C-70/23 P – Westfälische Drahtindustrie u.a./ Kommission

C-70/23 P – Westfälische Drahtindustrie u.a./ Kommission

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2024:105

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

ATHANASIOS RANTOS

vom 1. Februar 2024(1)

Rechtssache C70/23 P

Westfälische Drahtindustrie GmbH,

Westfälische Drahtindustrie Verwaltungsgesellschaft mbH & Co. KG,

Pampus Industriebeteiligungen GmbH & Co. KG

gegen

Europäische Kommission

„Rechtsmittel – Wettbewerb – Kartelle – Markt für Spannstahl – COMP/38.344 – Beschluss, mit dem eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens festgestellt wird – Urteil, mit dem der Beschluss teilweise für nichtig erklärt und eine Geldbuße festgesetzt wird, deren Höhe der ursprünglich verhängten Geldbuße entspricht – Beschluss der Kommission über den geschuldeten Restbetrag der Geldbuße – Zeitpunkt der Fälligkeit einer Geldbuße, deren Höhe vom Unionsgericht in Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung festgesetzt wurde“

I.      Einleitung

1.        Mit ihrem Rechtsmittel beantragen die Westfälische Drahtindustrie GmbH (im Folgenden: WDI), die Westfälische Drahtindustrie Verwaltungsgesellschaft mbH & Co. KG (im Folgenden: WDV) und die Pampus Industriebeteiligungen GmbH & Co. KG (im Folgenden: Pampus) (im Folgenden zusammen: Rechtsmittelführerinnen) die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 23. November 2022, Westfälische Drahtindustrie u. a./Kommission (T‑275/20, im Folgenden: angefochtenes Urteil, EU:T:2022:723), mit dem das Gericht ihre Klage abgewiesen hat, die erstens auf Nichtigerklärung, auf der Grundlage von Art. 263 AEUV, des Schreibens der Europäischen Kommission vom 2. März 2020, mit dem die Kommission sie zur Zahlung von 12 236 931,69 Euro als Restbetrag der am 30. September 2010 gegen sie verhängten Geldbuße aufforderte, gerichtet war, zweitens auf Feststellung des vollständigen Erlöschens der Geldbuße am 17. Oktober 2019 durch die Zahlung von 18 149 636,24 Euro und drittens auf Verurteilung der Kommission, an WDI wegen ungerechtfertigter Bereicherung einen Betrag von 1 633 085,17 Euro nebst Zinsen seit dem 17. Oktober 2019 zu zahlen, sowie, hilfsweise, auf Verurteilung der Kommission, auf der Grundlage von Art. 268 AEUV, an WDI den Betrag von 12 236 931,69 Euro, den die Kommission gegen sie geltend gemacht hat, und den Überzahlungsbetrag von 1 633 085,17 Euro nebst Zinsen seit dem 17. Oktober 2019 bis zur vollständigen Erstattung des geschuldeten Betrags zu zahlen.

2.        Der Rechtsstreit geht zurück auf das Urteil vom 15. Juli 2015, Westfälische Drahtindustrie u. a./Kommission (T‑393/10, im Folgenden: Urteil vom 15. Juli 2015, EU:T:2015:515), mit dem das Gericht zum einen u. a. einen Beschluss der Kommission, mit dem eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV festgestellt wurde, teilweise, soweit darin eine Geldbuße gegen die Rechtsmittelführerinnen verhängt wurde, für nichtig erklärt hat, weil die Kommission bei der Beurteilung ihrer Leistungsfähigkeit Fehler begangen habe, und zum anderen die Rechtsmittelführerinnen in Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung zur Zahlung einer Geldbuße verurteilt hat, deren Höhe der in diesem Beschluss gegen sie verhängten Geldbuße entspricht. Nach Verkündung dieses Urteils kam es zu Meinungsverschiedenheiten über den Zeitpunkt, ab dem die auf diese Geldbuße geschuldeten Zinsen zu zahlen seien. Die Rechtsmittelführerinnen vertraten die Auffassung, dass die Zinsen ab der Verkündung des Urteils vom 15. Juli 2015 zu laufen begännen, mit dem das Gericht die von der Kommission verhängte Geldbuße ex tunc für nichtig erklärt und eine neue, eigenständige Geldbuße festgesetzt habe, während nach Ansicht der Kommission diese Zinsen ab dem in ihrem Beschluss genannten Datum, d. h. fast fünf Jahre vor Verkündung dieses Urteils, fällig waren.

3.        Wie vom Gerichtshof gewünscht, werde ich mich in den vorliegenden Schlussanträgen auf die Analyse des ersten Rechtsmittelgrundes konzentrieren, der im Wesentlichen die Frage betrifft, ob in einem Fall wie dem vorliegenden – d. h., wenn das Gericht in einem ersten Schritt einen Beschluss der Kommission für nichtig erklärt hat, soweit darin die verhängte Geldbuße festgesetzt wurde, und in einem zweiten Schritt in Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung eine Geldbuße in gleicher Höhe festgesetzt hat – die Ausübung dieser Befugnis durch das Gericht zu einer Geldbuße führt, die als neu und rechtlich von der durch die Kommission verhängten Geldbuße verschieden einzustufen ist, so dass sie zum Zeitpunkt der Verkündung des Urteils des Gerichts, mit dem die Geldbuße festgesetzt wird, fällig wird.

4.        Die vorliegende Rechtssache bietet dem Gerichtshof daher Gelegenheit, zum einen die Rechtsnatur der Ausübung der Befugnis des Unionsgerichts zu unbeschränkter Nachprüfung nach Art. 31 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003(2) klarzustellen und zum anderen nähere Angaben zu den Rechtsfolgen zu machen, die sich aus der Nichtigerklärung oder Abänderung einer von der Kommission nach Art. 23 Abs. 2 dieser Verordnung verhängten Geldbuße ergeben, wenn das Unionsgericht eine solche Befugnis insbesondere in Bezug auf die Festlegung des Fälligkeitszeitpunkts der Geldbuße und, damit verknüpft, der geschuldeten Verzugszinsen ausübt.

II.    Rechtlicher Rahmen

5.        Art. 23 („Geldbußen“) der Verordnung Nr. 1/2003 bestimmt in den Abs. 2 und 3:

„(2)      Die Kommission kann gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen durch Entscheidung Geldbußen verhängen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig:

a)      gegen Artikel [101] oder Artikel [102 AEUV] verstoßen oder …

(3)      Bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße ist sowohl die Schwere der Zuwiderhandlung als auch deren Dauer zu berücksichtigen.“

6.        Art. 31 („Nachprüfung durch den Gerichtshof“) dieser Verordnung lautet:

„Bei Klagen gegen Entscheidungen, mit denen die Kommission eine Geldbuße oder ein Zwangsgeld festgesetzt hat, hat der Gerichtshof die Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung der Entscheidung. Er kann die festgesetzte Geldbuße oder das festgesetzte Zwangsgeld aufheben, herabsetzen oder erhöhen.“

7.        Ziff. 35 der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003(3) bestimmt unter der Überschrift „Leistungsfähigkeit der Unternehmen“:

„Unter außergewöhnlichen Umständen kann die Kommission auf Antrag die Leistungsfähigkeit eines Unternehmens in einem gegebenen sozialen und ökonomischen Umfeld berücksichtigen. Die Kommission wird jedoch keine Ermäßigung wegen der bloßen Tatsache einer nachteiligen oder defizitären Finanzlage gewähren. Eine Ermäßigung ist nur möglich, wenn eindeutig nachgewiesen wird, dass die Verhängung einer Geldbuße gemäß diesen Leitlinien die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit des Unternehmens unwiderruflich gefährden und ihre Aktiva jeglichen Wertes berauben würde.“

III. Vorgeschichte des Rechtsstreits

8.        Die Vorgeschichte des Rechtsstreits und der Inhalt des streitigen Beschlusses sind in den Rn. 2 bis 26 des angefochtenen Urteils dargestellt. Für die Zwecke des vorliegenden Rechtsmittels lassen sie sich wie folgt zusammenfassen.

A.      Verwaltungsverfahren

9.        Mit dem Beschluss K(2010) 4387 endg. vom 30. Juni 2010 in einem Verfahren nach Artikel 101 AEUV und Artikel 53 des EWR-Abkommens (COMP/38.344 – Spannstahl) (im Folgenden: Spannstahl-Beschluss) belangte die Kommission mehrere Unternehmen, darunter die Rechtsmittelführerinnen – Spannstahllieferanten –, wegen ihrer Beteiligung an einem Kartell auf dem Markt für Spannstahl. Sie verhängte gegen WDI eine Geldbuße in Höhe von 56 050 000 Euro. WDV und Pampus wurden in Höhe von 45 600 000 Euro bzw. 15 485 000 Euro gesamtschuldnerisch haftbar gemacht. Diese Sanktion wurde in Art. 2 Abs. 1 Nr. 8 des Spannstahl-Beschlusses verhängt.

10.      Im Verwaltungsverfahren hatten die Rechtsmittelführerinnen gemäß Ziff. 35 der Leitlinien von 2006 eine ausnahmsweise Ermäßigung der Geldbuße wegen fehlender Leistungsfähigkeit beantragt.

11.      Im Spannstahl-Beschluss gab die Kommission diesem Antrag nicht statt.

12.      Mit Klageschrift, die am 14. September 2010 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhoben die Rechtsmittelführerinnen Klage auf Nichtigerklärung und Abänderung des Spannstahl-Beschlusses. Die Rechtssache wurde unter dem Aktenzeichen T‑393/10 in das Register des Gerichts eingetragen.

13.      Mit dem Beschluss K(2010) 6676 endg. vom 30. September 2010 (im Folgenden: Beschluss vom 30. September 2010) korrigierte die Kommission Fehler bei der Berechnung der Geldbußen(4) und änderte den Spannstahl-Beschluss, insbesondere dessen Art. 2 Abs. 1 Nr. 8, wodurch die gegen bestimmte Unternehmen verhängten Geldbußen herabgesetzt wurden (im Folgenden zusammen mit dem Spannstahl-Beschluss: streitiger Beschluss)(5). Die gegen WDI verhängte Geldbuße wurde auf 46 550 000 Euro festgesetzt. WDV und Pampus sollten für die Geldbuße gesamtschuldnerisch in Höhe von 38 855 000 Euro bzw. 15 485 000 Euro haften.

14.      Im Beschluss vom 30. September 2010 wurde verfügt, dass die mit Art. 2 Abs. 1 Nr. 8 des streitigen Beschlusses verhängten Geldbußen innerhalb von drei Monaten ab der Zustellung des Beschlusses vom 30. September 2010 zu zahlen sind und dass nach Ablauf dieser Frist automatisch Zinsen zu dem von der Europäischen Zentralbank (EZB) für ihre Hauptrefinanzierungsgeschäfte am ersten Tag des Monats, in dem der Beschluss vom 30. September 2010 erlassen wurde, angewandten Zinssatz fällig werden, zuzüglich 3,5 Prozentpunkte. Ferner wurde für den Fall, dass ein Unternehmen, gegen das eine Geldbuße verhängt worden ist, Klage erhebt, verfügt, dass das Unternehmen die Geldbuße bis spätestens zum Fälligkeitsdatum entweder durch Bereitstellung einer Bankgarantie oder durch eine vorläufige Zahlung der Geldbuße gemäß Art. 85a Abs. 1 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2342/2002(6) decken muss.

15.      Die Rechtsmittelführerinnen reichten in der Rechtssache T‑393/20 am 3. Dezember 2010 bei der Kanzlei des Gerichts einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz ein. Sie beantragten im Wesentlichen, die Vollziehung des streitigen Beschlusses bis zur Verkündung des Urteils in der Hauptsache auszusetzen.

16.      Mit Schreiben vom 14. Februar 2011 lehnte der Generaldirektor der Generaldirektion (GD) Wettbewerb der Kommission einen erneuten Antrag der Rechtsmittelführerinnen, die Geldbuße wegen ihrer Leistungsfähigkeit zu ermäßigen, ab (im Folgenden: Schreiben vom 14. Februar 2011).

17.      Mit Beschluss vom 13. April 2011, Westfälische Drahtindustrie u. a./Kommission (T‑393/10 R, im Folgenden: Beschluss über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes, EU:T:2011:178), gab der Präsident des Gerichts dem Antrag der Rechtsmittelführerinnen auf vorläufigen Rechtsschutz teilweise statt. Die Obliegenheit der Rechtsmittelführerinnen, zugunsten der Kommission eine Bankbürgschaft zu stellen, um die sofortige Beitreibung der Geldbußen zu vermeiden, wurde unter der Bedingung ausgesetzt, dass sie an die Kommission zum einen bis zum 30. Juni 2011 2 000 000 Euro entrichten und zum anderen vom 15. Juli 2011 an bis auf Weiteres, längstens aber bis zur Verkündung des Urteils in der Hauptsache, zum 15. jedes Monats monatliche Raten in Höhe von 300 000 Euro zahlen.

18.      Mit Urteil vom 15. Juli 2015 entschied das Gericht, dass die von der Kommission im streitigen Beschluss getroffene Feststellung, dass sich die Rechtsführerinnen an einer Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV beteiligt hätten, nicht zu beanstanden sei. Das Gericht erklärte den streitigen Beschluss, soweit darin gegen die Rechtsmittelführerinnen eine Geldbuße verhängt wurde, sowie das Schreiben vom 14. Februar 2011 jedoch mit der Begründung für nichtig, dass der Kommission bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit der Rechtsmittelführerinnen Fehler unterlaufen seien. Im Rahmen der Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung verurteilte es die Rechtsmittelführerinnen, wie sich aus dem Tenor des Urteils vom 15. Juli 2015 ergibt, zur Zahlung einer Geldbuße, deren Höhe der im streitigen Beschluss gegen sie verhängten Geldbuße entspricht.(7)

19.      Infolge des Beschlusses über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hatte WDI an die Kommission im Zeitraum vom 29. Juni 2011 bis zum 16. Juni 2015 vorläufig insgesamt 16 400 000 Euro gezahlt.

20.      Nach Verkündung des Urteils vom 15. Juli 2015 setzten sich die Rechtsanwälte der Rechtsmittelführerinnen mit der GD Haushalt der Kommission in Verbindung, um einen einvernehmlichen Zahlungsplan zur Begleichung der mit den Nrn. 4 bis 6 des Tenors dieses Urteils festgesetzten Geldbußen zu vereinbaren. Dabei ergaben sich Meinungsverschiedenheiten über den Zeitpunkt, ab dem auf die Geldbußen Zinsen zu zahlen sind. Die Rechtsmittelführerinnen vertraten die Auffassung, dass die Zinsen ab der Verkündung des Urteils vom 15. Juli 2015 zu zahlen seien, während sich die GD Haushalt auf den Standpunkt stellte, dass die Zinsen ab dem Zeitpunkt zu zahlen seien, der sich aus Art. 2 Abs. 2 und 3 des streitigen Beschlusses ergebe, d. h., was die Rechtsmittelführerinnen betreffe, nach Ablauf von drei Monaten ab Zustellung des Beschlusses vom 30. September 2010. Dieser Standpunkt wurde auch in einer E‑Mail der GD Haushalt vom 12. August 2015 übernommen, mit der auf eine E‑Mail des Vertreters der Rechtsmittelführerinnen vom 5. August 2015 geantwortet wurde. Er wurde in einer Besprechung, die am 4. September 2015 zwischen der Kommission und WDI stattfand, bekräftigt.

21.      Die Rechtsmittelführerinnen legten gegen das Urteil vom 15. Juli 2015 ein Rechtsmittel ein. Sie rügten insbesondere, dass das Gericht bei der Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung nicht auf ihre Leistungsfähigkeit im Jahr 2010, sondern im Jahr 2015 abgestellt habe. Das Rechtsmittel wurde mit Beschluss vom 7. Juli 2016, Westfälische Drahtindustrie und Pampus Industriebeteiligungen/Kommission (C‑523/15 P, im Folgenden: Beschluss des Gerichtshofs, EU:C:2016:541), zurückgewiesen.

22.      Daraufhin beantragten die Rechtsmittelführerinnen beim Gericht, das Urteil vom 15. Juli 2015 dahin auszulegen, dass Zinsen auf die in diesem Urteil verhängte Geldbuße ab seiner Verkündung zu zahlen sind. Sie beantragten hilfsweise, das Urteil vom 15. Juli 2015 zu berichtigen oder zu ergänzen, indem die Entscheidung über den Beginn des Zinslaufs nachgeholt wird.

23.      Mit Beschluss vom 17. Mai 2018, Westfälische Drahtindustrie u. a./Kommission (T‑393/10 INTP, EU:T:2018:293), erklärte das Gericht diese Anträge für unzulässig. Zu dem Antrag auf Auslegung stellte das Gericht fest, dass sich ein solcher Antrag, um zulässig zu sein, auf einen im auszulegenden Urteil entschiedenen Punkt beziehen müsse. Die Frage, ab welchem Zeitpunkt im Fall einer aufgeschobenen Zahlung der gegen die Rechtsmittelführerinnen verhängten Geldbußen Verzugszinsen zu zahlen seien, sei im Urteil vom 15. Juli 2015 aber nicht behandelt worden. Die Rechtsmittelführerinnen wollten mit ihrem Antrag eine Stellungnahme zu den Folgen des Urteils vom 15. Juli 2015 erlangen. Insoweit sei ein Auslegungsantrag gemäß Art. 168 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts aber nicht statthaft. Die beiden anderen Anträge seien verspätet gestellt worden.

24.      Am 16. Oktober 2019 teilte WDI der Kommission mit, dass sie bereits 31 700 000 Euro gezahlt habe und nunmehr den gesamten noch ausstehenden Betrag der Geldbuße samt Zinsen zahlen wolle, den sie mit 18 149 636,24 Euro bezifferte. Bei dieser Berechnung berücksichtigte WDI die angefallenen Zinsen seit dem 15. Oktober 2015, d. h. drei Monate nach der Verkündung des Urteils vom 15. Juli 2015, und wandte einen Zinssatz von 3,48 % an.

25.      Am 17. Oktober 2019 überwies WDI 18 149 636,24 Euro auf das Bankkonto der Kommission. Damit waren auf die Geldbuße seit dem 29. Juni 2011 insgesamt 49 849 636,24 Euro gezahlt worden.

26.      Mit Schreiben vom 2. März 2020 (im Folgenden: angefochtene Handlung) teilte die Kommission mit, dass sie den von WDI in ihrem Schreiben vom 16. Oktober 2019 vertretenen Standpunkt nicht teile. Nach den Kriterien, die im Urteil vom 14. Juli 1995, CB/Kommission (T‑275/94, im Folgenden: Urteil CB, EU:T:1995:141), aufgestellt worden seien, seien die Zinsen nicht ab dem Urteil vom 15. Juli 2015, sondern ab dem im streitigen Beschluss festgelegten Zeitpunkt (4. Januar 2011) zu zahlen, und zwar zu einem Zinssatz von 4,5 %. Die Kommission forderte WDI daher auf, ihr mit Wertstellungsdatum 31. März 2020 den geschuldeten Restbetrag von 12 236 931,69 Euro zu zahlen.

B.      Verfahren vor dem Gericht

27.      Mit Klageschrift, die am 11. Mai 2020 bei der Kanzlei des Gerichts einging, beantragten die Rechtsmittelführerinnen, erstens die angefochtene Handlung für nichtig zu erklären, zweitens festzustellen, dass die Kommission die von WDI an die Kommission im Zeitraum vom 29. Juni 2011 bis zum 16. Juni 2015 geleisteten Zahlungen zuzüglich hierauf angefallener Zinsen, insgesamt also einen Betrag von 17 820 610 Euro, auf die vom Gericht im Rahmen seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung mit dem Urteil vom 15. Juli 2015 verhängte Geldbuße mit Wirkung zu diesem Datum anzurechnen hat und diese Geldbuße damit durch die Zahlung von WDI vom 17. Oktober 2019 in Höhe von 18 149 636,24 Euro bereits vollständig erloschen ist, und drittens die Kommission zu verurteilen, an WDI einen Betrag von 1 633 085,17 Euro nebst Zinsen seit dem 17. Oktober 2019 bis zur vollständigen Erstattung des wegen ungerechtfertigter Bereicherung geschuldeten Betrags zu zahlen. Hilfsweise beantragten die Rechtsmittelführerinnen, die Europäische Union, vertreten durch die Kommission, zu verurteilen, an sie Schadensersatz in Höhe des mit der angefochtenen Handlung eingeforderten Betrags in Höhe von 12 236 931,69 Euro zu leisten, und an WDI den Überzahlungsbetrag vom 17. Oktober 2019 in Höhe von 1 633 085,17 Euro nebst Zinsen ab diesem Zeitpunkt bis zur vollständigen Erstattung des geschuldeten Betrags zu zahlen.

28.      Im angefochtenen Urteil hat das Gericht zunächst den vierten Klageantrag geprüft, der auf Schadensersatz wegen Rechtswidrigkeit des Verhaltens der Kommission gerichtet ist, weil diese das Urteil vom 15. Juli 2015 nicht richtig durchgeführt und dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 266 Abs. 1 AEUV verstoßen habe(8). Zur Stützung ihres Schadensersatzantrags machten die Rechtsmittelführerinnen im Wesentlichen vier Klagegründe geltend. Insoweit ging das Gericht davon aus, dass die gerügten Rechtsfehler allesamt auf der Prämisse beruhten, dass die im streitigen Beschluss verhängte Geldbuße nicht durch das Urteil vom 15. Juli 2015 „aufrechterhalten“ oder „bestätigt“ worden, sondern ex tunc für nichtig erklärt und durch eine neue, von den Rechtsmittelführerinnen als „gerichtliche Geldbuße“ bezeichnete Geldbuße ersetzt worden sei, die erst ab dem Tag der Verkündung dieses Urteils fällig gewesen sei(9).

29.      Nachdem das Gericht den Schadensersatzantrag für zulässig erklärt hatte(10), hat es zunächst festgestellt, dass die Frage des Zeitpunkts, ab dem auf die Geldbuße Verzugszinsen zu zahlen seien, während des gerichtlichen Verfahrens in keiner Weise Gegenstand der Erörterungen zwischen den Parteien gewesen und im Urteil vom 15. Juli 2015 weder in den Entscheidungsgründen noch im Tenor behandelt worden sei(11), so dass zu prüfen sei, ob aus diesem Urteil gefolgert werden könne, dass sich die vom Gericht festgesetzte Geldbuße rechtlich von derjenigen unterscheide, die die Kommission im streitigen Beschluss festgesetzt habe(12). Insoweit hat das Gericht im Einklang mit der aus seinem Urteil CB hervorgegangenen Rechtsprechung ausgeführt, aus dem Wortlaut von Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003 ergebe sich, dass die dem Unionsgericht in Wettbewerbssachen übertragene Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung die ursprünglich von der Kommission verhängte Geldbuße betreffe und sich auf diese beschränke und dass somit die vom Unionsgericht festgesetzte Geldbuße keine neue Geldbuße darstelle, die sich rechtlich von der von der Kommission verhängten unterscheide(13). Ersetze das Unionsgericht die Würdigung der Kommission durch seine eigene und setze es die Geldbuße im Rahmen seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung herab, ersetze es folglich im Beschluss der Kommission den dort ursprünglich festgesetzten Betrag durch denjenigen, der sich aus seiner eigenen Würdigung ergebe, so dass aufgrund der ersetzenden Wirkung des Urteils des Unionsgerichts davon auszugehen sei, dass der Beschluss der Kommission schon immer derjenige gewesen sei, der sich aus der Würdigung durch das Unionsgericht ergebe(14).

30.      Sodann hat das Gericht unter Bezugnahme auf den Beschluss des Gerichtshofs darauf hingewiesen, dass der Gerichtshof im vorliegenden Fall zum einen entschieden habe, dass die Ausübung der Rechtmäßigkeitskontrolle des streitigen Beschlusses durch das Gericht zwar zu dessen Nichtigerklärung geführt habe, soweit die Kommission darin eine Geldbuße gegen die Rechtsmittelführerinnen verhängt habe, dieser Umstand aber keineswegs bedeute, dass es dem Gericht aus diesem Grund verwehrt gewesen wäre, seine Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung auszuüben, und dass zum anderen der Umstand, dass das Gericht im Ergebnis die Beibehaltung der im streitigen Beschluss festgesetzten Höhe der Geldbuße für angemessen gehalten habe, für die Rechtmäßigkeit der Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung unerheblich sei(15). Die Kommission sei daher zu Recht davon ausgegangen, dass die vom Gericht festgesetzte Geldbuße, da es sich bei ihr nicht um eine neue Geldbuße gehandelt habe, seit dem im streitigen Beschluss vorgesehenen Zeitpunkt fällig gewesen sei(16).

31.      Nach Ansicht des Gerichts kann diese Beurteilung nicht durch das Vorbringen der Rechtsmittelführerinnen in Frage gestellt werden, die insbesondere geltend gemacht hätten, dass das Gericht die ursprünglich verhängte Geldbuße für nichtig erklärt habe, bevor es deren Höhe auf der Grundlage von Gesichtspunkten festgesetzt habe, die nach dem streitigen Beschluss eingetreten seien(17), und dass der Präsident des Gerichts mit seinem Beschluss über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes die Aussetzung der Obliegenheit zur Stellung einer Bankbürgschaft angeordnet habe. Zum letztgenannten Punkt hat das Gericht darauf hingewiesen, dass der Erlass des Beschlusses über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht die Aussetzung der Fälligkeit der Forderung bedingt habe, auf die während des Gerichtsverfahrens weiter Verzugszinsen angefallen seien(18).

32.      Das Gericht hat außerdem hervorgehoben, dass die Verpflichtung, von Anfang an Verzugszinsen zu zahlen, wenn das Unionsgericht die Geldbuße in Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung teilweise oder ganz aufrechterhalte, keine Sanktion darstelle, die zu der ursprünglich von der Kommission festgesetzten Geldbuße hinzukäme. Da die Änderung der Geldbuße durch das Unionsgericht deren Rechtsnatur nicht ändere und da Klagen keine aufschiebende Wirkung hätten, dürfe die Kommission ein Unternehmen, das die Geldbuße nicht sofort gezahlt habe und dessen Klage teilweise stattgegeben worden sei, nämlich nicht von seiner Verpflichtung freistellen, ab Fälligkeit der von der Kommission verhängten Geldbuße Zinsen auf den vom Unionsgericht festgesetzten Betrag der Geldbuße zu zahlen(19).

33.      In Anbetracht dieser Erwägungen ist das Gericht zu dem Ergebnis gelangt, dass kein hinreichend qualifizierter Verstoß gegen die Verpflichtungen der Kommission aus Art. 266 Abs. 1 AEUV vorliege, und hat den Schadensersatzantrag der Rechtsmittelführerinnen zurückgewiesen. Da die übrigen Anträge der Rechtsmittelführerinnen im Wesentlichen ebenfalls auf der Prämisse eines Verstoßes der Kommission gegen diese Bestimmung beruhten, hat das Gericht die Klage in vollem Umfang abgewiesen(20).

IV.    Verfahren vor dem Gerichtshof und Anträge der Verfahrensbeteiligten

34.      Mit ihrem Rechtsmittel beantragen die Rechtsmittelführerinnen, das angefochtene Urteil aufzuheben, und wiederholen im Wesentlichen ihre im ersten Rechtszug gestellten Anträge(21). Die Kommission beantragt, das Rechtsmittel zurückzuweisen und den Rechtsmittelführerinnen die Kosten aufzuerlegen.

V.      Würdigung

35.      Die Rechtsmittelführerinnen stützen ihr Rechtsmittel auf drei Gründe, mit denen sie erstens einen Rechtsfehler wegen Nichtbefolgung des Urteils vom 15. Juli 2015 sowie eine fehlerhafte und widersprüchliche Begründung des angefochtenen Urteils, zweitens einen Verstoß gegen Art. 266 AEUV wegen mangelnder Befolgung der sich aus der Kombination von Kassationswirkung und ersetzender Rechtsnatur ergebenden Rechtsnorm und drittens eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren geltend machen. Wie vom Gerichtshof gewünscht, werde ich mich in den vorliegenden Schlussanträgen auf die Analyse des ersten Rechtsmittelgrundes konzentrieren.

36.      Aus der Darstellung der Vorgeschichte des Rechtsstreits geht hervor, dass das vorliegende Rechtsmittel vor dem Gerichtshof, insbesondere der erste Rechtsmittelgrund, wie die erstinstanzliche Klage vor dem Gericht im Wesentlichen darauf abstellt, ob die Ausübung der Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung durch das Gericht im Rahmen des Urteils vom 15. Juli 2015 zu einer Geldbuße geführt hat, die im Verhältnis zu der von der Kommission mit dem streitigen Beschluss verhängten Geldbuße als neu einzustufen ist und sich rechtlich von ihr unterscheidet.

37.      Im Einzelnen vertreten die Rechtsmittelführerinnen im Rahmen dieses ersten Rechtsmittelgrundes im Wesentlichen die Auffassung, dass das Gericht mit dem Urteil vom 15. Juli 2015 zum einen die von der Kommission verhängte Geldbuße ex tunc für nichtig erklärt habe, wobei diese Nichtigerklärung eine Forderung zu ihren Gunsten begründet habe, die dem von ihnen in Durchführung des Beschlusses über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vorläufig gezahlten Betrag nebst Zinsen entspreche, und zum anderen mit Wirkung ab dem Tag der Verkündung des Urteils vom 15. Juli 2015 eine neue, eigenständige Geldbuße festgesetzt habe, die sie als „gerichtliche Geldbuße“ der von der Kommission im Jahr 2010 verhängten „für nichtig erklärten Geldbuße“ gegenüberstellen.

38.      Da die verschiedenen von den Rechtsmittelführerinnen im Rahmen des ersten Rechtsmittelgrundes erhobenen Rügen alle von der Prämisse ausgehen, das Gericht habe im Wesentlichen rechtsirrtümlich entschieden, dass die von ihm im Urteil vom 15. Juli 2015 verhängte Geldbuße keine neue Geldbuße darstelle, die sich rechtlich von der Geldbuße unterscheide, die die Kommission mit dem streitigen Beschluss verhängt habe, halte ich es für sinnvoll, zunächst einleitende Bemerkungen zur Natur der Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung und insbesondere zu den Folgen ihrer Anwendung zu machen (A) und anschließend auf die Begründung des Gerichts im angefochtenen Urteil einzugehen und dabei die verschiedenen von den Rechtsmittelführerinnen im Rahmen des ersten Rechtsmittelgrundes vorgebrachten Rügen zu prüfen (B).

A.      Zur Befugnis des Unionsgerichts zu unbeschränkter Nachprüfung im Bereich der Anwendung der Wettbewerbsregeln

39.      Erstens ist darauf hinzuweisen, dass das System der gerichtlichen Kontrolle von Beschlüssen der Kommission in Verfahren nach den Art. 101 und 102 AEUV in einer Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Organe auf der Grundlage von Art. 263 AEUV besteht, die gemäß Art. 261 AEUV und Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003(22) sowie auf Antrag der klagenden Partei um die Ausübung einer Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung durch das Gericht hinsichtlich der in diesem Bereich von der Kommission verhängten Zwangsmaßnahmen ergänzt werden kann(23). Die Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung kann daher nur ergänzend im Rahmen der in Art. 263 AEUV vorgesehenen Rechtmäßigkeitskontrolle ausgeübt werden und stellt keine eigenständige Klage wie die in Art. 256 AEUV genannten dar(24).

40.      Insoweit ist festzustellen, dass sich diese Rechtmäßigkeitskontrolle auf sämtliche Bestandteile der Beschlüsse der Kommission in Verfahren nach den Art. 101 und 102 AEUV erstreckt, deren eingehende rechtliche und tatsächliche Kontrolle das Gericht sicherstellt, und zwar auf der Grundlage der von der klagenden Partei geltend gemachten Klagegründe und unter Berücksichtigung aller von ihr vorgebrachten Umstände. Die Gerichte der Union dürfen allerdings im Rahmen dieser Kontrolle die vom Urheber der in Rede stehenden Handlung gegebene Begründung keinesfalls durch ihre eigene ersetzen(25).

41.      Das Unionsgericht ist hingegen, wenn es seine Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung ausübt, über die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Zwangsmaßnahme hinaus befugt, die Beurteilung der Kommission als Urheberin des Rechtsakts, in dem der Betrag der Zwangsmaßnahme ursprünglich festgelegt wurde, bei der Ermittlung dieses Betrags durch seine eigene Beurteilung zu ersetzen. Das Unionsgericht kann daher den angefochtenen Rechtsakt, auch ohne ihn für nichtig zu erklären, unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände abändern und so die verhängte Geldbuße aufheben, herabsetzen oder erhöhen (umfassende Überprüfung)(26).

42.      Daraus folgt, dass das Unionsgericht, auch wenn der Umfang dieser Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung im Gegensatz zur Rechtmäßigkeitskontrolle strikt auf die Ermittlung des Betrags der Geldbuße beschränkt ist(27), seine Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung ausüben kann, wenn ihm die Frage der Höhe einer Geldbuße zur Beurteilung vorgelegt worden ist(28), und ihre Ausübung bewirkt, dass die Befugnis zur Verhängung von Sanktionen endgültig auf das Gericht übergeht(29).

43.      Methodisch gesehen bedeutet dies, dass es dem Unionsgericht erst dann, wenn es anhand der ihm vorgetragenen Klagegründe die Rechtmäßigkeit des ihm unterbreiteten Beschlusses überprüft hat und sofern dieser Beschluss nicht vollständig für nichtig erklärt wird, obliegt, seine Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung auszuüben, um zum einen die Konsequenzen aus seiner Beurteilung der Rechtmäßigkeit dieses Beschlusses zu ziehen und zum anderen anhand der ihm zur Prüfung vorgetragenen Gesichtspunkte unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu entscheiden, ob es seine eigene Beurteilung an die Stelle der Beurteilung der Kommission zu setzen hat, damit der Betrag der Geldbuße angemessen ist(30).

44.      Zweitens hat das Unionsgericht, um in Bezug auf die Geldbuße den Erfordernissen einer unbeschränkten gerichtlichen Nachprüfung im Sinne von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu genügen, bei der Ausübung der in den Art. 261 und 263 AEUV vorgesehenen Befugnisse jede Rechts- oder Sachrüge, mit der dargetan werden soll, dass die Höhe der Geldbuße nicht in angemessenem Verhältnis zu Schwere und Dauer der Zuwiderhandlung steht, zu prüfen und ihr abzuhelfen(31). Dank dieser Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung entspricht die in den Verträgen vorgesehene gerichtliche Kontrolle den Anforderungen des in Art. 47 der Grundrechtecharta verankerten Grundsatzes des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes(32). Ihre Ausübung setzt somit nach Art. 23 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 für jedes mit einer Sanktion belegte Unternehmen die Berücksichtigung von Schwere und Dauer der in Rede stehenden Zuwiderhandlung unter Wahrung der Grundsätze u. a. der Begründungspflicht, der Verhältnismäßigkeit, der individuellen Sanktionsfestsetzung und der Gleichbehandlung voraus, ohne dass die Unionsgerichte an die von der Kommission in ihren Leitlinien definierten indikativen Regeln gebunden wären, auch wenn diese die Unionsgerichte bei der Ausübung ihrer Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung leiten können(33).

45.      Drittens ist hervorzuheben, dass die Ausübung dieser Befugnis zu unbeschränkter Ermessensnachprüfung nicht einer Prüfung von Amts wegen gleichkommt und dass das Verfahren kontradiktorisch bleibt. Mit Ausnahme von Gründen zwingenden Rechts – wie dem Fehlen einer Begründung des streitigen Beschlusses(34) –, die der Richter von Amts wegen zu berücksichtigen hat, ist es Sache des Klägers, gegen den Beschluss Klagegründe vorzubringen und diese durch Beweise zu stützen(35). Der Gerichtshof hat entschieden, dass das Fehlen einer Verpflichtung, den gesamten streitigen Beschluss von Amts wegen zu prüfen, nicht gegen den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes verstößt. Für die Wahrung dieses Grundsatzes ist es nämlich nicht unerlässlich, dass das Gericht, das jedenfalls die geltend gemachten Klagegründe prüfen und eine Kontrolle sowohl in rechtlicher wie in tatsächlicher Hinsicht vornehmen muss, verpflichtet ist, den gesamten Vorgang von Amts wegen erneut zu prüfen(36). Daher kann das Unionsgericht im Rahmen der Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung auch feststellen, dass keines der von den Parteien vorgebrachten Argumente es rechtfertigt, von dieser Befugnis Gebrauch zu machen, um den Betrag der Geldbußen herabzusetzen(37).

46.      Im Licht dieser allgemeinen Erwägungen ist der erste Rechtsmittelgrund der Rechtsmittelführerinnen zu prüfen.

B.      Zum ersten Rechtsmittelgrund

47.      Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund – der aus einer Reihe von Rügen besteht, die sich weitgehend überschneiden und die Rn. 98, 99, 102, 105, 107, 111, 113, 115, 117, 118, 125 und 127 des angefochtenen Urteils betreffen – werfen die Rechtsmittelführerinnen dem Gericht im Wesentlichen vor, rechtsfehlerhaft sein eigenes Urteil vom 15. Juli 2015 nicht beachtet und eine fehlerhafte und im Widerspruch zu ihm stehende Begründung gegeben zu haben, die somit gegen den Grundsatz der Rechtskraft verstoße.

48.      Da das gesamte Vorbringen der Rechtsmittelführerinnen von der Prämisse ausgeht, dass das Gericht im Urteil vom 15. Juli 2015 eine neue Geldbuße verhängt habe, die sich rechtlich von der von der Kommission im streitigen Beschluss verhängten Geldbuße unterscheide, halte ich es aus Gründen der Klarheit und der geordneten Rechtspflege für erforderlich, zu prüfen, ob diese Prämisse zutrifft. Andernfalls wären alle von den Rechtsmittelführerinnen im Rahmen des ersten Rechtsmittelgrundes vorgebrachten Rügen unbegründet und zurückzuweisen, da zwischen dem Urteil vom 15. Juli 2015 und dem angefochtenen Urteil kein Widerspruch bestünde.

1.      Zur Begründetheit der Prämisse des ersten Rechtsmittelgrundes

49.      Einleitend ist meines Erachtens festzustellen, dass das Gericht in den Rn. 96 und 97 des angefochtenen Urteils zu Recht ausgeführt hat, dass die Frage, ab welchem Zeitpunkt auf die Geldbuße Verzugszinsen zu zahlen seien, im Urteil vom 15. Juli 2015 nicht ausdrücklich behandelt worden sei, so dass zu klären sei, ob aus den Gründen dieses Urteils gefolgert werden könne, dass sich die vom Gericht festgesetzte Geldbuße rechtlich von derjenigen unterscheide, die die Kommission im streitigen Beschluss festgesetzt habe(38).

50.      Insoweit weise ich darauf hin, dass Ausgangspunkt für die Untersuchung eines etwaigen Widerspruchs zwischen dem angefochtenen Urteil und dem Urteil vom 15. Juli 2015 zwangsläufig der Inhalt und konkreter die Gründe und der Tenor des Urteils vom 15. Juli 2015, auch im Licht des Beschlusses des Gerichtshofs, sein müssen. In diesem Zusammenhang ist die vom Gericht in den Rn. 95 und 100 des angefochtenen Urteils dargelegte Zusammenfassung des Inhalts seines Urteils vom 15. Juli 2015, die als Grundlage seiner Untersuchung dient, präzise und steht im Einklang mit der Auslegung des Gerichtshofs, wie sie sich aus seinem Beschluss ergibt(39).

51.      Zur Stützung ihrer Klage gegen den streitigen Beschluss, der zum Urteil vom 15. Juli 2015 führte, hatten die Rechtsmittelführerinnen nämlich neun Klagegründe geltend gemacht, von denen nur der sechste und der neunte für das vorliegende Rechtsmittel relevant sind. Zum einen wurde mit dem sechsten Klagegrund u. a. ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gerügt, da die Kommission ihre mangelnde Leistungsfähigkeit im streitigen Beschluss nicht berücksichtigt habe. Zum anderen wurde mit dem neunten Klagegrund eine fehlerhafte Beurteilung ihrer Leistungsfähigkeit im Schreiben vom 14. Februar 2011 gerügt, dessen Nichtigerklärung die Rechtsmittelführerinnen ebenfalls beantragt hatten.

52.      Mit dem Urteil vom 15. Juli 2015 hat das Gericht diesen beiden Klagegründen stattgegeben und den streitigen Beschluss, soweit mit ihm gegen die Rechtsmittelführerinnen eine Geldbuße verhängt wurde, sowie das Schreiben vom 14. Februar 2011 für nichtig erklärt, weil der Kommission Fehler bei der Beurteilung ihrer Leistungsfähigkeit im Sinne von Ziff. 35 der Leitlinien von 2006 unterlaufen seien. Im Einzelnen hat das Gericht im Rahmen seiner Kontrolle der Rechtmäßigkeit des streitigen Beschlusses in den Rn. 285 bis 332 des Urteils vom 15. Juli 2015 festgestellt, dass der Kommission bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit der Rechtsmittelführerinnen Fehler unterlaufen seien, die geeignet gewesen seien, zum einen zur Nichtigerklärung des streitigen Beschlusses, soweit mit ihm eine Geldbuße gegen die Rechtsmittelführerinnen verhängt worden sei, und des Schreibens vom 14. Februar 2011 zu führen, und zum anderen die Ausübung der Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung durch das Gericht zu rechtfertigen(40).

53.      In Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung hat das Gericht jedoch die Auffassung vertreten, die Rechtsmittelführerinnen hätten keinen Anspruch darauf, dass ihre Geldbuße wegen des Fehlens ihrer Leistungsfähigkeit ermäßigt werde, und folglich gegen sie eine Geldbuße in gleicher Höhe wie im streitigen Beschluss verhängt. Im Einzelnen vertrat das Gericht, das selbst die Leitlinien von 2006 angewandt hat, in den Rn. 333 bis 358 des Urteils vom 15. Juli 2015 auf der Grundlage der Angaben der Rechtsmittelführerinnen zur Entwicklung ihrer finanziellen Situation nach dem Erlass des streitigen Beschlusses die Auffassung, die Rechtsmittelführerinnen hätten keinen Anspruch darauf, dass ihre Geldbuße wegen ihrer fehlenden Leistungsfähigkeit aus vergleichbaren wie den von der Kommission in Ziff. 35 der Leitlinien von 2006 angeführten Gründen ermäßigt werde, so dass sie zur Zahlung einer Geldbuße zu verurteilen seien, deren Höhe der im streitigen Beschluss verhängten Geldbuße entspreche(41).

54.      Insoweit sollte hervorgehoben werden, dass sich das Gericht zwar darauf beschränkt hat, den die Beurteilung der Leistungsfähigkeit der Rechtsmittelführerinnen betreffenden Nichtigkeitsgründen stattzugeben, dass aber alle die Rechtmäßigkeit der Zuwiderhandlung und die Höhe der infolgedessen verhängten Geldbuße betreffenden Gründe zurückgewiesen wurden. Anders gewendet hatte das Gericht keinen Grund gesehen, den Betrag der gegen die Rechtsmittelführerinnen verhängten Geldbußen, wie er sich aus Art. 2 Abs. 1 Nr. 8 des streitigen Beschlusses ergab(42), auf der Grundlage der ersten vier Klagegründe, deren Prüfung keinen Fehler ergeben hatte, der zur Rechtswidrigkeit des streitigen Beschlusses hätte führen können, als unangemessen anzusehen. Auch aus diesem Grund hat das Gericht eine Geldbuße festgesetzt, deren Höhe der von der Kommission zuvor im streitigen Beschluss gegen die Rechtsmittelführerinnen verhängten Geldbuße entsprach. Im Übrigen stellt die Anwendung von Ziff. 35 der Leitlinien von 2006 das letzte Element dar, das bei der Festsetzung der wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln verhängten Geldbußen berücksichtigt wird(43).

55.      Was den Tenor des Urteils vom 15. Juli 2015 betrifft, hat das Gericht zwar zum einen Art. 2 Abs. 1 Nr. 8 des streitigen Beschlusses, mit dem eine Geldbuße gegen die Rechtsmittelführerinnen verhängt wurde, für nichtig erklärt (Nr. 2 des Tenors) und zum anderen Geldbußen in gleicher Höhe wie im streitigen Beschluss festgesetzt (Nrn. 4 bis 6). Die Annahme, dass darin der Wille des Gerichts zum Ausdruck komme, eine neue Geldbuße festzusetzen, die sich rechtlich von der von der Kommission verhängten unterscheide, wäre jedoch allzu formalistisch und würde meines Erachtens gegen die in ständiger Rechtsprechung bestätigte Grundregel verstoßen, wonach der Tenor eines Urteils im Licht der Gründe zu verstehen ist, die zu ihm geführt haben und zur Bestimmung seiner genauen Bedeutung unerlässlich sind(44). Überdies gibt es zahlreiche Beispiele, in denen das Gericht den die Geldbuße betreffenden verfügenden Teil eines Beschlusses der Kommission für nichtig erklärt und sodann den neuen Betrag in Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung festgesetzt hat(45). Wie die Kommission ausführt, erklärt das Gericht nämlich in bestimmten Fällen, wie im Urteil vom 15. Juli 2015, zunächst den Artikel des Beschlusses der Kommission, mit dem die Geldbuße festgesetzt wird, für nichtig und setzt dann die Geldbuße im Tenor des Urteils neu fest(46). In anderen Fällen beschränkt sich das Gericht darauf, die Geldbuße abzuändern, ohne den betreffenden Artikel des Beschlusses der Kommission für nichtig zu erklären(47). Diese mangelnde Kohärenz in der Praxis des Gerichts ist zwar bedauerlich und mag rein formal Verwirrung stiften; de facto hätte sie aber, da sich die Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung nach der auf das Urteil CB zurückgehenden Rechtsprechung „auf die ursprünglich von der Kommission verhängte Geldbuße bezieht und auf diese beschränkt“(48), grundsätzlich keine Auswirkungen auf die Rechtsfolgen(49).

56.      Nach alledem bin ich der Ansicht, dass die Prämisse der von den Rechtsmittelführerinnen im Rahmen des ersten Rechtsmittelgrundes entwickelten Argumentation, wonach das Gericht mit dem Urteil vom 15. Juli 2015 eine neue Geldbuße verhängt habe, die sich rechtlich von der Geldbuße unterscheide, die die Kommission im streitigen Beschluss verhängt habe, nicht aus den Gründen dieses Urteils hervorgeht und grundlegend falsch ist.

57.      Dieses Ergebnis halte ich für ausreichend, um das gesamte Vorbringen der Rechtsmittelführerinnen als unbegründet zurückzuweisen, ohne dass es einer eingehenderen Prüfung der verschiedenen Rügen des ersten Rechtsmittelgrundes bedarf.

58.      Sollte es der Gerichtshof jedoch für erforderlich erachten, die verschiedenen Argumente der Rechtsmittelführerinnen hilfsweise und der Vollständigkeit halber zu behandeln, schlage ich vor, sie auf der Grundlage der nachfolgenden Analyse zurückzuweisen.

2.      Zu den verschiedenen Rügen des ersten Rechtsmittelgrundes

59.      Erstens machen die Rechtsmittelführerinnen geltend, das Gericht habe in Rn. 98 des angefochtenen Urteils die fehlerhafte Feststellung getroffen, dass „[d]ie vom Unionsrichter festgesetzte Geldbuße … keine neue Geldbuße dar[stellt], die sich rechtlich von der von der Kommission verhängten unterschiede (vgl. in diesem Sinne [Urteil CB], Rn. 58 und 60).“ Diese Feststellung sei fehlerhaft, da sie keine Antwort auf die Frage gebe, worin die abändernde und ersetzende Wirkung des Urteils vom 15. Juli 2015 in Bezug auf die durch den streitigen Beschluss für nichtig erklärte Geldbuße bestehe.

60.      Die Rechtsmittelführerinnen stützen ihr Argument darauf, das Gericht habe zu Unrecht auf die Rn. 58 und 60 des Urteils CB Bezug genommen, das sich vom Urteil vom 15. Juli 2015 unterscheide. Anders als im Urteil CB habe das Gericht nämlich im Urteil vom 15. Juli 2015 zum einen die Verurteilung zur Zahlung der „gerichtlichen Geldbuße“ auf „neue Tatsachen“ gestützt und zum anderen zunächst die verhängte Geldbuße vollständig und von Anfang an (ex tunc) beseitigt, bevor es die „gerichtliche Geldbuße“ festgesetzt habe; es habe sich also nicht dafür entschieden, die im ursprünglichen Beschluss der Kommission verhängte Geldbuße zu bestätigen oder nur (rückwirkend) herabzusetzen.

61.      Dieses Vorbringen kann meiner Ansicht nach keinen Erfolg haben.

62.      Zunächst hat das Unionsgericht, wie oben in den Nrn. 52 bis 56 festgestellt, im Urteil vom 15. Juli 2015 nämlich keine Geldbuße anstelle der von der Kommission verhängten Geldbuße verhängt – was es im Übrigen auch nicht durfte –, sondern lediglich die ursprünglich im streitigen Beschluss festgesetzte Geldbuße „abgeändert“. Mit anderen Worten besteht eine tatsächliche und rechtliche Identität zwischen der von der Kommission im streitigen Beschluss verhängten Geldbuße und der Geldbuße, die im Urteil vom 15. Juli 2015 im Anschluss an die vom Gericht ausgeübte Kontrolle festgesetzt wurde.

63.      Sodann hat das Gericht in den Rn. 58 bis 60 des Urteils CB entschieden, dass sich die dem Unionsgericht für den Bereich der Anwendung der Wettbewerbsregeln verliehene Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung „auf die ursprünglich von der Kommission verhängte Geldbuße bezieht und auf diese beschränkt“ (Rn. 58), dass es „nicht befugt [ist], eine Geldbuße zu verhängen“, sondern „nur … über Geldbußen … entscheiden [kann], die mit einer Entscheidung der Kommission festgesetzt wurden“ (Rn. 59), und dass es daher nicht befugt ist, „die von der Kommission verhängte Geldbuße durch eine neue, rechtlich von dieser verschiedene Geldbuße zu ersetzen“ (Rn. 60). Diese Aussagen allgemeiner Art, die das Gericht 1995 getroffen hat, gelten meines Erachtens nach wie vor, auch wenn sie vom Gerichtshof nie bestätigt wurden(50).

64.      Schließlich ist, was das Vorbringen betrifft, das Gericht habe im Urteil CB den in Rede stehenden Teil der Geldbuße nach einer Neubewertung der Tatsachen, die auch dem streitigen Beschluss zugrunde gelegen hätten, bestätigt, während das Gericht im Urteil vom 15. Juli 2015 entschieden habe, die gleiche Geldbuße auch auf der Grundlage einer Prüfung neuer Tatsachen zu bestätigen, die von den Rechtsmittelführerinnen vorgenommene Differenzierung rechtlich unerheblich. Nach ständiger Rechtsprechung hat der für die Ausübung der Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung zuständige Richter nämlich vorbehaltlich der Prüfung der ihm von den Parteien unterbreiteten Gesichtspunkte grundsätzlich auf die rechtliche und tatsächliche Situation zum Zeitpunkt seiner Entscheidung abzustellen, wenn er es für angebracht hält, von seiner Abänderungsbefugnis Gebrauch zu machen(51). Dies bedeutet erst recht, dass der für die Ausübung der Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung zuständige Richter nicht nur frühere Umstände berücksichtigen kann, die nicht in der angefochtenen Handlung zu finden sind(52), sondern gegebenenfalls und ausnahmsweise auch Umstände aus der Zeit nach dem Erlass der Entscheidung. Wie in Rn. 43 des Beschlusses des Gerichtshofs ausgeführt, ist das Unionsgericht bei der umfassenden Ausübung seiner Rechtmäßigkeitskontrolle befugt, sämtliche von ihm für maßgeblich erachteten tatsächlichen Umstände zu berücksichtigen, mögen sie vor oder nach der ergangenen Entscheidung eingetreten sein(53). Dies gilt auch und erst recht, wenn, wie in der vorliegenden Rechtssache, die Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung im Rahmen einer Prüfung der Leistungsfähigkeit des betreffenden Unternehmens ausgeübt wird. Dürfte, wie der Gerichtshof festgestellt hat, das Unionsgericht bei der Beurteilung dieser Leistungsfähigkeit nicht die tatsächliche Situation zum Zeitpunkt seiner Entscheidung berücksichtigen, könnte es nämlich gezwungen sein, eine gebotene Herabsetzung oder Aufhebung der Geldbuße zu verweigern bzw. eine nicht gebotene Herabsetzung oder Aufhebung der Geldbuße zu gewähren, wodurch dem betroffenen Unternehmen ein Wettbewerbsnachteil entstehen oder ein ungerechtfertigter Wettbewerbsvorteil verschafft werden könnte(54). Überdies impliziert die Prüfung der Leistungsfähigkeit im Sinne von Ziff. 35 der Leitlinien von 2006 die Analyse des „gegebenen sozialen und ökonomischen Umfelds“ zum Zeitpunkt der Verhängung einer Geldbuße, um zu beurteilen, ob dies „die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit des [betreffenden] Unternehmens unwiderruflich gefährden“ würde. Eine solche Prüfung ist daher aufgrund ihres Wesens und ihres Gegenstands in die Zukunft gerichtet und kann ausnahmsweise die Einbeziehung von Umständen aus der Zeit nach dem Erlass des Bußgeldbeschlusses erfordern.

65.      Zweitens machen die Rechtsmittelführerinnen geltend, die Begründung des angefochtenen Urteils in Bezug auf die ersetzende Wirkung des Urteils vom 15. Juli 2015 sei widersprüchlich. Im Einzelnen habe das Gericht in Rn. 99 des angefochtenen Urteils ausgeführt: „Ersetzt der Unionsrichter die Würdigung der Kommission durch seine eigene und setzt er die Geldbuße im Rahmen seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung herab, ersetzt er in dem Beschluss der Kommission den dort ursprünglich festgesetzten Betrag durch denjenigen, der sich nach seiner eigenen Würdigung ergibt.“ Auch wenn diese Erwägung als richtiger Ausgangspunkt hätte erscheinen können, hätte das Gericht daraus folgende Schlussfolgerungen ziehen müssen: i) Es habe im Urteil vom 15. Juli 2015 die Würdigung der Kommission umfassend durch seine eigene ersetzt, ii) es habe die für nichtig erklärte Geldbuße auf der Basis dieser Würdigung im Rahmen seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung im Wege der Nichtigerklärung und der expliziten Verrechnung der bereits geleisteten Zahlungen herabgesetzt und iii) es habe die für nichtig erklärte Geldbuße durch die in dieser Weise abgeänderte gerichtliche Geldbuße ersetzt. Stattdessen habe sich das Gericht in Rn. 99 des angefochtenen Urteils wie folgt geäußert: „Aufgrund der ersetzenden Wirkung des Urteils des Unionsrichters ist daher davon auszugehen, dass der Beschluss der Kommission schon immer derjenige gewesen ist, der sich aus der Würdigung durch den Unionsrichter ergibt (vgl. in diesem Sinne Urteil [CB], Rn. 60 bis 65 und 85 bis 87).“

66.      Hierzu ist festzustellen, dass das Gericht im Urteil vom 15. Juli 2015 zwar in einem ersten Schritt den streitigen Kartellbeschluss hinsichtlich der Höhe der darin gegen die Rechtsmittelführerinnen verhängten Geldbuße für nichtig erklärt hat und in einem zweiten Schritt die Geldbuße in Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung aus den oben in den Rn. 53 und 54 genannten Gründen – wie vom Gerichtshof in den Rn. 38 und 40 seines Beschlusses entschieden, auf die Rn. 101 des angefochtenen Urteils verweist – in gleicher Höhe festgesetzt hat; dabei wurde aber weder eine radikale Abänderung noch eine „Novation“ der Geldbuße vorgenommen.

67.      Drittens machen die Rechtsmittelführerinnen geltend, die Abänderung der Geldbuße verhindere deren rückwirkende Fälligkeit ab dem 4. Januar 2011. Sie treten daher der Erwägung des Gerichts in Rn. 102 des angefochtenen Urteils entgegen, wonach „die Kommission im vorliegenden Fall zu Recht davon ausgegangen [ist], dass die Geldbuße, da es sich bei der vom Gericht festgesetzten Geldbuße nicht um eine neue Geldbuße handelt, seit dem 4. Januar 2011 fällig ist“. Die vollständige Beseitigung und der Wegfall der Geldbuße hätten deren rückwirkende Fälligkeit verhindert, da sich die aufgeschobene Fälligkeit der gerichtlichen Geldbuße unmissverständlich aus den Rn. 302 und 356 des Urteils vom 15. Juli 2015 ergebe. Denn im Zeitraum zwischen dem Kommissionsbeschluss und der Verkündung des Urteils vom 15. Juli 2015 habe es der Kommission an einer entsprechenden Forderungsberechtigung gefehlt.

68.      Bei diesem Vorbringen der Rechtsmittelführerinnen handelt es sich um eine bloße Argumentation, die jedoch ebenfalls ins Leere geht, da sie auf einer fehlerhaften Auslegung des Urteils vom 15. Juli 2015 beruht. So machen die Rechtsmittelführerinnen zu Unrecht geltend, dass im vorliegenden Fall die ersetzende Wirkung der vom Gericht im angefochtenen Urteil festgesetzten Geldbuße eine Wirkung ex nunc sei und dass das Gericht damit über seine Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung im Bereich der Sanktionen hinausgegangen sei. Hierzu genügt der Hinweis, dass der Gerichtshof in seinem Beschluss festgestellt hat, dass die vom Gericht verhängte Geldbuße keine neue Geldbuße war(55). Überdies hat das Gericht, wie oben in den Nrn. 53 und 54 ausgeführt, die Höhe der gegen die Rechtsmittelführerinnen verhängten Geldbuße, wie sie sich aus Art. 2 Abs. 1 Nr. 8 des streitigen Beschlusses auf der Grundlage der ersten vier Klagegründe ergab, deren Prüfung keinen Fehler ergeben hatte, der zur Rechtswidrigkeit des streitigen Beschlusses hätte führen können, nicht als unangemessen angesehen, was die Verhängung einer Geldbuße rechtfertigte, deren Höhe der zuvor von der Kommission im streitigen Beschluss gegen die Rechtsmittelführerinnen verhängten Geldbuße entsprach.

69.      Viertens machen die Rechtsmittelführerinnen geltend, das Gericht habe das Urteil Trioplast (Rn. 15 und 56 bis 62) fehlerhaft ausgelegt, als es darauf in Rn. 105 des angefochtenen Urteils seine Schlussfolgerung gestützt habe, dass „[e]ine ersetzende Wirkung entsprechend der oben in Rn. 99 genannten … bereits bei einem Tenor anerkannt worden [ist], bei dem das Gericht zunächst den Betrag, in dessen Höhe eine Muttergesellschaft gesamtschuldnerisch haftet, für nichtig erklärt und diesen Betrag dann in Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung neu festgesetzt hat“. Diese Rechtsprechung sei irrelevant und zeige, dass es von Seiten der Unionsgerichte keinen anerkannten Präzedenzfall gegeben habe, mit dem der rückwirkende Beginn des Zinslaufs bei einer Kombination aus Nichtigerklärung und Verurteilungstenor bereits abschließend geklärt worden wäre.

70.      Wie die Kommission halte ich im Licht der oben in Nr. 55 angeführten Rechtsprechung das Urteil Trioplast jedoch in Bezug auf den Beginn des Zinslaufs für relevant. In diesem Urteil hat das Gericht nämlich zunächst analog zum vorliegenden Fall im Tenor des Urteils die Geldbuße, für die eine Muttergesellschaft gesamtschuldnerisch haften sollte, für nichtig erklärt, bevor es sie in Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung neu festgesetzt hat. Die ursprünglich von der Kommission verhängte Geldbuße wurde somit eindeutig ex tunc ersetzt. Da die Umstände der Rechtssache Trioplast also mit denen der vorliegenden Rechtssache absolut vergleichbar sind, kann auch diese vierte Rüge zurückgewiesen werden.

71.      Fünftens machen die Rechtsmittelführerinnen geltend, das Gericht habe eine fehlerhafte Würdigung im Zusammenhang mit ihrer im Jahr 2015 neu festgestellten Leistungsfähigkeit und deren Auswirkungen auf die Höhe der „gerichtlichen Geldbuße“ vorgenommen. Im Einzelnen führe das Gericht in Rn. 107 des angefochtenen Urteils aus, es habe sich „[i]m Rahmen seiner Rechtmäßigkeitskontrolle … auf die Feststellung beschränkt, dass der Kommission bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit der [Rechtsmittelführerinnen] Fehler unterlaufen seien. Es hat nicht festgestellt, dass gegen die [Rechtsmittelführerinnen] 2010 und 2011 keine Geldbuße hätte verhängt werden dürfen.“ In Rn. 109 des angefochtenen Urteils habe es hinzugefügt, es habe „[e]ntgegen dem Vorbringen der [Rechtsmittelführerinnen] … in dem Urteil vom 15. Juli 2015 … festgestellt, dass die [Rechtsmittelführerinnen] 2010 und 2011 eine gewisse Leistungsfähigkeit gehabt haben“. Es gebe keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass das Gericht im Urteil vom 15. Juli 2015 aufgrund einer gewissen Leistungsfähigkeit entschieden hätte, den ursprünglichen Bußgeldbeschluss aufrechtzuerhalten und dadurch die unangemessen hohe für nichtig erklärte Geldbuße zu bestätigen.

72.      Entgegen dem Vorbringen der Rechtsmittelführerinnen hat das Gericht aber in den Rn. 108 und 109 des angefochtenen Urteils als Antwort auf eines der von ihnen vorgebrachten Argumente unter Bezugnahme auf Rn. 346 des Urteils vom 15. Juli 2015 lediglich erläutert, es habe in diesem Urteil festgestellt, dass die Rechtsmittelführerinnen seit dem Jahr 2011 bereits in der Lage gewesen seien, gemäß dem im Beschluss über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes festgelegten Plan für die vorläufige Zahlung 15 000 000 Euro zu zahlen, so dass sie in den Jahren 2010 und 2011 eine „gewisse Leistungsfähigkeit“ gehabt haben müssten.

73.      Sechstens beanstanden die Rechtsmittelführerinnen die Ausführungen des Gerichts in Rn. 125 des angefochtenen Urteils, wonach „die Verurteilung der Kommission zur Tragung der Hälfte [ihrer] Kosten … damit zusammenhängt, dass Art. 2 Abs. 1 Nr. 8 des streitigen Beschlusses für nichtig erklärt wurde“. Nach ihrer Ansicht unterstreicht der Kostentenor „die materiell-rechtlich begünstigende Entscheidung des Gerichts im Hinblick auf die durch das Urteil vom 15. Juli 2015 [zu ihren Gunsten] wesentlich abgeänderte Geldbuße“.

74.      Dieses Argument beruht jedoch auf der falschen Prämisse, dass ein Zusammenhang zwischen einer vermeintlich erfolgreichen Abänderung der ursprünglich verhängten und für nichtig erklärten Geldbuße und der Kostenfestsetzung bestehe, und ist daher als ins Leere gehend zurückzuweisen.

75.      Siebtens schließlich wenden sich die Rechtsmittelführerinnen gegen die Schlussfolgerung in Rn. 127 des angefochtenen Urteils, wonach „die Verpflichtung, von Anfang Verzugszinsen zu zahlen, keine Sanktion darstellt, die zu der ursprünglich von der Kommission festgesetzten Geldbuße hinzukäme und die eine Einschränkung des Klagerechts darstellen würde“.

76.      Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die Verpflichtung zur Zahlung von Verzugszinsen im Fall der nicht fristgerechten Zahlung einer Geldbuße eine unmittelbare Folge davon ist, dass Rechtsakte der Kommission, die eine Zahlung auferlegen, vollstreckbare Titel sind (Art. 299 AEUV). Die Zwangsvollstreckung aus diesen Rechtsakten kann nur durch eine Entscheidung des Gerichtshofs ausgesetzt werden. Die Verpflichtung zur Zahlung von Verzugszinsen soll somit die Wirksamkeit der von der Kommission im Bereich des Wettbewerbsrechts verhängten Geldbußen gewährleisten und ihre Adressaten zur fristgerechten Zahlung veranlassen. Die Verpflichtung, von Anfang an Verzugszinsen zu zahlen, stellt daher keine Sanktion dar, die zu der ursprünglich von der Kommission verhängten Geldbuße hinzukäme.

77.      Zum anderen hat das Gericht in seinem Urteil vom 15. Juli 2015 weder die im Kartellbeschluss enthaltenen Bestimmungen über die Verzugszinsen für nichtig erklärt noch eine neue Zahlungsfrist oder einen neuen Verzugszinssatz festgesetzt. Vielmehr hat es im Beschluss vom 17. Mai 2018, Westfälische Drahtindustrie u. a./Kommission(56), ausdrücklich bestätigt, dass das Urteil vom 15. Juli 2015 keine Auswirkungen auf die Frage der Verzugszinsen hatte. Die Rechtsmittelführerinnen können daher nicht mit Erfolg geltend machen, dass keine Verzugszinsen ab dem Erlass des Beschlusses der Kommission geschuldet gewesen seien.

C.      Ergebnis

78.      In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen und da ich mich in den vorliegenden Schlussanträgen allein mit dem ersten Rechtsmittelgrund befasst habe, schlage ich dem Gerichtshof vor, diesen Rechtsmittelgrund als unbegründet zurückzuweisen.


































































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