C-596/19 P – Kommission/ Ungarn

C-596/19 P – Kommission/ Ungarn

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2020:835

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 15. Oktober 2020(1)

Rechtssache C596/19 P

Europäische Kommission

gegen

Ungarn

„Rechtsmittel – Staatliche Beihilfen – Art. 107 Abs. 1 AEUV – Umsatzbasierte Werbesteuer – Vorteil und Selektivität – Prüfungsmaßstab bei Schaffung des Referenzsystems – Kohärenz des Referenzsystems – Vorteil bei progressivem Steuersatz – Prüfungsmaßstab bei Ausnahme vom Referenzsystem – Vorteil durch Verlustberücksichtigungsmöglichkeit im ersten Steuerjahr – Ungleichbehandlung – Rechtfertigungsgründe für ungleiche Behandlung – Übergangsregelung als Beihilfe“

I.      Einleitung

1.        Das vorliegende Rechtsmittel gibt dem Gerichtshof die Möglichkeit, sich erneut(2) mit der Überprüfung eines neu geschaffenen Steuergesetzes am Maßstab des Beihilferechts zu beschäftigen. Dem internationalen Trend folgend hat Ungarn eine direkte Unternehmenssteuer nicht am Gewinn, sondern am Umsatz ausgerichtet, wobei eine progressive Tarifstruktur gewählt wurde. Damit sollen – ähnlich wie in der von der Kommission vorgeschlagenen EU-Digitalsteuer(3) – vor allem Unternehmen mit hohen Umsätzen (mithin große Unternehmen) erfasst und besteuert werden. Für das erste Steuerjahr sah das Gesetz übergangsweise noch eine anteilige Berücksichtigung eventueller Verluste aus dem vorangegangenen Jahr vor.

2.        Da der durchschnittliche Steuersatz mit der Größe des Umsatzes ansteigt, erfolgt damit eine gewisse Verschonung beziehungsweise Umverteilung der Steuerlast zugunsten der „kleineren“ Unternehmen. Auch wenn sich die geplante Digitalsteuer auf EU-Ebene und die Werbesteuer in Ungarn insoweit ähneln, sieht die Kommission in der ungarischen Steuer eine Beihilfe zugunsten der „zu niedrig besteuerten“ kleineren Unternehmen. Auch die Verlustberücksichtigungsmöglichkeit im Jahr der Steuereinführung begünstige die Unternehmen mit Verlusten im Vorjahr im Vergleich zu Unternehmen ohne solche Verluste. Deswegen hat die Kommission Ungarn aufgefordert, die damit verbundenen Beihilfen zurückzufordern, mithin die Steuer mit einem Steuersatz von 5,3 % nachzuerheben. Ungarn hat die Werbesteuer daraufhin rückwirkend aufgehoben, sieht aber in dem Handeln der Kommission – ähnlich wie Polen in einem Parallelverfahren(4) – einen Eingriff in seine Steuerautonomie.

3.        Damit stellt sich im vorliegenden Rechtsmittelverfahren nicht nur die Frage, ob eine progressive Unternehmenssteuer überhaupt einen selektiven Vorteil im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV darstellen kann. Es stellt sich auch die Frage, ob das Beihilferecht das richtige Instrumentarium ist, um die nationale Steuergesetzgebung in dieser Tiefe zu überprüfen und, wie hier geschehen, über Jahre zu blockieren. Damit verbunden ist die Frage, ob im Beihilferecht der Prüfungsmaßstab bezüglich allgemein gehaltener Steuergesetze nicht ein anderer als bei individuellen Zuwendungen sein sollte.

4.        Zu bedenken ist auch, dass über die Grundfreiheiten bereits eine intensive Diskriminierungskontrolle stattfindet. Vorliegend hat der Gerichtshof bereits zwei ähnliche umsatzbasierte direkte Unternehmenssteuern in Ungarn mit ihrer Umverteilungslogik als mit den Grundfreiheiten vereinbar beurteilt.(5) Zwar sind die Vergleichsgruppen unterschiedlich, worauf die Kommission in der mündlichen Verhandlung zutreffend hingewiesen hat: Die Grundfreiheiten verbieten im Steuerrecht eine Benachteiligung der ausländischen Unternehmen, das Beihilfeverbot einer Bevorzugung „bestimmter Unternehmen“. Beide Diskriminierungsverbote dienen aber der Verwirklichung des Binnenmarktes. Ist eine Maßnahme mit dem Diskriminierungsverbot der Grundfreiheiten vereinbar, dürfte sie in der Regel auch keine binnenmarktwidrige Beihilfe sein.

5.        Das Gericht(6) erblickte in dem allgemeinen ungarischen Steuergesetz keinen selektiven Vorteil für andere Unternehmen – weder in dem progressiven Steuersatz noch in der Verlustberücksichtigungsmöglichkeit. Das greift die Kommission mit ihrem Rechtsmittel an, und der Gerichtshof muss nun prüfen, ob darin eine Beihilfe zu sehen ist.

II.    Rechtlicher Rahmen

6.        Den rechtlichen Rahmen bilden die Art. 107 ff. AEUV. Das Verfahren bei rechtswidrigen Beihilfen ist in Kapitel III der Verordnung (EU) 2015/1589 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Art. 108 AEUV(7) (im Folgenden Verordnung 2015/1589) geregelt.

III. Hintergrund des Rechtsstreits

7.        Am 11. Juni 2014 erließ Ungarn das Gesetz Nr. XXII von 2014 über die Werbesteuer (im Folgenden: Werbesteuergesetz). Mit dem Gesetz, das am 15. August 2014 in Kraft trat, wurde eine neue Sondersteuer mit progressiv gestaffelten Steuersätzen auf Einkünfte eingeführt, die in Ungarn mit der Verbreitung von Werbung erzielt werden (im Folgenden: Werbesteuer). Diese Steuer wurde zusätzlich zu bestehenden Unternehmenssteuern, insbesondere der Körperschaftsteuer, erhoben. Während der von der Kommission durchgeführten beihilferechtlichen Prüfung des Werbesteuergesetzes erklärten die ungarischen Behörden, Ziel dieser Steuer sei es, den Grundsatz der öffentlichen Lastenverteilung zu fördern.

8.        Nach dem Werbesteuergesetz unterliegt der Werbesteuer, wer Werbung verbreitet. Steuerpflichtig sind somit die Herausgeber der Werbung (Zeitungen, audiovisuelle Medien, Anzeigendienste), jedoch weder die Inserenten noch die Werbeagenturen, die als Vermittler zwischen den Inserenten und den Werbungsverbreitern fungieren. Steuerbemessungsgrundlage ist der mit der Verbreitung von Werbung in einem Geschäftsjahr erzielte Nettoumsatz. Räumlicher Geltungsbereich der Steuer ist Ungarn.

9.        Der progressive Steuertarif war wie folgt festgelegt:

–        0 % für den Teil der Bemessungsgrundlage unter 0,5 Mrd. ungarische Forint (HUF) (rund 1 562 000 Euro);

–        1 % für den Teil der Bemessungsgrundlage zwischen 0,5 Mrd. HUF und 5 Mrd. HUF (rund 15 620 000 Euro);

–        10 % für den Teil der Bemessungsgrundlage zwischen 5 Mrd. HUF und 10 Mrd. HUF (rund 31 240 000 Euro);

–        20 % für den Teil der Bemessungsgrundlage zwischen 10 Mrd. HUF und 15 Mrd. HUF (rund 47 000 000 Euro);

–        30 % für den Teil der Bemessungsgrundlage zwischen 15 Mrd. HUF und 20 Mrd. HUF (rund 62 500 000 Euro);

–        40 % für den Teil der Bemessungsgrundlage über 20 Mrd. HUF (rund 94 000 000 Euro) (Dieser letztere Steuersatz wurde ab dem 1. Januar 2015 auf 50 % angehoben).

10.      Steuerpflichtige, deren Gewinn im Geschäftsjahr 2013 vor Steuern gleich null oder negativ war, konnten vorgetragene Verluste früherer Geschäftsjahre in Höhe von 50 % von ihrer Bemessungsgrundlage für 2014 abziehen (im Folgenden als Verlustberücksichtigungsmöglichkeit bezeichnet).

11.      Mit Beschluss vom 12. März 2015 leitete die Kommission das förmliche beihilferechtliche Prüfverfahren gemäß Art. 108 Abs. 2 AEUV im Hinblick auf das Werbesteuergesetz ein, wobei sie die progressive Struktur der Steuer und die Verlustberücksichtigungsmöglichkeit als staatliche Beihilfen betrachtete. In diesem Beschluss vertrat die Kommission die Auffassung, bei dem progressiven Steuersatz werde zwischen Unternehmen mit hohen Werbeeinnahmen (und somit großen Unternehmen) und Unternehmen mit geringen Werbeeinnahmen (und somit kleinen Unternehmen) unterschieden. Letzteren werde auf Grundlage ihrer Größe ein selektiver Vorteil gewährt. Auch durch die Verlustberücksichtigungsmöglichkeit für Unternehmen, die 2013 keinen Gewinn erwirtschaftet hätten, werde ein selektiver Vorteil und somit eine staatliche Beihilfe gewährt.

12.      Im Rahmen dieses Beschlusses erließ die Kommission eine Anordnung zur Aussetzung der in Rede stehenden Maßnahme. Daraufhin änderte Ungarn die Werbesteuer durch das am 4. Juni 2015 erlassene Gesetz Nr. LXII von 2015. Der aus sechs Steuersätzen zwischen 0 % und 50 % bestehende progressive Steuertarif wurde durch den folgenden aus zwei Steuersätzen bestehenden Tarif ersetzt:

–        0 % für den Teil der Bemessungsgrundlage unter 100 Mio. HUF (rund 312 000 Euro);

–        5,3 % für den Teil der Bemessungsgrundlage über 100 Mio. HUF.

13.      Die Kommission schloss das förmliche Prüfverfahren mit Erlass des Beschlusses (EU) 2017/329 vom 4. November 2016 über die Maßnahme SA.39235 (2015/C) (ex 2015/NN) Ungarns bezüglich der Besteuerung von Werbeumsätzen(8) (im Folgenden: Negativbeschluss) ab.

14.      In Art. 1 des Negativbeschlusses stellte die Kommission fest, dass die steuerrechtliche Regelung, die durch das Gesetz Nr. XXII von 2014 über die Werbesteuer, einschließlich seiner am 4. Juni 2015 geänderten Fassung, eingeführt wurde und die aus progressiven Steuersätzen sowie aus Bestimmungen bestehe, die für Unternehmen, die 2013 keinen Gewinn erwirtschaftet hätten, eine Verlustberücksichtigungsmöglichkeit vorsähen, eine staatliche Beihilfe darstelle. Diese habe Ungarn unter Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 AEUV rechtswidrig gewährt. Sie sei im Hinblick auf Art. 107 AEUV auch mit dem Binnenmarkt unvereinbar. In Art. 4 des Negativbeschlusses gab die Kommission Ungarn auf, die für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärten Beihilfen von den Empfängern zurückzufordern.

15.      Zu diesem Zweck sollten die ungarischen Behörden von Unternehmen mit Werbeumsätzen für den Zeitraum zwischen dem Inkrafttreten der Werbesteuer im Jahr 2014 und dem Datum ihrer Aufhebung bzw. ihres Ersatzes durch eine beihilferechtlich einwandfreie Regelung die Differenz zwischen folgenden Beträgen zurückfordern: dem Steuerbetrag (1), den die Unternehmen bei Anwendung eines mit dem Beihilferecht übereinstimmenden Bezugssystems (einer Steuerregelung mit einem einheitlichen Steuersatz von 5,3 %, falls die ungarischen Behörden keinen anderen Satz festlegten, ohne Abzug vorgetragener Verluste) hätten zahlen müssen, und dem Steuerbetrag (2), den die Unternehmen zu zahlen verpflichtet waren oder bereits gezahlt hatten. Für den Fall, dass die Differenz zwischen Steuerbetrag (1) und Steuerbetrag (2) positiv sein sollte, musste somit der Beihilfebetrag zuzüglich Zinsen ab Fälligkeit der Steuer zurückgefordert werden.

16.      Eine Rückforderung wäre der Kommission zufolge jedoch nicht erforderlich, wenn Ungarn die fragliche Steuerregelung rückwirkend zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens im Jahr 2014 aufheben würde. Für die Zukunft, z. B. ab 2017, könnte Ungarn dann eine Steuerregelung ohne Progression einführen, bei der nicht zwischen den besteuerten Wirtschaftsakteuren unterschieden würde.

17.      Die Kommission begründete die Einstufung der fraglichen Steuerregelung als Beihilfe im Kern wie folgt.

18.      Mit dem Erlass des Werbesteuergesetzes habe Ungarn auf Einnahmen verzichtet, die es andernfalls von Unternehmen mit einem geringeren einschlägigen Umsatz (und somit von kleineren Unternehmen) hätte erheben müssen, wenn diese derselben Besteuerung unterlegen hätten wie Unternehmen mit höherem Umsatz (und somit größere Unternehmen).

19.      Dabei wies die Kommission darauf hin, dass Maßnahmen, welche die von den Unternehmen normalerweise zu tragenden Belastungen verminderten, genauso wie positive Leistungen einen Vorteil verschafften. Im vorliegenden Fall seien Unternehmen mit niedrigem Umsatz dadurch, dass sie einem wesentlich niedrigeren Durchschnittssteuersatz unterlägen, im Vergleich zu Unternehmen mit hohem Umsatz weniger belastet worden, was den kleineren Unternehmen gegenüber größeren Unternehmen einen Vorteil verschafft habe.

20.      Auch der Umstand, dass das Werbesteuergesetz für Unternehmen, die 2013 keinen Gewinn erwirtschaftet hätten, eine Verlustberücksichtigungsmöglichkeit vorsieht, stelle einen Vorteil dar. Die Steuerbelastung dieser Unternehmen werde im Vergleich zu Unternehmen, die von dieser Steuererleichterung keinen Gebrauch machen könnten, verringert.

21.      Bei der Prüfung der Selektivität stellte die Kommission zunächst fest, das Bezugssystem bestehe in einer speziellen Werbesteuer auf mit Werbedienstleistungen erzielte Umsätze. Jedoch könnten die progressiven Steuersätze der Werbesteuer nicht als Teil dieses Bezugssystems betrachtet werden. Das Bezugssystem sei nämlich selbst nur dann frei von staatlichen Beihilfen, wenn es zwei Voraussetzungen erfülle. Alle Werbeumsätze müssten einem einheitlichen Steuersatz unterliegen (1), und es dürfe kein Element geben, das bestimmten Unternehmen einen selektiven Vorteil verschaffe (2).

22.      Die Kommission vertrat sodann die Ansicht, die progressive Struktur der Besteuerung stelle insoweit, als sie für die Unternehmen nicht nur zu unterschiedlichen Grenzsteuersätzen, sondern auch zu unterschiedlichen Durchschnittssteuersätzen führe, eine Abweichung von dem Bezugssystem dar, das eine Werbesteuer mit einem einheitlichen Steuersatz für alle Unternehmen vorsehe, die in Ungarn Werbung verbreiteten.

23.      Auch der Umstand, dass allein Unternehmen, die 2013 keinen Gewinn erwirtschaftet hätten, eine Verlustberücksichtigungsmöglichkeit hätten, stelle eine Abweichung von dem Bezugssystem, d. h. von der Regel, dar, Betreiber auf der Grundlage ihres Werbeumsatzes zu besteuern. Da die Werbesteuer auf der Besteuerung des Umsatzes beruhe, könnten – anders als bei der Besteuerung des Gewinns – Kosten von der Steuerbemessungsgrundlage nicht abgezogen werden. Durch die Maßnahme werde eine willkürliche Unterscheidung zwischen zwei Gruppen von Unternehmen eingeführt, die sich in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befänden, nämlich Unternehmen mit Verlustvorträgen, die 2013 keinen Gewinn, und Unternehmen, die 2013 Gewinne erzielt hätten. Der Abzug von Verlusten, die zum Zeitpunkt des Erlasses des Werbesteuergesetzes bereits bestanden hätten, habe eine Selektivität zur Folge, weil bestimmte Unternehmen mit erheblichen Verlustvorträgen durch die Gewährung solcher Abzüge bevorzugt würden.

24.      Zu der 2015 geänderten Fassung der Werbesteuer erklärte die Kommission, diese beruhe auf denselben Grundsätzen und Merkmalen wie die Werbesteuer von 2014. Demzufolge war die Kommission der Auffassung, dass das 2015 geänderte Werbesteuergesetz weiterhin genau die Elemente aufweise, die sie schon im Zusammenhang mit der Regelung von 2014 als staatliche Beihilfen gewertet habe.

25.      Am 16. Januar 2017 hat Ungarn gegen den Negativbeschluss Klage erhoben. Der am gleichen Tag von Ungarn gestellte Antrag auf Aussetzung des Vollzugs des Negativbeschlusses wurde mit Beschluss vom 23. März 2017 zurückgewiesen.(9)

26.      Am 16. Mai 2017 erließ Ungarn das Gesetz Nr. XLVII von 2017 zur Änderung des Werbesteuergesetzes. Durch dieses Gesetz wurde im Kern die Werbesteuer rückwirkend aufgehoben.

27.      Mit Beschluss vom 30. Mai 2017 hat der Präsident der Neunten Kammer des Gerichts die Republik Polen als Streithelferin Ungarns zugelassen.

28.      Auf die Klage Ungarns erklärte das Gericht den Negativbeschluss der Kommission mit dem angefochtenen Urteil vom 27. Juni 2019 für nichtig.

IV.    Verfahren vor dem Gerichtshof

29.      Am 6. August 2019 hat die Kommission gegen das Urteil des Gerichts das vorliegende Rechtsmittel eingelegt. Die Kommission beantragt,

–        das angefochtene Urteil aufzuheben;

–        den zweiten und dritten Klagegrund von Ungarn gegen die angefochtenen Beschlüsse zurückzuweisen und ihm die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen;

–        hilfsweise, die Rechtssache an das Gericht zurückzuverweisen, um über die noch nicht geprüften Klagegründe zu entscheiden.

30.      Ungarn, unterstützt durch die Republik Polen, beantragt,

–        das Rechtsmittel als unbegründet zurückzuweisen;

–        der Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

31.      Vor dem Gerichtshof haben Ungarn, Polen und die Kommission schriftlich Stellung genommen und am 1. September 2020 mündlich über das Rechtsmittel verhandelt.

V.      Zu den Rechtsmittelgründen

32.      Die Kommission stützt sich auf zwei Rechtsmittelgründe. Mit dem ersten Rechtsmittelgrund macht die Kommission geltend, das Gericht habe Art. 107 Abs. 1 AEUV falsch angewendet, als es einen selektiven Vorteil der ungarischen Werbesteuer zugunsten der umsatzschwächeren Unternehmen verneint hat. Dem zweiten Rechtsmittelgrund zufolge habe das Gericht Art. 107 Abs. 1 AEUV falsch angewendet, weil die Verlustberücksichtigungsmöglichkeit entgegen der Auffassung des Gerichts einen selektiven Vorteil darstelle.

A.      Zum ersten Rechtsmittelgrund: unrichtige Auslegung von Art. 107 Abs. 1 AEUV

33.      Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund macht die Kommission einen Rechtsfehler des Gerichts bei der Auslegung von Art. 107 Abs. 1 AEUV geltend. Im Ergebnis rügt sie, dass das Gericht zu Unrecht einen selektiven Vorteil und damit eine Beihilfe verneint habe. Sie begründet dies in drei Teilen damit, dass das Gericht einen falschen Referenzrahmen gewählt (dazu 1.a), eine Vergleichbarkeit der Unternehmen im Hinblick auf ein nichtfiskalisches Ziel geprüft (dazu 2.a) und bei der Prüfung der Selektivität ein Ziel berücksichtigt habe, das nicht zwingend mit der Werbesteuer verbunden sei (dazu 2.b).

34.      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs – von der das Gericht auch ausgegangen ist – verlangt die Qualifizierung als „staatliche Beihilfe“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV, dass es sich erstens um eine staatliche Maßnahme oder eine Maßnahme unter Inanspruchnahme staatlicher Mittel handelt. Zweitens muss sie geeignet sein, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Drittens muss dem Begünstigten durch sie ein selektiver Vorteil gewährt werden. Viertens muss sie den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen.(10) Zu überprüfen ist hier allein die Rechtsauffassung des Gerichts zum Merkmal des selektiven Vorteils.

35.      Nach dem üblichen Prüfungsmaßstab ist entscheidend, ob die Voraussetzungen für den steuerrechtlichen Vorteil nach den Maßstäben des nationalen Steuersystems diskriminierungsfrei gewählt worden sind.(11) Dazu ist in einem ersten Schritt die in dem betreffenden Mitgliedstaat geltende allgemeine oder „normale“ Steuerregelung (der sogenannte Referenzrahmen) zu ermitteln. Anhand dieser allgemeinen oder „normalen“ Steuerregelung ist dann in einem zweiten Schritt zu beurteilen, ob der mit der fraglichen Steuermaßnahme gewährte Vorteil eine ungerechtfertigte Ausnahme und somit selektiv ist.(12)

1.      Zum Vorliegen eines selektiven Vorteils beziehungsweise der richtigen Wahl des Referenzrahmens (erster Teil des ersten Rechtsmittelgrundes)

36.      Die Kommission rügt insbesondere, dass das Gericht bei der Überprüfung, ob ein selektiver Vorteil vorliege, den falschen Referenzrahmen gewählt habe. Während die Kommission von einer umsatzbasierten Steuer mit einheitlichem (proportionalen) Tarif (offenbar in Höhe von 5,3 %) ausgegangen ist, habe das Gericht fälschlicherweise auf den vom ungarischen Gesetzgeber gewählten progressiven Tarif abgestellt.

a)      Selektiver Vorteil durch ein allgemeines Steuergesetz: zum Prüfungsansatz bei der Schaffung eines Referenzrahmens

37.      Da Art. 107 Abs. 1 AEUV das Tatbestandsmerkmal eines Referenzrahmens gar nicht enthält und dessen Überprüfung immer wieder größere Schwierigkeiten aufweist – ich verweise insoweit auf die mittlerweile von mehreren Generalanwälten aufgeworfenen Bedenken(13) –, ist dazu etwas weiter auszuholen.

38.      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs gelten Maßnahmen gleich welcher Art, die mittelbar oder unmittelbar Unternehmen begünstigen oder die als ein wirtschaftlicher Vorteil anzusehen sind, den das begünstigte Unternehmen unter normalen Marktbedingungen nicht erhalten hätte, als staatliche Beihilfen.(14)

39.      Diese Rechtsprechung ist auf das Steuerrecht übertragen worden. Eine steuerliche Maßnahme, die zwar nicht mit der Übertragung staatlicher Mittel verbunden ist, aber die Begünstigten finanziell besserstellt als die übrigen Steuerpflichtigen, kann unter Art. 107 Abs. 1 AEUV fallen.(15) Als Beihilfen gelten dabei insbesondere Maßnahmen, die Belastungen vermindern, die ein Unternehmen normalerweise zu tragen hat, und die somit zwar keine Subventionen im strengen Sinne des Wortes darstellen, diesen aber nach Art und Wirkung gleichstehen.(16)

40.      Hintergrund dieser Rechtsprechung waren steuerrechtliche Ausnahmen, die ein einzelnes Unternehmen von der eigentlich geltenden steuerrechtlichen Belastung befreiten oder verschonten.(17) Da im vorliegenden Fall alle Unternehmen von dem Freibetrag (bis 0,5 Mrd. HUF bzw. in der geänderten Fassung von 100 Mio. HUF) und auch alle Unternehmen von den ermäßigten Steuersätzen von 1 % bis 30 % für die Umsatzstufe zwischen 0,5 Mrd. bis 20 Mrd. HUF im Jahr „profitieren“, kann dies nicht der selektive Vorteil sein. Allenfalls der sich aufgrund der progressiven Tarifstruktur ergebende unterschiedliche Durchschnittssteuersatz könnte einen selektiven Vorteil darstellen, der den umsatzschwächeren Steuerpflichtigen begünstigt.

1)      Grundsatz: Bestimmung der „normalen“ Besteuerung durch die Kommission oder den Mitgliedstaat?

41.      Im Ergebnis wirft das erste Rechtsmittel der Kommission die kompetenzrechtliche Frage auf, wer bestimmt, welche steuerliche Belastung ein Unternehmen normalerweise zu tragen hat, so dass die Nichtbesteuerung der anderen deren Vorteil wäre. Nach Ansicht der Kommission ist die „normale“ Besteuerung eine umsatzbasierte Ertragsteuer mit einem proportionalen Steuersatz (in unbekannter Höhe bzw. in Höhe von 5,3 %). Nach Ansicht des ungarischen Gesetzgebers ist die „normale“ Besteuerung eine umsatzbasierte Ertragsteuer mit einem progressiven Steuersatz in der geänderten Fassung von 0 % bis knapp unter 5,3 %. Die aus dem progressiven Tarif resultierenden unterschiedlichen Durchschnittssteuersätze sind die zwingende Folge, mithin die normale Besteuerung. Ungarn beruft sich insoweit auf seine Steuersouveränität.

42.      Auch in der Rechtsprechung des Gerichtshofs wird die Steuerautonomie der Mitgliedstaaten immer wieder betont und berücksichtigt. So hat er in der Großen Kammer erst unlängst wieder entschieden, dass es beim gegenwärtigen Stand der Harmonisierung des Steuerrechts der Union den Mitgliedstaaten freisteht, das ihnen am geeignetsten erscheinende Steuersystem einzuführen, so dass die Anwendung einer progressiven Besteuerung in das Ermessen jedes Mitgliedstaats fällt.(18) In diesem Kontext ist nach Auffassung der Großen Kammer „eine nach dem Umsatz bemessene progressive Besteuerung entgegen dem Vorbringen der Kommission möglich, da die Höhe des Umsatzes zum einen ein neutrales Unterscheidungskriterium darstellt und zum anderen ein relevanter Indikator für die Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen ist“. (19)

43.      Diese Rechtsprechung, die im Rahmen der Grundfreiheiten ergangen ist, gilt gleichermaßen im Beihilferecht. Auch hier hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass mangels einer einschlägigen Unionsregelung die Bestimmung der Bemessungsgrundlage und die Verteilung der Steuerbelastung auf die unterschiedlichen Produktionsfaktoren und Wirtschaftssektoren in die Steuerzuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen.(20) Im Grundsatz kann daher erst eine Ausnahme von diesem autonom gestalteten Steuersystem am Beihilferecht gemessen werden, nicht aber die Schaffung des Steuersystems selbst.

44.      Die Kommission erkennt dies in Rn. 156 ihrer Bekanntmachung zum Begriff der staatlichen Beihilfe im Sinne des Artikels 107 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union(21) im Prinzip an, wenn sie dort ausführt, dass es „[d]en Mitgliedstaaten … frei[steht], ihre wirtschaftspolitischen Maßnahmen nach eigenem Ermessen [im Einklang mit dem Unionsrecht] festzulegen und insbesondere die Steuerlast gemäß ihren Vorstellungen auf die verschiedenen Produktionsfaktoren zu verteilen …“.

45.      Im Übrigen ist mir keine unionsrechtliche Vorschrift bekannt, die den Mitgliedstaaten – jenseits der harmonisierten Steuern – eine konkrete Struktur ihrer nationalen Steuern vorgibt. Mithin kann aus dem Unionsrecht keine „normale“ Besteuerung abgeleitet werden. Ausgangspunkt kann immer nur die Entscheidung des jeweiligen nationalen Gesetzgebers sein, was er als die normale Besteuerung ansieht. Im vorliegenden Fall ist das eine progressiv ausgestaltete Ertragsteuer für Werbeunternehmen, die für die Bemessungsgrundlage auf den Umsatz abstellt.

46.      Der nationale Gesetzgeber kann mithin vor allem den Steuergegenstand, die Steuerbemessungsgrundlage und den Steuertarif bestimmen. Von dieser Befugnis hat Ungarn hier Gebrauch gemacht, indem es eine umsatzbasierte Ertragsteuer für Werbeunternehmen mit einem progressiven Durchschnittssteuersatz von 0 % bis knapp unter 5,3 % (der sich in der geänderten Fassung aus dem Freibetrag und einem proportionalen Tarif ergibt) geschaffen hat. Dem steht das Beihilferecht grundsätzlich nicht entgegen.

2)      Ausnahme: Kohärenzkontrolle durch den Gerichtshof im Urteil Gibraltar

47.      Auch aus der immer wieder von der Kommission zitierten Entscheidung des Gerichtshofs im Urteil Gibraltar folgt nichts Gegenteiliges. Der Gerichtshof hat in dieser Entscheidung zwar das Körperschaftsteuersystem Gibraltars am Maßstab des Beihilferechts geprüft und eine Beihilfe bejaht. Er hat aber nicht seine Auffassung von einer allgemeinen normalen Besteuerung an die Stelle des Mitgliedstaates gesetzt.

48.      In dieser Rechtssache hat der Gerichtshof keineswegs geurteilt, dass das Beihilferecht eine bestimmte Besteuerung vorgibt. Er hat das betroffene Gesetz „lediglich“ auf seine innere Logik überprüft. Ausweislich des damaligen Steuerreformvorhabens sollte eine gleichmäßige gewinnbasierte Ertragsbesteuerung aller Unternehmen, die in Gibraltar niedergelassen sind, eingeführt werden.(22) Die vom Gesetzgeber gewählten Faktoren wie Anzahl der Arbeitnehmer, Geschäftsräume und Eintragungsgebühr hatten aber mit einer gleichmäßigen Ertragsbesteuerung aller Unternehmen evident nichts zu tun. Das Vereinigte Königreich hatte auch gar keinen Versuch unternommen, diese Faktoren zu erklären.(23)

49.      Insofern stellt dieses Urteil des Gerichtshofs zwar eine Ausnahme(24) von dem oben dargestellten Grundsatz dar, wonach die Mitgliedstaaten bei der Bestimmung des Referenzrahmens autonom sind, weil der Gerichtshof in der Tat die Schaffung eines Referenzrahmens auf das Vorliegen einer Beihilfe hin überprüft hat. Aber der Gerichtshof hat hier nichts anderes als eine Art Missbrauchskontrolle bei der Ausübung der mitgliedstaatlichen Steuersouveränität ausgeübt. Im Ergebnis hat er nämlich lediglich überprüft, ob sich der Mitgliedstaat bei der Ausübung seiner Steuersouveränität kohärent (und nicht rechtsmissbräuchlich) verhalten hat.

50.      Dies hat er damals zu Recht verneint. Das Steuergesetz von Gibraltar diente allein der Umgehung des Beihilferechts, indem mit Hilfe einer vermeintlich allgemeinen gewinnbasierten Ertragsbesteuerung eine sehr niedrige Besteuerung bestimmter gewinnorientierter Unternehmen (sogenannter Offshore-Unternehmen) erreicht werden sollte. Darin sahen die Kommission und der Gerichtshof zu Recht eine Beihilfe. Der selektive Vorteil bestand in dem inneren Widerspruch zwischen der Gesetzesbegründung bzw. dem Gesetzesziel und der Ausgestaltung des Gesetzes. Trotz einer bezweckten allgemeinen gewinnbasierten Ertragsbesteuerung aller in Gibraltar ansässigen Unternehmen wurden einzelne Unternehmen gezielt nur sehr niedrig besteuert.(25)

51.      Der Gerichtshof hat in diesem Urteil daher – anders als die Kommission im vorliegenden Fall meint – gerade nicht seine Auffassung von einer allgemeinen normalen Besteuerung an die Stelle des Mitgliedstaates gesetzt. Er hat auch nicht entschieden, dass das Unionsrecht eine bestimmte Steuersatzstruktur vorgibt. Er hat lediglich zutreffend entschieden, dass eine allgemeine Ertragsbesteuerung aller ansässigen Unternehmen nicht an wesensfremde Faktoren anknüpfen kann, die nichts anderes zum Ziel haben als die Begünstigung von bestimmten Unternehmen, die grundsätzlich ohne große Räume und ohne viel Personal auskommen, wie dies bei den sogenannten Offshore-Firmen der Fall war.(26)

52.      Im Ergebnis hat der Gerichtshof damit verhindert, dass die Mitgliedstaaten ihr allgemeines Steuerrecht dazu missbrauchen, um einzelnen Unternehmen dennoch Vorteile am Beihilferecht vorbei zu gewähren. Dieser Missbrauch der Steuerautonomie resultierte aus einer offensichtlich inkohärenten Ausgestaltung des Steuergesetzes für Gibraltar.

3)      Kohärenz der ungarischen Werbesteuer

53.      Mehr ist bei einem allgemeinen Steuergesetz nicht zu prüfen. Wenn das Unionsrecht die Steuersouveränität der Mitgliedstaaten achtet und wenn das Beihilferecht keine konkrete Ausgestaltung der nationalen Steuersysteme vorgibt, dann kann ein allgemein geltendes Steuergesetz – welches den Referenzrahmen gerade erst schafft – nur eine Beihilfe darstellen, wenn es offensichtlich inkohärent(27) ausgestaltet wurde.

54.      Die Prüfung des selektiven Vorteils reduziert sich bei einem allgemein geltenden Steuergesetz dann lediglich auf diese eine Stufe. Die restlichen – und immer streitanfälligen – Stufen (wie bestimmt sich der richtige Referenzrahmen, gibt es Ausnahmen, oder liegt eine Rückausnahme vor, sind die Differenzierungen en détail gerechtfertigt, und wer trägt wofür die Beweislast) können dann entfallen.

55.      Eine solche Inkohärenz der ungarischen Werbesteuer hat das Gericht im Ergebnis zu Recht verneint. So führt es in den Rn. 78 ff. des angefochtenen Urteils aus, dass die normale Regelung das ungarische Gesetz in seiner konkreten progressiven Ausgestaltung sei, die eine stärkere Besteuerung der umsatzstärkeren Unternehmen und eine geringere Besteuerung der umsatzschwächeren Unternehmen zur Folge habe (Rn. 89). Dies ergebe sich aus der mit einem progressiven Steuersatz verbundenen Umverteilungslogik (Rn. 88). Deswegen könne allein der progressiven Struktur kein selektiver Vorteil entnommen werden (Rn. 105). Da die Kommission auch keine anderweitige Inkohärenz vorgetragen und nachgewiesen habe (Rn. 106 ff.), könne das fragliche Gesetz nicht als staatliche Beihilfe angesehen werden.

56.      Die von der Kommission dagegen im Rechtsmittel vorgebrachten Argumente überzeugen mich nicht.(28)

i)      Umsatzbasierte Ertragsteuer

57.      So ist es nicht inkohärent, eine umsatzbasierte Ertragsteuer zu kreieren. Die Argumente der Kommission basieren letztendlich alle darauf, dass für die Besteuerung der finanziellen Leistungsfähigkeit allein auf den Gewinn (bzw. die Effizienz, d. h. Gewinnmarge) abgestellt werden müsse. Nur dieser gäbe die zu besteuernde Leistungsfähigkeit zutreffend wieder. Auch in der mündlichen Verhandlung hat die Kommission wiederholt vorgebracht, dass nur eine gewinnbasierte Ertragsteuer geeignet sei, die Leistungsfähigkeit zutreffend zu besteuern.

58.      Dabei verkennt die Kommission, dass auch der Gewinn nur eine (fiktive) Messgröße ist, um die Leistungsfähigkeit gleichmäßig zu besteuern. Über eine reale Leistungsfähigkeit sagt diese Größe nur bedingt etwas aus, was gerade die sogenannte BEPS-Debatte(29) zeigt. Diese weltweite Debatte basiert auf der Tatsache, dass offensichtlich Unternehmen mit hohen Gewinnen nicht die entsprechenden Steuern zahlen, weil sie die Bemessungsgrundlage stark reduzieren („base erosion“) oder den Gewinn in Niedrigsteuerländer verlagern („profit shifting“) können.

59.      Eine gewinnbasierte Ertragsbesteuerung hat – wie auch eine umsatzbasierte Ertragsbesteuerung – ihre Vor- und Nachteile. Diese hat aber nicht eine Behörde oder ein Gericht, sondern ein demokratisch legitimierter Gesetzgeber abzuwägen und zu verantworten. Der Steuergesetzgeber (hier der ungarische Gesetzgeber) kann entscheiden, welche Steuer seiner Ansicht nach die geeignete ist. Das Beihilferecht verlangt jedenfalls nicht die Einführung der aus Sicht der Kommission geeignetsten Steuer.

60.      Anders als die Kommission vorträgt, ist eine gewinnbasierte Ertragsteuer auch nicht unumstritten vorzugswürdig (mit den Worten der Kommission „geeignet“). Im Gegenteil, weltweit sind umsatzbasierte Ertragsteuern auf dem Vormarsch, wie auch die von der Kommission vorgeschlagene Digitalsteuer(30) zeigt. Diese knüpft zur Besteuerung von Unternehmen an deren Jahresumsatz an. Insofern unterscheiden sich die ungarische Werbesteuer und die geplante EU-Digitalsteuer nicht.

ii)    Progressiver Tarif

61.      Auch ein progressiver Tarif als solcher stellt keine Inkohärenz dar. So sind progressive Tarife in einer Ertragsbesteuerung durchaus üblich, um eine Besteuerung gemäß der finanziellen Leistungsfähigkeit zu erreichen. Dies gilt sowohl für eine gewinnbasierte Ertragsbesteuerung als auch für eine umsatzbasierte Ertragsbesteuerung. Auch hier zeigt die von der Kommission vorgeschlagene Digitalsteuer, dass eine progressive Tarifstruktur ein steuerrechtlich übliches Mittel ist, um besonders leistungsstarke Unternehmen zu besteuern.

62.      Wenn die Kommission in ihrem Schriftsatz bestreitet, dass die vorgeschlagene EU-Digitalsteuer einen progressiven Tarif habe, so ist dies nur auf den ersten Blick richtig. Nach Art. 8 des Vorschlags beträgt der Steuersatz in der Tat einheitlich 3 % und ist damit proportional. Allerdings übersieht die Kommission, dass jeder Freibetrag einer proportionalen Steuer zu unterschiedlichen Durchschnittssteuersätzen und damit zu einer progressiven Tarifkurve führt.(31) Ähnliches gilt bei einer Freigrenze. Die Tarifkurve der vorgeschlagenen umsatzbasierten EU-Digitalsteuer reicht mit ihren (zwei Durchschnitts‑) Steuersätzen von 0 % bis 3 %, wobei der Durchschnittssteuersatz mit dem Ansteigen der Umsätze im Moment des Überschreitens der Schwellenwerte von 0 % auf 3 % steigt. Damit ist er auch progressiv.

63.      Des Weiteren geht auch die Argumentation der Kommission ins Leere, wonach eine progressive Tarifstruktur nur für die Besteuerung von natürlichen Personen geeignet sei, weil nur bei diesen – nach der sogenannten Grenznutzentheorie – der individuelle Nutzenzuwachs mit steigenden Einkommen absinke. Deshalb würden progressive Tarife nur bei der Besteuerung von natürlichen Personen eingesetzt.

64.      Die Kommission übersieht, dass die Grenznutzentheorie eine ökonomische Theorie und keine Rechtsregel ist. Angesichts der fehlenden Messbarkeit des „Nutzens“ ist es bislang nicht gelungen, aus dieser Theorie verbindliche (juristische) Aussagen zu dem richtigen Steuertarif abzuleiten.(32) In der Vergangenheit wurden umgekehrt sogar proportionale Tarife für diskriminierend gehalten.(33)

65.      Der Hintergrund, warum progressive Tarife – wie die Kommission zu Recht hervorhebt – vorzugsweise bei der Besteuerung von natürlichen Personen eingesetzt werden, liegt daher wohl eher darin, dass juristische Personen sich der progressiven Wirkung über Abspaltungen bzw. größere Konzernstrukturen beliebig entziehen können. Dieses Problem macht eine progressive Unternehmensbesteuerung, die sowohl natürliche als auch juristische Personen erfasst, aber nicht inkohärent.

66.      Auch die von der Kommission aufgeführten und als ungerecht empfundenen Beispiele der Besteuerung demonstrieren keine Inkohärenz. So meint die Kommission, der ungarische progressive Steuersatz sei kein geeignetes Mittel, denn bei einem zehnfachen Umsatz müsse eine 155-mal höhere Steuer gezahlt werden. Dieses Beispiel – welches sich wohl auf die ungarische Werbesteuer in der ursprünglichen Fassung bezieht – zeigt aber lediglich die logischen Folgen einer progressiven Steuerkurve auf. Bei der von der Kommission vorgeschlagenen EU-Digitalsteuer lassen sich noch extremere Ergebnisse(34) finden.

67.      Abgesehen davon ist das Kriterium der Geeignetheit ohnehin das falsche Kriterium. Die Geeignetheit einer nationalen Steuer muss – wie oben ausgeführt (Nr. 59) – der nationale Gesetzeber beurteilen. Das Beihilferecht kann in einem solchen Fall, in dem der Referenzrahmen erst bestimmt wird, lediglich die Inkohärenzen beseitigen. Die ungarische Werbesteuer setzt die progressive Steuerstruktur jedoch kohärent um.

b)      Ergebnis

68.      Das Gericht hat daher zu Recht das Vorliegen einer Beihilfe im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV verneint. Der erste Teil des ersten Rechtsmittelgrundes ist unbegründet und daher zurückzuweisen.

c)      Hilfsweise: üblicher Prüfungsmaßstab eines selektiven Vorteils

69.      Selbst wenn der Gerichtshof sich bei der Prüfung eines allgemeinen Steuergesetzes wie dem vorliegenden nicht auf eine Kohärenzkontrolle beschränken sollte, ist ein Rechtsfehler des Gerichts bei der Verneinung der Beihilfe nicht zu erkennen.

70.      Nach dem üblichen Prüfungsmaßstab ist in einem ersten Schritt die in dem betreffenden Mitgliedstaat geltende allgemeine oder „normale“ Steuerregelung zu ermitteln. Anhand dieser allgemeinen oder „normalen“ Steuerregelung ist in einem zweiten Schritt zu beurteilen, ob der mit der fraglichen Steuermaßnahme gewährte Vorteil eine ungerechtfertigte Ausnahme und somit selektiv ist.(35)

71.      Letzteres setzt voraus, dass eine Ungleichbehandlung von Unternehmen in vergleichbarer Lage vorliegt, die nicht gerechtfertigt werden kann.(36) Eine Maßnahme, die eine Ausnahme von der Anwendung des allgemeinen Steuersystems darstellt, kann dabei gerechtfertigt sein, wenn der betreffende Mitgliedstaat nachweisen kann, dass sie unmittelbar auf den Grund- oder Leitprinzipien seines Steuersystems beruht.(37) Im Ergebnis ist diese Selektivitätsprüfung eine Diskriminierungsprüfung.(38)

72.      Das Gericht hat zu Recht festgestellt, dass die Kommission den falschen Referenzrahmen gewählt hat. Der maßgebende Referenzrahmen kann nur das vorliegende nationale Gesetz sein und kein hypothetisches oder fiktives Gesetz. Alles andere würde der Kommission erlauben, sich an die Stelle des jeweiligen nationalen Gesetzgebers zu setzen und das von ihr favorisierte Steuersystem zum Referenzrahmen zu bestimmen.

73.      Soweit sich die Kommission diesbezüglich auf die Entscheidung des Gerichtshofs in dem Urteil Gibraltar beruft, verkennt sie – wie bereits oben unter den Nrn. 47 ff. ausgeführt – die dortigen Aussagen. Der Gerichtshof hat sich dort keineswegs selber einen fiktiven Referenzrahmen geschaffen.

74.      Schon die Wahl des falschen Referenzrahmens durch die Kommission führt – wie der Gerichtshof bereits entschieden hat(39) – zwangsläufig dazu, „dass die gesamte Prüfung des Tatbestandsmerkmals der Selektivität mit einem Mangel behaftet ist“. Mithin ist bereits deshalb der angefochtene Negativbeschluss aufzuheben. Der erste Teil des ersten Rechtsmittelgrundes ist daher auch bei Anwendung des üblichen Prüfungsmaßstabs unbegründet.

2.      Zu den beiden weiteren Teilen des ersten Rechtsmittelgrundes

75.      Mit den beiden weiteren Teilen des ersten Rechtsmittelgrundes wendet sich die Kommission gegen die zusätzlichen Erwägungen des Gerichts und wirft diesem vor, dass das Vorliegen einer Beihilfe auch dort zu Unrecht verneint worden sei. Da die zusätzlichen Erwägungen des Gerichts ausweislich der Rn. 84 und 85 des angefochtenen Urteils nur prüfen, ob sich aus der Entscheidung des Gerichtshofs in dem Urteil Gibraltar etwas anderes ergibt, was bereits oben (Nrn. 47 ff.) verneint wurde, ist auf die weiteren Teile des ersten Rechtsmittelgrundes nicht mehr einzugehen.

76.      Das Gericht hat jedoch weiter geprüft, ob eine Beihilfe dennoch vorliegt. Möglicherweise hat das Gericht in den Rn. 84 und 85 zugunsten der Kommission unterstellt, dass die Kommission in den angefochtenen Entscheidungen daneben auch von dem richtigen Referenzrahmen (einer progressiven umsatzbasierten Unternehmenssteuer) ausgegangen ist und auch aufgrund dieser Basis eine Beihilfe bejaht habe. Andernfalls würde die weitere Prüfung der Vergleichbarkeit der Sachverhalte und der Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung keinen Sinn ergeben. Das Gericht hat auch insoweit das Vorliegen einer Beihilfe verneint. Letzteres greift die Kommission mit den zwei weiteren Teilen des ersten Rechtsmittelgrundes an. In der mündlichen Verhandlung wurde dabei deutlich, dass die Kommission dem Gericht insbesondere vorwirft, dass dieses eine Vergleichbarkeit von Unternehmen mit hohen und geringen Umsätzen verneint habe.

a)      Hilfsweise: zum zweiten Teil des ersten Rechtsmittelgrundeszur Vergleichbarkeit umsatzstärkerer und umsatzschwächerer Unternehmen

77.      Daher – und weil in der mündlichen Verhandlung zwischen den Beteiligten lange darüber diskutiert wurde – wird hier noch hilfsweise geprüft, ob auch unter dieser Prämisse (Annahme des richtigen Referenzrahmens durch die Kommission) das Gericht rechtsfehlerfrei einen selektiven Vorteil verneint hat. Die Kommission sieht einen Rechtsfehler darin, dass das Gericht eine Vergleichbarkeit von umsatzschwächeren zu umsatzstärkeren Unternehmen verneint habe, indem es auf das falsche Gesetzesziel abstellte (zweiter Teil des ersten Rechtsmittelgrundes).

78.      Auch dieser Teil des ersten Rechtsmittelgrundes ist unbegründet. Wenn die progressive umsatzbasierte Ertragsteuer der eigentliche Referenzrahmen ist, dann ist die konsequente Umsetzung dieses Referenzrahmens schon keine Ausnahme, die irgendwie gerechtfertigt werden müsste, sondern die Regel.

79.      Darüber hinaus kann innerhalb dieses Referenzrahmens auch keine nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung von Unternehmen in vergleichbarer Lage gesehen werden. Größere und kleinere Werbeunternehmen unterscheiden sich in diesem Referenzsystem gerade durch ihren Umsatz und die daraus abgeleitete finanzielle Leistungsfähigkeit. Sie befinden sich aus Sicht des Mitgliedstaats – die hier nicht offensichtlich fehlerhaft ist (zur Kohärenz siehe oben, Nrn. 53 ff.) – nicht in einer rechtlich und tatsächlich vergleichbaren Situation.

80.      Die Kommission meint hingegen offenbar, dass aus dem Ziel einer Steuer, Einnahmen für den Staatshaushalt zu erzielen, folge, dass jeder Steuerpflichtige in der gleichen (relativen) Höhe zu besteuern wäre. Deswegen hätte das Gericht für die Frage der Vergleichbarkeit nur auf das Ziel der Erzielung von Steuereinnahmen abstellen müssen. Im Hinblick auf dieses Ziel spiele die Höhe der Umsätze keine Rolle, weswegen eine niedrigere Besteuerung von Unternehmen mit niedrigen Umsätzen nicht zu rechtfertigen sei.

81.      Dieser Argumentation kann nicht gefolgt werden. Das Ziel einer Steuer kann im Rahmen der Beihilfekontrolle nicht lediglich auf die Erzielung von Einnahmen beschränkt werden. Vielmehr ist das konkrete Besteuerungsziel des Steuergesetzgebers entscheidend,(40) welches sich aus der Art der Steuer und ihrer Ausgestaltung im Wege der Auslegung ergibt. Bei einer progressiven Steuer ist eine absolute und relativ höhere Besteuerung von Steuerpflichtigen mit einer höheren Leistungsfähigkeit ein inhärentes Ziel. Dies ist daher – wie zutreffend vom Gericht – auch bei der Prüfung der Vergleichbarkeit zu berücksichtigen.

82.      Das Gericht hat in Rn. 89 des angefochtenen Urteils insoweit ausgeführt, dass davon ausgegangen werden kann, dass ein Unternehmen mit großem Umsatz wegen verschiedener Größenvorteile relativ geringere Kosten als ein Unternehmen mit niedrigem Umsatz hat und somit eine höhere Steuer entrichten kann. Auch dies ist rechtlich nicht zu beanstanden. Denn wie bereits der Gerichtshof(41) ausgeführt hat, kann die Höhe des Umsatzes durchaus einen relevanten Indikator steuerlicher Leistungsfähigkeit darstellen.

83.      Dafür spricht zum einen, dass ohne hohe Umsätze hohe Gewinne gar nicht möglich sind, und zum anderen, dass in der Regel der Ertrag eines zusätzlichen Umsatzes (Grenzertrag) aufgrund sinkender Fixkosten pro Produkteinheit steigt. Es erscheint daher keinesfalls unvertretbar, den Umsatz als Ausdruck der Größe oder der Marktposition und potenzieller Gewinne eines Unternehmens auch als Ausdruck seiner finanziellen Leistungsfähigkeit zu werten und nach dieser Maßgabe zu besteuern.(42)

84.      Wie sich in der mündlichen Verhandlung herausstellte, hat sich die Kommission viele Gedanken über die richtige Besteuerung der Leistungsfähigkeit gemacht. Dabei wurden zutreffend die Nachteile einer umsatzbasierten Ertragsteuer herausgearbeitet und möglicherweise sinnvollere Alternativen aufgezeigt. Offengeblieben ist aber, was diese durchaus tiefgründigen steuerrechtlichen Erwägungen mit dem Beihilferecht zu tun haben. Auch eine diesbezügliche Nachfrage des Gerichtshofs in der mündlichen Verhandlung hat die Kommission nicht beantwortet. Es mag sein, dass eine Gewinnberechnung über einen Betriebsvermögensvergleich präziser ist als eine Anknüpfung an den Nettoumsatz. Entgegen der Auffassung der Kommission fragt das Beihilferecht aber nicht nach dem sinnvolleren oder dem präziseren Steuersystem, sondern nach der selektiven Bevorzugung bestimmter Unternehmen gegenüber anderen in der gleichen Lage.

85.      Folglich ist auch der zweite Teil des ersten Rechtsmittelgrundes unbegründet.

b)      Hilfsweise: zum dritten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes: Rechtfertigung einer Differenzierung

86.      Mit dem dritten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes wirft die Kommission dem Gericht vor, es habe einen Rechtsfehler begangen, weil es bei der Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung externe Rechtfertigungsgründe berücksichtigt habe.

87.      Dieser Teil des Rechtsmittels basiert auf der unzutreffenden Annahme, dass eine Ungleichbehandlung von vergleichbaren Steuerpflichtigen vorliege, denn nur dann stellt sich die Frage nach einer Rechtfertigung. Da dem, wie oben ausgeführt, nicht so ist, wird dieser Teil des Rechtsmittels nur hilfsweise für den Fall geprüft, dass der Gerichtshof wider Erwarten eine vergleichbare Lage eines Werbeunternehmens mit z. B. 50 000 Euro/HUF Nettoumsatz im Jahr und eines Werbeunternehmens mit z. B. 200 Mio. Euro/HUF Nettoumsatz im Jahr bejaht.

88.      Dann wäre zu prüfen, ob das Gericht die mit dem unterschiedlichen Durchschnittssatz einer progressiven Steuer einhergehende Ungleichbehandlung unzutreffend für gerechtfertigt gehalten hat. Entgegen der Ansicht der Kommission kommen für eine Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung auch andere als rein fiskalische Rechtfertigungsgründe in Betracht. Insofern können auch nachvollziehbare außersteuerrechtliche Gründe eine Differenzierung rechtfertigen, wie dies in der Rechtssache ANGED z. B. für umwelt- und raumplanerische Gründe im Zusammenhang mit einer Einzelhandelsflächenabgabe bejaht wurde.(43)

89.      Im vorliegenden Fall hat das Gericht keine unzutreffenden Rechtfertigungsgründe berücksichtigt. Das Gericht hat in den Rn. 89 und 90 des angefochtenen Urteils den unterschiedlichen Durchschnittssteuersatz vor dem Hintergrund des Prinzips der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit und der damit auch verfolgten Umverteilung der Steuerlast zwischen stärker leistungsfähigen Steuerpflichtigen und weniger leistungsfähigen Steuerpflichtigen für gerechtfertigt angesehen.

90.      Dies ist rechtlich nicht zu beanstanden. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass der progressive Tarifverlauf der ungarischen Werbesteuer seinen Grund nicht im konkreten Steuergesetz selbst findet, sondern außerhalb davon liegende, sachfremde Zwecke(44) verfolgt. Die Größe des Umsatzes indiziert (jedenfalls nicht offensichtlich fehlerhaft) eine gewisse finanzielle Leistungsfähigkeit. Insofern kann der Umsatz – wie die Kommission selbst mit dem Entwurf für eine Digitalsteuer zeigt(45) – auch als (etwas gröberer) Indikator für eine größere Wirtschaftskraft, mithin eine größere finanzielle Leistungsfähigkeit, betrachtet werden.

91.      Darüber hinaus rechtfertigt auch der Gedanke des Sozialstaatsprinzips – zu dem sich die Europäische Union in Art. 3 Abs. 3 EUV bekennt – einen progressiven Steuersatz, der die finanziell leistungsfähigeren Steuerpflichtigen auch relativ gesehen stärker belastet als die finanziell weniger leistungsfähigen Steuerpflichtigen. Dies gilt jedenfalls für eine Steuer, die auch natürliche Personen erfasst, wie dies hier der Fall ist.

92.      Soweit die Kommission dem Gericht in Rn. 106 des angefochtenen Urteils noch eine Verkennung der Beweislast vorwirft, geht auch dieser Vorwurf ins Leere. Er beruht auf der unzutreffenden Ansicht, dass umsatzbasierte progressive Steuern per se rechtfertigungsbedürftige Beihilfen seien.

3.      Ergebnis

93.      Der erste Rechtsmittelgrund der Kommission ist mithin in Gänze unbegründet.

B.      Zum zweiten Rechtsmittelgrund: falsche Auslegung von Art. 107 Abs. 1 AEUV im Hinblick auf die Verlustberücksichtigungsmöglichkeit im ersten Jahr

94.      Mit dem zweiten Rechtsmittelgrund wird ein Rechtsfehler bei der Anwendung des Art. 107 Abs. 1 AEUV damit begründet, dass das Gericht die Verlustberücksichtigungsmöglichkeit im ersten Jahr zu Unrecht nicht als selektiven Vorteil angesehen habe.

95.      Das Gericht hat in Rn. 118 des angefochtenen Urteils ausgeführt, dass bestimmte Anpassungen einer Steuer, mit denen besonderen Situationen Rechnung getragen werden soll, nicht als selektive Vorteilsgewährung zu verstehen sind. Dies gelte selbst dann, wenn sie sich nicht aus der Natur, d. h. der Zielsetzung des Bezugssystems, ergeben, sofern die betreffenden Bestimmungen nicht im Widerspruch zu der Zielsetzung der fraglichen Steuer stehen und nicht diskriminierend sind.

96.      Dies entspricht im Ergebnis der Rechtsprechung des Gerichtshofs. Nach dieser ist im Ausgangspunkt eine Steuerregelung dann nicht selektiv, wenn sie unterschiedslos auf alle Wirtschaftsteilnehmer anwendbar ist.(46) Auch aus dem Umstand, dass eine Steuerregelung nur denjenigen Unternehmen einen Vorteil gewährt, die ihre Voraussetzungen erfüllen – hier das Vorliegen von Verlusten im Vorjahr –, kann die Selektivität der Regelung nicht geschlossen werden.(47)

97.      Vielmehr muss – ausgehend vom richtigen Referenzrahmen – eine Ungleichbehandlung von Unternehmen in vergleichbarer Lage vorliegen, die nicht gerechtfertigt werden kann.(48) Eine Maßnahme, die eine Ausnahme von der Anwendung des allgemeinen Steuersystems darstellt, kann dabei gerechtfertigt sein, wenn der betreffende Mitgliedstaat nachweisen kann, dass sie unmittelbar auf den Grund- oder Leitprinzipien seines Steuersystems beruht,(49) wobei auch nachvollziehbare außersteuerrechtliche Gründe eine entsprechende steuerrechtliche Differenzierung rechtfertigen können.(50)

1.      Teil oder Ausnahme vom Referenzsystem?

98.      Soweit es um ein allgemeines Steuergesetz geht, bereitet vor allem die Bestimmung des Referenzrahmens (häufig auch als Referenzsystem bezeichnet) Schwierigkeiten. Denn die fragliche Steuer wird durch das zu überprüfende Gesetz ja erst geschaffen. Aus Sicht der Kommission muss als Referenzsystem eine umsatzbasierte Besteuerung ohne Berücksichtigungsmöglichkeit von Verlusten angesehen werden. Demgegenüber sehen Ungarn und wohl auch das Gericht das neu eingeführte Gesetz selbst als Referenzsystem an. Dieses besteht mithin aus einer umsatzbasierten Steuer mit Verlustberücksichtigungsmöglichkeit im ersten Jahr der neu eingeführten Steuer.

99.      Im letzteren Fall würde nur eine Kohärenzprüfung des nationalen Steuergesetzes (dazu ausführlich oben, unter Nrn. 53 ff.) erfolgen. Im ersten Fall käme es darauf an, ob sich Steuerpflichtige mit Verlusten und ohne Verluste in einer vergleichbaren Lage befinden und, wenn ja, ob der betreffende Mitgliedstaat nachweisen kann, dass die Ausnahme gerechtfertigt ist. Dafür stünden ihm dann – nach Auffassung der Kommission – nur bestimmte Rechtfertigungsgründe zur Verfügung.

100. Allerdings lässt sich die Frage, ob die Verlustberücksichtigungsmöglichkeit als Teil des Besteuerungssystems oder als Ausnahme davon zu betrachten ist, nicht hinreichend deutlich beantworten. In einem gewinnbasierten Ertragsteuersystem würde eine Verlustberücksichtigungsmöglichkeit wohl unstreitig als Teil des Besteuerungssystems zu betrachten sein. In einer umsatzbasierten Ertragsteuer könnte durchaus mit der Kommission von einer Ausnahme im System gesprochen werden. Andererseits hat der ungarische Gesetzgeber diese „Ausnahme“ seinem umsatzbasierten Ertragsteuersystem als Ausgangspunkt für das erste Jahr zugrunde gelegt. Sie ist damit von vornherein auch ein Teil des Systems.

101. Hintergrund der fraglichen nationalen Regelung ist letztendlich, die Auswirkungen einer umsatzbasierten Ertragsteuer für Unternehmen zu mindern, die trotz hoher Umsätze im Jahr der Steuereinführung in dem Vorjahr Verluste erwirtschaftet haben und nun im laufenden Jahr mit einer neuen gewinnunabhängigen Steuer konfrontiert werden. Dies ist nichts anderes als eine Übergangsvorschrift, wie Ungarn auch vorträgt, um unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten die besonderen Auswirkungen der Werbesteuer für das erste Steuerjahr zu mildern, insbesondere da die Werbesteuer im laufenden Jahr eingeführt wurde.

102. Bei genauer Betrachtung trägt diese Übergangsvorschrift sogar den Bedenken der Kommission ein wenig Rechnung. Diese argumentiert im Zusammenhang mit dem ersten Rechtsmittel (progressiver Tarif) immer damit, dass eine umsatzbasierte Steuer ungeeignet sei, Steuerpflichtige nach Maßgabe der finanziellen Leistungsfähigkeit zu besteuern, weil auch Unternehmen mit hohen Umsätzen nur geringe Gewinne haben könnten und dennoch Steuern zahlen müssten. Hier wird eine mangelnde Leistungsfähigkeit des Vorjahres anteilig im ersten Jahr der Steuer berücksichtigt.

103. Im Ergebnis erfolgt mit der Verlustberücksichtigungsmöglichkeit, die auf das erste Steuerjahr begrenzt ist, für eine befristete Zeitspanne (d. h. übergangsweise) eine Abstimmung zwischen zwei Steuersystemen, nämlich der gewinnbasierten Körperschaft- bzw. Einkommensteuer und der umsatzbasierten (d. h. gewinnunabhängigen) Werbesteuer. Eine gesetzlich vorgesehene Abstimmung zwischen zwei Steuersystemen als Ausnahme von einem Referenzsystem zu bezeichnen, fällt mir jedoch schwer. Sie ist vielmehr Teil des (abgestimmten) Referenzsystems.

104. Eine solche Abstimmung existiert auch in dem Körperschaftsteuersystem in Ungarn. Hier kann die Werbesteuer – wie Ungarn vorgetragen hat – von der Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage abgezogen werden. Davon „profitieren“ natürlich nur die Unternehmen, die auch Gewinne haben. Dies als rechtfertigungsbedürftige Ausnahme im Körperschaftsteuersystem zu begreifen, dürfte aber offensichtlich nicht zutreffen. Warum etwas anderes für eine Abstimmungsvorschrift – auch wenn sie nur für ein Jahr Wirkung entfaltet – im Werbesteuersystem gelten sollte, erschließt sich mir nicht. Hinzu kommt – wie Ungarn vorträgt –, dass die Verlustberücksichtigungsmöglichkeit den „Nachteil“ der Unternehmen mit Verlusten ausgleichen soll, die die Werbesteuer mangels Gewinn gerade nicht gewinnmindernd im Rahmen der Körperschaftsteuer oder Einkommensteuer geltend machen können.

105. Da die Entscheidung, ob die Verlustberücksichtigungsmöglichkeit nun als Teil des Referenzsystems oder als Ausnahme des Referenzsystems zu betrachten ist, zum einen maßgeblich vom Verständnis des nationalen Rechts und zum anderen stark davon abhängt, welche Ebene als Ausgangspunkt genommen wird, sollte der Umfang der Prüfung eines selektiven Vorteils nicht von dieser Einordnung abhängen. Vielmehr sollte die Prüfung einheitlich vorgenommen werden, um diese Abgrenzung offenlassen zu können.

2.      Kohärenzprüfung auch für Ausnahmen vom Referenzsystem

106. Daher schlage ich dem Gerichtshof vor, für allgemeine Regelungen innerhalb eines Steuergesetzes im Hinblick auf die Steuersouveränität der Mitgliedstaaten in beiden Fällen (ob nun als Teil des gerade geschaffenen Referenzsystems oder als Ausnahme innerhalb des Referenzsystems) nur eine Kohärenzprüfung vorzunehmen. Denn allgemeine Differenzierungen, die unterschiedslos für alle gelten(51) und nur die Steuerpflichtigen erfassen, die auch den Tatbestand erfüllen(52) und sich innerhalb eines kohärenten Steuersystems befinden, können normalerweise keinen selektiven Vorteil darstellen.(53) Insofern stellen allgemeine Differenzierungen eines Steuergesetzes nur dann selektive Maßnahmen dar, wenn sie im Hinblick auf das Ziel des Gesetzes auf keiner rationalen Grundlage beruhen, mithin nicht erklärbar sind.

107. Nach diesem abgesenkten Prüfungsmaßstab kommt ein selektiver Vorteil nur in Betracht, wenn zum einen die Maßnahme (hier die Verlustberücksichtigungsmöglichkeit) Unterscheidungen zwischen Wirtschaftsteilnehmern einführt, die nicht mehr nachvollziehbar sind. Dies wäre z. B. der Fall, wenn sich die Steuerpflichtigen im Hinblick auf das mit der Steuerregelung dieses Mitgliedstaats verfolgte Ziel in einer offensichtlich  vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden.(54)

108. Selbst wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, kann zum anderen die Begünstigung nach ständiger Rechtsprechung durch das Wesen oder die allgemeinen Zwecke des Systems, zu dem sie gehört, gerechtfertigt sein. Das kommt insbesondere in Betracht, wenn eine Steuerregelung unmittelbar auf Grund- oder Leitprinzipien des nationalen Steuersystems beruht,(55) die aufgrund der Steuerautonomie des Mitgliedstaates im Rahmen der Kohärenzkontrolle lediglich nachvollziehbar sein müssen. Darüber hinaus können auch nachvollziehbare außersteuerrechtliche Gründe eine Differenzierung rechtfertigen, wie dies in der Rechtssache ANGED z. B. für umwelt- und raumplanerische Gründe im Zusammenhang mit einer Einzelhandelsflächenabgabe bejaht wurde.(56)

109. Eine solche Kohärenzprüfung hat das Gericht letztendlich vorgenommen. Es hat zutreffend geprüft, ob die Regelung diskriminierend ist oder ob sie im Hinblick auf das Steuersystem erklärbar ist (mithin nicht im Widerspruch zu der Zielsetzung der fraglichen Steuer steht). Da die Tatsache des Vorliegens von Verlusten im Vorjahr ein objektives Kriterium ist und sich Unternehmen mit Verlusten und mit Gewinnen im Vorjahr im Hinblick auf die Fähigkeit, eine zusätzliche gewinnunabhängige Steuer tragen zu können, unterscheiden, hat das Gericht einen selektiven Vorteil in Rn. 122 des angefochtenen Urteils zutreffend verneint.

110. Sofern die Kommission hingegen die diskriminierende Wirkung allein daraus ableiten will, dass bei Verabschiedung des Gesetzes Mitte 2014 bereits festgestanden habe, welche Unternehmen in 2013 Verluste hatten, kann das nicht überzeugen. Zum einen setzt dies voraus, dass in Ungarn die entsprechenden Steuererklärungen bis zu diesem Zeitpunkt eingereicht werden müssen, was vom nationalen Steuerverfahrensrecht abhängt und sich der Kenntnis des Gerichtshofs entzieht. Zum anderen müsste dann der Gesetzgeber diese Zahlen bereits gekannt haben, was eher unwahrscheinlich ist. Im gesamten Verfahren deutet nichts darauf hin, dass mit dieser Regelung gezielt bestimmte Unternehmen „begünstigt“ werden sollten.

111. Das Argument der Kommission, dass eine Verlustberücksichtigung inkompatibel mit einer gewinnunabhängigen umsatzbasierten Steuer sei, ist ebenfalls nicht überzeugend. Eine Übergangsvorschrift, die unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten die besonderen Auswirkungen der gewinnunabhängigen Werbesteuer für das erste Steuerjahr für Unternehmen mit Verlusten im Vorjahr mildert, ist nicht inkompatibel. Wie schon dargelegt (siehe oben, Nrn. 103 ff.), geht es um die nachvollziehbare Abstimmung von zwei Besteuerungssystemen während eines Übergangszeitraums.

112. Eine Diskriminierung daraus herzuleiten, dass die Verlustberücksichtigung nur im ersten Jahr der Werbesteuer erfolgt und nicht auch in den weiteren Jahren, wie es die Kommission versucht, verkennt den Zweck einer Übergangsvorschrift. Eine solche ist per se auf einen begrenzten Zeitraum ausgerichtet. Im Übrigen hat das Gericht in Rn. 123 des angefochtenen Urteils zutreffend ausgeführt, dass das im Steuerrecht geltende Periodizitätsprinzip durchaus unterschiedliche Regelungen für unterschiedliche Besteuerungszeiträume erlaubt. Die in verschiedenen Besteuerungszeiträumen bestehenden Situationen sind insofern schon nicht miteinander vergleichbar.

113. Auch die Ansicht der Kommission, dass Unternehmen mit Gewinnen und Unternehmen mit Verlusten im Vorjahr im Hinblick auf den Zweck der Werbesteuer in allen Punkten vergleichbar seien, überzeugt nicht. Das Ziel der progressiv ausgestalteten Werbesteuer besteht – wie oben unter den Nrn. 55 ff. ausgeführt – in einer gewissen Umverteilung der Steuerlast nach Maßgabe der finanziellen Leistungsfähigkeit, die anhand des Umsatzes bestimmt wird. Die Vermutung des ungarischen Gesetzgebers, dass Unternehmen mit Verlusten im Vorjahr aufgrund geringerer Liquidität bzw. geringerer finanzieller Reserven durch eine gewinnunabhängige Steuer stärker betroffen sind als Unternehmen mit Gewinnen im Vorjahr, ist plausibel. Sie befinden sich aus Sicht des Mitgliedstaats – die hier nicht offensichtlich fehlerhaft ist – nicht in einer rechtlich und tatsächlich vergleichbaren Situation.

3.      Hilfsweise: Rechtfertigung der Verlustberücksichtigungsmöglichkeit

114. Darüber hinaus wäre eine unterschiedliche Behandlung aufgrund der unterschiedlichen Ausgangssituationen der beiden Vergleichsgruppen im ersten Jahr der Werbesteuer auch gerechtfertigt.

115. Entscheidend ist – wie der Gerichtshof in der Entscheidung World Duty Free betont hat(57) – allein die Prüfung der jeweiligen Ungleichbehandlung im Hinblick auf das mit dem Gesetz verfolgte Ziel. Dabei kommen jedoch nicht nur die ausdrücklich im nationalen Gesetz genannten Ziele, sondern auch die dem nationalem Gesetz im Wege einer Auslegung zu entnehmenden Ziele in Betracht.(58) Andernfalls würde man allein auf die Gesetzgebungstechnik abstellen, obwohl im Beihilferecht staatliche Maßnahmen nach ihren Wirkungen und unabhängig von den verwendeten Regelungstechniken beurteilt werden.(59)

116. Die Abmilderung der Auswirkungen der neu eingeführten gewinnunabhängigen Steuer auf Unternehmen mit fehlenden Gewinnen im Vorjahr ist im Hinblick auf die Ziele der Werbesteuer sachlich gerechtfertigt. Ob darin ein interner Fiskalzweck oder ein externer Zweck zu sehen ist, kann dabei dahinstehen, da es darauf – wie oben in den Nrn. 88 ff. ausgeführt – nicht ankommt. Es sollen Härten durch eine zusätzliche Steuer für Unternehmen mit Verlusten im Vorjahr abgemildert werden. Damit wird der geminderten Fähigkeit des Steuerpflichtigen Rechnung getragen, eine zusätzliche gewinnunabhängige Steuer auch entrichten zu können.

4.      Ergebnis

117. Die Verlustberücksichtigungsmöglichkeit für das erste Steuerjahr ist nachvollziehbar und nicht willkürlich. Die damit verbundene unterschiedliche Behandlung von Unternehmern im ersten Jahr der Werbesteuer ist daher kein selektiver Vorteil. Insofern kann dem Gericht kein Rechtsfehler konstatiert werden. Deswegen ist auch der zweite Rechtsmittelgrund der Kommission unbegründet.

VI.    Kosten

118. Nach Art. 184 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs entscheidet der Gerichtshof über die Kosten, wenn das Rechtsmittel unbegründet ist. Gemäß Art. 138 Abs. 1, der nach Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission unterliegt, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

119. Nach Art. 184 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 140 Abs. 1 trägt die Republik Polen als Streithelfer ihre eigenen Kosten.

VII. Ergebnis

120. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, wie folgt zu entscheiden:

1.      Das Rechtsmittel der Kommission wird zurückgewiesen.

2.      Die Europäische Kommission trägt ihre eigenen Kosten und die Kosten von Ungarn.

3.      Die Republik Polen trägt ihre eigenen Kosten.





























































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