C-601/21 – Kommission/ Polen

C-601/21 – Kommission/ Polen

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2023:151

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NICHOLAS EMILIOU

vom 2. März 2023(1)

Rechtssache C601/21

Europäische Kommission

gegen

Republik Polen

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Öffentliche Auftragsvergabe – Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2014/24/EU – Ausnahmen – Herstellung von Ausweispapieren und sonstigen amtlichen Dokumenten – Schutz der wesentlichen Sicherheitsinteressen der Mitgliedstaaten – Weniger einschneidende Maßnahmen“

I.      Einleitung

1.        Für die Behörden in der Union und andernorts berührt die Notwendigkeit des Schutzes der Integrität und des Vertrauens der Öffentlichkeit in öffentliche Dokumente (wie Reisepässe, Stimmzettel oder Dienstausweise der Angehörigen von Polizei, Militär und Nachrichtendiensten) erhebliche Sicherheitsbelange. Insbesondere in der heutigen Welt mit ihren Möglichkeiten eines leichten und schnellen Verkehrs von Menschen und erst recht Daten stehen diese Behörden in einem niemals endenden Wettbewerb mit Straftätern um die Entwicklung von Material und Techniken, die die Fälschung und Manipulation öffentlicher Dokumente so schwer wie möglich machen.

2.        Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG(2) sowie Art. 346 Abs. 1 AEUV ermöglichen den Mitgliedstaaten im Wesentlichen, bestimmte öffentliche Aufträge von den in dieser Richtlinie vorgesehenen Verfahren auszunehmen, wenn der Schutz ihrer wesentlichen Sicherheitsinteressen beeinträchtigt werden könnte, sofern keine weniger einschränkenden Maßnahmen zur Verfügung stehen.

3.        Welche öffentlichen Interessen können in diesem Sinne als „wesentliche Sicherheitsinteressen“ angesehen werden? Welchen Spielraum haben die Mitgliedstaaten insoweit? Ist ein Mitgliedstaat berechtigt, das seiner Ansicht nach richtigste Schutzniveau für diese Interessen zu wählen? Wie weit geht die Verpflichtung eines Mitgliedstaats zur Prüfung und gegebenenfalls zum Erlass von Maßnahmen, die möglicherweise weniger einschränkend sind?

4.        Dies sind im Kern die hauptsächlichen, sich im vorliegenden Verfahren stellenden Rechtsfragen, in die ich mit den vorliegenden Schlussanträgen versuchen werde, etwas Klarheit zu bringen.

II.    Rechtlicher Hintergrund

A.      Unionsrecht

5.        Art. 346 Abs. 1 AEUV bestimmt:

„Die Vorschriften der Verträge stehen folgenden Bestimmungen nicht entgegen:

a)      Ein Mitgliedstaat ist nicht verpflichtet, Auskünfte zu erteilen, deren Preisgabe seines Erachtens seinen wesentlichen Sicherheitsinteressen widerspricht;

…“

6.        Art. 1 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2014/24 über deren Gegenstand und Anwendungsbereich bestimmt in geänderter und derzeit geltender Fassung:

„(1)      Mit dieser Richtlinie werden Regeln für die Verfahren öffentlicher Auftraggeber bei der Vergabe öffentlicher Aufträge … festgelegt, deren geschätzter Wert nicht unter den in Artikel 4 festgelegten Schwellenwerten liegt.

(3)      Die Anwendung dieser Richtlinie unterliegt Artikel 346 AEUV.“

7.        In Art. 2 Nr. 9 der Richtlinie 2014/24 sind „öffentliche Dienstleistungsaufträge“ definiert als „öffentliche Aufträge über die Erbringung von Dienstleistungen, bei denen es sich nicht um die in Nummer 6 genannten handelt“(3).

8.        Art. 15 („Verteidigung und Sicherheit“) Abs. 2 und 3 der Richtlinie bestimmt:

„(2)      Liegt nicht bereits eine der in Absatz 1 genannten Ausnahmen vor, so findet diese Richtlinie keine Anwendung, soweit der Schutz wesentlicher Sicherheitsinteressen eines Mitgliedstaats nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen, zum Beispiel durch Anforderungen, die auf den Schutz der Vertraulichkeit der Informationen abzielen, die der öffentliche Auftraggeber im Rahmen eines Vergabeverfahrens im Sinne dieser Richtlinie zur Verfügung stellt, gewährleistet werden kann.

Ferner findet diese Richtlinie im Einklang mit Artikel 346 Absatz 1 Buchstabe a AEUV keine Anwendung auf öffentliche Aufträge …, die nicht anderweitig im Rahmen des Absatzes 1 des vorliegenden Artikels ausgenommen sind, soweit ein Mitgliedstaat mit der Anwendung dieser Richtlinie verpflichtet würde, Informationen zu übermitteln, deren Offenlegung nach seiner Auffassung seinen wesentlichen Sicherheitsinteressen zuwiderlaufen würde.

(3)      Werden die Auftragsvergabe und die Ausführung des öffentlichen Auftrags … für geheim erklärt oder erfordern sie nach den in einem Mitgliedstaat geltenden Rechts- oder Verwaltungsvorschriften besondere Sicherheitsmaßnahmen, so findet diese Richtlinie keine Anwendung, sofern der Mitgliedstaat festgestellt hat, dass die betreffenden wesentlichen Interessen nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen, wie jene gemäß Absatz 2 Unterabsatz 1, gewährleistet werden können.“

B.      Polnisches Recht

9.        Art. 11 Abs. 4 der Ustawa z dnia 11 września 2019 r. – Prawo zamówień publicznych (Gesetz vom 11. September 2019 über das öffentliche Vergaberecht; im Folgenden: Gesetz über das Vergaberecht von 2019) bestimmt:

„Die Bestimmungen dieses Gesetzes finden keine Anwendung auf Aufträge für die Herstellung von

1)      Blankos von öffentlichen Dokumenten im Sinne von Art. 5 Abs. 2 des Gesetzes vom 22. November 2018 über öffentliche Dokumente … sowie deren Personalisierung oder Individualisierung;

2)      Steuerzeichen;

3)      Legalisierungszeichen und Kontrollaufkleber im Sinne des Gesetzes vom 20. Juni 1997 zur Festlegung des Straßenverkehrsgesetzes …;

4)      Stimmzettel und Stimmzettel in Blindenschrift im Sinne von Art. 40 Abs. 1 bzw. Art. 40a Abs. 1 des Gesetzes vom 5. Januar 2011 zur Festlegung des Wahlgesetzes … sowie Art. 20 des Gesetzes vom 14. März 2003 über das nationale Referendum …;

5)      holografische Zeichen auf Wahlscheinen im Sinne von Art. 32 Abs. 1 des Gesetzes vom 5. Januar 2011 über das Wahlgesetzbuch;

6)      Mikroprozessorsysteme mit Software für die Verwaltung öffentlicher Dokumente, Computersysteme und Datenbanken, die für die Nutzung öffentlicher Dokumente erforderlich sind, im Sinne von Art. 5 Abs. 2 des Gesetzes vom 22. November 2018 über öffentliche Dokumente, die ihrer Zweckbestimmung entsprechend einen elektronischen Chip enthalten“.

10.      Art. 5 Abs. 2 des Gesetzes vom 22. November 2018 über öffentliche Dokumente enthält die folgende Aufzählung öffentlicher Dokumente: 1) Personalausweise; 2) Reisepässe; 3) Seefahrtbücher im Sinne von Art. 10 Abs. 1 des Seearbeitsgesetzes vom 5. August 2015; 4) Dokumente, die nach Art. 44 Abs. 1 und Art. 83 Abs. 1 des Gesetzes über Personenstandsurkunden vom 28. November 2014 ausgestellt werden; 5) Dokumente, die Ausländern nach den Art. 37 und 226 des Ausländergesetzes vom 12. Dezember 2013 ausgestellt werden; 6) Dokumente, die Mitgliedern diplomatischer Missionen und konsularischer Vertretungen ausländischer Staaten oder Personen, die ihnen aufgrund von Gesetzen, Übereinkommen oder Völkergewohnheitsrecht gleichgestellt sind, ausgestellt werden, sowie Dokumente, die ihren, mit ihnen im gemeinsamen Haushalt lebenden Familienangehörigen nach Art. 61 des Ausländergesetzes vom 12. Dezember 2013 ausgestellt werden; 7) Dokumente, die Unionsbürgern nach Art. 48 Abs. 1 des Gesetzes vom 14. Juli 2006 über die Einreise nach, den Aufenthalt in und die Ausreise aus dem Hoheitsgebiet der Republik Polen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der EU und ihre Familienangehörigen ausgestellt werden; 8) Dokumente, die Familienangehörigen von Unionsbürgern nach Art. 30 Abs. 1 und Art. 48 Abs. 2 des Gesetzes vom 14. Juli 2006 ausgestellt werden; 9) Dokumente, die Ausländern nach Art. 55 Abs. 1 und Art. 89i Abs. 1 des Gesetzes vom 13. Juni 2003 über die Gewährung von Schutz für Ausländer im Hoheitsgebiet der Republik Polen ausgestellt werden; 10) vollstreckbare Titel, die von Gerichten oder Justizbeamten ausgestellt werden; 11) Ausfertigungen von rechtskräftigen Urteilen, mit denen der Erwerb, das Bestehen oder das Erlöschen eines Rechts festgestellt wird oder die sich auf den Personenstand beziehen; 12) Ausfertigungen von Urteilen oder Bescheinigungen, die von einem Gericht ausgestellt wurden und die zur Vertretung einer Person, zur Vornahme einer Rechtshandlung oder zur Verwaltung eines bestimmten Vermögensgegenstandes ermächtigen; 13) Ausfertigungen von Anordnungen von Gerichten und Justizbeamten über die Erteilung der Vollstreckungsklausel für einen Vollstreckungstitel, bei dem es sich nicht um einen solchen im Sinne von Art. 777 § 1 Abs. 1 und 11 des Gesetzes vom 17. November 1964 zur Einführung der Zivilprozessordnung handelt, wenn sie einen nicht vom Gericht ausgestellten Vollstreckungstitel zum Gegenstand haben; 14) Ausfertigungen von und Auszüge aus Dokumenten, die sich auf notarielle Urkunden im Sinne von Art. 79 Nrn. 1 bis 1b und 4, Genehmigungen im Sinne von Art. 79 Nr. 2 und Einwendungen im Sinne von Art. 79 Nr. 5 des Gesetzes vom 14. Februar 1991 über den Notarberuf beziehen; 15) die einem Luftfahrzeugbesatzungsmitglied ausgestellte Bescheinigung; 16) persönliche Militärdokumente, die in das Militärregister eingetragenen Personen nach Art. 54 § 1 des Gesetzes vom 21. November 1967 über die allgemeine Pflicht zur Verteidigung der Republik Polen ausgestellt werden; 17) persönliche Militärdokumente, die nach Art. 48 Abs. 1 des Gesetzes vom 11. September 2003 über den Berufsmilitärdienst ausgestellt werden; 18) Personalausweise, die nach Art. 137c § 1 des genannten Gesetzes vom 11. September 2003 ausgestellt werden; 19) Personalausweise, die nach Art. 54a § 1 des genannten Gesetzes vom 21. November 1967 ausgestellt werden; 20) ein Vermerk in einem Reisepass im Sinne von Art. 19 § 1 des Gesetzes vom 13. Juli 2006 über Reisepässe; 21) der Visumaufkleber; 22) die „Polnische Karte“ („Karta Polaka“); 23) der Ausweis, der eine Behinderung oder den Grad einer Behinderung bescheinigt; 24) die Zulassung zur Tätigkeit als Arzt; 25) die Zulassung zur Tätigkeit als Zahnarzt; 26) der Führerschein; 27) die Bescheinigung über die Berufszulassung und die Bescheinigung über die Zulassung eines Fahrzeugs, mit Ausnahme der Zulassungsbescheinigungen für Fahrzeuge nach Art. 73 § 3 des Gesetzes vom 20. Juni 1997 über das Verkehrsgesetzbuch; 28) das Fahrzeugheft („karta pojazdu“); 29) die befristete Bescheinigung nach Art. 71 Abs. 1 des Gesetzes vom 20. Juni 1997 zur Festlegung des Straßenverkehrsgesetzes; 30) die Fahrtenschreiberkarte nach Art. 2 § 4 des Gesetzes vom 5. Juli 2018 über den Fahrtenschreiber; 31) die ADR-Bescheinigung im Sinne von Art. 2 § 10 des Gesetzes vom 19. August 2011 über die Beförderung gefährlicher Güter; 31a) das Registrierungsdokument nach Art. 4 § 1 des Gesetzes vom 12. April 2018 über die Registrierung von Jachten und anderen Schiffen mit einer Länge von bis zu 24 Metern; 32) Dienstausweise von a) Polizeibediensteten, b) Grenzschutzbediensteten, c) Bediensteten des Staatsschutzes, d) Bediensteten des Amtes für Innere Sicherheit, e) Bediensteten von Nachrichtendiensten, f) Bediensteten des Zentralen Antikorruptionsbüros, g) Bediensteten des Militärischen Abschirmnachrichtendienstes und zum Dienst im Militärischen Abschirmnachrichtendienst abgestellte Berufssoldaten, h) Bediensteten des Militärischen Nachrichtendienstes und zu diesem Dienst abgestellte Berufssoldaten, i) Bediensteten und Mitarbeitern der Verwaltung von Haftanstalten, j) Bediensteten der Steuer- und Zollverwaltung, k) Beschäftigten organisatorischer Einheiten der nationalen Steuerverwaltung, l) Inspektoren der Aufsichtsbehörde für den Straßenverkehr und m) Angehörigen der Militärpolizei.

III. Sachverhalt und Vorverfahren

11.      Nach Art. 90 der Richtlinie 2014/24 waren die Mitgliedstaaten verpflichtet, diese bis zum 18. April 2016 umzusetzen.

12.      Die Europäische Kommission erhielt am 14. Juli 2016 von den polnischen Behörden eine Mitteilung über die nationalen Maßnahmen zur Umsetzung dieser Richtlinie. Da die Kommission der Ansicht war, dass die Republik Polen gegen ihre Verpflichtungen aus dieser Richtlinie verstoßen hatte, richtete sie am 25. Januar 2019 ein Mahnschreiben an die Republik Polen.

13.      Mit Schreiben vom 25. März 2019 antworteten die polnischen Behörden auf das Mahnschreiben und teilten der Kommission mit, dass sie beabsichtigten, bestimmte Aspekte der Umsetzungsmaßnahmen zu überprüfen, um zu gewährleisten, dass u. a. die Richtlinie 2014/24 eingehalten werde. Die polnischen Behörden wiesen jedoch einige Rügen der Kommission zurück.

14.      Die polnischen Behörden teilten der Kommission am 5. November 2019 mit, dass ein neues Gesetz, das Gesetz über das Vergaberecht von 2019, erlassen worden sei, mit dem die zuvor geltende nationale Regelung ab 1. Januar 2021 ersetzt werden sollte.

15.      Die Kommission richtete am 28. November 2019 eine mit Gründen versehene Stellungnahme an die Republik Polen, mit der sie auf Mängel der Umsetzung der Richtlinie 2014/24 hinwies. Die Kommission erkannte in dieser mit Gründen versehenen Stellungnahme an, dass die polnischen Behörden mit der neuen Regelung einige der zuvor festgestellten Probleme in der Tat behoben hätten. Sie hielt jedoch an den weiteren, mit ihrem Mahnschreiben erhobenen Rügen fest, die die polnischen Behörden zurückgewiesen hatten.

16.      Mit ihrem Antwortschreiben vom 28. Januar 2020 traten die polnischen Behörden den Rügen der Kommission erneut entgegen und vertraten die Ansicht, dass die in Rede stehende nationale Regelung mit den Bestimmungen der Richtlinie 2014/24 im Einklang stehe.

17.      Vor diesem Hintergrund hat die Kommission beschlossen, die vorliegende Klage zu erheben.

IV.    Verfahren vor dem Gerichtshof und Anträge der Parteien

18.      Mit ihrer am 28. September 2021 eingereichten Klageschrift beantragt die Kommission,

–        festzustellen, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 1 Abs. 1 und 3 sowie Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2014/24 in Verbindung mit Art. 346 Abs. 1 Buchst. a AEUV verstoßen hat, dass sie Ausnahmen in Bezug auf die Herstellung bestimmter Dokumente, Vordrucke und Zeichen hinzugefügt hat, die in der Richtlinie 2014/24 nicht vorgesehen sind, und

–        der Republik Polen die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

19.      Mit ihrer am 17. Dezember 2021 eingereichten Klagebeantwortung beantragt die Republik Polen,

–        die Klage abzuweisen und

–        der Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

20.      Die Kommission hat am 9. Februar 2022 eine Erwiderung eingereicht, die Republik Polen hat am 21. März 2022 eine Gegenerwiderung eingereicht und beide haben in der Sitzung vom 1. Dezember 2022 mündliche Ausführungen gemacht.

V.      Würdigung

A.      Vorbringen der Parteien

21.      Die Kommission trägt in ihrer Klageschrift vor, dass die Republik Polen bei der Umsetzung der Richtlinie 2014/24 in nationales Recht Aufträge für die Herstellung einer großen und vielfältigen Bandbreite von Dokumenten und sonstigen Gegenständen (im Folgenden: in Rede stehende Dokumente) vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausgenommen habe. Diese Aufträge seien nämlich unmittelbar an Polska Wytwórnia Papierów Wartościowych (im Folgenden: PWPW), ein öffentliches Unternehmen mit Sitz in Polen, das im Alleinbesitz des Fiskus stehe, vergeben worden, ohne dass hierfür öffentliche Ausschreibungen durchgeführt worden seien.

22.      In der Richtlinie 2014/24 seien Fälle, in denen ihre Bestimmungen keine Anwendung fänden, ausdrücklich geregelt. Die Kommission weist darauf hin, dass die Liste der Ausnahmen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs abschließend sei und diese Ausnahmen eng auszulegen seien.

23.      Die polnische Regierung könne die Ausnahme der Aufträge für die Herstellung der in Rede stehenden Dokumente von den Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge nicht wirksam auf Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2014/24 stützen. Es sei insoweit auf die Feststellungen des Gerichtshofs im Urteil vom 20. März 2018, Kommission/Österreich (Staatsdruckerei)(4), zu verweisen, die auf die vorliegende Rechtssache entsprechend anwendbar seien. In jenem Urteil habe der Gerichtshof u. a. festgestellt, dass Maßnahmen der Mitgliedstaaten nicht schon deshalb in ihrer Gesamtheit von der Anwendung der Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge ausgenommen werden können, weil sie im Interesse der öffentlichen Sicherheit oder der nationalen Verteidigung ergangen seien. Es obliege dem Mitgliedstaat, der sich auf diese Ausnahmen berufe, nachzuweisen, dass eine Ausschreibung dem Erfordernis des Schutzes solcher Interessen nicht hätte gerecht werden können.

24.      Einige der von der polnischen Regierung geltend gemachten Interessen ständen nicht mit der Sicherheit dieses Mitgliedstaats und erst recht nicht mit seinen wesentlichen Sicherheitsinteressen im Zusammenhang. Außerdem habe die polnische Regierung selbst im Hinblick auf diejenigen Interessen, die möglicherweise unter diesen Begriff fallen könnten, nicht nachgewiesen, dass das Ziel des Schutzes dieser Interessen nicht auch durch alternative, weniger einschränkende Maßnahmen gewährleistet werden könne.

25.      Insbesondere habe die polnische Regierung nicht erläutert, warum PWPW das einzige Unternehmen sein solle, das über die Erfahrung und die technischen Nachweise verfüge, die für die Herstellung der in Rede stehenden Dokumente mit den höchsten Sicherheitsstandards erforderlich seien. Hinzuweisen sei darauf, dass mehrere in der Europäischen Union tätige Unternehmen (darunter einige mit Sitz in Polen) vergleichbare Garantien in Bezug auf technische Leistungsfähigkeit, finanzielle Stabilität und Sicherheit böten. Mit diesen Unternehmen stehe PWPW in der Tat im Wettbewerb, was Ausschreibungen für die Herstellung von den im vorliegenden Verfahren entsprechenden Dokumenten für andere Mitgliedstaaten der Union (oder auch für Länder außerhalb der Europäischen Union) angehe.

26.      Der öffentliche Auftraggeber sei in keiner Weise daran gehindert, besonders hohe Anforderungen (in Bezug auf die technische und finanzielle Leistungsfähigkeit, die Lauterkeit usw.) an die Bieter zu stellen und von ihnen die notwendigen Nachweise für ihr Angebot zu verlangen. Insbesondere werde den nationalen Behörden durch die Art. 42 und 58 der Richtlinie 2014/24 insoweit ein weiter Spielraum eingeräumt. So könne ein Wirtschaftsteilnehmer beispielsweise dazu verpflichtet werden, geeigneten Kontrollen durch die Behörden zuzustimmen und Garantien für die Sicherheit und Pünktlichkeit der Lieferung sowie für seine Solvenz abzugeben. Der Auftrag könne ferner Bestimmungen über Schadensersatz und eine finanzielle Haftung sowie eine Haftung für Fehlverhalten bei Verstößen enthalten.

27.      Die Kommission äußert Zweifel an der Richtigkeit des Vorbringens der polnischen Regierung, wonach eine Insolvenz von PWPW de facto unmöglich sei, da auf die diesem Unternehmen aus der Staatskasse gewährten finanziellen Beihilfen die Unionsregelungen über die Beihilfenkontrolle anwendbar sein könnten.

28.      Die Republik Polen betont ihrerseits, dass sie über ein umfangreiches System zur Sicherheit amtlicher Dokumente verfüge und dass PWPW eine vollständig vom Staat beherrschte und verwaltete Einheit sei. Nach nationalem Recht könnten vom Staat gehaltene Anteile – wie diejenigen an PWPW – oder Rechte an solchen Anteilen grundsätzlich nicht veräußert werden. Ausnahmsweise könne eine etwaige Veräußerung dieser Anteile von der Voraussetzung einer Genehmigung durch den Ministerrat abhängig sein, könne aber nur an andere öffentliche Unternehmen erfolgen, die nicht an private Anteilseigner veräußert werden könnten.

29.      Diese Ausgestaltung ermögliche die Wahrnehmung einer vollständigen Kontrolle sowohl der Arbeitsweise der Organe von PWPW als auch des Verfahrens der Herstellung amtlicher Dokumente. Vor diesem Hintergrund werde durch die Vergabe der Aufgabe der Herstellung dieser Dokumente an eine solche Einheit, ohne dass hierfür ein Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge durchgeführt werde, der Kreis der Personen beschränkt, die Zugang zu als vertraulich eingestuften Informationen hätten. Diese Lösung gewährleiste ferner die Kontinuität der Herstellung und schließe zugleich die Risiken einer Insolvenz des Herstellers oder einer mangelhaften Ausführung eines etwaigen öffentlichen Auftrags aus.

30.      Zum Vorbringen der Kommission zur Insolvenz eines Unternehmens wie PWPW führt die polnische Regierung aus, dass eine Insolvenz im Besitz des Staates stehender Unternehmen zwar selbstverständlich möglich sei, dieses Risiko jedoch angesichts ihrer strategischen Bedeutung nahezu gleich null sei. Die Kommission habe nicht begründet, warum es im Fall von finanziellen Schwierigkeiten von PWPW nicht möglich sein sollte, diesem Unternehmen eine staatliche Beihilfe zu gewähren.

31.      Die tatsächliche und rechtliche Fallgestaltung der vorliegenden Rechtssache sei mit derjenigen nicht vergleichbar, die dem Gerichtshof in der vorgenannten Rechtssache Kommission/Österreich zur Prüfung vorgelegen habe. Die Rechtsstellung des österreichischen Unternehmens, das mit dem Druck amtlicher Dokumente betraut gewesen sei, unterscheide sich deutlich von derjenigen von PWPW, da es sich um eine privatrechtliche Gesellschaft mit beschränkter Haftung gehandelt habe, deren Aktien börsennotiert gewesen und von Privatpersonen gehalten worden seien. Außerdem sei das Unternehmen in weitaus geringerem Maß von der österreichischen Regierung beherrscht worden als im vorliegenden Fall der Republik Polen. Demnach sei das nach österreichischem Recht von den Behörden gewählte Niveau des Schutzes der wesentlichen Interessen des Staates niedriger gewesen als das im Fall Polens gewählte; Polen könne nicht verpflichtet sein, dieses Schutzniveau auf das von anderen Staaten gewählte Niveau abzusenken.

32.      Weiterhin ermöglichten die von der Kommission angeführten vertraglichen Garantien nicht, einer Bedrohung ihrer Sicherheitsinteressen durch eine etwaige Übernahme des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers oder durch eine Einflussnahme auf seine Verwaltungsorgane durch die Geheimdienste eines Drittlandes oder eine organisierte kriminelle Vereinigung vorzubeugen. Was das Risiko einer Insolvenz des Herstellers der Dokumente angehe, ermögliche die von der Kommission angeführte Lösung, ein Zulassungskriterium in Form einer Bescheinigung der finanziellen Leistungsfähigkeit im Hinblick darauf festzulegen, dass der Auftrag sicher und ungehindert durchgeführt werden könne, nicht, eine plötzliche Verschlechterung der finanziellen Lage des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers zu vermeiden.

33.      Die im nationalen Recht vorgesehenen Ausnahmen stellten somit eine verhältnismäßige, angemessene und erforderliche Maßnahme zur Erreichung des Ziels dar, die wesentlichen Sicherheitsinteressen Polens auf dem als angemessen angesehenen Niveau zu gewährleisten. Um die Verhältnismäßigkeit der Anwendung der Ausnahmen zu belegen, müsse nicht nachgewiesen werden, dass im Fall der Anwendung der in Rede stehenden Richtlinie die Wahrscheinlichkeit einer Gefährdung der wesentlichen Sicherheitsinteressen des betreffenden Mitgliedstaats besonders hoch sei. Bereits die geringste Wahrscheinlichkeit einer erheblichen Beeinträchtigung der Sicherheitsinteressen des Staates stelle nämlich einen Grund für die Anwendung dieser Ausnahmen dar.

34.      Allgemeiner gesagt, habe die Kommission nicht nachgewiesen, dass das Niveau der Sicherheit des Staates, das erreicht werden könne, wenn die Herstellung von Dokumenten an eine Einheit vergeben werde, die nach der Richtlinie 2014/24 ausgewählt werde, ebenso hoch sei, wie wenn diese Aufgabe an ein Unternehmen vergeben werde, das im Besitz des Staates stehe.

B.      Würdigung

35.      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass, wie von der Kommission vorgetragen und von der polnischen Regierung nicht bestritten, die Richtlinie 2014/24 grundsätzlich auf öffentliche Aufträge für die Herstellung der in Rede stehenden Dokumente anwendbar ist. Es ist nämlich unstreitig, dass die betreffenden öffentlichen Aufträge i) nicht die Dienstleistungen, Sektoren und Fälle betreffen, für die die Art. 7 bis 12 der Richtlinie 2014/24 Ausnahmen vorsehen, und ii) dass ihr Wert nicht unter den Schwellenwerten nach Art. 4 dieser Richtlinie liegt. Außerdem verdeutlicht Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24, dass diese auf die Vergabe öffentlicher Aufträge „in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit“ grundsätzlich Anwendung findet.

36.      Nach Ansicht der polnischen Regierung sollen diese Aufträge jedoch vergeben werden können, ohne von den Verfahren nach der Richtlinie 2014/24 Gebrauch zu machen, da auf die vorliegende Rechtssache einige der Ausnahmen nach Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie anwendbar seien.

37.      In den folgenden Abschnitten werde ich zunächst den einschlägigen Prüfungsrahmen festlegen (1) und anschließend das Vorbringen der Parteien anhand dieses Rahmens prüfen (2). Ich werde zu dem Ergebnis kommen, dass nicht angenommen werden kann, dass die in Rede stehende nationale Regelung nach ihrem gegenwärtigen Stand vollständig vom Anwendungsbereich der in den vorliegenden Schlussanträgen erörterten Ausnahmeregelungen abgedeckt ist, und dass sie daher gegen die Bestimmungen der Richtlinie 2014/24 verstößt (3).

1.      Einschlägiger Prüfungsrahmen

a)      Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2014/24 und Art. 346 Abs. 1 Buchst. a AEUV

38.      In Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2014/24 sind vier Fälle genannt, in denen diese Richtlinie „keine Anwendung [findet]“. Es handelt sich bei diesen Ausnahmen von der Anwendung der Richtlinie, die, wie die Überschrift dieser Bestimmung verdeutlicht(5), alle Vergabeverfahren im Bereich „Verteidigung und Sicherheit“ betreffen, um die folgenden.

39.      Erstens findet die Richtlinie 2014/24 gemäß Unterabs. 1 ihres Art. 15 Abs. 2 keine Anwendung auf öffentliche Aufträge, „soweit der Schutz wesentlicher Sicherheitsinteressen eines Mitgliedstaats nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen … gewährleistet werden kann“. Zweitens findet die Richtlinie nach Unterabs. 2 ihres Art. 15 Abs. 2 keine Anwendung, soweit „ein Mitgliedstaat [durch ihre Anwendung] verpflichtet würde, Informationen zu übermitteln, deren Offenlegung nach seiner Auffassung seinen wesentlichen Sicherheitsinteressen zuwiderlaufen würde“. Drittens sieht Art. 15 Abs. 3 zwei weitere Fälle vor, wonach die Richtlinie dann keine Anwendung findet, wenn der öffentliche Auftrag i) „für geheim erklärt“ wird oder ii) „nach den in einem Mitgliedstaat geltenden Rechts- oder Verwaltungsvorschriften besondere Sicherheitsmaßnahmen [erfordert]“. Dies gilt nach diesem Absatz ferner nur insoweit, als „der Mitgliedstaat festgestellt hat, dass die betreffenden wesentlichen Interessen nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen … gewährleistet werden können“.

40.      Darüber hinaus ist auch darauf hinzuweisen, dass sich aus Art. 346 Abs. 1 Buchst. a AEUV für die im vorliegenden Verfahren in Rede stehende Fallgestaltung offenbar keine weitere (oder eigenständige) Ausnahme ergibt. Art. 15 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2014/24 verweist nämlich ausdrücklich auf Art. 346 Abs. 1 Buchst. a AEUV(6), und die beiden Bestimmungen sind sehr ähnlich formuliert. Die erstere Bestimmung stellt daher meines Erachtens innerhalb des von der Richtlinie 2014/24 geregelten Bereichs eine Ausgestaltung des in der letzteren Bestimmung geregelten Grundsatzes dar. Dementsprechend bedarf es meines Erachtens nach Prüfung des Vorbringens der Parteien anhand der Bestimmungen der Richtlinie keiner gesonderten und eigenständigen Prüfung nach Art. 346 Abs. 1 Buchst. a AEUV mehr(7). Hierzu sei am Rande darauf hingewiesen, dass das Vorbringen der Parteien mit diesem Ansatz offenbar im Einklang steht.

41.      Die polnische Regierung stützt sich auf drei in Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2014/24 geregelte Ausnahmen, d. h. auf alle außer derjenigen für geheime Aufträge (im Folgenden: in Rede stehende Ausnahmen). Diese Regierung trägt jedoch weder in ihren schriftlichen noch in ihren mündlichen Erklärungen etwas mit konkretem Bezug zu einer dieser Ausnahmen vor, und auch das Vorbringen der Kommission ist insoweit nicht konkreter, was es meines Erachtens nahelegt, dass beide Parteien, zumindest grundsätzlich, darin übereinstimmen, dass der Prüfungsrahmen für die drei in Rede stehenden Ausnahmen weitgehend der gleiche ist.

42.      Ich bin ebenfalls dieser Ansicht. Trotz gewisser Unterschiede im Wortlaut der verschiedenen Absätze oder Unterabsätze von Art. 15 der Richtlinie 2014/24(8) und einer gewissen, möglicherweise verwirrend erscheinenden Terminologie(9) weisen sie die gleichen wesentlichen Elemente auf und erfordern somit eine relativ ähnliche Prüfung durch den Gerichtshof.

b)      Anwendungsbereich der in Rede stehenden Ausnahmen

43.      Die in Rede stehenden Ausnahmen ermöglichen jedem Mitgliedstaat im Wesentlichen, die Vergabe bestimmter Dienstleistungen von den in der Richtlinie 2014/24 vorgesehenen Verfahren auszunehmen, wenn die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind: i) Die geschützten öffentlichen Interessen stehen in Bezug zu „Sicherheitsinteressen“ dieses Mitgliedstaats, ii) diese Interessen können als „wesentlich“ angesehen werden, iii) die Anwendung der betreffenden Richtlinie könnte nach Ansicht dieses Mitgliedstaats den Schutz dieser Interessen beeinträchtigen, und iv) der Schutz dieser Interessen kann nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen gewährleistet werden.

44.      Ich werde jetzt versuchen, die Bedeutung dieser Voraussetzungen zu klären.

1)      Begriff „wesentliche Sicherheitsinteressen“

45.      Was die Voraussetzungen i) und ii) angeht, ist es Sache jedes Mitgliedstaats, die konkreten öffentlichen Interessen festzulegen, die seine „wesentlichen Sicherheitsinteressen“ darstellen(10). Zugleich kann jedoch das Ermessen, über das die Mitgliedstaaten insoweit verfügen, nicht unbegrenzt sein, da den Begriffen wesentlich und Sicherheit ansonsten jede praktische Wirksamkeit genommen würde.

46.      Meines Erachtens ist anzuerkennen, dass eine genaue und abschließende Definition von „Sicherheit“ eine unerfüllbare Aufgabe ist. Was von diesem Begriff tatsächlich umfasst ist, hängt meines Erachtens von einer Vielzahl von Faktoren ab, die je nach Mitgliedstaat und im Lauf der Zeit variieren können. Entsprechendes gilt für die Konkretisierung, dass die von den Mitgliedstaaten geschützten sicherheitsbezogenen Interessen „wesentlich“ sein müssen. Dieses Adjektiv erfordert eine Prüfung, die, jedenfalls in gewissem Maß, zwangsläufig subjektiv sein muss: Vieles hängt von historischen, politischen und geopolitischen Erwägungen ab, die von Staat zu Staat unterschiedlich sein können(11).

47.      Sollen jedoch die Voraussetzungen nach Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2014/24 nicht auf eine bloße Formalität reduziert werden, muss der Gerichtshof in der Lage sein, zu prüfen, ob ein Mitgliedstaat mit der Berufung auf die in Rede stehenden Ausnahmen seinen Ermessensspielraum dadurch überschritten hat(12), dass durch die Ausnahme von der öffentlichen Ausschreibung Interessen geschützt werden sollen, die entweder in keinem oder lediglich in einem losen Bezug zur Sicherheit stehen(13).

48.      Insoweit entspricht der Begriff „Sicherheit“, der sowohl in Art. 15 der Richtlinie 2014/24 als auch in Art. 346 AEUV vorkommt, den Begriffen „öffentliche Sicherheit“(14) und „nationale Sicherheit“(15), die in mehreren Rechtsvorschriften des Unionsrechts zu finden sind, und ist weitgehend deckungsgleich mit dem Begriff „innere Sicherheit“(16), der in einer Reihe anderer Rechtsvorschriften des Unionsrechts vorkommt (wenngleich wohl erheblich weiter als dieser).

49.      Wie der Gerichtshof zum Begriff „nationale Sicherheit“ festgestellt hat, entspricht er „dem zentralen Anliegen, die wesentlichen Funktionen des Staates und die grundlegenden Interessen der Gesellschaft zu schützen, und umfasst die Verhütung und Repression von Tätigkeiten, die geeignet sind, die tragenden Strukturen eines Landes im Bereich der Verfassung, Politik oder Wirtschaft oder im sozialen Bereich in schwerwiegender Weise zu destabilisieren und insbesondere die Gesellschaft, die Bevölkerung oder den Staat als solchen unmittelbar zu bedrohen“(17). Mit anderen Worten bezieht sich dieser Begriff auf Belange der Sicherheit der Organe oder der Bevölkerung eines Mitgliedstaats vor Bedrohungen eines Staates von einer gewissen Bedeutung aufgrund von Umständen, die interner Natur (organisierte Kriminalität, Aufruhr usw.) oder externer Natur (nachrichtendienstliche Tätigkeit oder Abwehr nachrichtendienstlicher Tätigkeit, Cyberkriegsführung usw.) sein können. Solche Bedrohungen können für diesen Staat spezifisch sein (wie etwa paramilitärische oder bewaffnete nationalistische Gruppen) oder weltweiten Charakter haben (wie etwa eine tödliche Pandemie), ihr Eintritt kann auf menschliches Handeln (Nuklearunfälle, Umweltkatastrophen, Terrorakte usw.) oder auf natürliche Ursachen (Erdbeben, Tsunamis, Überschwemmungen usw.) zurückzuführen sein.

50.      Der Begriff „wesentlich“ wiederum impliziert zwangsläufig eine gewisse Selektivität im Hinblick auf die öffentlichen Aufgaben und Interessen, die (selbst wenn sie sicherheitsbezogen sind) unter die in Rede stehenden Ausnahmen fallen können. Meines Erachtens ist dieser Begriff dahin zu verstehen, dass er diese Ausnahmen auf Kernbestandteile der Sicherheitspolitik der Mitgliedstaaten beschränkt und solche Belange ausschließt, die lediglich mittelbar oder in losem Bezug die öffentliche Sicherheit betreffen(18).

51.      Klarzustellen ist, dass meines Erachtens zweifellos bei einer Vielzahl von Fallgestaltungen, die beispielsweise mit der öffentlichen Gesundheit, dem Schutz der Umwelt, der Achtung des Privatlebens, den öffentlichen Finanzen usw. in Verbindung stehen, möglicherweise dann, wenn sie systemischer Natur sind oder ein großes Ausmaß haben, angenommen werden könnte, dass sie auch Belange der öffentlichen Sicherheit berühren. Ich wäre jedoch sehr zurückhaltend, mich einer Auslegung von Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2014/24 dahin anzuschließen, dass die Reichweite der dort geregelten Ausnahmen auf Interessen ausgedehnt würde, die, wenn sie betroffen wären, unmittelbare und offensichtliche Auswirkungen auf die Sicherheit der Organe oder Bevölkerung eines Mitgliedstaats hätten.

52.      Dieser Ansatz dürfte mit dem Auslegungsgrundsatz im Einklang stehen, wonach Ausnahmen von allgemein anwendbaren unionsrechtlichen Vorschriften, wie die im vorliegenden Klageverfahren in Rede stehenden, eng auszulegen sind(19).

2)      Beeinträchtigung

53.      Zu der oben in Nr. 43 genannten Voraussetzung iii sind drei Anmerkungen angezeigt, die schon auf dem Wortlaut von Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2014/24 aufbauen.

54.      Erstens stellt der Wortlaut der Bestimmung, der den Beurteilungsspielraum des Mitgliedstaats betont („nach seiner Auffassung“, „festgestellt hat“), klar, dass ein Mitgliedstaat keinen eindeutigen und unwiderlegbaren Nachweis dafür erbringen muss, dass die Anwendung der Richtlinie 2014/24 auf bestimmte öffentliche Aufträge den Schutz seiner wesentlichen Sicherheitsinteressen tatsächlich beeinträchtigen würde. Es genügt, dass ein Mitgliedstaat auf der Grundlage konkreter und glaubhafter Anhaltspunkte(20) darlegt, warum er vernünftige Gründe für die Ansicht hat(21), dass die Anwendung der Vorschriften für die öffentliche Auftragsvergabe auf bestimmte öffentliche Aufträge seine wesentlichen Sicherheitsinteressen beeinträchtigen könnte(22).

55.      Zweitens ergibt sich aus dem Vorstehenden auch, dass es sich bei der von einem Mitgliedstaat geltend gemachten Bedrohung der Sicherheitsinteressen nicht um eine tatsächliche oder gewisse Bedrohung handeln muss; potenzielle Risiken reichen meines Erachtens aus(23). Diese Risiken dürfen jedoch nicht rein spekulativer oder hypothetischer Natur sein, sondern müssen wirklich bestehen.

56.      Drittens deutet der Wortlaut von Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2014/24 („der Schutz … nicht … gewährleistet werden kann“, „Offenlegung … zuwiderlaufen“, „betreffenden … Interessen nicht … gewährleistet werden können“) auch darauf hin, dass die (tatsächlichen oder potenziellen) Sicherheitsbedrohungen ein Mindestmaß an Gewichtigkeit aufweisen müssen. Meines Erachtens kann schwerlich angenommen werden, dass der Wortlaut dieser Bestimmung Ereignisse oder Fallgestaltungen erfasst, die wegen ihres begrenzten Ausmaßes, ihrer begrenzten Tragweite und Auswirkungen keine hinreichend schwerwiegende Bedrohung für das ordnungsgemäße Funktionieren der Organe eines Mitgliedstaats und das allgemeine Wohl seiner Bevölkerung darstellen(24).

57.      Diese Voraussetzungen sind meines Erachtens einer gerichtlichen Kontrolle zugänglich. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Maßnahmen, die von den Mitgliedstaaten im Rahmen der berechtigten Belange von nationalem Interesse getroffen werden, nicht schon deshalb in ihrer Gesamtheit der Anwendung des Unionsrechts entzogen, weil sie namentlich im Interesse der öffentlichen Sicherheit ergehen(25). Insbesondere können weder Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2014/24 noch Art. 346 Abs. 1 Buchst. a AEUV als eine Ermächtigung der Mitgliedstaaten dazu ausgelegt werden, durch bloße Berufung auf diese Interessen von den Bestimmungen der Richtlinie abzuweichen(26).

58.      Angesichts des erheblichen Spielraums, der den Mitgliedstaaten insoweit eingeräumt ist(27), sollte der Gerichtshof jedoch meines Erachtens einen Prüfungsmaßstab der Vernünftigkeit oder Plausibilität anwenden(28).

3)      Verhältnismäßigkeit der Maßnahme

59.      Schließlich besteht die oben in Nr. 43 genannte Voraussetzung iv darin, dass keine „weniger einschneidenden Maßnahmen“ zur Verfügung stehen. Um sich wirksam auf die Ausnahmen nach Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2014/24 berufen zu können, muss ein Mitgliedstaat demnach im Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nachweisen, dass die Ausnahme von Ausschreibungsverfahren für die betreffenden öffentlichen Aufträge eine Maßnahme darstellt, die geeignet und erforderlich ist, um seine wesentlichen Sicherheitsinteressen zu schützen.

60.      Insoweit bedarf ein konkreter Punkt möglicherweise einer Klarstellung: Nach Ansicht der polnischen Regierung soll es den Mitgliedstaaten nach den in Rede stehenden Bestimmungen freistehen, das Maß des Schutzes ihrer Sicherheitsinteressen auf dem ihrer Ansicht nach richtigsten Niveau festzulegen. Folglich könnten die zur Gewährleistung dieses Schutzniveaus erlassenen nationalen Maßnahmen nur dann als unverhältnismäßig angesehen werden, wenn dieses Schutzniveau auch durch zur Verfügung stehende alternative Maßnahmen erreicht werden könne. Ein Mitgliedstaat könne demnach nicht gezwungen werden, ein niedrigeres als das gewählte Schutzniveau hinzunehmen, weil die alternativen Maßnahmen den Handel innerhalb der Union weniger einschränkten.

61.      Die in der mündlichen Verhandlung an sie gerichtete Frage, ob sie diesen Standpunkt teile, hat die Kommission verneint. Mit einer Begründung ihrer Ansicht hat sie sich meines Erachtens jedoch offenbar schwergetan, jedenfalls hat sie keine Bestimmung des Unionsrechts angeführt, aufgrund derer die Europäische Union befugt wäre, die in dieser Hinsicht getroffenen Wahlentscheidungen der Mitgliedstaaten zu überprüfen.

62.      Insoweit bin ich geneigt, mich dem Standpunkt der polnischen Regierung anzuschließen. Solange nicht eine Frage ihrer Art und Dimension nach die Sicherheit der Europäischen Union berührt und damit unter die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik fällt(29), hat die Union keine konkrete Zuständigkeit für die nationale/öffentliche Sicherheit der Mitgliedstaaten. Die einschlägigen Bestimmungen des Vertrags sollen nämlich im Wesentlichen Grenzen für das Handeln der Europäischen Union festlegen – und zwar entweder allgemein(30) oder für das Handeln in bestimmten Bereichen (wie dem Binnenmarkt(31) und dem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts(32)) –, wenn dieses die Sicherheitsinteressen der Mitgliedstaaten berühren kann. Wie der Gerichtshof wiederholt hervorgehoben hat, ergibt sich aus Art. 4 Abs. 2 EUV, dass „die nationale Sicherheit weiterhin in die alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten fällt“(33).

c)      Beweislast

63.      Es ist allgemein anerkannt, dass es im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258 AEUV der Kommission obliegt, das Vorliegen der behaupteten Vertragsverletzung nachzuweisen. Dieses Organ hat dem Gerichtshof die erforderlichen Anhaltspunkte zu liefern, die es ihm ermöglichen, das Vorliegen dieser Vertragsverletzung zu prüfen, und kann sich nicht auf irgendeine Vermutung stützen(34).

64.      Hat die Kommission genügend Anhaltspunkte vorgebracht, um die maßgebenden Tatsachen darzutun, obliegt es dem beklagten Mitgliedstaat, die so vorgebrachten Anhaltspunkte und die sich daraus ergebenden Folgen substantiiert zu bestreiten(35). Insbesondere obliegt es dann, wenn ein Mitgliedstaat sich, wie in der vorliegenden Rechtssache, auf eine im Unionsrecht vorgesehene Ausnahme beruft, diesem Mitgliedstaat, nachzuweisen, dass die maßgeblichen Voraussetzungen erfüllt sind(36). Die Beweislast, die den beklagten Mitgliedstaat trifft, umfasst die Verpflichtung, die Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit der von ihm erlassenen Maßnahme zu prüfen und genaue Angaben zur Stützung seines Vorbringens zu machen(37).

65.      Die diesem Mitgliedstaat obliegende Darlegungslast darf jedoch nicht so weit gehen, so der Gerichtshof weiter, dass er positiv belegen müsste, dass sich das öffentliche Ziel mit keiner anderen vorstellbaren Maßnahme unter den gleichen Bedingungen erreichen ließe(38). Dies bedeutet meines Erachtens, dass die Mitgliedstaaten vor dem Erlass von Ausnahmeregelungen vom Unionsrecht sorgfältig zu prüfen haben, ob nicht auf weniger einschränkende Maßnahmen zurückgegriffen werden könnte(39), dass von ihnen jedoch nicht erwartet werden kann, sämtliche alternativen Maßnahmen zu ermitteln, die hypothetisch in Betracht gezogen werden könnten, und zu erläutern, warum diese sämtlich zu verwerfen sind. Dem würde ich hinzufügen, dass von einem Mitgliedstaat nicht verlangt werden kann, alternative Maßnahmen zu ergreifen, wenn die Durchführbarkeit oder Wirksamkeit dieser Maßnahmen ungewiss ist oder wenn sie zu einer nicht hinnehmbaren (organisatorischen oder finanziellen) Belastung der betreffenden Mitgliedstaaten führen würden.

66.      Anhand dieses Prüfungsrahmens werde ich nun die Begründetheit des Vorbringens der Parteien prüfen.

2.      Würdigung des Vorbringens der Parteien

67.      Um festzustellen, ob die Republik Polen in der vorliegenden Rechtssache gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 2014/24 verstoßen hat, ist erstens zu prüfen, ob die Interessen, die die in Rede stehende nationale Regelung schützen sollte, als „wesentliche Sicherheitsinteressen“ im Sinne von Art. 15 Abs. 2 und 3 dieser Richtlinie angesehen werden können. Zweitens ist zu prüfen, ob der betreffende Mitgliedstaat vernünftige Gründe für die Ansicht hatte, dass die Anwendung der Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge auf die betreffenden öffentlichen Aufträge reale und hinreichend schwerwiegende Bedrohungen für die öffentliche Sicherheit nach sich ziehen konnte. Drittens ist die Verhältnismäßigkeit der in Rede stehenden nationalen Regelung zu prüfen.

68.      An dieser Stelle sind jedoch einige Vorbemerkungen angezeigt.

a)      Vorbemerkungen

69.      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die rechtliche Beurteilung in der vorliegenden Rechtssache bisweilen dadurch erschwert wird, dass beide Parteien ihr Vorbringen zumeist eher allgemein gefasst haben, während die in Rede stehende nationale Regelung, wie von der Kommission zutreffend vorgetragen, Aufträge für die Herstellung einer recht großen und vielfältigen Bandbreite von Dokumenten und sonstigen Gegenständen von der öffentlichen Auftragsvergabe ausnimmt.

70.      Diese Dokumente und Gegenstände können meines Erachtens für die Zwecke des vorliegenden Verfahrens nicht als Teil einer homogenen Gruppe behandelt werden. Sie beinhalten nicht ähnliche Informationen und erfüllen nicht die gleiche Funktion. Auch werden sie mindestens in gewissem Maß aus unterschiedlichen Materialien und mit unterschiedlichen Techniken hergestellt. Die Gründe für die Ausnahme dieser Dokumente von öffentlichen Ausschreibungen sind unterschiedlich; ferner ist unbestreitbar, dass sie sich im Hinblick darauf, wie sensibel sie sind und inwieweit sie geeignet sind, Sicherheitsinteressen der Republik Polen zu berühren, sogar erheblich unterscheiden.

71.      Es kann daher kaum überraschen, dass die von einer der Parteien vorgebrachten Argumente häufig durchaus in gewissem Maß berechtigt erscheinen, allerdings nur für einige der in Rede stehenden Dokumente. Diese Inkongruenz zwischen dem rechtlichen Vorbringen der Parteien und der zugrunde liegenden Sachverhaltssituation hat meines Erachtens erhebliche Auswirkungen auf die rechtliche Beurteilung, die vom Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache verlangt wird, und insbesondere darauf, wie über den vorliegenden Rechtsstreit entschieden werden kann. Auf diesen Punkt werde ich am Ende der vorliegenden Schlussanträge zurückkommen.

b)      Schutz wesentlicher Sicherheitsinteressen

72.      Die polnische Regierung macht geltend, die Herstellung der in Rede stehenden Dokumente sei eine Tätigkeit, die geeignet sei, ihre wesentlichen Sicherheitsinteressen im Sinne von Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2014/24 zu berühren. Die polnische Regierung trägt mit ihrem Hauptvorbringen im Wesentlichen zweierlei vor. Zum einen beruft sie sich auf die Notwendigkeit, die Kontinuität der Bereitstellung der Dokumente zu gewährleisten, die erforderlich seien, um das ordnungsgemäße und kontinuierliche Funktionieren der öffentlichen Verwaltung zu gewährleisten. Zum anderen betont sie, dass für die Tätigkeit der Herstellung der betreffenden Dokumente vertrauliche (oder geheime) Informationen verwendet werden müssten, die unbefugten Personen nicht offengelegt werden dürften, sowie spezifische Techniken und Fachkenntnisse angewendet werden müssten, die nicht an solche Personen gelangen dürften. Die polnische Regierung verweist insoweit auf Sicherheitsbedrohungen, die durch Phänomene wie Cyberkriegsführung, Terrorismus, organisierte Kriminalität, Menschenhandel und Schleusung von Migranten hervorgerufen würden.

73.      Meines Erachtens fällt es in den Ermessensspielraum eines Mitgliedstaats, die Gewährleistung der Kontinuität der Bereitstellung der Dokumente, die für das ordnungsgemäße Funktionieren seines Verwaltungsapparats erforderlich sind, als eines seiner wesentlichen Sicherheitsinteressen anzusehen. Ich habe auch keine Schwierigkeiten damit, der polnischen Regierung darin zuzustimmen, dass die Bekämpfung von Cyberkriegsführung, Terrorismus, organisierter Kriminalität, Menschenhandel und Schleusung von Migranten nicht nur eindeutig unter den Begriff der „nationalen/öffentlichen Sicherheit“ fällt, sondern auch als Kern- – und damit „wesentlicher“ – Bestandteil ihrer Sicherheitspolitik angesehen werden kann.

74.      Dies vorausgeschickt, ist darauf hinzuweisen, dass sowohl in den schriftlichen Erklärungen als auch in der mündlichen Verhandlung die Frage aufgeworfen wurde, ob die Ausnahme bestimmter spezifischer Dokumente von den Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge wirklich mit der Bekämpfung der oben genannten Bedrohungen in Zusammenhang steht. Meines Erachtens blieb die polnische Regierung in ihren Antworten auf diesen Punkt eher vage und wies letztlich auf andere Ziele hin, die mit den betreffenden Ausnahmen verfolgt würden. Insbesondere wies sie auf die folgenden öffentlichen Interessen hin: i) Schutz der Verbraucher und der öffentlichen Gesundheit in Bezug auf die Zulassung zur Tätigkeit als Arzt oder Zahnarzt, ii) Schutz des öffentlichen Haushalts in Bezug auf Steuerzeichen, iii) Gewährleistung der Sicherheit von Fahrzeugen in Bezug auf die deren Status betreffenden Dokumente und iv) Gewährleistung des Vertrauens der Öffentlichkeit in das Ergebnis von Wahlen in Bezug auf Stimmzettel und holografische Zeichen auf Wahlscheinen.

75.      Während die Gewährleistung des Vertrauens der Öffentlichkeit in die Fairness von Wahlen meines Erachtens als eines der wesentlichen Sicherheitsinteressen eines Mitgliedstaats anerkannt werden kann, ist der Vortrag der polnischen Regierung zu den weiteren, in der vorstehenden Nummer der vorliegenden Schlussanträge genannten Interessen meines Erachtens nicht überzeugend. Wie erwähnt, kann es Umstände geben, unter denen davon ausgegangen werden kann, dass Bedrohungen für die öffentliche Gesundheit wesentliche Sicherheitsinteressen berühren. Auch wäre meines Erachtens nicht auszuschließen, dass unter ganz außergewöhnlichen Umständen Bedrohungen für die öffentlichen Finanzen eine solche Tragweite und Schwere haben können, dass angenommen werden könnte, dass sie Auswirkungen auf die wesentlichen Sicherheitsinteressen eines Mitgliedstaats haben(40). Es sind jedoch nicht ohne Weiteres Umstände vorstellbar, unter denen Fragen des Verbraucherschutzes oder der Sicherheit des Straßenverkehrs unter den Begriff „wesentliche Sicherheitsinteressen“ passen sollten.

76.      Unabhängig von den vorstehenden Ausführungen ist meines Erachtens jedoch nicht ersichtlich – und wurde von der polnischen Regierung auch nichts dazu vorgetragen –, dass eine spezifische Bedrohung oder Gefahr für die öffentliche Gesundheit, den Verbraucherschutz, die Sicherheit des Straßenverkehrs oder die öffentlichen Finanzen in der vorliegenden Rechtssache die Mindestschwelle an Gewichtigkeit erreichen könnte, um plausibel als „wesentliches Sicherheitsinteresse“ angesehen werden zu können. So sind beispielsweise die, von dieser Regierung behaupteten, Tatsachen, dass das Vorliegen falscher Bescheinigungen für Ärzte dazu führe, dass bestimmte Einzelpersonen von Personen behandelt würden, die nicht über die ordnungsgemäßen ärztlichen Befähigungen verfügen, und dass das Vorliegen falscher Steuerzeichen dazu führe, dass dem polnischen Staatshaushalt Einnahmeausfälle entständen, meines Erachtens allein offensichtlich nicht ausreichend, um die Anwendung der Ausnahmen nach Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2014/24 zu rechtfertigen.

77.      Im Übrigen gibt es unter den in Rede stehenden Dokumenten auch einige, für die die polnische Regierung die logische Verbindung zum Schutz ihrer Sicherheitsinteressen nicht dargelegt hat. Auch aus meiner Sicht gibt es für diese Dokumente keine solche offensichtliche Verbindung. Es handelt sich, um nur einige wenige zu nennen, etwa um Legalisierungszeichen und Kontrollaufkleber im Sinne des Straßenverkehrsgesetzes, Seefahrtbücher, Dokumente im Zusammenhang mit Personenstandsurkunden, vollstreckbare Titel, Urteile oder Anordnungen, die von Gerichten oder Justizbeamten ausgestellt wurden, Luftfahrzeugbesatzungsmitgliedern ausgestellte Bescheinigungen, Ausweise, die eine Behinderung bescheinigen, Führerscheine, Fahrzeughefte, Fahrtenschreiberkarten und Dienstausweise bestimmter öffentlicher Bediensteter wie Bediensteter der Steuer- und Zollverwaltung oder Straßenverkehrsinspektoren.

78.      Aufgrund der vorstehenden Erwägungen kann die Republik Polen meines Erachtens in der vorliegenden Rechtssache von den in Rede stehenden Ausnahmen insoweit wirksam Gebrauch machen, als die Ausnahmen von den Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge darauf abzielen, i) diesen Mitgliedstaat vor Bedrohungen zu schützen, die durch Cyberkriegsführung, Terrorismus, organisierte Kriminalität, Menschenhandel und Schleusung von Migranten hervorgerufen werden, ii) das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Ergebnisse von Wahlen zu gewährleisten und iii) die Bereitstellung von Dokumenten zu gewährleisten, die für das ordnungsgemäße Funktionieren der öffentlichen Verwaltung erforderlich sind. Dagegen sind meines Erachtens sonstige geltend gemachte Gefahren für die Sicherheit der Republik Polen, wie etwa solche für die öffentliche Gesundheit, den Verbraucherschutz, die Sicherheit des Straßenverkehrs und die öffentlichen Finanzen, nicht geeignet, die Anwendung der in Rede stehenden Ausnahmen zu rechtfertigen.

c)      Beeinträchtigung der Sicherheitsinteressen

79.      Was die Wahrscheinlichkeit und Schwere der Beeinträchtigung der betroffenen Sicherheitsinteressen angeht, kann die polnische Regierung meines Erachtens vernünftigerweise die Ansicht vertreten, dass die Tätigkeit der Herstellung der in Rede stehenden Dokumente dann, wenn sie an ein Unternehmen vergeben würde, das keine hohen Sicherheitsnormen erfüllt, sowohl reale als auch erhebliche Bedrohungen für seine wesentlichen Sicherheitsinteressen schaffen könnte.

80.      Unter bestimmten Umständen könnte der Schaden, der durch Offenlegungen entstehen könnte, wie von der polnischen Regierung vorgebracht und von der Kommission anerkannt, nahezu irreversibler Art sein. Der Schaden könnte nachhaltig und schwer zu beheben sein. Die gefälschten Dokumente könnten über eine bestimmte Zeit im Umlauf bleiben, und es könnten ohne Weiteres neue hergestellt werden. Es ist nicht auszuschließen, dass im äußersten Fall bestimmte Änderungen an den für die Ausstellung einiger der in Rede stehenden Dokumente angewendeten Verfahren und Techniken erforderlich werden können, um weitere Bedrohungen künftig zu vermeiden.

81.      Ich bezweifle jedoch, dass bei jedem einzelnen der in der betreffenden Aufzählung enthaltenen Dokumente im Fall einer Störung in seiner Herstellung davon ausgegangen werden könnte, dass sie eine hinreichend schwerwiegende Bedrohung für das ordnungsgemäße Funktionieren der polnischen öffentlichen Verwaltung hervorruft. Die Notwendigkeit, die Kontinuität der Bereitstellung zu gewährleisten, kann meines Erachtens nur für solche Dokumente wirksam geltend gemacht werden, die für den Verwaltungsapparat für wesentliche staatliche Funktionen absolut unerlässlich und unersetzbar sind, so dass selbst eine relativ geringe Verzögerung bei der Lieferung dieser Dokumente nicht hingenommen werden könnte. Die große Mehrheit der in Rede stehenden Dokumente dürfte diese Kriterien meines Erachtens nicht erfüllen.

d)      Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

82.      Drittens ist zu prüfen, ob die Entscheidung der polnischen Regierung, die betreffenden öffentlichen Aufträge von der Anwendung der Vorschriften über die öffentliche Ausschreibung auszunehmen, mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist. In Anbetracht schon des Wortlauts der in Rede stehenden Bestimmungen(41) scheint mir jedoch zur Wahrung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich der nationalen/öffentlichen Sicherheit nur eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit in zwei Schritten gerechtfertigt(42). Dies bedeutet, dass der Gerichtshof nur prüfen muss, ob die in Rede stehende nationale Regelung geeignet ist, das erklärte Ziel zu erreichen, und nicht über das hinausgeht, was hierzu unbedingt erforderlich ist.

1)      Geeignetheit der Maßnahme

83.      Erstens kann, was die Geeignetheit der Ausnahme zur Erreichung ihres erklärten Ziels angeht, die Beurteilung relativ einfach ausfallen: Meines Erachtens ist recht offensichtlich, dass die Zentralisierung der Herstellung der in Rede stehenden Dokumente auf eine einzige Einheit, die im alleinigen Besitz des Staates steht, von ihm unmittelbar beherrscht wird und die im polnischen Hoheitsgebiet tätig ist, geeignet ist, die Risiken zu verringern, dass i) unbefugte Beschäftigte Zugang zu sensiblem Material und vertraulichen (oder geheimen) Informationen erhalten und somit die betreffenden Dokumente fälschen oder die hierfür notwendige Technik und notwendigen Fachkenntnisse reproduzieren könnten(43), und ii) das Unternehmen in finanzielle Schwierigkeiten geraten könnte, die die Kontinuität der Bereitstellung der in Rede stehenden Dokumente gefährden könnte.

84.      Die Behörden können nämlich in alle von der betreffenden Einheit getroffenen wesentlichen Entscheidungen (operativer, geschäftlicher, technischer, personalbezogener Art usw.) eingreifen – und gegebenenfalls das letzte Wort haben. Die Kontrollbefugnisse (z. B. in den Geschäftsräumen des Unternehmens oder über die Beschäftigten der Einheit) können gegebenenfalls auch durch Anwendung der Befugnisse von Polizeikräften ausgeübt werden. Der Umstand, dass der Auftragnehmer im Alleinbesitz des Staates steht (und dass nach nationalem Recht für die Veräußerung von Anteilen an ihm bestimmte Einschränkungen gelten), ist ebenfalls eine Garantie dafür, dass das Eigentum am Auftragnehmer nicht „in die falschen Hände gelangen“ kann, was gegebenenfalls bei Unternehmen geschehen könnte, deren Anteile öffentlich an der Börse gehandelt werden. Weiterhin sollte die Beherrschung durch die öffentliche Hand den zuständigen Behörden ermöglichen, Situationen finanzieller Schwierigkeiten des Unternehmens leichter und schneller festzustellen und somit rechtzeitig geeignete Abhilfemaßnahmen ergreifen zu können.

85.      Die in Rede stehende nationale Regelung dürfte daher geeignet sein, einen sinnvollen Beitrag zum Schutz der von der Republik Polen geltend gemachten Sicherheitsinteressen zu leisten.

2)      Erforderlichkeit der Maßnahme

86.      Der zweite Aspekt – derjenige der Erforderlichkeit der Maßnahme – wirft meines Erachtens komplexere Fragen auf.

87.      Die entscheidende Frage ist, ob die polnische Regierung dargetan hat, dass die Anwendung der in Rede stehenden Ausnahmen erforderlich war, um ihre wesentlichen Sicherheitsinteressen zu schützen. Hierzu musste diese Regierung nachweisen, dass eine Ausschreibung, wie sie nach der Richtlinie 2014/24 vorgesehen ist, dem Erfordernis des Schutzes solcher Interessen nicht hätte gerecht werden können(44).

88.      In diesem Zusammenhang ist im Blick zu behalten, dass nach dem Vortrag der polnischen Regierung im vorliegenden Verfahren das von ihr gewählte Niveau des Schutzes der betroffenen Interessen besonders hoch ist. Dies ist ein Gesichtspunkt, der, wie oben in den Nrn. 60 bis 62 erwähnt, bei der Prüfung, ob es weniger einschränkende Maßnahmen gibt, zu berücksichtigen ist.

89.      Die Kommission ist im Wesentlichen der Ansicht, dass strenge technische Spezifikationen (nach Art. 42 der Richtlinie 2014/24(45)) und Eignungskriterien (nach Art. 58 der Richtlinie 2014/24(46)) in Verbindung miteinander zum Schutz der von der polnischen Regierung geltend gemachten Interessen ebenso wirksam wären wie die Ausnahme von der öffentlichen Ausschreibung. Die Kommission weist auch auf die Bestimmungen hin, die den öffentlichen Auftraggebern unter bestimmten Umständen ermöglichen, öffentliche Aufträge zu ändern (Art. 72 der Richtlinie 2014/24(47)) und zu kündigen (Art. 73 der Richtlinie 2014/24(48)).

90.      Meines Erachtens ist das Vorbringen der Kommission in gewissem Maß berechtigt. Was die Gewährleistung der Kontinuität der Bereitstellung angeht, kann nämlich nicht davon ausgegangen werden, dass private Unternehmen von vornherein geringere Garantien bieten. Wie von der polnischen Regierung in der mündlichen Verhandlung bestätigt, ist PWPW eine „Aktiengesellschaft“, d. h. eine in ihrer Haftung beschränkte Gesellschaft, die sich – zumindest formal – von vielen anderen im Eigentum von Privaten stehenden Unternehmen nicht unterscheidet. Als solche kann dieses Unternehmen in finanzielle Schwierigkeiten geraten und im Fall einer erheblichen Verschlechterung seiner finanziellen Lage sogar insolvent werden.

91.      Mir ist selbstverständlich bewusst, dass die polnische Regierung alles ihr Mögliche tun würde, um die finanzielle Lebensfähigkeit dieses Unternehmens zu erhalten und es gegebenenfalls vor einem Insolvenzverfahren zu bewahren. Wie von der Kommission zu Recht hervorgehoben, kann es für die dieser Regierung hierfür zur Verfügung stehenden Möglichkeiten jedoch Grenzen geben. Es könnten u. a. die Unionsvorschriften über die Kontrolle staatlicher Beihilfen Anwendung finden. In diesem Zusammenhang darf nicht übersehen werden, dass PWPW mit einer Reihe von Tätigkeiten (Grafikdesign, Herstellung und Personalisierung verschiedener Dokumente, Angebot von IT‑Lösungen usw.) und auf geografischen Märkten (sowohl innerhalb als auch außerhalb der Europäischen Union) tätig ist, wo sie mit anderen Unternehmen im Wettbewerb steht.

92.      Meines Erachtens könnten eine Reihe von Maßnahmen ohne Weiteres in Betracht gezogen werden, um die von der polnischen Regierung geltend gemachten Risiken für die Kontinuität der Bereitstellung zu minimieren. Beispielsweise ist diese Regierung in keiner Weise daran gehindert, von Bietern/Auftragnehmern u. a. etwa zu verlangen, i) strenge finanzielle Kriterien für die Teilnahme an der Ausschreibung zu erfüllen, ii) regelmäßig detaillierte Jahresabschlüsse und Berichte vorzulegen, um der Verwaltung eine Überwachung der „Gesundheit“ des Unternehmens zu ermöglichen, und iii) sich für den Fall einer Insolvenz (oder des unerwarteten Unvermögens zur ordnungsgemäßen Erfüllung des Auftrags) dazu zu verpflichten, die Herstellung abzugeben.

93.      Die in Rede stehende nationale Regelung geht daher meines Erachtens insoweit, als sie die Kontinuität der Bereitstellung der in Rede stehenden Dokumente gewährleisten soll, über das hinaus, was zur Gewährleistung des Schutzes der von der polnischen Regierung geltend gemachten wesentlichen Sicherheitsinteressen erforderlich ist. Das gleiche Schutzniveau könnte für diese Interessen auch dann erreicht werden, wenn die Herstellung der betreffenden Dokumente im Wege eines wettbewerblichen Ausschreibungsverfahrens an ein oder mehrere Unternehmen vergeben würde.

94.      Dagegen dürften die von der Kommission angeführten Maßnahmen, was die Notwendigkeit der Vermeidung einer Offenlegung von Informationen oder Technik angeht, meines Erachtens nicht ebenso wirksam sein wie die Ausnahme von der öffentlichen Ausschreibung. Mit anderen Worten würden diese alternativen Maßnahmen meines Erachtens nicht das gleiche, von der polnischen Regierung gewählte Maß des Schutzes erreichen.

95.      Zunächst hat die bloße Aufnahme von Regelungen in den Auftrag, die im Fall von Offenlegungen oder sonstigen Verstößen gegen Sicherheitsvorschriften eine Haftung für Fehlverhalten oder eine finanzielle Haftung sowie Schadensersatz vorsehen, meines Erachtens eindeutig keine vergleichbare Wirksamkeit: Der Sinn und Zweck der Ausnahme bestimmter Aufträge von der öffentlichen Ausschreibung liegt gerade darin, das Risiko des Eintritts eines solchen Schadens zu minimieren. Dass ex post facto vom Auftragnehmer ein finanzieller Schadensersatz geleistet wird oder Sanktionen aufgrund eines Fehlverhaltens gegen die betreffenden Personen greifen, dürfte für die Republik Polen kaum von Nutzen sein und stellt somit keinen wirksamen Ersatz für robustere Ex-ante-Maßnahmen dar, die Verstößen vorbeugen können. Ich bin mir selbstverständlich bewusst, dass Schadensersatz- und Haftungsbestimmungen auch der Abschreckung potenzieller Rechtsverletzer dienen. Geht es jedoch darum, Personen, die möglicherweise z. B. mit Terrorgruppen, ausländischen Geheimdiensten oder mächtigen kriminellen Organisationen in Verbindung stehen, von dem Bestreben abzuhalten, Zugang zu hochsensiblen Informationen zu erlangen, erscheinen die präventiven Wirkungen solcher Bestimmungen eher begrenzt.

96.      Nach Ansicht der Kommission soll der polnischen Regierung die Möglichkeit, gegebenenfalls hoheitliche Befugnisse der Polizeikräfte zur Überwachung des betreffenden Unternehmens und seiner Beschäftigten einzusetzen, gewährleistet werden können, indem der Auftragnehmer verpflichtet werde, seine Tätigkeiten in Polen auszuüben. Die Kommission verweist insoweit darauf, dass andere Unternehmen mit Sitz im Inland bereits jetzt über die erforderlichen Sicherheitsnachweise zur Durchführung von Tätigkeiten der von PWPW durchgeführten Art verfügten.

97.      Das Vorbringen der Kommission erscheint zum Teil durchaus berechtigt. Der Auftragnehmer könnte in der Tat dazu angehalten werden, die sensibelsten Dokumente in Polen herzustellen, um eine wirksamere Überwachung und gegebenenfalls Durchsetzung durch die Behörden zu ermöglichen.

98.      Die polnische Regierung darf jedoch – meines Erachtens berechtigterweise – die Möglichkeit einer Einflussnahme auf oder Aufsicht über bestimmte wesentliche Entscheidungen des Unternehmens als wichtig betrachten, die unmittelbare oder mittelbare Auswirkungen auf die Sicherheit der von diesem Unternehmen ausgeübten Tätigkeiten haben könnten (etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, die Einstellung von Mitarbeitern). Es lässt sich kaum in Abrede stellen, dass das Maß an Einflussnahme, das die öffentliche Verwaltung auf ein im öffentlichen Eigentum stehendes Unternehmen ausüben könnte, größer ist als gegenüber einem im privaten Eigentum stehenden Unternehmen, und zwar unabhängig davon, welche Bestimmungen und Garantien in den Auftrag aufgenommen werden könnten. Wie mehrfach erwähnt, ist die Wahl des richtigen Schutzniveaus für die betroffenen Interessen grundsätzlich Sache der Republik Polen.

99.      Diese Erwägungen gelten entsprechend auch für die Herstellung von Stimmzetteln und holografischen Zeichen auf Wahlscheinen.

100. Demnach kann die Republik Polen sich meines Erachtens auf Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2014/24 berufen, soweit die Ausnahmen von der öffentlichen Ausschreibung Dokumente betreffen, deren Fälschung nachteilige Auswirkungen auf die Bekämpfung – durch diesen Staat – von Cyberkriegsführung, Terrorismus, Menschenhandel, Schleusung von Migranten und organisierter Kriminalität haben kann, und soweit sie Dokumente betreffen, die Auswirkungen auf die Ordnungsmäßigkeit und Fairness der Wahlen (oder ihre öffentliche Wahrnehmung) haben können.

3.      Ergebnisse: Entscheidung über die vorliegende Rechtssache

101. Die vorstehende Würdigung führt mich zu folgenden Ergebnissen.

102. Erstens können einige der von der polnischen Regierung im vorliegenden Verfahren geltend gemachten Interessen als „wesentliche Sicherheitsinteressen“ im Sinne von Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2014/24 angesehen werden. Dies gilt meines Erachtens für die Notwendigkeiten i) der Bekämpfung von Cyberkriegsführung, Terrorismus, Menschenhandel, Schleusung von Migranten und organisierter Kriminalität, ii) der Gewährleistung der Kontinuität der Bereitstellung der Dokumente, die für das ordnungsgemäße Funktionieren der öffentlichen Verwaltung erforderlich sind, und iii) der Gewährleistung des Vertrauens der Öffentlichkeit in das faire Ergebnis der Wahlen. Dagegen spricht in der vorliegenden Rechtssache nichts dafür, dass Interessen der öffentlichen Gesundheit, des Verbraucherschutzes, der Sicherheit des Straßenverkehrs und des Schutzes der öffentlichen Finanzen als „wesentliche Sicherheitsinteressen“ im Sinne der Richtlinie 2014/24 einzustufen sein sollten.

103. Zweitens hat die Republik Polen meines Erachtens vernünftige Gründe dafür, die Ansicht zu vertreten, dass die Bedrohungen, die sie mit der in Rede stehenden nationalen Regelung ausschließen oder minimieren will, als real und hinreichend schwerwiegend anzusehen sind. Eine solche Bedrohung ist meines Erachtens dagegen nicht ersichtlich, soweit die Dokumente, für die die Republik Polen die Kontinuität der Bereitstellung gewährleisten will, nicht unersetzbar oder für das ordnungsgemäße Funktionieren der staatlichen Verwaltung unerlässlich sind.

104. Drittens wahrt die in Rede stehende nationale Regelung, soweit sie die Herstellung der in Rede stehenden Dokumente auf eine einzige Einheit zentralisiert, die im alleinigen Besitz des Staates steht und von ihm unmittelbar beherrscht wird, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nur teilweise. Konkreter kann die Erreichung des von der polnischen Regierung gewählten richtigen Schutzniveaus nur für die Dokumente als erforderlich angesehen werden, deren Fälschung die Bekämpfung von Cyberkriegsführung, Terrorismus, Menschenhandel, Schleusung von Migranten oder organisierter Kriminalität durch die Republik Polen oder das Vertrauen der Öffentlichkeit in das Ergebnis der Wahlen tatsächlich beeinträchtigen kann. Dagegen gibt es, um den von dieser Regierung geltend gemachten Risiken für die Kontinuität der Bereitstellung der in Rede stehenden Dokumente vorzubeugen, alternative, weniger einschneidende Maßnahmen.

105. Aus sämtlichen vorstehenden Ausführungen folgt, dass meines Erachtens die Kommission und die Republik Polen im vorliegenden Verfahren beide teils obsiegen und teils unterliegen. In diesem Fall wird natürlich zur entscheidenden Frage, inwieweit der vorliegenden Klage stattgegeben und inwieweit sie abgewiesen werden sollte.

106. Zur Beantwortung dieser Frage muss ich jetzt auf den Gesichtspunkt zurückkommen, den ich in meinen Vorbemerkungen angesprochen habe: Sowohl die Kommission als auch die polnische Regierung haben ihr Vorbringen zumeist eher allgemein gefasst, während die in Rede stehende nationale Regelung die Herstellung einer recht großen und vielfältigen Bandbreite von Dokumenten und sonstigen Gegenständen von der öffentlichen Auftragsvergabe ausnimmt(49).

107. Auf die in der mündlichen Verhandlung an sie gerichtete Frage, ob sie die besonderen Merkmale jedes Dokuments ihrer Ansicht nach gebührend berücksichtigt hätten, haben beide Parteien die Ansicht vertreten, dass sie hierzu nicht verpflichtet seien. Die polnische Regierung hat ihre Ansicht wiederholt, dass sämtliche der in Rede stehenden Dokumente von zentraler Bedeutung für den Schutz ihrer Sicherheitsinteressen seien und sie somit von der öffentlichen Auftragsvergabe ausgenommen werden könnten. Die Kommission hat ihrerseits vorgebracht, dass die polnische Regierung es bisher abgelehnt habe, diesen Punkt in sachdienlicher Form zu erörtern, und dass es jedenfalls dieser Regierung oblegen habe, dem Gerichtshof die Besonderheiten für jedes Dokument zu erläutern.

108. Ich kann nicht verhehlen, dass mich diese Antworten in gewissem Maß enttäuscht haben. Dieser Ansatz der Parteien führt nämlich dazu, dass ich trotz sorgfältiger Würdigung des Vorbringens der Kommission und der Einwände der Republik Polen sowie einer Prüfung der von beiden Parteien vorgelegten Beweise keine genaue Abgrenzung zwischen den Dokumenten, die berechtigterweise von den Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge ausgenommen werden können, und denjenigen, bei denen dies nicht der Fall ist, vornehmen kann.

109. Üblicherweise stellt im Rahmen einer Direktklage die fehlende Substantiierung des Vorbringens einer Partei kein großes verfahrensrechtliches Problem dar: Der Gerichtshof kann über die verschiedenen streitigen Fragen nach den Grundsätzen der Verteilung der Beweislast(50) entscheiden. In der vorliegenden Rechtssache ist jedoch meines Erachtens für einige Aspekte des Rechtsstreits besonders schwer feststellbar, welcher Partei der Beweis (oder Gegenbeweis) einer bestimmten Tatsache obliegt. Bei einem solchen verfahrensrechtlichen Pingpong, bei dem die Beweislast jedes Mal wechselt, sobald eine Partei einen Prima-facie-Beweis erbracht hat, kann es bisweilen eine schwierige Entscheidung sein, wer, metaphorisch gesprochen, den Punkt gemacht hat.

110. Auch würde ich ein gewisses Unbehagen dabei empfinden, dem Gerichtshof vorzuschlagen, über den vorliegenden Rechtsstreit nach automatischer (und somit, so müsste man wohl sagen, blinder) Anwendung der Beweislastregeln zu entscheiden. Es ist zwar Sache jeder Partei, den Ansatz, den sie für ihre Prozessstrategie verfolgen will, sorgfältig auszuwählen, da die diesbezüglichen Entscheidungen oft folgenreich sind. Wird von einem Gericht über eine Sache endgültig entschieden, ohne dass gegen diese Entscheidung ein Rechtsmittel eingelegt werden kann, wird die Sache rechtskräftig und kann somit nicht mehr Gegenstand eines weiteren Rechtsstreits sein.

111. Ist ein gerichtliches Verfahren also einmal abgeschlossen, wird jede andere „alternative“ Realität durch die prozessuale Realität verdrängt.

112. Jedoch wäre ich, auch wenn dies unter normalen Umständen als etwas ganz Selbstverständliches angesehen werden kann, zurückhaltend, im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahren eine Anwendung dieses Ansatzes bis zum Äußersten zu befürworten, die im äußersten Fall dazu führen könnte, dass Richter ihren gesunden Menschenverstand ausblenden und Entscheidungen gegen die Vernunft treffen.

113. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs hat er in solchen Verfahren das Vorliegen der beanstandeten Vertragsverletzungen festzustellen, auch wenn der beklagte Mitgliedstaat sie nicht bestreitet(51). Dies lässt sich meines Erachtens durch die potenziell sehr weitreichenden Folgen erklären, die sich für einen Mitgliedstaat aus einer Verurteilung nach Art. 258 oder 259 AEUV ergeben können: Dieser Mitgliedstaat ist dann verpflichtet, die angefochtene nationale Maßnahme zu ändern. Dies gilt auch unabhängig davon, ob er bei besserer Verteidigung hätte belegen können, dass diese Maßnahme tatsächlich mit dem Unionsrecht im Einklang stand(52). Wird die angefochtene nationale Maßnahme nicht geändert, setzt sich dieser Mitgliedstaat möglicherweise finanziellen Sanktionen(53) oder Haftungsklagen aus(54).

114. Ist nicht ganz eindeutig, wer was zu beweisen hatte, weil beide Parteien offenbar dafür verantwortlich sind, dass der Sach- und Streitstand nach den Akten unvollständig ist, könnte meines Erachtens ein sinnvoller Ansatz seitens des Gerichtshofs darin liegen, eine Entscheidung über solche Fragen zu vermeiden, die für die Entscheidung über den Rechtsstreit nicht strikt unerlässlich sind. Dies dürfte in einer Rechtssache wie der vorliegenden meines Erachtens von besonderer Bedeutung sein, in der die Entscheidung, dem Vorbringen der Klägerin oder dem des Beklagten zu folgen, unmittelbare Auswirkungen auf den Schutz bestimmter wesentlicher Sicherheitsinteressen eines Mitgliedstaats haben könnte.

115. Vor diesem Hintergrund hat der Gerichtshof meines Erachtens grundsätzlich zwei Optionen.

116. Zum einen könnte der Gerichtshof, wie in einigen frühen Rechtssachen so entschieden, in denen es ihm die von beiden Parteien gemachten Angaben seiner Auffassung nach nicht erlaubten, die Streitfragen mit hinreichender Sicherheit zu beurteilen, ein Zwischenurteil erlassen. In solchen Zwischenurteilen gab der Gerichtshof den Parteien auf, bestimmte durch den Rechtsstreit aufgeworfene Fragen im Licht der in diesen Urteilen enthaltenen Hinweise erneut zu prüfen und dem Gerichtshof bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu berichten, nach dem er endgültig entscheiden werde(55).

117. Zum anderen könnte der Gerichtshof einfach feststellen, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 1 Abs. 1 und 3 und Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2014/24 in Verbindung mit Art. 346 Abs. 1 Buchst. a AEUV verstoßen hat, dass sie die Herstellung bestimmter Dokumente, Vordrucke und Zeichen von den Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge dieser Richtlinie ausgenommen hat. Aus meiner Würdigung ergibt sich nämlich, dass die in Rede stehende nationale Regelung ohne Zweifel eine (wahrscheinlich große) Zahl von Dokumenten, auf die die Ausnahmen in Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2014/24 nicht anwendbar sind, von den Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge ausnimmt.

118. Aus Gründen der Prozessökonomie wäre meines Erachtens die zweite Option vorzugswürdig. Zu betonen wäre insoweit meines Erachtens, dass der Gerichtshof in Anbetracht der Anträge der Kommission(56) weder ultra petita noch infra petita entscheiden würde. Zugleich würde das Urteil des Gerichtshofs der polnischen Regierung hinreichend Hinweise dazu geben, wie die betreffende nationale Regelung geändert werden muss, um Übereinstimmung mit dem Unionsrecht herzustellen. Es ist nämlich im Blick zu behalten, dass nach ständiger Rechtsprechung der Tenor des Urteils, in dem die vom Gerichtshof im Rahmen einer Klage nach Art. 258 AEUV festgestellte Vertragsverletzung bezeichnet wird, im Licht der Entscheidungsgründe dieses Urteils zu verstehen ist(57).

119. Außerdem könnte jede etwaig künftig zwischen der Kommission und der Republik Polen auftretende Meinungsverschiedenheit über die Frage, ob eine vollständige Umsetzung des Urteils des Gerichtshofs durch die Republik Polen erfolgreich erreicht wurde, gegebenenfalls i) im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 260 Abs. 2 AEUV und, sollte sie auch danach fortbestehen, ii) im Rahmen einer Nichtigkeitsklage der Republik Polen nach Art. 263 AEUV gegen eine Entscheidung der Kommission über die Notwendigkeit und Höhe der von diesem Mitgliedstaat zu zahlenden Sanktionen geklärt werden(58).

120. Aus allen diesen Gründen sollte der Gerichtshof meines Erachtens feststellen, dass die in Rede stehende nationale Regelung, nach ihrem gegenwärtigen Stand, die Voraussetzungen nach Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2014/24 nicht erfüllt und daher gegen die Bestimmungen dieser Richtlinie verstößt.

VI.    Kosten

121. Nach Art. 138 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs trägt dann, wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt, jede Partei ihre eigenen Kosten, es sei denn der Gerichtshof entscheidet, dass eine Partei außer ihren eigenen Kosten einen Teil der Kosten der Gegenpartei trägt, wenn dies in Anbetracht der Umstände des Einzelfalls gerechtfertigt erscheint.

122. In der vorliegenden Rechtssache haben sowohl die Kommission als auch die Republik Polen beantragt, der Gegenpartei die Kosten aufzuerlegen, und obsiegen teilweise und unterliegen teilweise. Demnach ist meines Erachtens richtigerweise jede Partei zur Tragung ihrer eigenen Kosten zu verurteilen.

VII. Ergebnis

123. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor,

–        festzustellen, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 1 Abs. 1 und 3 und Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG in Verbindung mit Art. 346 Abs. 1 Buchst. a AEUV verstoßen hat, dass sie die Herstellung bestimmter Dokumente, Vordrucke und Zeichen von den Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge der Richtlinie 2014/24 ausgenommen hat, und

–        der Europäischen Kommission und der Republik Polen jeweils ihre eigenen Kosten aufzuerlegen.




























































Leave a Comment

Schreibe einen Kommentar