C-693/20 P – Intermarché Casino Achats/ Kommission

C-693/20 P – Intermarché Casino Achats/ Kommission

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Language of document : ECLI:EU:C:2023:172

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

9. März 2023(*)

„Rechtsmittel – Wettbewerb – Kartelle – Beschluss der Europäischen Kommission, mit dem eine Nachprüfung angeordnet wird – Rechtsbehelfe gegen den Ablauf der Nachprüfung – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Verordnung (EG) Nr. 1/2003 – Art. 19 – Verordnung (EG) Nr. 773/2004 – Art. 3 – Aufzeichnung der Befragungen, die die Kommission im Rahmen ihrer Ermittlungen durchführt – Beginn der Untersuchung durch die Kommission“

In der Rechtssache C‑693/20 P

betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 21. Dezember 2020,

Intermarché Casino Achats SARL mit Sitz in Paris (Frankreich), vertreten durch F. Abouzeid, S. Eder, J. Jourdan, C. Mussi und Y. Utzschneider, Avocats,

Rechtsmittelführerin,

andere Parteien des Verfahrens:

Europäische Kommission, vertreten durch P. Berghe, A. Cleenewerck de Crayencour, A. Dawes und I. V. Rogalski als Bevollmächtigte,

Beklagte im ersten Rechtszug,

Rat der Europäischen Union, vertreten durch A.‑L. Meyer und O. Segnana als Bevollmächtigte,

Streithelfer im ersten Rechtszug,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Ersten Kammer, der Richter P. G. Xuereb (Berichterstatter) und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,

Generalanwalt: G. Pitruzzella,

Kanzler: V. Giacobbo, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. Februar 2022,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Mit ihrem Rechtsmittel beantragt die Intermarché Casino Achats SARL die teilweise Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 5. Oktober 2020, Intermarché Casino Achats/Kommission (T‑254/17, nicht veröffentlicht, im Folgenden: angefochtenes Urteil, EU:T:2020:459), mit dem das Gericht ihre Klage nach Art. 263 AEUV auf Nichtigerklärung des Beschlusses C(2017) 1056 final der Kommission vom 9. Februar 2017, mit dem Intermarché Casino Achats sowie allen unmittelbar oder mittelbar von ihr kontrollierten Gesellschaften aufgegeben wird, eine Nachprüfung gemäß Art. 20 Abs. 1 und 4 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates zu dulden (Sache AT.40466 – Tute 1) (im Folgenden: streitiger Beschluss), teilweise abgewiesen hat.

 Rechtlicher Rahmen

 Verordnung (EG) Nr. 1/2003

2        Im 25. Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101] und [102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) heißt es:

„Da es zunehmend schwieriger wird, Verstöße gegen die Wettbewerbsregeln aufzudecken, ist es für einen wirksamen Schutz des Wettbewerbs notwendig, die Ermittlungsbefugnisse der [Europäischen] Kommission zu ergänzen. Die Kommission sollte insbesondere alle Personen, die eventuell über sachdienliche Informationen verfügen, befragen und deren Aussagen zu Protokoll nehmen können. Ferner sollten die von der Kommission beauftragten Bediensteten im Zuge einer Nachprüfung für die hierfür erforderliche Zeit eine Versiegelung vornehmen dürfen. Die Dauer der Versiegelung sollte in der Regel 72 Stunden nicht überschreiten. Die von der Kommission beauftragten Bediensteten sollten außerdem alle Auskünfte im Zusammenhang mit Gegenstand und Ziel der Nachprüfung einholen dürfen.“

3        In Kapitel V („Ermittlungsbefugnisse“) dieser Verordnung ist Art. 17 („Untersuchung einzelner Wirtschaftszweige und einzelner Arten von Vereinbarungen“) enthalten, dessen Abs. 1 bestimmt:

„Lassen die Entwicklung des Handels zwischen Mitgliedstaaten, Preisstarrheiten oder andere Umstände vermuten, dass der Wettbewerb im Gemeinsamen Markt möglicherweise eingeschränkt oder verfälscht ist, so kann die Kommission die Untersuchung eines bestimmten Wirtschaftszweigs oder – Sektor übergreifend – einer bestimmten Art von Vereinbarungen durchführen. Im Rahmen dieser Untersuchung kann die Kommission von den betreffenden Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen die Auskünfte verlangen, die zur Durchsetzung von Artikel [101] und [102 AEUV] notwendig sind, und die dazu notwendigen Nachprüfungen vornehmen.“

4        Art. 19 („Befugnis zur Befragung“) dieser Verordnung sieht vor:

„(1)      Zur Erfüllung der ihr durch diese Verordnung übertragenen Aufgaben kann die Kommission alle natürlichen und juristischen Personen befragen, die der Befragung zum Zweck der Einholung von Information, die sich auf den Gegenstand einer Untersuchung bezieht, zustimmen.

(2)      Findet eine Befragung nach Absatz 1 in den Räumen eines Unternehmens statt, so informiert die Kommission die Wettbewerbsbehörde des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet die Befragung erfolgt. Auf Verlangen der Wettbewerbsbehörde dieses Mitgliedstaats können deren Bedienstete die Bediensteten der Kommission und die anderen von der Kommission ermächtigten Begleitpersonen bei der Durchführung der Befragung unterstützen.“

5        Art. 20 („Nachprüfungsbefugnisse der Kommission“) dieser Verordnung bestimmt:

„(1)      Die Kommission kann zur Erfüllung der ihr durch diese Verordnung übertragenen Aufgaben bei Unternehmen und Unternehmensvereinigungen alle erforderlichen Nachprüfungen vornehmen.

(2)      Die mit den Nachprüfungen beauftragten Bediensteten der Kommission und die anderen von ihr ermächtigten Begleitpersonen sind befugt,

a)      alle Räumlichkeiten, Grundstücke und Transportmittel von Unternehmen und Unternehmensvereinigungen zu betreten;

b)      die Bücher und sonstigen Geschäftsunterlagen, unabhängig davon, in welcher Form sie vorliegen, zu prüfen;

c)      Kopien oder Auszüge gleich welcher Art aus diesen Büchern und Unterlagen anzufertigen oder zu erlangen;

d)      betriebliche Räumlichkeiten und Bücher oder Unterlagen jeder Art für die Dauer und in dem Ausmaß zu versiegeln, wie es für die Nachprüfung erforderlich ist;

e)      von allen Vertretern oder Mitgliedern der Belegschaft des Unternehmens oder der Unternehmensvereinigung Erläuterungen zu Tatsachen oder Unterlagen zu verlangen, die mit Gegenstand und Zweck der Nachprüfung in Zusammenhang stehen, und ihre Antworten zu Protokoll zu nehmen.

(3)      Die mit Nachprüfungen beauftragten Bediensteten der Kommission und die anderen von ihr ermächtigten Begleitpersonen üben ihre Befugnisse unter Vorlage eines schriftlichen Auftrags aus, in dem der Gegenstand und der Zweck der Nachprüfung bezeichnet sind und auf die in Artikel 23 vorgesehenen Sanktionen für den Fall hingewiesen wird, dass die angeforderten Bücher oder sonstigen Geschäftsunterlagen nicht vollständig vorgelegt werden oder die Antworten auf die nach Maßgabe von Absatz 2 des vorliegenden Artikels gestellten Fragen unrichtig oder irreführend sind. Die Kommission unterrichtet die Wettbewerbsbehörde des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet die Nachprüfung vorgenommen werden soll, über die Nachprüfung rechtzeitig vor deren Beginn.

(4)      Die Unternehmen und Unternehmensvereinigungen sind verpflichtet, die Nachprüfungen zu dulden, die die Kommission durch Entscheidung angeordnet hat. Die Entscheidung bezeichnet den Gegenstand und den Zweck der Nachprüfung, bestimmt den Zeitpunkt des Beginns der Nachprüfung und weist auf die in Artikel 23 und Artikel 24 vorgesehenen Sanktionen sowie auf das Recht hin, vor dem Gerichtshof Klage gegen die Entscheidung zu erheben. Die Kommission erlässt diese Entscheidungen nach Anhörung der Wettbewerbsbehörde des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet die Nachprüfung vorgenommen werden soll.

(5)      Die Bediensteten der Wettbewerbsbehörde des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet die Nachprüfung vorgenommen werden soll, oder von dieser Behörde entsprechend ermächtigte oder benannte Personen unterstützen auf Ersuchen dieser Behörde oder der Kommission die Bediensteten der Kommission und die anderen von ihr ermächtigten Begleitpersonen aktiv. Sie verfügen hierzu über die in Absatz 2 genannten Befugnisse.

(6)      Stellen die beauftragten Bediensteten der Kommission und die anderen von ihr ermächtigten Begleitpersonen fest, dass sich ein Unternehmen einer nach Maßgabe dieses Artikels angeordneten Nachprüfung widersetzt, so gewährt der betreffende Mitgliedstaat die erforderliche Unterstützung, gegebenenfalls unter Einsatz von Polizeikräften oder einer entsprechenden vollziehenden Behörde, damit die Bediensteten der Kommission ihren Nachprüfungsauftrag erfüllen können.

(7)      Setzt die Unterstützung nach Absatz 6 nach einzelstaatlichem Recht eine Genehmigung eines Gerichts voraus, so ist diese zu beantragen. Die Genehmigung kann auch vorsorglich beantragt werden.

(8)      Wird die in Absatz 7 genannte Genehmigung beantragt, so prüft das einzelstaatliche Gericht die Echtheit der Entscheidung der Kommission sowie, ob die beantragten Zwangsmaßnahmen nicht willkürlich und, gemessen am Gegenstand der Nachprüfung, nicht unverhältnismäßig sind. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Zwangsmaßnahmen kann das einzelstaatliche Gericht von der Kommission unmittelbar oder über die Wettbewerbsbehörde des betreffenden Mitgliedstaats ausführliche Erläuterungen anfordern, und zwar insbesondere zu den Gründen, die die Kommission veranlasst haben, das Unternehmen einer Zuwiderhandlung gegen Artikel [101] oder [102 AEUV] zu verdächtigen, sowie zur Schwere der behaupteten Zuwiderhandlung und zur Art der Beteiligung des betreffenden Unternehmens. Das einzelstaatliche Gericht darf jedoch weder die Notwendigkeit der Nachprüfung in Frage stellen noch die Übermittlung der in den Akten der Kommission enthaltenen Informationen verlangen. Die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Kommissionsentscheidung ist dem Gerichtshof vorbehalten.“

6        Art. 23 („Geldbußen“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 sieht vor:

„Die Kommission kann gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen durch Entscheidung Geldbußen bis zu einem Höchstbetrag von 1 % des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes festsetzen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig

c)      bei Nachprüfungen nach Artikel 20 die angeforderten Bücher oder sonstigen Geschäftsunterlagen nicht vollständig vorlegen oder in einer Entscheidung nach Artikel 20 Absatz 4 angeordnete Nachprüfungen nicht dulden;

d)      in Beantwortung einer nach Artikel 20 Absatz 2 Buchstabe e) gestellten Frage

–        eine unrichtige oder irreführende Antwort erteilen oder

–        eine von einem Mitglied der Belegschaft erteilte unrichtige, unvollständige oder irreführende Antwort nicht innerhalb einer von der Kommission gesetzten Frist berichtigen oder

–        in Bezug auf Tatsachen, die mit dem Gegenstand und dem Zweck einer durch Entscheidung nach Artikel 20 Absatz 4 angeordneten Nachprüfung in Zusammenhang stehen, keine vollständige Antwort erteilen oder eine vollständige Antwort verweigern;

e)      die von Bediensteten der Kommission oder anderen von ihr ermächtigten Begleitpersonen nach Artikel 20 Absatz 2 Buchstabe d) angebrachten Siegel erbrochen haben.“

 Verordnung (EG) Nr. 773/2004

7        Art. 2 („Einleitung eines Verfahrens“) Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 773/2004 der Kommission vom 7. April 2004 über die Durchführung von Verfahren auf der Grundlage der Artikel [101] und [102 AEUV] durch die Kommission (ABl. 2004, L 123, S. 18) sieht vor:

„Die Kommission kann von ihren Ermittlungsbefugnissen gemäß Kapitel V der Verordnung [Nr. 1/2003] Gebrauch machen, bevor sie ein Verfahren einleitet.“

8        In Kapitel III („Ermittlungen der Kommission“) der Verordnung Nr. 773/2004 ist Art. 3 („Befugnis zur Befragung“) enthalten, der bestimmt:

„(1)      Befragt die Kommission eine Person mit deren Zustimmung nach Maßgabe von Artikel 19 der Verordnung [Nr. 1/2003], teilt sie ihr zu Beginn der Befragung die Rechtsgrundlage sowie den Zweck der Befragung mit und verweist auf den freiwilligen Charakter der Befragung. Sie teilt dem Befragten ferner ihre Absicht mit, die Befragung aufzuzeichnen.

(2)      Die Befragung kann auf jedem Wege einschließlich per Telefon oder elektronisch erfolgen.

(3)      Die Kommission kann die Aussagen des Befragten auf einen beliebigen Träger aufzeichnen. Dem Befragten wird eine Kopie der Aufzeichnung zur Genehmigung überlassen. Die Kommission setzt erforderlichenfalls eine Frist, innerhalb deren der Befragte seine Aussage berichtigen kann.“

 Vorgeschichte des Rechtsstreits und streitiger Beschluss

9        Die Vorgeschichte des Rechtsstreits wird in den Rn. 2 bis 8 des angefochtenen Urteils wie folgt zusammengefasst:

„2.      Intermarché Casino Achats […] ist die gemeinsame Tochtergesellschaft von EMC Distribution, ihrerseits eine Tochtergesellschaft von Casino, Guichard-Perrachon (im Folgenden: Casino), und ITM Alimentaire International, ihrerseits eine Tochtergesellschaft von ITM Entreprises (im Folgenden: Intermarché), die hauptsächlich im Lebensmittel- und Nichtlebensmitteleinzelhandel tätig sind. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, im Namen und auf Rechnung ihrer Muttergesellschaften die Bedingungen für den Kauf von Produkten auszuhandeln und mit den Lieferanten die nach französischem Recht vorgesehene jährliche Vereinbarung abzuschließen.

3.      Nachdem die Europäische Kommission Auskünfte über den Informationsaustausch zwischen Casino und Intermarché im Bereich der Produkte des täglichen Bedarfs erhalten hatte, erließ sie [den streitigen Beschluss].

4.      Der verfügende Teil des [streitigen] Beschlusses bestimmt:

Artikel 1

Intermarché Casino Achats […] sowie alle von ihr unmittelbar oder mittelbar kontrollierten Gesellschaften sind verpflichtet, eine Nachprüfung betreffend ihre etwaige Beteiligung an gegen Artikel 101 [AEUV] verstoßenden abgestimmten Verhaltensweisen auf den Beschaffungsmärkten für Produkte des täglichen Bedarfs, auf dem Markt für den Verkauf von Dienstleistungen an Hersteller von Markenprodukten und auf den Märkten für den Verkauf von Produkten des täglichen Bedarfs an Verbraucher zu dulden. Diese aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen bestehen in

a)      dem Informationsaustausch seit 2015 zwischen Unternehmen und/oder Unternehmensvereinigungen, insbesondere [der International Casino Dia Corporation (ICDC)] … und/oder ihren Mitgliedern, insbesondere Casino und AgeCore und/oder ihren Mitgliedern, insbesondere Intermarché, über von ihnen erhaltene Rabatte auf den Beschaffungsmärkten für Produkte des täglichen Bedarfs in den Bereichen Lebensmittel, Hygieneartikel und Reinigungsmittel, und die Preise auf dem Markt für den Verkauf von Dienstleistungen an Hersteller von Markenprodukten in den Bereichen Lebensmittel, Hygieneartikel und Reinigungsmittel in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union, insbesondere in Frankreich, und

b)      dem Informationsaustausch mindestens seit 2016 zwischen Intermarché und Casino über ihre künftigen Geschäftsstrategien, insbesondere über das Sortiment, die Entwicklung von Geschäften, den E‑Commerce und die Werbepolitik auf den Beschaffungsmärkten für Produkte des täglichen Bedarfs und auf den Märkten für den Verkauf von Produkten des täglichen Bedarfs an Verbraucher in Frankreich.

Diese Nachprüfung kann in jedem beliebigen Geschäftslokal des Unternehmens stattfinden …

[Intermarché Casino Achats] ermächtigt die Beamten und sonstigen Personen, die von der Kommission mit der Durchführung einer Nachprüfung beauftragt wurden, und die Beamten und sonstigen Personen, die von der Wettbewerbsbehörde des betreffenden Mitgliedstaats zu ihrer Unterstützung beauftragt wurden oder vom Mitgliedstaat für diesen Zweck benannt wurden, sich während der normalen Bürozeiten Zugang zu allen ihren Geschäftsräumen und Transportmitteln zu verschaffen. Das Unternehmen duldet die Nachprüfung der Bücher und jeglicher sonstiger Geschäftsunterlagen, unabhängig davon, in welcher Form sie vorliegen, wenn die Beamten und sonstigen beauftragten Personen dies verlangen, und es gestattet ihnen, diese Bücher und Unterlagen vor Ort zu prüfen und von ihnen Kopien oder Auszüge gleich welcher Art anzufertigen oder zu erhalten. Es gestattet das Anbringen von Amtssiegeln in allen Geschäftsräumen und auf allen Büchern oder Dokumenten während der Dauer der Nachprüfung und soweit dies für die Zwecke der Nachprüfung erforderlich ist. Das Unternehmen gibt unverzüglich vor Ort mündliche Erläuterungen zum Gegenstand und zum Zweck der Nachprüfung, wenn die Beamten oder Personen dies verlangen, und es ermächtigt alle Vertreter und Mitglieder der Belegschaft, solche Erläuterungen zu geben. Es gestattet die Aufzeichnung dieser Erläuterungen in beliebiger Form.

Artikel 2

Die Nachprüfung kann am 20. Februar 2017 oder kurz danach beginnen.

Artikel 3

Dieser Beschluss ist an [Intermarché Casino Achats] sowie alle von ihr unmittelbar oder mittelbar kontrollierten Gesellschaften gerichtet.

Dieser Beschluss wird dem Unternehmen, an das er gerichtet ist, gemäß Artikel 297 Absatz 2 [AEUV] unmittelbar vor der Nachprüfung bekannt gegeben.‘

5.      Nachdem die französische Wettbewerbsbehörde von dieser Nachprüfung durch die Kommission unterrichtet worden war, beantragte sie bei dem Juge des libertés et de la détention (für die Anordnung der Untersuchungshaft zuständiger Richter) des Tribunal de grande instance Créteil (Frankreich) die Genehmigung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen in den Geschäftsräumen der [Rechtsmittelführerin]. Mit Beschluss vom 17. Februar 2017 genehmigte der Juge des libertés et de la détention die vorsorglich beantragten Durchsuchungen und Beschlagnahmen. Da keine der bei der Nachprüfung getroffenen Maßnahmen die Ausübung der „Vollzugsbefugnisse“ im Sinne von Art. 20 Abs. 6 bis 8 der Verordnung Nr. 1/2003 erforderte, wurden diese Beschlüsse der [Rechtsmittelführerin] nicht zugestellt.

6.      Die Nachprüfung begann am 20. Februar 2017, als die Inspektoren der Kommission in Begleitung von Vertretern der französischen Wettbewerbsbehörde den Sitz der Rechtsmittelführerin aufsuchten und ihr den [streitigen] Beschluss zustellten.

7.      Im Rahmen der Nachprüfungen besuchte die Kommission u. a. die Büros, sammelte Material, insbesondere EDV-Material (Laptops, Mobiltelefone, Tablets, Speichergeräte), nahm eine Anhörung mehrerer Personen vor und kopierte den Inhalt des gesammelten Materials.

8.      Die [Rechtsmittelführerin] übermittelte der Kommission ein Schreiben vom 24. Februar 2017, in dem sie Vorbehalte gegen die Ordnungsmäßigkeit der Anhörungen und generell der Nachprüfung äußerte. Diese Vorbehalte wurden in einem Schreiben an die Kommission vom 13. März 2017 ergänzt.“

 Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteil

10      Mit Klageschrift, die am 28. April 2017 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, erhob die Rechtsmittelführerin nach Art. 263 AEUV Klage auf Nichtigerklärung des streitigen Beschlusses. Zur Stützung ihrer Klage machte sie im Wesentlichen drei Klagegründe geltend. Der erste war auf eine Einrede der Rechtswidrigkeit von Art. 20 Abs. 1 und 4 der Verordnung Nr. 1/2003 gestützt, der zweite auf eine Verletzung der Begründungspflicht und der dritte auf die Verletzung des Rechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung.

11      Im Rahmen prozessleitender Maßnahmen forderte das Gericht die Kommission auf, die Indizien für mutmaßliche Zuwiderhandlungen vorzulegen, über die sie zum Zeitpunkt des streitigen Beschlusses verfügte.

12      Die Kommission legte daraufhin u. a. Zusammenfassungen von Befragungen vor, die sie in den Jahren 2016 und 2017 bei 13 Lieferanten der betreffenden Produkte des täglichen Bedarfs durchgeführt hatte, die regelmäßig Vereinbarungen mit Casino und Intermarché trafen (Anlagen Q.1 bis Q.13 der Antwort der Kommission vom 10. Januar 2019) (im Folgenden: Befragungen der Lieferanten).

13      Mit dem angefochtenen Urteil hat das Gericht Art. 1 Buchst. b des streitigen Beschlusses für nichtig erklärt, da es der Ansicht war, dass die Kommission nicht über hinreichend ernsthafte Indizien verfügt habe, die den Verdacht einer Zuwiderhandlung in Form eines Informationsaustauschs zwischen Casino und Intermarché über ihre künftigen Geschäftsstrategien begründen könnten. Es hat die weiter gehende Klage abgewiesen und jeder Partei ihre eigenen Kosten auferlegt.

 Anträge der Parteien

14      Mit ihrem Rechtsmittel beantragt die Rechtsmittelführerin,

–        Nr. 2 und folglich Nr. 3 des Tenors des angefochtenen Urteils aufzuheben,

–        Art. 1 Buchst. a des streitigen Beschlusses für nichtig zu erklären und

–        der Kommission die Kosten des gesamten Verfahrens vor dem Gericht und dem Gerichtshof aufzuerlegen.

15      Die Kommission beantragt,

–        das Rechtsmittel zurückzuweisen und

–        der Rechtsmittelführerin die Kosten aufzuerlegen.

16      Der Rat der Europäischen Union beantragt,

–        den ersten Rechtsmittelgrund zurückzuweisen und

–        der Rechtsmittelführerin die Kosten des Rechtsmittels aufzuerlegen.

 Zum Rechtsmittel

17      Die Rechtsmittelführerin stützt ihr Rechtsmittel auf drei Gründe. Mit dem ersten Rechtsmittelgrund macht sie geltend, das Gericht habe mehrere Rechtsfehler begangen, als es die auf das Fehlen von Rechtsbehelfen gegen den Ablauf der Nachprüfungen gestützte Einrede der Rechtswidrigkeit von Art. 20 Abs. 1 und 4 der Verordnung Nr. 1/2003 zurückgewiesen habe. Mit dem zweiten Rechtsmittelgrund macht sie geltend, dass das Gericht gegen Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003, Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 und Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verstoßen habe, als es festgestellt habe, dass die von der Kommission vorgelegten Zusammenfassungen, mit denen diese die hinreichende Ernsthaftigkeit der in ihrem Besitz befindlichen Indizien habe belegen wollen, nicht mit einem Formfehler behaftet seien, der ihren Beweiswert beeinträchtige. Mit dem dritten Rechtsmittelgrund macht sie geltend, dass das Gericht gegen das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung verstoßen habe, indem es ihr Argument, dass der streitige Beschluss keine zeitliche Begrenzung der Nachprüfung enthalte, zurückgewiesen habe.

 Erster Rechtsmittelgrund: Rechtsfehler des Gerichts bei der Prüfung der Wirksamkeit der Rechtsbehelfe in Bezug auf den Ablauf der Nachprüfungen

 Vorbringen der Parteien

18      Die Rechtsmittelführerin macht geltend, das Gericht habe mehrere Rechtsfehler begangen, als es in den Rn. 46 bis 79 des angefochtenen Urteils die auf das Fehlen von Rechtsbehelfen gegen den Ablauf der Nachprüfungen gestützte Einrede der Rechtswidrigkeit von Art. 20 Abs. 1 und 4 der Verordnung Nr. 1/2003 zurückgewiesen habe.

19      Mit einer ersten Rüge macht die Rechtsmittelführerin geltend, entgegen der Feststellung des Gerichts in Rn. 51 des angefochtenen Urteils habe der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in seinen Urteilen vom 21. Februar 2008, Ravon u. a./Frankreich (CE:ECHR:2008:0221JUD001849703), vom 21. Dezember 2010, Société Canal Plus u. a./Frankreich (CE:ECHR:2010:1221JUD002940808), vom 21. Dezember 2010, Compagnie des gaz de pétrole Primagaz/Frankreich (CE:ECHR:2010:1221JUD002961308), und vom 2. Oktober 2014, Delta Pekárny a.s./Tschechische Republik (CE:ECHR:2014:1002JUD000009711), nicht entschieden habe, dass die Rechtsbehelfe in ihrer Gesamtheit beurteilt werden müssten, um die Anforderungen dieses Gerichts an das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf zu erfüllen. Die Schlussfolgerung des Gerichts in Rn. 69 des angefochtenen Urteils, wonach das Vorhandensein eines wirksamen Rechtsbehelfs auf der Grundlage einer Gesamtschau der zahlreichen Rechtsbehelfe, die jeweils für sich genommen die vom EGMR aufgestellten Anforderungen nicht erfüllten, beurteilt werden könne, sei daher rechtsfehlerhaft.

20      Mit einer zweiten Rüge macht die Rechtsmittelführerin geltend, dass das Gericht jedenfalls einen Rechtsfehler begangen habe, als es festgestellt habe, dass die bestehenden Rechtsbehelfe es ermöglichten, sämtliche Einwände gegen den Ablauf der Nachprüfungen vor den Unionsrichter zu bringen.

21      Als Erstes weist sie darauf hin, dass das Gericht keine vollständige Analyse der Rechtsbehelfe vorgenommen habe, die gegen die im Rahmen der Nachprüfungen getroffenen Entscheidungen zur Verfügung stünden, sondern nur beiläufig die in den Rn. 61 und 62 des angefochtenen Urteils erwähnten Klagen gegen diejenigen Handlungen der Kommission anführe, mit denen ein Antrag auf Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Rechtsanwälten und ihren Mandanten bzw. ein Antrag auf Schutz der Privatsphäre der Mitarbeiter eines Unternehmens abgelehnt werde. Die letztgenannte Klagemöglichkeit sei zudem bis heute nicht sicher und daher kein wirksamer Rechtsbehelf (EGMR, 10. September 2010, Mac Farlane/Irland, CE:ECHR:2010:0910JUD003133306).

22      Als Zweites zeige das Gericht keinen unmittelbaren Rechtsbehelf auf, mit dem andere Maßnahmen angefochten werden könnten, die in Anwendung eines Nachprüfungsbeschlusses ergriffen würden, wie etwa die Beschlagnahme von Dokumenten, die nicht in den Bereich der Nachprüfung fielen. Wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichts ergebe, müsse das überprüfte Unternehmen zunächst einen Beschluss abwarten, mit dem das Verfahren nach Art. 101 AEUV abgeschlossen werde, um solche Maßnahmen anfechten zu können. Einen solchen Rechtsbehelf habe der EGMR jedoch in seinen Urteilen vom 21. Dezember 2010, Société Canal Plus u. a./Frankreich (CE:ECHR:2010:1221JUD002940808), und vom 21. Dezember 2010, Compagnie des gaz de pétrole Primagaz/Frankreich (CE:ECHR:2010:1221JUD002961308), als unzureichend angesehen.

23      Als Drittes genügten auch die anderen vom Gericht im angefochtenen Urteil angeführten Rechtsbehelfe nicht den Anforderungen der Charta.

24      Erstens sei die in Rn. 59 des angefochtenen Urteils erwähnte Klage gegen den Nachprüfungsbeschluss offensichtlich unzureichend, weil sie sich definitionsgemäß nicht auf den Ablauf der Nachprüfung beziehe.

25      Darüber hinaus sei die in Rn. 69 des angefochtenen Urteils erwähnte Klage gegen einen möglichen neuen Nachprüfungsbeschluss, der sich auf die Verwendung nach einem ersten Nachprüfungsbeschluss rechtswidrig beschlagnahmter Unterlagen stütze, unsicher und hypothetisch.

26      Zweitens stelle die in Rn. 60 des angefochtenen Urteils erwähnte Möglichkeit für ein Unternehmen, sich den Nachprüfungsmaßnahmen zu widersetzen, um anschließend gegen eine Sanktionsentscheidung wegen Behinderung zu klagen und in diesem Rahmen den Ablauf der Nachprüfung anzufechten, keinen wirksamen Rechtsbehelf dar, wie der Gerichtshof kürzlich im Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat (Recht auf Klage gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen) (C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 66) entschieden und wie der EGMR seit Langem anerkannt habe. Abgesehen davon, dass die Möglichkeit dieser Klage unsicher sei, weil sie vom Erlass einer Sanktionsentscheidung durch die Kommission abhängig sei, setze sie voraus, dass das Unternehmen das Risiko einer Geldbuße auf sich nehme.

27      Drittens sei ein Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht möglich, weil der Ablauf einer Nachprüfung, abgesehen von Ausnahmen, die sich auf bestimmte Sondermaßnahmen bezögen, nicht anfechtbar sei.

28      Viertens weist die Rechtsmittelführerin in Bezug auf die im angefochtenen Urteil erwähnte Klage aus außervertraglicher Haftung darauf hin, dass der EGMR in seinem Urteil vom 21. Februar 2008, Ravon u. a./Frankreich (CE:ECHR:2008:0221JUD001849703, § 33), entschieden habe, dass die Möglichkeit, eine Entschädigung zu erhalten, kein Ersatz für eine wirksame gerichtliche Kontrolle sei, weil sie es nicht ermögliche, die Rechtmäßigkeit von Maßnahmen zu überprüfen, die auf der Grundlage einer Durchsuchung ergriffen worden seien.

29      Das Gericht habe daher einen Rechtsfehler begangen, als es festgestellt habe, dass die bestehenden Rechtsbehelfe einzeln oder zusammen ein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen die Durchführung von Nachprüfungen im Hinblick auf die Rechtsprechung des EGMR und auf Art. 47 der Charta gewährten.

30      Viertens macht die Rechtsmittelführerin geltend, dass die vom Gericht in Betracht gezogene komplexe Kombination verschiedener Klagen jedenfalls nicht mit den Erfordernissen der Transparenz und der Verständlichkeit der Rechtsnorm für den Rechtsuchenden vereinbar sei, erst recht nicht in Bezug auf ein Grundrecht. Abgesehen davon bestehe auch keine Notwendigkeit für eine solche Komplexität. Die Union könne nämlich leicht ein Recht auf sofortige Beschwerde gegen den Ablauf von Nachprüfungen nach dem Vorbild des französischen Rechts vorsehen.

31      Die Kommission und der Rat treten dem Vorbringen der Rechtsmittelführerin entgegen.

 Würdigung durch den Gerichtshof

32      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Rn. 46 bis 79 des angefochtenen Urteils, die die Rechtsmittelführerin im Rahmen des ersten Rechtsmittelgrundes beanstandet, zu den Gründen gehören, mit denen das Gericht die Einrede der Rechtswidrigkeit von Art. 20 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1/2003 zurückgewiesen hat, mit der eine Verletzung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf mit der Begründung geltend gemacht wurde, dass es an einem Rechtsbehelf gegen die im Rahmen einer Nachprüfung getroffenen Maßnahmen fehle.

33      Genauer gesagt hat das Gericht in den Rn. 46 bis 50 des angefochtenen Urteils zunächst darauf hingewiesen, dass das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf in Art. 47 der Charta sowie in den Art. 6 und 13 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) verankert ist. Nach dem Hinweis darauf, dass die EMRK, solange die Union ihr nicht beigetreten sei, kein formell in die Unionsrechtsordnung übernommenes Rechtsinstrument darstelle, so dass die Rechtmäßigkeitskontrolle allein anhand der durch die Charta garantierten Grundrechte vorzunehmen sei, hat das Gericht ausgeführt, dass sich sowohl aus Art. 52 der Charta als auch aus den Erläuterungen zu diesem Artikel ergebe, dass die Bestimmungen der EMRK und die Rechtsprechung des EGMR zu diesen Bestimmungen bei der Auslegung und Anwendung der Bestimmungen der Charta in einem bestimmten Fall zu berücksichtigen seien.

34      Insoweit hat es festgestellt, dass nach der Rechtsprechung des EGMR die Einhaltung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf in Bezug auf Hausdurchsuchungen anhand der folgenden vier Voraussetzungen zu prüfen sei: Erstens müsse eine effektive gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Entscheidung, solche Hausdurchsuchungen durchzuführen, oder der im Rahmen solcher Hausdurchsuchungen getroffenen Maßnahmen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gegeben sein, zweitens müssten es der oder die zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe im Fall der Feststellung einer Rechtswidrigkeit ermöglichen, entweder vollendete Tatsachen zu verhindern oder, wenn diese bereits eingetreten sind, den Betroffenen eine angemessene Wiedergutmachung zu gewähren, drittens müsse die Zugänglichkeit des betreffenden Rechtsbehelfs sicher sein und viertens müsse die gerichtliche Kontrolle innerhalb einer angemessenen Frist erfolgen.

35      Sodann hat das Gericht in Rn. 51 des angefochtenen Urteils darauf hingewiesen, dass aus dieser Rechtsprechung auch hervorgehe, dass der Ablauf einer Nachprüfungsmaßnahme Gegenstand einer effektiven gerichtlichen Kontrolle sein müsse und dass die Kontrolle unter den besonderen Umständen der in Rede stehenden Rechtssache effektiv sein müsse, was die Berücksichtigung sämtlicher einem überprüften Unternehmen zur Verfügung stehender Rechtsschutzmöglichkeiten und somit eine umfassende Analyse dieser Rechtsschutzmöglichkeiten impliziere. In den Rn. 54 und 55 des angefochtenen Urteils hat das Gericht ausgeführt, dass es, da die Prüfung der Wahrung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf auf einer umfassenden Analyse der Rechtsschutzmöglichkeiten beruhen müsse, die zur Kontrolle der im Rahmen einer Nachprüfung getroffenen Maßnahmen führen könnten, unerheblich sei, dass jede dieser Rechtsschutzmöglichkeiten für sich genommen nicht die Voraussetzungen für das Vorliegen eines Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf erfülle.

36      Weiter hat das Gericht in den Rn. 56 und 57 des angefochtenen Urteils ausgeführt, dass es neben der Möglichkeit, Anträge an den Anhörungsbeauftragten der Kommission zu richten, sechs Rechtsschutzmöglichkeiten gebe, mit denen Einwände gegen eine Nachprüfungsmaßnahme vor dem Unionsrichter geltend gemacht werden könnten, nämlich die Klage gegen den Nachprüfungsbeschluss, die Klage gegen eine Entscheidung der Kommission, mit der eine Behinderung der Nachprüfung auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 1 Buchst. c bis e der Verordnung Nr. 1/2003 geahndet werde, die Klage gegen jede Handlung, die die Voraussetzungen der Rechtsprechung für die mit Klage anfechtbare Handlung erfülle, die die Kommission nach dem Nachprüfungsbeschluss und im Rahmen des Ablaufs der Nachprüfungsmaßnahmen annehme, wie etwa eine Entscheidung, mit der ein Antrag auf Schutz von Dokumenten wegen Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant abgelehnt werde, die Klage gegen die endgültige Entscheidung, mit der das nach Art. 101 AEUV eingeleitete Verfahren abgeschlossen werde, den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz und die Klage aus außervertraglicher Haftung.

37      In den Rn. 58 bis 66 des angefochtenen Urteils hat das Gericht erläutert, weshalb es der Ansicht war, dass diese Rechtsbehelfe es ermöglichten, Einwände gegen den Ablauf der Nachprüfungen vor den Unionsrichter zu bringen.

38      Schließlich hat das Gericht am Ende einer in den Rn. 68 bis 78 des angefochtenen Urteils vorgenommenen Analyse festgestellt, dass davon ausgegangen werden könne, dass das System zur Kontrolle des Ablaufs der Nachprüfungen, das aus allen in Rn. 36 des vorliegenden Urteils aufgezählten Rechtsschutzmöglichkeiten bestehe, die vier Voraussetzungen erfülle, die sich aus der Rechtsprechung des EGMR ergäben.

39      Folglich hat das Gericht in Rn. 79 des angefochtenen Urteils die auf einen Verstoß gegen das Recht auf einen effektiven Rechtsbehelf gestützte Einrede der Rechtswidrigkeit von Art. 20 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1/2003 zurückgewiesen.

40      Zur ersten Rüge, mit der geltend gemacht wird, das Gericht hätte eine individuelle Prüfung der verschiedenen Rechtsbehelfe vornehmen müssen, um zu prüfen, ob das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen die im Rahmen einer Nachprüfung ergriffenen Maßnahmen gewährleistet sei, ist darauf hinzuweisen, dass das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf in Art. 47 der Charta verankert ist.

41      Zudem ist darauf hinzuweisen, dass Art. 52 Abs. 3 der Charta klarstellt, dass in der Charta enthaltene Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der EMRK verliehen werden (Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 116).

42      Wie aus den Erläuterungen zu Art. 47 der Charta, die gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta bei deren Auslegung zu berücksichtigen sind, hervorgeht, entsprechen die Abs. 1 und 2 von Art. 47 der Charta Art. 13 und Art. 6 Abs. 1 der EMRK (Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 117). Nach der Rechtsprechung des EGMR stellt Art. 6 Abs. 1 EMRK im Verhältnis zu Art. 13 EMRK eine lex specialis dar, wobei die Anforderungen des Letzteren in den strengeren Anforderungen des Ersteren enthalten sind (EGMR, 15. März 2022, Grzęda/Polen, CE:ECHR:2022:0315JUD004357218, § 352 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43      Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass er darauf achten muss, dass seine Auslegung von Art. 47 Abs. 1 der Charta ein Schutzniveau gewährleistet, das das in Art. 13 EMRK in seiner Auslegung durch den EGMR garantierte Schutzniveau nicht verletzt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. September 2018, Belastingdienst/Toeslagen [Aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels], C‑175/17, EU:C:2018:776, Rn. 35).

44      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass sich aus der Rechtsprechung des EGMR ergibt, dass der durch Art. 13 EMRK gewährte Schutz nicht so weit geht, dass eine bestimmte Form der Klage verlangt wird (EGMR, 20. März 2008, Boudaïeva u. a./Russland, CE:ECHR:2008:0320JUD001533902, § 190), und dass selbst dann, wenn keiner der vom innerstaatlichen Recht gebotenen Rechtsbehelfe für sich genommen die Anforderungen von Art. 13 EMRK erfüllt, die Gesamtheit dieser Rechtsschutzmöglichkeiten ihnen genügen kann (EGMR, 10. Juli 2020, Mugemangango/Belgien, CE:ECHR:2020:0710JUD000031015, § 131 und die dort angeführte Rechtsprechung).

45      Darüber hinaus ist im Fall einer Verletzung des in Art. 8 EMRK verankerten Rechts auf Achtung der Wohnung ein Rechtsbehelf wirksam im Sinne von Art. 13 EMRK, wenn der Rechtsbehelfsführer Zugang zu einem Verfahren hat, das es ihm ermöglicht, die Ordnungsmäßigkeit der durchgeführten Durchsuchungen und Beschlagnahmen in Frage zu stellen und, wenn diese rechtswidrig angeordnet oder vollstreckt worden sind, eine angemessene Wiedergutmachung zu erwirken (EGMR, 19. Januar 2017, Posevini/Bulgarien, CE:ECHR:2017:0119JUD006363814, § 84).

46      Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 oder Art. 8 EMRK, dass bei Hausdurchsuchungen das Fehlen einer zuvor durch einen Richter erteilten Genehmigung der Nachprüfung, die den Ablauf dieser Nachprüfung hätte eingrenzen oder kontrollieren können, durch eine nachträgliche gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit und Notwendigkeit einer solchen Ermittlungsmaßnahme ausgeglichen werden kann, sofern diese Kontrolle unter den besonderen Umständen der jeweiligen Rechtssache wirksam ist. Dies bedeutet, dass die betroffenen Personen eine wirksame gerichtliche Kontrolle der streitigen Maßnahme und ihres Ablaufs in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht erwirken können. Wenn eine für rechtswidrig befundene Handlung bereits stattgefunden hat, müssen der oder die verfügbaren Rechtsbehelfe dem Betroffenen eine angemessene Wiedergutmachung verschaffen können (EGMR, 2. Oktober 2014, Delta Pekárny a.s./Tschechische Republik, CE:ECHR:2014:1002JUD000009711, §§ 86 und 87 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

47      Da die nachträgliche gerichtliche Kontrolle der Nachprüfung unter bestimmten Voraussetzungen das Fehlen einer vorherigen gerichtlichen Kontrolle ausgleichen kann und „der oder die verfügbaren Rechtsbehelfe“ eine angemessene Wiedergutmachung ermöglichen müssen, ist somit davon auszugehen, dass grundsätzlich die Gesamtheit aller verfügbaren Rechtsbehelfe zu berücksichtigen ist, um festzustellen, ob die Anforderungen von Art. 47 der Charta erfüllt sind.

48      Da die Rechtsmittelführerin zudem mit einer Einrede die Rechtswidrigkeit von Art. 20 der Verordnung Nr. 1/2003 geltend gemacht hatte, war das Gericht, wie der Generalanwalt in Nr. 51 seiner Schlussanträge in der Rechtssache Les Mousquetaires und ITM Entreprises/Kommission (C‑682/20 P, EU:C:2022:578) ausgeführt hat, bei der Entscheidung über diese Einrede verpflichtet, eine allgemeine Würdigung des Systems der gerichtlichen Kontrolle der im Rahmen der Nachprüfungen ergriffenen Maßnahmen vorzunehmen, die über die „besonderen Umständen der in Rede stehenden Rechtssache“ hinausgeht.

49      Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass die Rechtsmittelführerin zu Unrecht geltend macht, das Gericht habe einen Rechtsfehler begangen, indem es eine Gesamtwürdigung aller Rechtsbehelfe vorgenommen habe, die zur Anfechtung des Ablaufs der Nachprüfungen zur Verfügung stünden.

50      Die erste Rüge ist daher zurückzuweisen.

51      Zur zweiten Rüge ist als Erstes darauf hinzuweisen, wie der Generalanwalt in Nr. 66 seiner Schlussanträge in der Rechtssache Les Mousquetaires und ITM Entreprises/Kommission (C‑682/20 P, EU:C:2022:578), im Wesentlichen ausgeführt hat, dass das Fehlen einer gefestigten gerichtlichen Praxis nicht entscheidend sein kann, um die Wirksamkeit eines Rechtsbehelfs zu verneinen.

52      Zum anderen stellt die vom Gericht in Rn. 62 des angefochtenen Urteils aufgezeigte Möglichkeit, eine Klage gegen eine Entscheidung zu erheben, mit der ein Antrag auf Schutz der Privatsphäre von Mitgliedern des Personals eines Unternehmens abgelehnt wird, nur die Anwendung einer ständigen Rechtsprechung in einem konkreten Fall dar, wonach Handlungen mit verbindlichen Rechtswirkungen, die geeignet sind, die Interessen des Klägers dadurch zu beeinträchtigen, dass sie seine Rechtsstellung in eindeutiger Weise verändern, Gegenstand einer Nichtigkeitsklage im Sinne von Art. 263 AEUV sein können, wie der Generalanwalt in Nr. 67 seiner Schlussanträge in der Rechtssache Les Mousquetaires und ITM Entreprises/Kommission (C‑682/20 P, EU:C:2022:578) im Wesentlichen ausgeführt hat.

53      Was als Zweites das Vorbringen der Rechtsmittelführerin betrifft, wonach das Gericht einen Rechtsfehler begangen habe, indem es keinen unmittelbaren Rechtsbehelf aufgezeigt habe, mit dem die Beschlagnahme außerhalb des Gebiets der Nachprüfung liegender Dokumente angefochten werden könne, ist darauf hinzuweisen, dass dieses Vorbringen, wie sich aus der von der Rechtsmittelführerin beanstandeten Rn. 69 des angefochtenen Urteils ergibt, einen Fall betrifft, in dem die in Rede stehende Nachprüfung, in deren Rahmen möglicherweise nicht in das Gebiet der Nachprüfung fallende Dokumente beschlagnahmt wurden, nicht zu einer Entscheidung über die Feststellung einer Zuwiderhandlung und zur Verhängung einer Sanktion führte, sondern zur Einleitung einer neuen Untersuchung und zum Erlass eines neuen Nachprüfungsbeschlusses.

54      Hierzu ist festzustellen, dass das Gericht in dieser Rn. 69 auf die verschiedenen Rechtsbehelfe verwiesen hat, die es in den Rn. 57 bis 66 des angefochtenen Urteils geprüft hat, und dass es insbesondere in Rn. 59 dieses Urteils festgestellt hat, dass die überprüften Unternehmen eine Nichtigkeitsklage gegen den neuen Nachprüfungsbeschluss erheben könnten, indem sie rügen, dass die Indizien, auf die er gestützt werde, bei der vorangegangenen Nachprüfung unrechtmäßig erlangt worden seien.

55      Was im Übrigen die unmittelbaren Rechtsbehelfe betrifft, mit denen die in Anwendung eines Nachprüfungsbeschlusses getroffenen Maßnahmen angefochten werden können, ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht in den Rn. 56 und 57 des angefochtenen Urteils zu Recht im Wesentlichen festgestellt hat, dass diese Unternehmen die Möglichkeit haben, gegen jede Handlung, die die Kommission im Anschluss an den Nachprüfungsbeschluss – auch während des Ablaufs der Nachprüfungsmaßnahmen – vornimmt, Klage zu erheben, sofern diese Handlung unter den in der Rechtsprechung festgelegten Voraussetzungen mit einem solchen Rechtsbehelf angefochten werden kann.

56      Was als Drittes die vom Gericht im angefochtenen Urteil vorgenommenen Beurteilungen der Klage gegen den Nachprüfungsbeschluss, der Klage gegen die Entscheidung der Kommission, mit der eine Behinderung der Nachprüfung auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 1 Buchst. c bis e der Verordnung Nr. 1/2003 geahndet wird, des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes und der Klage aus außervertraglicher Haftung betrifft, geht aus Rn. 47 des vorliegenden Urteils hervor, dass das Gericht keinen Rechtsbehelf, der einem einer Nachprüfungsmaßnahme unterworfenen Unternehmen zur Verfügung steht, außer Betracht lassen musste, sofern dieser Rechtsbehelf die Anfechtung einer oder mehrerer Maßnahmen ermöglicht, die im Rahmen dieser Nachprüfung getroffen wurden.

57      Dies vorausgeschickt, ist erstens festzustellen, dass die Klage gegen einen Nachprüfungsbeschluss zwar keinen Rechtsbehelf gegen die später im Rahmen der Nachprüfung ergriffenen Maßnahmen darstellen kann, weil die Rechtmäßigkeit eines Rechtsakts anhand der rechtlichen und tatsächlichen Umstände zu beurteilen ist, die zu dem Zeitpunkt bestanden, zu dem dieser Beschluss erlassen wurde, so dass Handlungen, die nach einem Beschluss erfolgen, dessen Gültigkeit nicht beeinträchtigen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Oktober 2019, Alcogroup und Alcodis/Kommission, C‑403/18 P, EU:C:2019:870, Rn. 45 und 46 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

58      Wie das Gericht in Rn. 69 des angefochtenen Urteils festgestellt hat, könnten die überprüften Unternehmen jedoch, falls die in Rede stehende Nachprüfung nicht zu einer Entscheidung über die Feststellung einer Zuwiderhandlung und zur Verhängung einer Sanktion, sondern zur Einleitung einer neuen Untersuchung und zum Erlass eines neuen Nachprüfungsbeschlusses geführt hat, eine Nichtigkeitsklage gegen diesen Beschluss erheben, indem sie rügen, dass die Indizien, auf die er gestützt werde, bei der vorangegangenen Nachprüfung unrechtmäßig erlangt worden seien.

59      Wie sich aus Rn. 59 des angefochtenen Urteils ergibt, kann eine solche Klage zur Nichtigerklärung dieses neuen Nachprüfungsbeschlusses führen, wenn die von der Kommission bei der früheren Nachprüfung getroffenen Maßnahmen nicht mit dem Gegenstand der Entscheidungen, mit denen sie angeordnet wurden, übereinstimmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juni 2015, Deutsche Bahn u. a./Kommission, C‑583/13 P, EU:C:2015:404, Rn. 56 bis 67 und 71). Daraus folgt, dass das Gericht bei der Berücksichtigung dieses Rechtsbehelfs keinen Rechtsfehler begangen hat.

60      Was zweitens die Klage nach Art. 263 AEUV gegen einen Beschluss der Kommission betrifft, mit dem eine Behinderung der Nachprüfung auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 1 Buchst. c bis e der Verordnung Nr. 1/2003 geahndet wird, hat der Gerichtshof zwar bereits entschieden, dass nationale Rechtsvorschriften, die einem Informationsinhaber, an den die zuständige nationale Behörde eine die Übermittlung dieser Informationen anordnende Entscheidung richtet, die Möglichkeit verwehren, einen unmittelbaren Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung einzulegen, nicht den Wesensgehalt des durch Art. 47 der Charta garantierten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf achten, und dass folglich Art. 52 Abs. 1 der Charta einer solchen Regelung entgegensteht (Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 69).

61      Zu dieser Auslegung war der Gerichtshof jedoch mit der Begründung gelangt, dass dieser Informationsinhaber, der nicht mit dem Steuerzahler identisch ist, gegen den sich die Ermittlungen richten, die der Anordnung der Übermittlung von Informationen zugrunde liegen, keinen Zugang zu einem Gericht hat, es sei denn, er verstößt gegen diese Entscheidung, indem er es ablehnt, der in ihr enthaltenen Anordnung nachzukommen, und setzt sich damit der Sanktion aus, die an die Nichtbeachtung der Entscheidung geknüpft ist (Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 68).

62      Die von einem Nachprüfungsbeschluss betroffenen Unternehmen befinden sich jedoch nicht in einer vergleichbaren Situation. Wie der Generalanwalt in Nr. 79 seiner Schlussanträge in der Rechtssache Les Mousquetaires und ITM Entreprises/Kommission (C‑682/20 P, EU:C:2022:578), festgestellt hat, ist die Klage gegen einen Beschluss der Kommission nach Art. 23 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 im Fall der Behinderung der Nachprüfung nicht die einzige Rechtsschutzmöglichkeit für die überprüften Unternehmen, um die Rechtmäßigkeit der im Verlauf der Nachprüfung getroffenen Maßnahmen in Frage zu stellen.

63      Was drittens das Argument der Rechtsmittelführerin betrifft, das im Wesentlichen darauf abzielt, die vom Gericht in den Rn. 64 und 65 des angefochtenen Urteils angesprochene Wirksamkeit des Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz mit der Begründung zu bestreiten, dass der Ablauf einer Nachprüfung, abgesehen von Ausnahmen, die sich auf bestimmte Sondermaßnahmen bezögen, nicht Gegenstand einer Klage zur Hauptsache sein könne, genügt der Hinweis darauf, dass die in den Rn. 61 und 62 des angefochtenen Urteils genannten Maßnahmen, die Gegenstand einer Klage auf der Grundlage von Art. 263 AEUV sein können, vom Gericht nur als Beispiele angeführt wurden.

64      Was viertens die Klage aus außervertraglicher Haftung betrifft, ergibt sich zwar aus § 33 des Urteils des EGMR vom 21. Februar 2008, Ravon u. a./Frankreich (CE:ECHR:2008:0221JUD001849703), dass im Bereich der Hausdurchsuchungen eine Klage, die ausschließlich auf Entschädigung abzielt, für sich allein nicht die Achtung des Rechts auf ein faires Verfahren und des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens gewährleisten kann, was jedoch nicht bedeutet, dass eine solche Klage nicht Teil der den betroffenen Unternehmen zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe sein und ihnen eine geeignete Wiedergutmachung bieten kann, insbesondere in einem Fall, in dem eine bereits durchgeführte Nachprüfungsmaßnahme als unrechtmäßig eingestuft wurde.

65      Daher hat das Gericht bei seiner Gesamtbeurteilung der Möglichkeit der Unternehmen, die im Rahmen der Nachprüfungen ergriffenen Maßnahmen anzufechten, rechtsfehlerfrei auch diese Klage berücksichtigt.

66      Darüber hinaus sind, wie das Gericht in Rn. 78 des angefochtenen Urteils festgestellt hat, die Ungewissheit und die Verzögerung des Erlasses des Beschlusses, mit dem das Verfahren nach Art. 101 AEUV abgeschlossen wird, vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Kommission bis zu diesem Beschluss nicht abschließend zum Vorliegen einer Zuwiderhandlung und zur anschließenden Sanktion des überprüften Unternehmens Stellung nimmt. Bestimmte nachteilige Auswirkungen, denen ein Unternehmen aufgrund von Unregelmäßigkeiten bei der Nachprüfung ausgesetzt ist, können jedoch nur und erst dann eintreten, wenn ein solcher Beschluss erlassen wird, wie der Generalanwalt in Nr. 59 seiner Schlussanträge in der Rechtssache Les Mousquetaires und ITM Entreprises/Kommission (C‑682/20 P, EU:C:2022:578), ausgeführt hat.

67      Sollten hingegen, wie das Gericht in Rn. 78 des angefochtenen Urteils ebenfalls festgestellt hat, vor Erlass eines solchen Beschlusses andere nachteilige Folgen für das überprüfte Unternehmen eintreten, wie etwa ein schädigendes Verhalten der Kommission oder der Erlass eines neuen Nachprüfungsbeschlusses auf der Grundlage der gesammelten Informationen, stünde es diesem Unternehmen frei, sofort und ohne den Ausgang des Zuwiderhandlungsverfahrens abzuwarten, den Richter mit einer Klage auf Schadensersatz oder auf Nichtigerklärung des neuen Nachprüfungsbeschlusses zu befassen.

68      Viertens schließlich ist zur von der Rechtsmittelführerin geltend gemachten Komplexität des Systems der Rechtsbehelfe, mit denen der Ablauf der Nachprüfungen beanstandet werden kann, darauf hinzuweisen, dass nach der in Rn. 46 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des EGMR den Anforderungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK Genüge getan ist, wenn die von einer Hausdurchsuchung betroffenen Unternehmen über die Möglichkeit verfügen, den Inhalt ihrer Beanstandungen prüfen zu lassen und eine angemessene Wiedergutmachung zu erlangen. Dagegen ist nicht erforderlich, dass sämtliche Rügen, die gegen die Maßnahmen erhoben werden können, die die Behörde auf der Grundlage der Durchsuchungsanordnung getroffen hat, im Rahmen ein und desselben Rechtsbehelfs erhoben werden können.

69      Daher ist die zweite Rüge und folglich der erste Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.

 Zweiter Rechtsmittelgrund: rechtsfehlerhafte Entscheidung des Gerichts, dass die von der Kommission vorgelegten Zusammenfassungen, mit denen sie die hinreichende Ernsthaftigkeit der in ihrem Besitz befindlichen Indizien habe belegen wollen, nicht mit einem Formfehler behaftet seien, der ihren Beweiswert beeinträchtige

 Vorbringen der Parteien

70      Mit dem zweiten Rechtsmittelgrund macht die Rechtsmittelführerin geltend, dass das Gericht gegen Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003, Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 und Art. 7 der Charta verstoßen habe, indem es in den Rn. 190 bis 202 des angefochtenen Urteils festgestellt habe, dass die von der Kommission zur Begründung der hinreichenden Ernsthaftigkeit der in ihrem Besitz befindlichen Indizien vorgelegten Zusammenfassungen nicht mit einem Formfehler behaftet seien, der ihren Beweiswert beeinträchtigen könnte.

71      Erstens habe das Gericht durch seine Feststellung in Rn. 190 des angefochtenen Urteils, dass die Vorschriften des Kapitels V („Ermittlungsbefugnisse“) der Verordnung Nr. 1/2003 vor der Einleitung einer förmlichen Untersuchung nicht anwendbar seien, eine Unterscheidung zwischen zwei Phasen des Verfahrens eingeführt, nämlich derjenigen vor der Einleitung einer förmlichen Untersuchung und derjenigen nach einer solchen Einleitung, die weder aus der Verordnung Nr. 1/2003 noch aus der Verordnung Nr. 773/2004 hervorgehe.

72      Kapitel V der Verordnung Nr. 1/2003, in dem Art. 19 dieser Verordnung enthalten sei, unterscheide nicht zwischen förmlichen und informellen Ermittlungen oder zwischen Voruntersuchungen und fortgeschrittenen Untersuchungen. Eine solche Unterscheidung werfe im Übrigen unlösbare Definitions- und Abgrenzungsprobleme auf. Darüber hinaus weise die Verordnung Nr. 773/2004 darauf hin, dass die Kommission ihre Ermittlungsbefugnisse nach diesem Kapitel V ausüben könne, bevor sie ein Verfahren einleite. Zudem gehe aus den Antworten der Kommission auf schriftliche Fragen des Gerichts hervor, dass sie selbst der Ansicht gewesen sei, dass Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 und Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 auf die Gespräche mit den Lieferanten anwendbar seien.

73      Zweitens finde die Behauptung des Gerichts, dass die in diesen Bestimmungen vorgesehene Förmlichkeit im vorliegenden Fall nicht anwendbar sei, keine Stütze in der in Rn. 91 des angefochtenen Urteils zitierten Rechtsprechung, die sich auf die Beurteilung der angemessenen Dauer eines Verwaltungsverfahrens beziehe.

74      Außerdem sei die vom Gericht im angefochtenen Urteil vorgenommene Unterscheidung zwischen Voruntersuchung und Untersuchung von derselben Art wie die, die der Gerichtshof im Urteil vom 6. September 2017, Intel/Kommission (C‑413/14 P, EU:C:2017:632), zurückgewiesen habe.

75      Drittens widerspreche diese Auslegung auch der Rechtsprechung zum Umgang mit mündlichen Beweismitteln. Nach Ansicht der Rechtsmittelführerin ist der mündliche Beweis in Verwaltungsverfahren nämlich nur unter der Voraussetzung zulässig, dass die einer öffentlichen Verwaltung bei einem Treffen mündlich erteilte Information in üblicher Weise mittels einer Tonaufzeichnung erfasst und gespeichert oder durch Erstellung eines Protokolls schriftlich festgehalten wird.

76      Aus den Vorarbeiten zur Verordnung Nr. 1/2003 gehe zudem hervor, dass einer der Gründe für die in Art. 19 dieser Verordnung getroffene Regelung darin bestanden habe, die Vorlage mündlicher Erklärungen als Beweismittel zu ermöglichen. Desgleichen gehe aus den Vorarbeiten zur Verordnung Nr. 773/2004 hervor, dass die Genehmigung des Inhalts der Aufzeichnung durch die befragte Person die Richtigkeit der Erklärungen gewährleisten solle.

77      Dies werde auch durch die Rn. 31 und 32 der Kronzeugenregelung von 2006 bestätigt, die vorsähen, dass die Aufzeichnungspflicht bereits mit den ersten von der Kommission eingeholten mündlichen Erklärungen beginne, um die Richtigkeit der eingeholten Beweismittel zu gewährleisten.

78      Viertens finde die Feststellung des Gerichts in Rn. 190 des angefochtenen Urteils, dass Indizien einem geringeren Grad der Förmlichkeit unterlägen als Beweise, keine Stütze in der Rechtsprechung und werde durch die Praxis der Kommission bei der Aufzeichnung von Anträgen auf Kronzeugenbehandlung widerlegt.

79      Die vom Gericht vorgenommene Auslegung sei mit der Absicht des Gesetzgebers unvereinbar, mit Art. 19 der Verordnung Nr. 773/2004 eine Rechtsgrundlage zu schaffen, die es der Kommission ermögliche, mündliche Erklärungen in die Verfahrensakte aufzunehmen, und zugleich in Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 Formvorschriften vorzusehen, die die Richtigkeit dieser Erklärungen gewährleisten sollten.

80      Es könne nicht zugelassen werden, dass die Kommission in einer der Untersuchung vorausgehenden Phase Indizien zusammentrage, ohne die Bestimmungen von Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 einzuhalten. Eine solche Auslegung würde es der Kommission nämlich ermöglichen, Ermittlungen außerhalb jedes rechtlichen Rahmens und jeder gerichtlichen Kontrolle durchzuführen.

81      Die Rechtsmittelführerin ist der Ansicht, dass es der Kommission zwar freistehe, informell Informationen von Dritten zu erhalten, dass sie sich auf diese Informationen aber nicht berufen könne, ohne die Förmlichkeiten zu beachten, die die Vollständigkeit und Zuverlässigkeit dieser Informationen gewährleisten sollten.

82      Fünftens könne die dem Gericht eingeräumte Befugnis, Zeugen zu befragen, das Fehlen einer Aufzeichnung der Gespräche nicht kompensieren.

83      Sechstens könnten die möglichen abschreckenden Wirkungen einer förmlichen Befragung auf die Bereitschaft von Zeugen, Informationen zu liefern und Zuwiderhandlungen anzuzeigen, auf die das Gericht in Rn. 201 des angefochtenen Urteils verweise, nach Ansicht der Rechtsmittelführerin vermieden werden, indem die Anonymität der Informationsquellen gewährleistet werde. Darüber hinaus ließen, wie die Rechtsmittelführerin vor dem Gericht geltend gemacht habe, der sehr standardisierte Charakter der angeblichen Zusammenfassungen, die Weigerung der Kommission, das Datum ihrer Erstellung anzugeben, und die aufgezeigten sachlichen Fehler Zweifel an der Übereinstimmung dieser Dokumente mit den tatsächlich geführten Gesprächen aufkommen.

84      Siebtens könne das Gebot, Nachprüfungsbeschlüsse zügig zu erlassen, keinen unverhältnismäßigen Eingriff in die Grundrechte rechtfertigen. Außerdem spreche nichts dagegen, die mündlichen Erklärungen aufzuzeichnen oder zumindest unmittelbar nach den Gesprächen ein Protokoll zu erstellen, das von den betroffenen Unternehmen bestätigt werde.

85      Achtens bewirke der Umstand, dass Erklärungen, die ohne die Förmlichkeiten nach Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 eingeholt worden seien, nicht als Beweise für eine Zuwiderhandlung verwendet werden könnten, im Fall einer Klage gegen einen Nachprüfungsbeschluss keine Heilung einer Verletzung der Verteidigungsrechte. Eine solche Lösung würde die Wirksamkeit der Ermittlungen beeinträchtigen, da dies bedeuten würde, dass vor einer Nachprüfung eingeholte mündliche Erklärungen nicht zum Nachweis einer Zuwiderhandlung dienen könnten.

86      Die Rechtsmittelführerin macht geltend, dass das Gericht in den Rn. 202 und 218 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerhaft entschieden habe, dass die von der Kommission vorgelegten Dokumente bei der Beurteilung des Vorliegens hinreichend ernsthafter Indizien, die die Entscheidung über die Zuwiderhandlung rechtfertigten, berücksichtigt werden könnten, obwohl die Formvorschriften für die Aufzeichnung der mündlichen Erklärungen nicht eingehalten worden seien. Die Schlussfolgerung des Gerichts, dass die Kommission über solche Indizien für die erste Zuwiderhandlung verfügt habe, sei daher fehlerhaft. Diese Schlussfolgerung beruhe nämlich ausschließlich auf den Dokumenten, die den Anforderungen von Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 und Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 nicht genügt hätten, wie aus den Rn. 250, 252, 253 und 256 des angefochtenen Urteils hervorgehe.

87      Die Kommission tritt diesem Vorbringen entgegen.

88      Sie weist zunächst darauf hin, dass sich die Einleitung der Untersuchung sowohl von der Anlegung einer Akte als auch von der Einleitung eines Verfahrens im Sinne von Art. 2 der Verordnung Nr. 773/2004 unterscheide. Die Einleitung der Untersuchung finde statt, sobald die Kommission erstmals von ihren Ermittlungsbefugnissen Gebrauch mache und Maßnahmen ergreife, die den Vorwurf der Begehung einer Zuwiderhandlung beinhalteten und erhebliche Auswirkungen auf die Situation der unter Verdacht stehenden Entitäten hätten. Die Anlegung der Akte sei eine interne Handlung der Geschäftsstelle der Generaldirektion Wettbewerb der Kommission, wenn sie ein Aktenzeichen vergebe, und solle lediglich die Aufbewahrung von Unterlagen ermöglichen. Die Einleitung des Verfahrens entspreche dem Zeitpunkt, zu dem die Kommission nach Art. 2 der Verordnung Nr. 773/2004 beschließe, ein Verfahren zum Erlass eines Beschlusses gemäß Kapitel III der Verordnung Nr. 1/2003 einzuleiten.

89      Dies vorausgeschickt, macht die Kommission als Erstes geltend, dass das Argument der Rechtsmittelführerin, das Gericht habe im angefochtenen Urteil eine Unterscheidung zwischen zwei Phasen eingeführt, nämlich derjenigen vor der Einleitung einer förmlichen Untersuchung und derjenigen nach einer solchen Einleitung, auf einem falschen Verständnis dieses Urteils beruhe. Die Rechtsmittelführerin verwechsle die Einleitung der Untersuchung mit der Einleitung des Verfahrens. Das angefochtene Urteil betreffe jedoch nur die Verpflichtung, Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 vor der Einleitung einer Untersuchung anzuwenden, und nicht während des längeren Zeitraums, der mit der Einleitung des Verfahrens im Sinne von Art. 2 der Verordnung Nr. 773/2004 ende.

90      Jedenfalls werfe die Aufteilung des Verfahrens in zwei Phasen vor bzw. nach Einleitung einer Untersuchung keine „unlösbaren Definitions- und Abgrenzungsprobleme“ auf. Vielmehr stelle der Zeitpunkt des erstmaligen Gebrauchs der Ermittlungsbefugnisse der Kommission ein objektives, leicht erkennbares Kriterium dar.

91      Als Zweites werde die vom Gericht vorgenommene Unterscheidung zwischen diesen beiden Verfahrensabschnitten entgegen dem Vorbringen der Rechtsmittelführerin durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs gestützt. Aus der in Rn. 191 des angefochtenen Urteils angeführten Rechtsprechung gehe nämlich hervor, dass die Einleitung einer Untersuchung dem Zeitpunkt entspreche, zu dem die Kommission erstmals von ihren Ermittlungsbefugnissen Gebrauch mache. Der Ansatz des Gerichts werde durch den Wortlaut von Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 bestätigt, wonach eine „Befragung“ im Sinne dieses Artikels auf die „Einholung von Information, die sich auf den Gegenstand einer Untersuchung bezieht“ abzielen müsse, die definitionsgemäß zuvor eingeleitet worden sein müsse. Wie die Vorarbeiten zu dieser Verordnung bestätigten, stelle diese Bestimmung eine Rechtsgrundlage dar, die die Aufzeichnung mündlicher Erklärungen „im Rahmen einer Untersuchung“ gestatte, um sie nicht als bloße Indizien, sondern als „Beweismittel“ vorzulegen.

92      Dem fügt die Kommission erstens hinzu, ihr Vorbringen vor dem Gericht, dass es sich bei den Zusammenfassungen der Befragungen der Lieferanten um Aufzeichnungen im Sinne von Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 und Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 gehandelt habe, sei ohne Bedeutung, weil sich das Gericht zu diesem Vorbringen nicht geäußert habe.

93      Zweitens sei die vom Gericht getroffene Unterscheidung zwischen der Phase des Verfahrens vor der ersten Ausübung der Ermittlungsbefugnisse der Kommission und der Phase nach dieser Ausübung nicht mit der Unterscheidung zwischen förmlichen Befragungen und informellen Gesprächen vergleichbar, die der Gerichtshof im Urteil vom 6. September 2017, Intel/Kommission (C‑413/14 P, EU:C:2017:632), zurückgewiesen habe. In der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen sei, habe das Treffen, für das der Gerichtshof eine Aufzeichnungspflicht bejaht habe, nach dem Erlass von Nachprüfungsbeschlüssen stattgefunden. Es habe daher eine bereits eingeleitete Untersuchung und die Erhebung belastender oder entlastender Beweise betroffen. Dagegen hätten im vorliegenden Fall die Gespräche mit den Lieferanten vor dem Erlass des streitigen Beschlusses oder jeder anderen Untersuchungsmaßnahme stattgefunden. Diese Gespräche hätten daher nur der Erhebung von Indizien gedient.

94      Als Drittes werde die Behauptung der Rechtsmittelführerin, dass das Fehlen der Förmlichkeit bei der Einholung mündlicher Erklärungen, die einer Nachprüfung vorausgingen, das Gericht daran hindere, seine gerichtliche Kontrolle über die Verhältnismäßigkeit und Ordnungsmäßigkeit einer Nachprüfung auszuüben, durch die im vorliegenden Fall vom Gericht vorgenommene Kontrolle der Indizien widerlegt, die zur teilweisen Nichtigerklärung des streitigen Beschlusses geführt habe. Außerdem hätte das Gericht selbst dann, wenn eine mündliche Aussage nicht aufgezeichnet worden sei, gemäß Art. 94 seiner Verfahrensordnung die Möglichkeit, Zeugen zu vernehmen.

95      Die Anwendung der in den Verordnungen Nr. 1/2003 und Nr. 773/2004 vorgesehenen Förmlichkeit vor der Einleitung der Untersuchung beeinträchtige die Durchsetzung des Wettbewerbsrechts durch die Kommission, indem sie diese daran hindere, in mündlicher Form erhaltene Indizien zu sammeln und zu verwenden. Wäre die Kommission daran gehindert, Indizien in mündlicher Form zu sammeln, würde dies den Zeitpunkt der Nachprüfung verzögern und dadurch die Wirksamkeit der Untersuchungen der Kommission beeinträchtigen.

96      Die Kommission fügt hinzu, dass im Unionsrecht der Grundsatz der freien Beweiswürdigung oder Beweisführung gelte, aus dem folge, dass das alleinige Kriterium für die Beurteilung der Beweiskraft ordnungsgemäß vorgelegter Beweise deren Glaubhaftigkeit sei (Urteil vom 26. September 2018, Infineon Technologies/Kommission, C‑99/17 P, EU:C:2018:773, Rn. 65). Darüber hinaus sei zur Beurteilung des Beweiswerts eines Beweismittels die Wahrscheinlichkeit der darin enthaltenen Information zu untersuchen, wobei insbesondere deren Herkunft, die Umstände ihrer Entstehung sowie ihr Adressat zu berücksichtigen seien und die Frage zu beantworten sei, ob sie ihrem Inhalt nach vernünftig und glaubhaft erscheine (Beschluss vom 12. Juni 2019, OY/Kommission, C‑816/18 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:486, Rn. 6). Diese Grundsätze müssten erst recht für Indizien gelten, deren Beweiswert definitionsgemäß geringer sei.

97      Als Viertes macht die Kommission erstens geltend, es sei unerheblich, dass sie in ihrer Kronzeugenregelung von 2006 vorgesehen habe, mündliche Anträge auf Kronzeugenbehandlung, die vor der ersten Ausübung ihrer Ermittlungsbefugnisse gestellt worden seien, gemäß Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 und Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 aufzuzeichnen.

98      Zweitens beruhe das Argument der Rechtsmittelführerin, das angefochtene Urteil ermögliche es der Kommission, vor der Einleitung der förmlichen Untersuchung Ermittlungen außerhalb jedes rechtlichen Rahmens durchzuführen, auf einem falschen Verständnis dieses Urteils. Zum einen betreffe das angefochtene Urteil nur den Zeitraum bis zum ersten Gebrauch der Ermittlungsbefugnisse der Kommission und nicht den Zeitraum bis zur Einleitung des Verfahrens im Sinne von Art. 2 der Verordnung Nr. 773/2004. Zum anderen könnten, wenn Indizien einem geringeren Grad an Förmlichkeit unterworfen würden als Beweise, das für den Erlass von Nachprüfungsbeschlüssen maßgebende Beschleunigungsgebot und die Wirksamkeit der Ermittlungen der Kommission einerseits und die Wahrung der Verteidigungsrechte der betroffenen Unternehmen andererseits miteinander in Einklang gebracht werden.

99      Drittens würde es die Wirksamkeit der Ermittlungen nicht beeinträchtigen, wenn Indizien einem geringeren Grad an Förmlichkeit unterlägen als Beweise. Ein materieller Anhaltspunkt, der den Förmlichkeiten der Verordnungen Nr. 1/2003 und Nr. 773/2004 nicht genüge, könne nämlich gleichwohl dazu dienen, eine Zuwiderhandlung nachzuweisen, selbst wenn sein Beweiswert als Beweismittel geringer sei.

100    Als Fünftes weist die Kommission darauf hin, dass das Gericht, wenn auch nur ergänzend, in Rn. 201 des angefochtenen Urteils festgestellt habe, dass die Aufdeckung von rechtswidrigen Praktiken durch die Kommission und die Ausübung ihrer Ermittlungsbefugnisse stark beeinträchtigt würden, wenn die Kommission verpflichtet wäre, jede mündliche Erklärung vor der Einleitung einer Untersuchung aufzuzeichnen.

 Würdigung durch den Gerichtshof

101    Mit dem zweiten Rechtsmittelgrund wirft die Rechtsmittelführerin dem Gericht im Wesentlichen vor, in Rn. 190 des angefochtenen Urteils einen Rechtsfehler begangen zu haben, indem es festgestellt habe, dass die Kommission die Verpflichtung zur Aufzeichnung der Befragungen nach Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 in Verbindung mit Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 nicht zu beachten brauche, solange sie eine Untersuchung noch nicht formell eingeleitet und von ihren Ermittlungsbefugnissen, die ihr insbesondere durch die Art. 18 bis 20 der Verordnung Nr. 1/2003 übertragen worden seien, noch keinen Gebrauch gemacht habe.

102    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur deren Wortlaut zu berücksichtigen ist, sondern auch der Zusammenhang, in dem sie steht, sowie die Zwecke und Ziele, die mit dem Rechtsakt, zu dem sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 1. August 2022, HOLD Alapkezelő, C‑352/20, EU:C:2022:606, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

103    Als Erstes ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 selbst, dass diese Bestimmung auf jedes Gespräch anwendbar sein soll, das die Einholung von Informationen zum Gegenstand einer Untersuchung bezweckt (Urteil vom 6. September 2017, Intel/Kommission, C‑413/14 P, EU:C:2017:632, Rn. 84).

104    Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004, der Befragungen auf der Grundlage von Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 der Einhaltung bestimmter Formalien unterwirft, enthält keine Klarstellung zum Anwendungsbereich der letztgenannten Bestimmung.

105    Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof entschieden hat, dass für die Kommission nach Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 und Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 eine Pflicht besteht, jede Befragung, die sie nach Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 durchführt, um Informationen einzuholen, die sich auf den Gegenstand ihrer Untersuchung beziehen, in der von ihr gewählten Form aufzuzeichnen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2017, Intel/Kommission, C‑413/14 P, EU:C:2017:632, Rn. 90 und 91).

106    Es ist daher klarzustellen, dass nach dem Gegenstand der von der Kommission geführten Gespräche zu unterscheiden ist, weil nur diejenigen Gespräche, die auf die Einholung von Informationen über den Gegenstand einer Untersuchung der Kommission gerichtet sind, in den Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 fallen und damit der Aufzeichnungspflicht unterliegen.

107    Dies vorausgeschickt, lässt sich dem Wortlaut von Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 oder Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 kein Anhaltspunkt dafür entnehmen, dass die Anwendung dieser Aufzeichnungspflicht davon abhängt, ob das von der Kommission geführte Gespräch vor der formellen Einleitung einer Untersuchung stattgefunden hat, um Indizien für eine Zuwiderhandlung einzuholen, oder danach, um Beweise für eine Zuwiderhandlung einzuholen.

108    Diese Bestimmungen sehen nämlich keineswegs vor, dass die Anwendung der Aufzeichnungspflicht davon abhängt, ob die Informationen, die Gegenstand der Aufzeichnung sind, als Indizien oder als Beweise eingestuft werden können. Vielmehr ist aufgrund des allgemeinen Charakters des Begriffs „Information“ in Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 davon auszugehen, dass diese Bestimmung unterschiedslos für jede dieser Kategorien gilt.

109    Zwar dürfen die Begriffe „Indizien“ und „Beweise“ nicht verwechselt werden, weil ein Indiz seiner Natur nach und im Unterschied zu einem Beweis nicht ausreichen kann, um eine bestimmte Tatsache zu beweisen.

110    Gleichwohl hängt die Einstufung als Indiz oder als Beweis nicht von einem bestimmten Abschnitt des Verfahrens ab, sondern vom Beweiswert der betreffenden Informationen, wobei auch hinreichend ernsthafte und übereinstimmende Indizien, die zusammen ein „Bündel“ bilden, eine Zuwiderhandlung beweisen und in der auf der Grundlage von Art. 101 AEUV erlassenen Endentscheidung der Kommission verwendet werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Juli 2010, Knauf Gips/Kommission, C‑407/08 P, EU:C:2010:389, Rn. 47).

111    Daher kann die Pflicht zur Aufzeichnung der Befragungen, wie der Generalanwalt in Nr. 141 seiner Schlussanträge in der Rechtssache Les Mousquetaires und ITM Entreprises/Kommission (C‑682/20 P, EU:C:2022:578), ausgeführt hat, nicht von der Einstufung der erlangten Informationen als Indizien oder Beweise abhängen, weil die Kommission den Beweiswert dieser Informationen erst nach Durchführung dieser Befragungen im Verlauf der folgenden Verfahrensabschnitte beurteilen kann.

112    Zudem sehen Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 und Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 auch nicht vor, dass die Anwendung der Aufzeichnungspflicht von dem Stadium des Verfahrens abhängt, in dem die Befragungen durchgeführt werden. Zwar sieht Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 vor, dass es sich bei den auf diese Bestimmung gestützten Befragungen um solche handelt, die zum Zweck der Einholung von Informationen geführt werden, die sich auf den Gegenstand einer Untersuchung beziehen, was eine bereits laufende Untersuchung voraussetzt. Dagegen geht aus dieser Bestimmung nicht hervor, dass diese Befragungen nach der formellen Einleitung einer Untersuchung stattfinden müssen, die nach der Definition des Gerichts in Rn. 190 des angefochtenen Urteils zu dem Zeitpunkt stattfindet, zu dem die Kommission eine Maßnahme erlässt, die mit dem Vorwurf verbunden ist, eine Zuwiderhandlung begangen zu haben.

113    Als Zweites ist zum Kontext von Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 zum einen festzustellen, dass dieser Artikel zu Kapitel V dieser Verordnung gehört, das die Ermittlungsbefugnisse der Kommission betrifft. Die Anwendung der Bestimmungen dieses Kapitels ist jedoch nicht notwendigerweise davon abhängig, dass dieses Organ eine Maßnahme erlässt, die mit dem Vorwurf verbunden ist, eine Zuwiderhandlung begangen zu haben.

114    So kann die Kommission nach Art. 17 dieser Verordnung sektorbezogene Untersuchungen durchführen, die nicht voraussetzen, dass zuvor Maßnahmen dieser Art gegen Unternehmen ergriffen werden.

115    Zum anderen ist festzustellen, dass Art. 2 Abs. 3 der Verordnung Nr. 773/2004, wonach „[d]ie Kommission … von ihren Ermittlungsbefugnissen gemäß Kapitel V der Verordnung … Nr. 1/2003 Gebrauch machen [kann], bevor sie ein Verfahren einleitet“, die Auslegung stützt, dass die in diesem Kapitel aufgeführten Bestimmungen über die Ermittlungsbefugnisse der Kommission – einschließlich Art. 19 – entgegen dem, was sich aus Rn. 193 des angefochtenen Urteils ergibt, Anwendung finden können, bevor eine Untersuchung formell eingeleitet wurde.

116    Zwar trifft es zu, dass der Gerichtshof in den Rechtssachen, in denen die in Rn. 191 des angefochtenen Urteils angeführten Urteile vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission (C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, EU:C:2002:582, Rn. 182), und vom 21. September 2006, Nederlandse Federatieve Vereniging voor de Groothandel op Elektrotechnisch Gebied/Kommission (C‑105/04 P, EU:C:2006:592, Rn. 38), ergangen sind, als Beginn der von der Kommission im Bereich des Wettbewerbs durchgeführten Voruntersuchung den Zeitpunkt bestimmt hat, zu dem dieses Organ in Ausübung der ihm vom Unionsgesetzgeber übertragenen Befugnisse Maßnahmen trifft, die mit dem Vorwurf verbunden sind, eine Zuwiderhandlung begangen zu haben, und erhebliche Auswirkungen auf die Situation der unter Verdacht stehenden Unternehmen haben.

117    Die diesen Urteilen zugrunde liegenden Rechtssachen betrafen jedoch die Bestimmung des Beginns des Verwaltungsverfahrens, um zu überprüfen, ob die Kommission den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer beachtet hatte. Hierzu war es erforderlich, zu prüfen, ob dieses Organ ab dem Zeitpunkt, zu dem es das Unternehmen, das einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht der Union verdächtig ist, über das Bestehen einer Untersuchung informiert hat, sorgfältig gehandelt hat.

118    Dagegen kann dieser Zeitpunkt nicht herangezogen werden, um zu bestimmen, ab wann die Kommission die Verpflichtung zur Aufzeichnung der Befragungen nach Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 in Verbindung mit Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 zu beachten hat. Wie der Generalanwalt in Nr. 150 seiner Schlussanträge in der Rechtssache Les Mousquetaires und ITM Entreprises/Kommission (C‑682/20 P, EU:C:2022:578), ausgeführt hat, kann ein Unternehmen nämlich von den Erklärungen Dritter, die bei solchen Befragungen eingeholt werden, betroffen sein, ohne davon Kenntnis zu haben. Daher liefe die Heranziehung dieses Zeitpunkts darauf hinaus, die Anwendung der Aufzeichnungspflicht und der damit verbundenen Verfahrensgarantien, die in diesen Bestimmungen zugunsten der befragten Dritten und des verdächtigten Unternehmens vorgesehen sind, aufzuschieben, bis die Kommission eine Maßnahme erlässt, mit der sie dieses Unternehmen darüber informiert, dass es unter Verdacht steht. Aufgrund dieses Aufschubs wären Befragungen Dritter, die vor einer solchen Maßnahme durchgeführt werden, vom Anwendungsbereich der Verpflichtung zur Aufzeichnung der Befragungen und der für sie geltenden Verfahrensgarantien ausgenommen.

119    Als Drittes schließlich geht in Bezug auf den Zweck der Verordnung Nr. 1/2003 aus dem 25. Erwägungsgrund dieser Verordnung hervor, dass die Aufdeckung von Verstößen gegen die Wettbewerbsregeln zunehmend schwieriger wird und dass Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 die Ermittlungsbefugnisse der Kommission dadurch ergänzen soll, dass sie es dieser insbesondere ermöglicht, alle Personen, die eventuell über sachdienliche Informationen verfügen, zu befragen und deren Aussagen zu Protokoll zu nehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2017, Intel/Kommission, C‑413/14 P, EU:C:2017:632, Rn. 85). Der Ausdruck „Verstöße … aufdecken“ in diesem Erwägungsgrund stützt jedoch die Auslegung, dass auch die Gespräche, die die Kommission in einem vorläufigen Stadium durchführt, um Indizien einzuholen, die sich auf den Gegenstand einer Untersuchung beziehen, unter Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 fallen.

120    Darüber hinaus ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Kommission gemäß Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 die Möglichkeit hat, die Befragungen auf einen beliebigen Träger aufzuzeichnen. Die Kommission kann daher nicht mit Erfolg geltend machen, durch eine Aufzeichnungspflicht daran gehindert zu werden, Indizien einzuholen und zu verwenden, wenn diese nur in mündlicher Form vorlägen, was die Effizienz der Untersuchungen durch eine Verzögerung des Zeitpunkts der Nachprüfung gefährde. Ebenso wenig kann die Kommission geltend machen, dass eine solche Verpflichtung abschreckende Wirkung habe, da sie die Möglichkeit hat, die Identität der befragten Personen zu schützen.

121    Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass das Gericht einen Rechtsfehler begangen hat, indem es in Rn. 190 des angefochtenen Urteils festgestellt hat, dass Gespräche, in deren Verlauf Indizien eingeholt worden seien, die später als Grundlage für einen Nachprüfungsbeschluss gegen ein Unternehmen gedient hätten, vom Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1/2003 mit der Begründung auszuschließen seien, dass damit noch keine Untersuchung im Sinne von Kapitel V dieser Verordnung eingeleitet worden sei, weil die Kommission zu diesem Zeitpunkt keine Maßnahme getroffen habe, die gegenüber diesem Unternehmen den Vorwurf beinhalte, eine Zuwiderhandlung begangen zu haben. Um festzustellen, ob diese Gespräche in diesen Anwendungsbereich fielen, hätte das Gericht unter Berücksichtigung des Inhalts und des Kontexts dieser Gespräche prüfen müssen, ob sie darauf abzielten, Informationen einzuholen, die sich auf den Gegenstand einer Untersuchung bezogen.

122    Im vorliegenden Fall ging das Gericht, wie sich aus Rn. 202 des angefochtenen Urteils ergibt, davon aus, dass die aus den Befragungen der Lieferanten hervorgegangenen Indizien insbesondere deshalb nicht mit der Begründung zurückgewiesen werden könnten, sie seien wegen Nichtbeachtung der Aufzeichnungspflicht nach Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 und Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 mit einem Formfehler behaftet, weil diese Gespräche vor der Einleitung einer Untersuchung nach der Verordnung Nr. 1/2003 stattgefunden hätten und gegenüber der Rechtsmittelführerin und erst recht gegenüber den Lieferanten keinen Vorwurf enthielten, eine Zuwiderhandlung begangen zu haben.

123    Wie der Generalanwalt in Nr. 155 seiner Schlussanträge in der Rechtssache Les Mousquetaires und ITM Entreprises/Kommission (C‑682/20 P, EU:C:2022:578) ausgeführt hat, genügt insoweit der Hinweis, dass die Kommission, wenn sie Befragungen durchführt, deren Gegenstand im Voraus festgelegt ist und als deren Ziel offen die Erlangung von Informationen über das Geschehen auf einem bestimmten Markt und das Verhalten der betreffenden Marktteilnehmer genannt wird, um etwaige wettbewerbswidrige Verhaltensweisen aufzudecken oder ihren Verdacht hinsichtlich solcher Verhaltensweisen zu bestärken, ihre Befugnis zur Einholung von Erklärungen gemäß Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 ausübt.

124    Folglich fielen die Gespräche mit den Lieferanten in den Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 und die Kommission war gemäß Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 zur Aufzeichnung dieser Erklärungen verpflichtet.

125    Daraus folgt, dass das Gericht einen Rechtsfehler begangen hat, indem es in Rn. 202 des angefochtenen Urteils festgestellt hat, dass die in Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 und Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 vorgesehene Aufzeichnungspflicht nicht für die Gespräche mit den Lieferanten gelte und dass die aus diesen Gesprächen hervorgegangenen Indizien nicht mit einem Formfehler behaftet seien.

126    Nach alledem ist der zweite Rechtsmittelgrund begründet, so dass dem Rechtsmittel stattzugeben und Nr. 2 des Tenors des angefochtenen Urteils aufzuheben ist, ohne dass über den dritten Rechtsmittelgrund entschieden zu werden braucht. Folglich ist auch Nr. 3 des Tenors des angefochtenen Urteils, die sich auf die Kosten bezieht, aufzuheben.

 Zur Klage vor dem Gericht

127    Gemäß Art. 61 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union kann der Gerichtshof im Fall der Aufhebung der Entscheidung des Gerichts den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung reif ist.

128    Dies trifft im vorliegenden Fall zu.

129    Daher ist die von der Rechtsmittelführerin vor dem Gericht im Rahmen ihres auf eine Verletzung des Rechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung gestützten Klagegrundes erhobene Rüge zu prüfen, mit der im Wesentlichen geltend gemacht wird, dass die aus Gesprächen mit den Lieferanten hervorgegangen Indizien unberücksichtigt bleiben müssten, weil die Kommission Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 und Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 nicht beachtet habe.

130    Zur Begründung dieser Rüge macht die Rechtsmittelführerin geltend, dass die Zusammenfassungen der Befragungen der Lieferanten keine mit diesen Bestimmungen im Einklang stehenden Aufzeichnungen gewesen seien, weil sie einseitig von der Kommission erstellt worden seien und es sich nicht um vollständige Aufzeichnungen dieser Befragungen gehandelt habe.

131    Die Kommission erwidert, sie sei ihrer Aufzeichnungspflicht nachgekommen, indem sie umfassende Zusammenfassungen erstellt habe, die den Inhalt der Erklärungen der Lieferanten getreu wiedergäben, und diese unter einem amtlichen Aktenzeichen zu den Akten genommen habe. Solche Zusammenfassungen seien eine der Formen der Aufzeichnung, die die Kommission nach Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 verwenden könne, ebenso wie Tonaufzeichnungen, audiovisuelle Aufzeichnungen oder wortgetreue Mitschriften.

132    Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass Art. 3 Abs. 3 Satz 1 der Verordnung Nr. 773/2004, der klarstellt, dass „[d]ie Kommission … die Aussagen des Befragten auf einen beliebigen Träger aufzeichnen [kann]“, bedeutet, dass die Kommission, wenn sie sich mit der Zustimmung des Befragten dafür entscheidet, eine Befragung auf der Grundlage von Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 vorzunehmen, verpflichtet ist, die Befragung in vollem Umfang aufzuzeichnen, unbeschadet der ihr überlassenen Wahl der Form dieser Aufzeichnung (Urteil vom 6. September 2017, Intel/Kommission, C‑413/14 P, EU:C:2017:632, Rn. 90).

133    Ferner geht aus Art. 3 Abs. 3 Sätze 2 und 3 der Verordnung Nr. 773/2004 hervor, dass die Kommission dem Befragten eine Kopie der Aufzeichnung zur Genehmigung überlassen muss und erforderlichenfalls eine Frist setzt, innerhalb deren der Befragte seine Aussage berichtigen kann.

134    Im vorliegenden Fall hat die Kommission nicht behauptet, geschweige denn bewiesen, dass sie die von ihr verfassten Zusammenfassungen den Lieferanten zur Genehmigung vorgelegt hat.

135    Die der Kommission durch Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 auferlegte Verpflichtung, dem Befragten eine Kopie der Aufzeichnung zur Genehmigung zu überlassen, soll jedoch insbesondere die Authentizität der Erklärungen des Befragten sicherstellen, indem sie gewährleistet, dass diese Erklärungen tatsächlich dem Befragten zuzuordnen sind und dass ihr Inhalt diese Erklärungen wahrheitsgemäß und vollständig wiedergibt und nicht deren Auslegung durch die Kommission.

136    Daher ist ein Indiz, das aus einer von der Kommission eingeholten Erklärung abgeleitet wird, ohne dass dieses in Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 aufgestellte Erfordernis beachtet wird, als unzulässig anzusehen und folglich zurückzuweisen.

137    Somit erfüllen diese Zusammenfassungen, die rein interner Natur sind, nicht die Anforderungen von Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 773/2004, der für Gespräche gilt, die in den Anwendungsbereich von Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 fallen.

138    Diese Feststellung kann durch die in Rn. 96 des vorliegenden Urteils zusammengefasste Argumentation der Kommission, die sich auf die Rn. 65 bis 69 des Urteils vom 26. September 2018, Infineon Technologies/Kommission (C‑99/17 P, EU:C:2018:773), stützt, nicht entkräftet werden.

139    Der Gerichtshof hat zwar entschieden, dass im Unionsrecht der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gilt, aus dem folgt, dass für die Beurteilung des Beweiswerts von ordnungsgemäß vorgelegten Beweisen allein deren Glaubhaftigkeit maßgeblich ist und dass der Beweiswert eines Beweises einer Gesamtwürdigung zu unterziehen ist, so dass bloße, nicht substantiierte Zweifel an der Authentizität eines Beweises nicht genügen, um dessen Glaubhaftigkeit zu beeinträchtigen (Urteil vom 26. September 2018, Infineon Technologies/Kommission, C‑99/17 P, EU:C:2018:773, Rn. 65 bis 69).

140    In der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, handelte es sich jedoch bei dem Beweis, dessen Authentizität in Frage gestellt wurde, um eine interne E‑Mail eines Unternehmens und nicht um die Aufzeichnung einer von der Kommission unter Verstoß gegen Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 eingeholten Erklärung.

141    Somit kann sich die Kommission nicht auf den Grundsatz der freien Beweiswürdigung berufen, um sich den Formvorschriften für die Aufzeichnung von Erklärungen, die sie nach Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 einholt, zu entziehen. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Feststellung einer Unregelmäßigkeit bei der Erhebung von Indizien im Hinblick auf Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 dazu führt, dass es der Kommission nicht möglich ist, diese Indizien im weiteren Verlauf des Verfahrens zu verwenden (vgl. entsprechend Urteil vom 18. Juni 2015, Deutsche Bahn u. a./Kommission, C‑583/13 P, EU:C:2015:404, Rn. 45 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

142    Da im vorliegenden Fall, wie der Generalanwalt in Nr. 208 seiner Schlussanträge in der Rechtssache Les Mousquetaires und ITM Entreprises/Kommission (C‑682/20 P, EU:C:2022:578), ausgeführt hat, die aus den Befragungen der Lieferanten hervorgegangenen Informationen den wesentlichen Teil der dem streitigen Beschluss zugrunde liegenden Indizien darstellen und dieser Beschluss aufgrund der Nichteinhaltung der Aufzeichnungspflicht nach Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 mit einem Formfehler behaftet ist, ist daraus zu schließen, dass die Kommission zum Zeitpunkt des Erlasses des streitigen Beschlusses nicht über hinreichend ernsthafte Anhaltspunkte verfügte, die sie hätte verwenden dürfen und die die in Art. 1 Buchst. a dieses Beschlusses aufgestellten Vermutungen hätten rechtfertigen können. Nach alledem ist dieser Beschluss insgesamt für nichtig zu erklären.

 Kosten

143    Nach Art. 184 Abs. 2 seiner Verfahrensordnung entscheidet der Gerichtshof über die Kosten, wenn das Rechtsmittel begründet ist und er selbst den Rechtsstreit endgültig entscheidet.

144    Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Rechtsmittelführerin beantragt hat, der Kommission die Kosten aufzuerlegen, und diese unterlegen ist, sind ihr neben ihren eigenen Kosten die der Rechtsmittelführerin im Rahmen des vorliegenden Rechtsmittels entstandenen Kosten aufzuerlegen. Da die streitige Entscheidung für nichtig erklärt wird, trägt die Kommission außerdem die gesamten Kosten, die der Rechtsmittelführerin im Rahmen des ersten Rechtszugs entstanden sind.

145    Nach Art. 184 Abs. 4 der Verfahrensordnung können einer erstinstanzlichen Streithilfepartei, wenn sie das Rechtsmittel nicht selbst eingelegt hat, im Rechtsmittelverfahren Kosten nur dann auferlegt werden, wenn sie am schriftlichen oder mündlichen Verfahren vor dem Gerichtshof teilgenommen hat. Nimmt eine solche Partei am Verfahren teil, so kann der Gerichtshof ihr ihre eigenen Kosten auferlegen. Da der Rat als Streithelfer im ersten Rechtszug am schriftlichen und am mündlichen Verfahren vor dem Gerichtshof teilgenommen hat, sind ihm seine eigenen durch das Rechtsmittelverfahren und das Verfahren im ersten Rechtszug entstandenen Kosten aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Nr. 2 des Tenors des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 5. Oktober 2020, Intermarché Casino Achats/Kommission (T254/17, nicht veröffentlicht, EU:T:2020:459), wird aufgehoben.

2.      Nr. 3 des Tenors des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 5. Oktober 2020, Intermarché Casino Achats/Kommission (T254/17, nicht veröffentlicht, EU:T:2020:459), wird aufgehoben, soweit damit über die Kosten entschieden worden ist.

3.      Der Beschluss C(2017) 1056 final der Kommission vom 9. Februar 2017, mit dem Intermarché Casino Achats sowie allen unmittelbar oder mittelbar von ihr kontrollierten Gesellschaften aufgegeben wird, eine Nachprüfung gemäß Art. 20 Abs. 1 und 4 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates zu dulden (Sache AT.40466 – Tute 1), wird für nichtig erklärt.

4.      Die Europäische Kommission trägt neben ihren eigenen Kosten die der Intermarché Casino Achats SARL durch das Verfahren im ersten Rechtszug und das Rechtsmittelverfahren entstandenen Kosten.

5.      Der Rat der Europäischen Union trägt seine eigenen durch das Verfahren im ersten Rechtszug und das Rechtsmittelverfahren entstandenen Kosten.

Unterschriften



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