrechtlichen Neutralität. Gleiches gilt für die Differenzierung zwischen elektronisch erbrachten Glücksspielen mit Geldeinsatz und elektronisch durchgeführten Lotterien. Mangels Unionsrechtswidrigkeit verlangt das Unionsrecht daher auch nicht, dass die nach nationalem Recht geschuldete Mehrwertsteuer der Klägerin erstattet werden muss.
C. Zur verbotenen Beihilfe aufgrund einer unterschiedlichen Mehrwertbesteuerung (Fragen 5 und 6)
57. Soweit das vorlegende Gericht nach dem Vorliegen einer Beihilfe fragt, sind die Fragen ebenfalls bereits unzulässig. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann sich der Schuldner einer Abgabe nämlich nicht darauf berufen, dass die Befreiung anderer Unternehmen eine staatliche Beihilfe darstelle, um sich der Zahlung dieser Abgabe zu entziehen.(40 )
58. Nur sofern die Abgabe zur Begünstigung anderer Unternehmer eingesetzt wird, ist zu prüfen, ob das Aufkommen aus der Abgabe in einer beihilferechtlich unbedenklichen Art und Weise verwendet wird.(41 ) Ein solcher Fall liegt aber nicht vor. Hier erfolgt die Belastung der Klägerin im Ausgangsverfahren durch eine allgemeine Steuer (Mehrwertsteuer), die in den allgemeinen Staatshaushalt fließt und damit nicht einen Dritten konkret begünstigt. Damit wendet sich der Kläger im vorliegenden Fall lediglich gegen einen an ihn adressierten Steuerbescheid und hält diesen für rechtswidrig, weil andere Steuerpflichtige nicht im gleichen Maße besteuert werden. Dies kann beihilferechtlich keinen Erfolg haben.
59. Im Grundsatz muss eine rechtswidrig gewährte Beihilfe nämlich zurückgefordert werden.(42 ) Eine Nichtbesteuerung der Klägerin würde aber keine Rückforderung darstellen, sondern die Beihilfe hier lediglich auf die Klägerin ausweiten und damit die Wettbewerbsverzerrung nicht beseitigen, sondern verstärken. Daher ist die Frage nach der Beihilfe zugunsten eines anderen in einem Prozess, der sich allein mit der eigenen Steuerschuld befasst, nicht entscheidungserheblich, mithin nicht zulässig, wie der Gerichtshof schon mehrfach entschieden hat.(43 )
60. Darüber hinaus ist auch materiell eine verbotene Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV nicht erkennbar. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt dies u. a., dass es sich um eine staatliche Maßnahme handelt, die dem Begünstigten einen selektiven Vorteil gewährt.(44 )
61. Wenn – wie oben ausgeführt – Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass es den Mitgliedstaaten in Ausübung ihrer Befugnis, Bedingungen und Beschränkungen für die in dieser Bestimmung vorgesehene Befreiung von der Mehrwertsteuer festzulegen, gestattet ist, nur bestimmte Glücksspiele mit Geldeinsatz von dieser Steuer zu befreien, dann ist diese (selektive) Befreiung bereits im Unionsrecht angelegt. Eine zutreffende (dazu oben, Nrn. 40 ff.) Umsetzung von Unionsrecht kann aber beihilferechtlich kaum als eine staatliche Maßnahme Belgiens betrachtet werden. Sie ist vielmehr dem Unionsrecht zuzuordnen.
62. Im Übrigen fehlt es auch an einem Vorteil eines Unternehmens , wie Deutschland zutreffend hervorhebt. Im Mehrwertsteuerrecht kommen Befreiungen allein dem Leistungsempfänger zugute, denn die Mehrwertsteuer ist nach gefestigter Rechtsprechung des Gerichtshofs eine indirekte Verbrauchsteuer, die vom Endverbraucher zu tragen ist.(45 ) Das steuerpflichtige Unternehmen agiert insoweit nur als „Steuereinnehmer für Rechnung des Staates und im Interesse der Staatskasse“.(46 ) In materieller Hinsicht soll die Mehrwertsteuer daher nicht das steuerpflichtige Unternehmen, sondern die Leistungsfähigkeit des Verbrauchers besteuern, die sich in seiner Aufwendung von Vermögen zur Verschaffung eines verbrauchbaren Nutzens zeigt.(47 ) Wenn die Mehrwertsteuerpflicht einer Dienstleistung aber den Konsumenten und nicht den Anbieter belasten soll, dann soll eine Mehrwertsteuerbefreiung auch nur den Konsumenten und nicht den Anbieter befreien. Die Mehrwertsteuerbefreiung der Glücksspieldienstleistungen ist mithin ein Vorteil des Konsumenten und nicht des Anbieters.
63. Hinzu kommt, dass ein selektiver Vorteil nur vorliegt, wenn die Maßnahme geeignet ist, „bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige“ gegenüber anderen Unternehmen oder Produktionszweigen zu begünstigen, die sich im Hinblick auf das mit dieser Regelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden und somit eine unterschiedliche Behandlung erfahren, die der Sache nach als diskriminierend eingestuft werden kann.(48 )
64. Dies setzt eine Abweichung von der „Normalbesteuerung“ voraus, die nicht gerechtfertigt ist. An beiden fehlt es hier. Die Normalbesteuerung ist laut Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Mehrwertsteuerrichtlinie die Steuerbefreiung des Glücksspiels, welche hier für das „analoge“ Glücksspiel und alle Lotterien ja gerade erfolgt ist. Darüber hinaus ist die mehrwertsteuerrechtliche Differenzierung zwischen Online-Glücksspielen und sonstigen Glücksspielen sowie zwischen Online-Lotterien und Online-Glücksspielen – wie oben (Nrn. 40 ff.) ausgeführt – sachlich gerechtfertigt und damit nicht diskriminierend . Auch das Beihilferecht verbietet keine sachlich gerechtfertigten Differenzierungen in einem allgemein geltenden Gesetz. Mithin würde es auch an dem Merkmal der Selektivität fehlen.
V. Ergebnis
65. Somit schlage ich vor, auf die Vorlagefragen des Tribunal de première instance de Liège (Gericht Erster Instanz von Lüttich, Belgien) zu antworten:
1. Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Mehrwertsteuerrichtlinie ist nicht unmittelbar anwendbar. Er ist weder unbedingt noch hinreichend genau.
2. Der Grundsatz der mehrwertsteuerrechtlichen Neutralität steht einer Differenzierung zwischen elektronisch erbrachten Glücksspielen mit Geldeinsatz und nicht elektronisch erbrachten Glücksspielen mit Geldeinsatz nicht entgegen. Vielmehr bestehen dafür und für die Differenzierung zwischen elektronisch erbrachten Glücksspielen mit Geldeinsatz und elektronisch durchgeführten Lotterien sachliche Gründe.
3. Die Frage nach einer Beihilfe zugunsten eines anderen Steuerpflichtigen in einem Prozess, der sich allein mit der eigenen Steuerschuld befasst, ist unzulässig. Denn der Schuldner einer Steuer kann sich grundsätzlich nicht darauf berufen, dass die Befreiung anderer Unternehmen eine staatliche Beihilfe darstelle, um sich der Zahlung dieser Steuer zu entziehen.