C-567/21 – BNP Paribas

C-567/21 – BNP Paribas

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2023:118

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PRIIT PIKAMÄE

vom 16. Februar 2023(1)

Rechtssache C567/21

BNP Paribas SA

gegen

TR

(Vorabentscheidungsersuchen der Cour de cassation [Kassationsgerichtshof, Frankreich])

„Vorabentscheidungsersuchen – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Verordnung (EG) Nr. 44/2001 – Art. 33 und 36 – Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen – Anerkennung in einem Rechtsstreit – Nationale Vorschrift über die Bündelung von Klagen – Rechtskraft – Einrede der Rechtskraft – Begriffe ‚Grundlage‘ und ‚Gegenstand‘“

I.      Einleitung

1.        In der vorliegenden Rechtssache wird der Gerichtshof von der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) um Vorabentscheidung über die Auslegung der Art. 33 und 36 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001(2) ersucht.

2.        Die drei vom vorlegenden Gericht zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen bieten dem Gerichtshof Gelegenheit, die Grenzen der Rechtskraft einer in einem ersten Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung zu präzisieren, deren Anerkennung in einem Rechtsstreit verlangt wird, um einer in einem zweiten Mitgliedstaat erhobenen neuen Klage entgegenzutreten. Auf diesem von umfangreichen Überlegungen in der Lehre(3) geprägten Gebiet ist der Gerichtshof insbesondere aufgerufen, die jeweilige Rolle des Unionsrechts und des nationalen Rechts bei der Bestimmung des Umfangs der Rechtskraft der Entscheidung eines Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats zu definieren(4).

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

3.        Für die vorliegende Rechtssache sind die Art. 27, 33 und 36 der Verordnung Nr. 44/2001 relevant.

B.      Nationales Recht

1.      Französisches Recht

4.        Gemäß Art. L. 1234-5 Abs. 1 des Code du travail (französisches Arbeitsgesetzbuch) hat der Arbeitnehmer im Fall eines Verzichts auf die Geltendmachung der Kündigungsfrist Anspruch auf eine Ausgleichszahlung, sofern keine grobe Verfehlung vorliegt.

5.        Art. L. 1234-9 Abs. 1 des Code du travail sieht vor:

„Ein über einen unbefristeten Arbeitsvertrag verfügender Arbeitnehmer, der entlassen wird, hat, wenn er acht Monate lang ununterbrochen bei demselben Arbeitgeber beschäftigt war, Anspruch auf eine Entlassungsentschädigung, es sei denn, es liegt ein Fall grober Verfehlungen vor.“

6.        Gemäß Art. L. 1235-3 des Code du travail kann das Gericht, wenn der Arbeitnehmer ohne tatsächlichen und schwerwiegenden Grund entlassen wurde, die Wiedereingliederung des Arbeitnehmers in das Unternehmen unter Beibehaltung seiner erworbenen Vorteile vorschlagen. Lehnt eine der Parteien eine solche Wiedereingliederung ab, spricht das Gericht dem Arbeitnehmer eine vom Arbeitgeber zu leistende Entschädigung zu.

7.        Art. R. 1452-6 des Code du travail lautete in der Fassung vor dem Erlass des Dekrets Nr. 2016-660 vom 20. Mai 2016(5):

„Alle Ansprüche aus dem Arbeitsvertrag zwischen denselben Parteien sind unabhängig davon, ob sie vom Kläger oder vom Beklagten geltend gemacht werden, Gegenstand nur eines Verfahrens.

Dies gilt nicht, wenn die Anspruchsgrundlage nach der Anrufung des Arbeitsgerichts entstanden ist oder bekannt wurde.“

2.      Recht des Vereinigten Königreichs

8.        Section 98 des Employment Rights Act 1996 (Gesetz von 1996 über die Rechte der Arbeitnehmer) sieht vor:

„(1)      Ist für die Zwecke dieses Abschnitts zu klären, ob die Entlassung eines Arbeitnehmers gerechtfertigt oder ungerechtfertigt ist, muss der Arbeitgeber nachweisen,

a)      welchen Grund (oder, falls es mehrere Gründe gibt, welchen Hauptgrund) die Entlassung hat und

b)      dass es sich entweder um einen unter Subsection (2) fallenden Grund oder um einen anderen erheblichen Grund handelt, der die Entlassung eines Arbeitnehmers mit einer Stelle wie der, die er innehat, rechtfertigt.

(2)      Ein Grund fällt unter diese Subsection, wenn er

b)      das Verhalten des Arbeitnehmers betrifft.

(4)      Hat der Arbeitgeber die Anforderungen von Subsection (1) erfüllt, ist zur Klärung der Frage, ob die Entlassung (angesichts des vom Arbeitgeber dargelegten Grundes) gerechtfertigt oder ungerechtfertigt ist,

a)      darauf abzustellen, ob es unter den konkreten Umständen (einschließlich der Größe und der administrativen Mittel des Unternehmens des Arbeitgebers) angemessen oder unangemessen war, dass der Arbeitgeber ihn als hinreichenden Grund für die Entlassung des Arbeitnehmers ansah, und

b)      nach Billigkeit und nach Prüfung der wesentlichen materiellen Aspekte der Sache zu entscheiden.

…“

9.        Section 118 dieses Gesetzes sieht vor, dass eine gerichtlich zuerkannte Entschädigung wegen ungerechtfertigter Entlassung gemäß Section 112(4) oder Section 117(3) aus a) einem (im Einklang mit den Sections 119 bis 122 und 126 berechneten) Grundbetrag und b) einem (im Einklang mit den Sections 123, 124, 124A und 126 berechneten) Ausgleichsbetrag besteht.

III. Dem Rechtsstreit zugrunde liegender Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

10.      TR wurde am 25. August 1998 von BNP, nunmehr BNP Paribas, aufgrund eines dem englischen Recht unterliegenden Vertrags als „Senior Dealer“ mit Arbeitsort London eingestellt.

11.      Am 2. April 2009 schloss TR mit BNP Paribas zwecks Entsendung nach Singapur einen dem französischen Recht unterliegenden unbefristeten Arbeitsvertrag. Mit Abänderung seines Arbeitsvertrags vom 16. August 2010 wurde er der Londoner Niederlassung von BNP Paribas zugewiesen.

12.      Am 30. September 2013 wurde TR aufgrund von Geschehnissen während seiner Entsendung nach Singapur wegen einer groben Verfehlung entlassen.

13.      Am 20. Dezember 2013 erhob TR Klage beim Employment Tribunal (Arbeitsgericht, Vereinigtes Königreich), das mit Urteil vom 26. September 2014 seiner Klage wegen ungerechtfertigter Entlassung („complaint of unfair dismissal“) stattgab und ihm 81 175 GBP (etwa 94 401,77 Euro) als Ausgleichsbetrag („compensatory award“) zusprach; in Bezug auf die übrigen Fragen zu Entschädigungsleistungen wurde die Verhandlung vertagt.

14.      Das Employment Tribunal stellte insbesondere fest, dass die Sanktionen gegen TR zwar nach dem französischen Arbeitsgesetzbuch verhängt worden seien, der Prozessbevollmächtigte von BNP Paribas sich jedoch damit einverstanden erklärt habe, dass über die Sache anhand des Employment Rights Act 1996 und der britischen Rechtsprechung entschieden werde.

15.      Mit Klageschrift vom 27. November 2014 erhob TR sodann Klage beim Conseil de prud’hommes de Paris (Arbeitsgericht, Frankreich, im Folgenden: Conseil de prud’hommes), mit der er u. a. beantragte, BNP Paribas zur Zahlung von Schadensersatz wegen Kündigung ohne tatsächlichen und schwerwiegenden Grund, einer Entlassungsentschädigung, eines Ausgleichsbetrags wegen des Verzichts auf die Geltendmachung der Kündigungsfrist sowie verschiedener im Arbeitsvertrag vorgesehener Boni und Prämien zu verurteilen. Mit Urteil vom 17. Mai 2016 erklärte der Conseil de prud’hommes diese Klage aufgrund der Rechtskraft des Urteils des Employment Tribunal für unzulässig.

16.      Mit Urteil vom 22. Mai 2019 hob die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris, Frankreich) dieses Urteil in vollem Umfang auf.

17.      Im Urteil der Cour d’appel wird ausgeführt, das Urteil des Employment Tribunal habe insofern Rechtskraft erlangt, als die Entlassung nicht auf einem tatsächlichen und schwerwiegenden Grund beruhe. Gleichwohl könne den vor dem Conseil de prud’hommes gestellten Anträgen nicht der Einwand der Rechtskraft entgegengehalten werden, so dass BNP Paribas zur Zahlung von Schadensersatz wegen Kündigung ohne tatsächlichen und schwerwiegenden Grund, einer Entlassungsentschädigung, eines Ausgleichsbetrags wegen des Verzichts auf die Geltendmachung der Kündigungsfrist sowie verschiedener im Arbeitsvertrag vorgesehener Boni und Prämien zu verurteilen sei.

18.      Die Cour d’appel stützte diese Schlussfolgerung u. a. darauf, dass in der beim Employment Tribunal eingereichten Klageschrift ausdrücklich darauf hingewiesen werde, dass TR im Zusammenhang mit der Auflösung seines Arbeitsvertrags keine Entschädigungen und arbeitsplatzbezogenen Vorteile geltend gemacht habe und dies vor einem anderen Gericht tun werde. Die vor dem französischen Gericht anhängig gemachte Klage betreffe nicht denselben Anspruch wie die beim Employment Tribunal erhobene Klage.

19.      BNP Paribas hat bei der Cour de cassation ein Rechtsmittel eingelegt. Sie stützt es insbesondere auf Art. 33 der Verordnung Nr. 44/2001 und trägt vor, eine Prüfung der von TR gestellten Anträge durch die französischen Gerichte sei wegen des Urteils des Employment Tribunal nicht möglich. Hierzu macht sie erstens geltend, die vor einem französischen Gericht erhobene Einrede der Rechtskraft eines ausländischen Urteils sei im Licht der Wirkungen des Urteils in dem Mitgliedstaat, in dem es ergangen sei, zu beurteilen. Zweitens stehe die Rechtskraft einer in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung dem entgegen, dass in einem anderen Mitgliedstaat wegen desselben Anspruchs eine dieselben Parteien betreffende Klage erhoben werde.

20.      Im Rahmen ihrer Prüfung des Rechtsmittels hat die Cour de cassation festgestellt, dass sich BNP Paribas auf die Regel des „abuse of process“ berufe, die auf die Entscheidung Henderson v. Henderson vom 20. Juli 1843 des Court of Chancery (England und Wales) (Vereinigtes Königreich) zurückgehe; demnach seien die Parteien, wenn die Angelegenheit Gegenstand eines Rechtsstreits vor einem zuständigen Gericht werde, verpflichtet, ihre Sache in vollem Umfang vorzubringen, damit, vorbehaltlich eines Rechtsmittels, über alle Aspekte auf einmal entschieden werden könne(6).

21.      Die Cour de cassation hat ferner darauf verwiesen, dass nach dem damals geltenden französischen Recht alle Ansprüche aus dem Arbeitsvertrag unabhängig davon, ob sie vom Kläger oder vom Beklagten geltend gemacht würden, Gegenstand nur eines Verfahrens seien und dass dies nicht gelte, wenn die Anspruchsgrundlage nach der Anrufung des Arbeitsgerichts entstanden oder bekannt geworden sei.

22.      Unter diesen Umständen hat die Cour de cassation am 8. September 2021 beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind die Art. 33 und 36 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen, dass sich, wenn nach dem Recht des Ursprungsmitgliedstaats der Entscheidung deren Rechtskraft verhindert, dass dieselben Parteien eine neue Klage erheben, mit der sie Anträge stellen, die schon im ursprünglichen Verfahren hätten gestellt werden können, diese Entscheidung im ersuchten Mitgliedstaat dergestalt auswirkt, dass ein Gericht des ersuchten Mitgliedstaats, dessen ratione temporis anzuwendendes Recht in arbeitsrechtlichen Angelegenheiten eine ähnliche Verpflichtung zur Bündelung von Klageansprüchen vorsah, über solche Ansprüche nicht entscheiden darf?

2.      Falls die erste Frage verneint wird: Sind die Art. 33 und 36 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen, dass eine Klage wie die des „unfair dismissal“ im Vereinigten Königreich denselben Anspruch betrifft wie die im französischen Recht vorgesehene Klage gegen eine Entlassung ohne tatsächlichen und schwerwiegenden Grund, so dass, nachdem der Arbeitnehmer im Vereinigten Königreich eine Entscheidung erwirkt hat, mit der das „unfair dismissal“ festgestellt und eine entsprechende Entschädigung („compensatory award“) zugesprochen wurde, seine vor dem französischen Gericht gestellten Anträge auf Schadensersatz wegen Entlassung ohne tatsächlichen und schwerwiegenden Grund, Ausgleich für den Verzicht auf die Geltendmachung der Kündigungsfrist und Entlassungsentschädigung unzulässig sind? Ist in diesem Zusammenhang der Schadensersatz wegen Entlassung ohne tatsächlichen und schwerwiegenden Grund (der möglicherweise denselben Anspruch betrifft wie der „compensatory award“) zu unterscheiden von der Entlassungsentschädigung und dem Ausgleich für den Verzicht auf die Geltendmachung der Kündigungsfrist, die nach französischem Recht geschuldet werden, wenn die Entlassung auf einem tatsächlichen und schwerwiegenden Grund beruht, nicht aber bei einer Entlassung wegen einer groben Verfehlung?

3.      Sind die Art. 33 und 36 der Verordnung Nr. 44/2001 ferner dahin auszulegen, dass eine Klage wie die des „unfair dismissal“ im Vereinigten Königreich und eine Klage auf Zahlung im Arbeitsvertrag vorgesehener Boni oder Prämien denselben Anspruch betreffen, wenn diese Klagen auf demselben Vertragsverhältnis zwischen den Parteien beruhen?

IV.    Verfahren vor dem Gerichtshof

23.      Die Parteien des Ausgangsverfahrens, die französische und die schweizerische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Stellungnahmen eingereicht.

V.      Rechtliche Würdigung

A.      Vorbemerkungen

24.      Der Prüfung der Fragen des vorlegenden Gerichts sind meines Erachtens mehrere Erwägungen voranzustellen.

1.      Zur Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 44/2001

25.      Zu prüfen ist, ob die Verordnung Nr. 44/2001 sowohl in zeitlicher als auch in räumlicher Hinsicht anwendbar ist. Hierzu stelle ich fest, dass die Entscheidung des Employment Tribunal, um deren Anerkennung es im Ausgangsverfahren geht, auf die am 20. Dezember 2013 erhobene Klage hin ergangen ist.

26.      Daraus ergibt sich zunächst, dass die Verordnung Nr. 44/2001 auf den Ausgangsrechtsstreit ratione temporis anwendbar ist. Sie blieb nämlich gemäß Art. 66 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012(7) auf Entscheidungen anwendbar, die in vor dem 10. Januar 2015 eingeleiteten gerichtlichen Verfahren ergangen sind.

27.      Sodann folgt daraus, dass die Verordnung Nr. 44/2001 ratione loci anwendbar ist. Dieses Ergebnis leite ich aus Art. 67 Abs. 2 Buchst. a des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs(8) ab, der lautet: „Die Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 findet Anwendung auf die Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen, die in vor dem Ablauf des Übergangszeitraums eingeleiteten gerichtlichen Verfahren ergangen sind, sowie auf öffentliche Urkunden, die vor dem Ablauf des Übergangszeitraums förmlich errichtet oder eingetragen beziehungsweise gebilligt oder geschlossen worden sind.“ Demnach bleibt die Verordnung Nr. 44/2001 im Vereinigten Königreich bis zum Ende des Übergangszeitraums anwendbar.

28.      Somit ist davon auszugehen, dass die Verordnung Nr. 44/2001 in zeitlicher und räumlicher Hinsicht auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbar ist.

2.      Zur Auslegung der Verordnung Nr. 44/2001

29.      Was die Auslegung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 44/2001 betrifft, so gilt nach ständiger Rechtsprechung(9), da diese Verordnung das Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen(10) (im Folgenden: Brüsseler Übereinkommen) ersetzt, die Auslegung der Bestimmungen dieses Übereinkommens durch den Gerichtshof auch für die Verordnung, soweit die Bestimmungen dieser Unionsrechtsakte als gleichwertig angesehen werden können.

30.      Da der Wortlaut der Art. 26 und 29 des Brüsseler Übereinkommens mit dem der Art. 33 und 36 der Verordnung Nr. 44/2001, um deren Auslegung das vorlegende Gericht ersucht, fast identisch ist, können die Urteile des Gerichtshofs zur Auslegung des Brüsseler Übereinkommens eine für die Beantwortung der Fragen des vorlegenden Gerichts geeignete Grundlage bilden(11).

3.      Zur Abgrenzung der Vorlagefragen

31.      Erstens macht BNP Paribas nach den Angaben des vorlegenden Gerichts unter Berufung auf das Urteil des Employment Tribunal die Unzulässigkeit der später von TR in Frankreich erhobenen Klage geltend. Meiner Ansicht nach entspricht eine solche Situation der von Art. 33 Abs. 3 der Verordnung Nr. 44/2001 erfassten Fallgruppe, bei der die Anerkennung in einem Rechtsstreit vor dem Gericht eines Mitgliedstaats verlangt wird. Wie im Bericht von P. Jenard(12) hervorgehoben wird, betrifft diese Vorschrift den Fall, dass eine Partei die Anerkennung im Wege der Einrede geltend macht.

32.      Zwar darf die Anerkennung nicht mit der Rechtskraft verwechselt werden(13), doch sind diese beiden Begriffe miteinander verknüpft. Die Rechtskraft ist gewissermaßen eine der Facetten der Anerkennung. Genauer gesagt kann die Anerkennung als Ausprägung der Rechtskraft sowohl einen positiven Aspekt aufweisen, indem sie es ermöglicht, die durch eine Entscheidung, die in einem ersten Mitgliedstaat ergangen ist, geschaffene rechtliche Situation auf einen zweiten Mitgliedstaat zu erstrecken, als auch einen negativen Aspekt, indem sie es als Ausprägung der Rechtskraft verbietet, die im ersten Mitgliedstaat ergangene gerichtliche Entscheidung dadurch in Frage zu stellen, dass in einem zweiten Staat Anträge zu Punkten gestellt werden, die mit Punkten identisch sind, über die in dieser Entscheidung befunden wurde(14).

33.      Daraus ergibt sich, dass der Ausgangsrechtsstreit aus dem Blickwinkel dieses zweiten Aspekts der in der Verordnung Nr. 44/2001 aufgestellten Anerkennungsregeln zu betrachten ist. Meiner Ansicht nach wird dadurch eine zweifache Problematik aufgezeigt. Zum einen ist zu klären, auf welchen Grundlagen die Grenzen der Rechtskraft einer in einem ersten Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung, deren Anerkennung vor einem Gericht eines zweiten Mitgliedstaats verlangt wird, zu bestimmen sind. Zum anderen impliziert dies die Klärung der Frage, in welchem Verhältnis diese Entscheidung zu der im zweiten Mitgliedstaat erhobenen Klage steht, damit geprüft werden kann, ob das neue Verfahren aufgrund der Rechtskraft des im ersten Mitgliedstaat ergangenen Urteils ganz oder teilweise unzulässig ist.

34.      Zweitens tritt TR der Darstellung der britischen Regel des „abuse of process“ durch das vorlegende Gericht entgegen und macht geltend, diese Regel sei auf Fälle beschränkt, in denen der Kläger einen Verfahrensmissbrauch begangen habe, so dass es ihm nicht verwehrt sei, ein zweites Verfahren einzuleiten. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs spricht jedoch eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt hat und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu überprüfen hat(15). Daher hat der Gerichtshof meines Erachtens allein anhand der vom vorlegenden Gericht unterbreiteten rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkte zu entscheiden.

B.      Zur ersten Vorlagefrage

35.      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 33 und 36 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass eine in einem Mitgliedstaat ergangene Entscheidung zur Unzulässigkeit von Anträgen, die bei einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats gestellt werden, führt, weil die Rechtsvorschriften jedes dieser Staaten eine Verfahrensregel enthalten, wonach alle Anträge, die schon im ersten Verfahren hätten gestellt werden können, gebündelt werden müssen.

36.      Mit anderen Worten impliziert diese Frage, dass geklärt werden soll, ob für die Anwendung der in der Verordnung Nr. 44/2001 festgelegten Anerkennungsregeln die Grenzen der Rechtskraft der im Ursprungsstaat ergangenen Entscheidung unter Bezugnahme auf eine innerstaatliche Vorschrift über die Bündelung von Anträgen zu bestimmen sind.

37.      Zur Beantwortung dieser Frage erscheint es mir erforderlich, vorab die Konturen des Begriffs „Anerkennung“ herauszuarbeiten. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Anerkennung als solche in der Verordnung Nr. 44/2001 nicht definiert wird. In ihrem Art. 33 Abs. 1 heißt es lediglich: „Die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen werden in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt, ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf.“ Und ihr Art. 36 lautet: „Die ausländische Entscheidung darf keinesfalls in der Sache selbst nachgeprüft werden.“

38.      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind allerdings bei der Bestimmung des Sinns und der Tragweite einer Bestimmung des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden, zu berücksichtigen(16).

39.      In Bezug auf die Ziele der Verordnung Nr. 44/2001 geht aus ihren Erwägungsgründen 2, 6, 16 und 17 hervor, dass sie den freien Verkehr der in den Mitgliedstaaten ergangenen Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen gewährleisten soll(17), indem die Zuständigkeitsregeln vereinheitlicht und die Formalitäten im Hinblick auf eine rasche und unkomplizierte Anerkennung und Vollstreckung dieser Entscheidungen vereinfacht werden(18).

40.      In Bezug auf das mit der Verordnung Nr. 44/2001 geschaffene System wird in ihren Erwägungsgründen 16 und 17 die Bedeutung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten bei der Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen hervorgehoben, was voraussetzt, dass die in dieser Verordnung enthaltenen Begriffe nicht restriktiv ausgelegt werden(19).

41.      Schließlich werden im Jenard-Bericht die Konsequenzen der Anerkennung wie folgt definiert: „Durch die Anerkennung sollen den Entscheidungen die Wirkungen beigelegt werden, die ihnen in dem Staat zukommen, in dessen Hoheitsgebiet sie ergangen sind.“(20)

42.      Im Urteil Hoffmann(21) griff der Gerichtshof die letztgenannte Anregung ausdrücklich auf und präzisierte die Wirkungen der Anerkennung durch die Feststellung, dass eine gemäß Art. 26 des Brüsseler Übereinkommens anerkannte ausländische Entscheidung im ersuchten Staat grundsätzlich dieselbe Wirkung entfalten muss wie im Urteilsstaat(22).

43.      Sodann führte der Gerichtshof im Kontext der Vollstreckung einer in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung in einem anderen Mitgliedstaat, wiederum unter Bezugnahme auf den Jenard-Bericht(23), aus: „Wenn … den Entscheidungen durch die Anerkennung grundsätzlich die Wirkungen beigelegt werden sollen, die ihnen in dem Mitgliedstaat zukommen, in dessen Hoheitsgebiet sie ergangen sind …, geht es nicht an, einem Urteil bei seiner Vollstreckung Rechtswirkungen zuzuerkennen, die es im Ursprungsmitgliedstaat nicht hat … oder die ein unmittelbar im Vollstreckungsstaat ergangenes Urteil derselben Art nicht erzeugen würde.“(24)

44.      Aus diesen Urteilen geht hervor, dass der Gerichtshof im Einklang mit der Struktur der Verordnung Nr. 44/2001, die im Wesentlichen die Regeln für die Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen von den Regeln für ihre Vollstreckung trennt(25), danach unterscheidet, welcher der beiden Begriffe im Mittelpunkt eines Rechtsstreits steht.

45.      In Bezug auf die die Anwendung von Zwangsmaßnahmen zur Gewährleistung der Verwirklichung eines in einer Entscheidung zuerkannten Rechts implizierende Vollstreckung von Urteilen(26) verweist der Gerichtshof ausdrücklich sowohl auf das Recht des Ursprungsstaats als auch auf das Recht des ersuchten Staates, damit die Wirkungen der ausländischen Entscheidung an die Wirkungen angepasst werden, die eine innerstaatliche Entscheidung hätte(27).

46.      Hinsichtlich der Anerkennung von Entscheidungen hat der Gerichtshof in den oben genannten Urteilen dagegen ausschließlich auf das Recht des Mitgliedstaats Bezug genommen, in dem das Urteil ergangen ist. Daraus ergibt sich meines Erachtens, dass die Anerkennung darin besteht, die nach dem Recht des Ursprungsstaats an die dort ergangenen gerichtlichen Entscheidungen geknüpften Regeln auf einen anderen Mitgliedstaat zu erstrecken. Somit ist nach dieser, in der Lehre als „Grundsatz der Wirkungserstreckung“ bezeichneten Lösung auf das Recht des Ursprungsmitgliedstaats abzustellen, um die Wirkungen des in einem zweiten Mitgliedstaat anzuerkennenden Urteils zu bestimmen, zu denen insbesondere die dort behandelten Punkte, die zuerkannten Rechte und ihre materiellen Auswirkungen auf die Rechtsstellung der Parteien gehören(28).

47.      Diese Rechtsprechung hat meines Wissens nach den angeführten Urteilen keine Änderung erfahren, die sie in Frage stellen könnte.

48.      Im Urteil Gothaer hat der Gerichtshof zwar u. a. entschieden, dass „die Art. 32 und 33 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen sind, dass das Gericht, vor dem die Anerkennung einer Entscheidung, mit der das Gericht eines anderen Mitgliedstaats seine Zuständigkeit wegen einer Gerichtsstandsvereinbarung verneint hat, verlangt wird, durch die in den Gründen eines rechtskräftigen Urteils, mit dem die Klage als unzulässig abgewiesen wurde, enthaltene Feststellung in Bezug auf die Wirksamkeit dieser Vereinbarung gebunden ist“(29).

49.      Aus diesem Urteil ergibt sich, dass den Gründen einer Entscheidung, mit der aufgrund einer Gerichtsstandsvereinbarung die Unzuständigkeit festgestellt wird, unabhängig von der Tragweite, die sie nach dem nationalen Recht haben, keine Rechtskraft zukommt. Auf den ersten Blick könnte ein solches Ergebnis darauf hindeuten, dass der Gerichtshof im Bereich der Anerkennung die Bezugnahme auf das Ursprungsrecht zugunsten eines autonomen Verständnisses der Rechtskraft aufgegeben hat. Meines Erachtens trifft dies jedoch bei näherer Betrachtung der vom Gerichtshof gegebenen Begründung nicht zu.

50.      Insoweit ist zu beachten, dass das Urteil im besonderen Kontext der Anerkennung einer Entscheidung ergangen ist, mit der die Zuständigkeit eines Mitgliedstaats wegen einer Gerichtsstandsvereinbarung verneint wurde. In einem solchen Kontext hat der Gerichtshof im Wesentlichen festgestellt, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens und das Verbot, Urteile in der Sache nachzuprüfen, verletzt würden, wenn das Gericht eines Mitgliedstaats befugt wäre, die Entscheidung eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats zu überprüfen, das in Anwendung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 44/2001 seine Zuständigkeit verneint oder bejaht hat. Er hat daraus geschlossen, dass solche Erwägungen einen autonomen, von den nationalen Vorschriften unabhängigen Ansatz für die auf Unionsebene definierte Rechtskraft erforderlich machten(30).

51.      Überdies hat der Gerichtshof nicht nur ausdrücklich auf das Urteil Hoffmann(31) Bezug genommen, sondern zudem hervorgehoben, dass die Anerkennung von Entscheidungen, mit denen mitgliedstaatliche Gerichte ihre Zuständigkeit nach der Verordnung Nr. 44/2001 verneinen und die nach gemeinsamen unionsrechtlichen Zuständigkeitsvorschriften ergehen, eigene Regeln gelten(32). Daraus folgt, dass der Gerichtshof, wie die französische Regierung vorträgt, die Tragweite dieser Lösung auf die spezielle Fallgestaltung beschränken wollte(33).

52.      Aus all diesen Erwägungen schließe ich, dass nach dem Stand der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wenn die Anerkennung verlangt wird, grundsätzlich auf das Recht des Mitgliedstaats, in dem eine Entscheidung ergangen ist, abgestellt werden muss, um ihre Wirkungen zu bestimmen. Daraus folgt, dass im Ausgangsverfahren zur Bestimmung der dem Urteil des Employment Tribunal zukommenden Wirkungen das Recht des Vereinigten Königreichs berücksichtigt werden muss.

53.      Gleichwohl muss das Recht des Ursprungsstaats nach Natur und Gegenstand Einfluss auf die Abgrenzung der Wirkungen der Entscheidung haben können. Ich bin jedoch der Ansicht, dass die im Recht des Vereinigten Königreichs vorgesehene Verfahrensregel über die Bündelung von Anträgen nach ihrer Beschreibung durch das vorlegende Gericht dies nicht vermag.

54.      Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts(34) beruht die Regel des „abuse of process“, wonach die Parteien verpflichtet sind, alle Klagegründe und Anträge, die sie in dem zur ursprünglichen Entscheidung führenden Verfahren hätten vorbringen können, zu bündeln(35), nicht auf dem Begriff der res judicata. Sie habe den Charakter einer „Regel der öffentlichen Ordnung, die darauf beruht, dass es sowohl im allgemeinen Interesse als auch im Interesse der Parteien selbst wünschenswert ist, dass sich der Rechtsstreit nicht in die Länge zieht und der Beklagte nicht mit mehreren aufeinanderfolgenden Streitigkeiten überzogen wird, wenn eine genügt hätte. Es ist der Missbrauch, gegen den sich diese Regel richtet.“

55.      In Anbetracht dieser Merkmale dürfte die Verfahrensregel auf einem dem Vereinigten Königreich eigenen Verständnis von Prozessökonomie beruhen, da sie darauf abzielt, die missbräuchliche Einleitung eines etwaigen neuen Verfahrens durch den Kläger zu verhindern.

56.      Hieraus ergibt sich aus dem Blickwinkel der Anerkennung einer in einem ersten Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung in einem anderen Mitgliedstaat, dass die Regel über die Bündelung von Anträgen die durch die Entscheidung im ersten Mitgliedstaat in der Sache bereits entschiedenen Punkte, die darin zuerkannten Rechte und deren materielle Auswirkungen auf die Rechtsstellung der Parteien überhaupt nicht betrifft.

57.      Somit wirkt sich eine solche Regel meines Erachtens nicht auf die Wirkungen der Entscheidung aus, deren Anerkennung begehrt wird.

58.      Ein gegenteiliges Ergebnis stünde im Übrigen nicht mit der Systematik der Verordnung Nr. 44/2001 im Einklang.

59.      Diese Verordnung soll nämlich den freien Verkehr gerichtlicher Entscheidungen erleichtern, indem die Zuständigkeitsregeln vereinheitlicht und die Formalitäten im Hinblick auf eine rasche und unkomplizierte Anerkennung und Vollstreckung dieser Entscheidungen vereinfacht werden. Wie der Gerichtshof hervorgehoben hat, stellen die Vorschriften über die Zuständigkeit und die Vorschriften über die Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen keine separaten und autonomen Regelungen dar, sondern hängen eng miteinander zusammen(36).

60.      Insoweit könnte die im Stadium der Anerkennung einer gerichtlichen Entscheidung erfolgende Berücksichtigung einer im Recht des Mitgliedstaats, aus dem die gerichtliche Entscheidung stammt, vorgesehenen nationalen Regel über die Bündelung von Klageanträgen die spätere Umsetzung der in Kapitel II der Verordnung Nr. 44/2001 enthaltenen Vorschriften gefährden. Genauer gesagt enthält diese Verordnung in den Abschnitten 5 und 9 des Kapitels II besondere Zuständigkeitsregeln für individuelle Arbeitsverträge sowie Bestimmungen für Fälle von Rechtshängigkeit und im Zusammenhang stehende Klagen.

61.      Die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Pflicht, alle Anträge in nur einer Klage zu bündeln, ist meines Erachtens geeignet, in die Mechanismen der Verordnung Nr. 44/2001 einzugreifen. Eine solche Pflicht könnte nämlich zur Folge haben, dass eine Partei daran gehindert wird, neue Anträge bei einem Gericht zu stellen, das nach dieser Verordnung für die Entscheidung über die Anträge zuständig ist, oder dass die autonomen Bestimmungen der Verordnung umgangen werden, mit denen konkurrierende Verfahren, die zu widersprüchlichen gerichtlichen Entscheidungen führen können, verhindert werden sollen.

62.      Somit kann die Anwendung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 44/2001 nicht vom Inhalt der Verfahrensregeln eines Mitgliedstaats abhängen, denn sonst würde das Ziel des freien Verkehrs gerichtlicher Entscheidungen beeinträchtigt.

63.      Dieses Ergebnis wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass das Recht des Mitgliedstaats, in dem die Anerkennung verlangt wird, eine ähnliche Vorschrift über die Bündelung von Klagen enthält. Denn aus den von mir dargelegten Gründen kann der bloße Umstand, dass die Rechtsvorschriften beider Mitgliedstaaten übereinstimmend eine solche Pflicht vorsehen, es ebenso wenig rechtfertigen, dass die in der Verordnung Nr. 44/2001 vorgesehenen Zuständigkeitsregeln außer Kraft gesetzt werden.

64.      In Anbetracht all dieser Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass die Bestimmungen der Art. 33 und 36 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen sind, dass die Anerkennung einer gerichtlichen Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist, dessen Recht eine Regel für die Bündelung von Anträgen vorsieht, die es den Parteien verbietet, in Bezug auf Ansprüche, die schon im ursprünglichen Verfahren hätten geltend gemacht werden können, eine neue Klage zu erheben, einer Entscheidung des Gerichts des Mitgliedstaats, in dem die Anerkennung verlangt wird, über solche Ansprüche selbst dann nicht entgegensteht, wenn das Recht dieses Staates eine ähnliche Pflicht zur Bündelung von Anträgen vorsieht.

65.      Da eine innerstaatliche Verfahrensregel über die Bündelung von Anträgen kein relevantes Kriterium für die Bestimmung der Wirkungen darstellt, die einer in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung zukommen, bleibt zu klären – worauf die zweite und die dritte Vorlagefrage abzielen –, auf welchen Grundlagen der Zusammenhang zwischen einer solchen Entscheidung und den in einem neuen Verfahren vor einem Gericht eines zweiten Mitgliedstaats gestellten Anträgen zu bestimmen ist.

C.      Zur zweiten und zur dritten Vorlagefrage

1.      Zur Umformulierung der Fragen

66.      Die aus zwei Teilen bestehende zweite Frage des vorlegenden Gerichts wird für den Fall gestellt, dass die erste Frage verneint wird.

67.      Erstens möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine Klage wie die wegen „unfair dismissal“ im Vereinigten Königreich denselben Anspruch betrifft wie die im französischen Recht vorgesehene Klage wegen Kündigung ohne tatsächlichen und schwerwiegenden Grund, so dass, nachdem der Arbeitnehmer im Vereinigten Königreich eine Entscheidung erwirkt hat, mit der das „unfair dismissal“ festgestellt und eine entsprechende Entschädigung („compensatory award“) zugesprochen wurde, die Anträge des Arbeitnehmers auf Schadensersatz wegen Entlassung ohne tatsächlichen und schwerwiegenden Grund, Ausgleichszahlung für den Verzicht auf die Geltendmachung der Kündigungsfrist und Entlassungsentschädigung vor dem französischen Gericht unzulässig wären.

68.      Zweitens fragt das vorlegende Gericht, ob insoweit zwischen dem Schadensersatz wegen Entlassung ohne tatsächlichen und schwerwiegenden Grund (der möglicherweise denselben Anspruch betrifft wie der „compensatory award“) einerseits sowie der Entlassungsentschädigung und dem Ausgleich für den Verzicht auf die Geltendmachung der Kündigungsfrist, die nach französischem Recht geschuldet werden, wenn die Entlassung auf einem tatsächlichen und schwerwiegenden Grund beruht, nicht aber bei einer Entlassung wegen einer groben Verfehlung, andererseits zu unterscheiden ist.

69.      Mit seiner dritten Frage, die ebenfalls für den Fall gestellt wird, dass die erste Frage verneint wird, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 33 und 36 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen sind, dass eine Klage wie die wegen „unfair dismissal“ im Vereinigten Königreich und eine Klage auf Zahlung im Arbeitsvertrag vorgesehener Boni oder Prämien denselben Anspruch betreffen, wenn sie auf demselben Vertragsverhältnis zwischen den Parteien beruhen.

70.      Die Prüfung dieser Fragen ergibt zunächst, dass der Gerichtshof mit der zweiten Frage aufgefordert wird, die im britischen und im französischen Recht vorgesehenen Zahlungen eingehend zu untersuchen, um zu klären, ob die Klage wegen „unfair dismissal“ und die Klage wegen Kündigung ohne tatsächlichen und schwerwiegenden Grund auf demselben Anspruch beruhen. Sodann ist festzustellen, dass die dritte Frage, die sich auf die mögliche Anspruchsidentität bei einer Klage wegen „unfair dismissal“ und einer Klage auf Zahlung im Arbeitsvertrag vorgesehener Prämien oder Boni bezieht, ebenfalls eine Prüfung des wesentlichen Inhalts der im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehenden Rechtsvorschriften voraussetzt.

71.      Daraus folgt meines Erachtens, dass diese Fragen die Befassung mit einer heiklen Aufgabe implizieren, die darin besteht, technische Vorschriften des im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehenden britischen und französischen Rechts zu verstehen und dann miteinander zu vergleichen. Nach ständiger Rechtsprechung ist der Gerichtshof aber nicht für die Auslegung des nationalen Rechts zuständig, sondern diese Aufgabe obliegt ausschließlich dem vorlegenden Gericht(37).

72.      Nach ebenso ständiger Rechtsprechung ist es allerdings im Rahmen der durch Art. 267 AEUV begründeten Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof dessen Aufgabe, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren(38).

73.      Im vorliegenden Fall geht aus dem Wortlaut des Vorabentscheidungsersuchens(39) hervor, dass das vorlegende Gericht, über den Vergleich des Inhalts der im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften hinaus, die Frage aufwirft, wie in einem Kontext, in dem die Anerkennung in einem Rechtsstreit verlangt wird, im Hinblick auf die Bestimmungen der Art. 33 und 36 der Verordnung Nr. 44/2001 die in ihrer französischen Sprachfassung verwendeten Begriffe „cause“ (Grundlage) und „objet“ (Gegenstand)(40) auszulegen sind. Insbesondere möchte das vorlegende Gericht der Sache nach wissen, ob bei der Bestimmung der Identität von Grundlage und Gegenstand bei Klagen, die mit demselben Arbeitsvertrag zusammenhängen, zwischen Klagen in Bezug auf die mit der Erfüllung des Arbeitsvertrags verbundenen Pflichten und Klagen, die mit der Auflösung eines solchen Vertrags einhergehende Pflichten betreffen, zu unterscheiden ist.

74.      Da die zweite und die dritte Frage unabhängig von ihrem Wortlaut auf die Auslegung des Unionsrechts abzielen, schlage ich vor, diese Fragen wie folgt umzuformulieren, um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort geben zu können:

Sind die Art. 33 und 36 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen, dass in dem Fall, in dem die Anerkennung einer in einem ersten Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung in einem Rechtsstreit vor dem Gericht eines zweiten Mitgliedstaats verlangt wird, Klagen, die auf denselben Arbeitsvertrag gestützt werden und von denen die einen Pflichten im Zusammenhang mit der Erfüllung dieses Vertrags und die anderen Pflichten im Zusammenhang mit dessen Auflösung betreffen, dieselbe Grundlage und denselben Gegenstand haben?

2.      Zu den umformulierten Fragen

a)      Vorbemerkungen

75.      Das vorlegende Gericht geht davon aus, dass für die Beurteilung der Zulässigkeit der in einem zweiten Mitgliedstaat gestellten Anträge das Kriterium der Identität der Parteien, der Grundlage und des Gegenstands heranzuziehen ist. Vor der Prüfung der umformulierten Frage ist daher zu klären, ob ein solches Kriterium überhaupt relevant ist.

76.      Dazu ist zunächst festzustellen, dass die Art. 33 und 36 der Verordnung Nr. 44/2001 keine Bezugnahme auf die Identität der Parteien, der Grundlage und des Gegenstands enthalten. Diese Begriffe stellen vielmehr ein zentrales Element für die Anwendung von Art. 27 dieser Verordnung dar, der die Rechtshängigkeit betrifft(41).

77.      Die Rechtshängigkeit setzt voraus, dass zwei gleichermaßen zuständige Unionsgerichte mit demselben Rechtsstreit befasst sind. In einem solchen Fall sieht Art. 27 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 Folgendes vor: „Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Klagen wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht, so setzt das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht.“ Im 15. Erwägungsgrund der Verordnung heißt es dazu, dass die Rechtshängigkeitsregeln erlassen wurden, um Parallelverfahren soweit wie möglich zu vermeiden, damit nicht in zwei Mitgliedstaaten miteinander unvereinbare Entscheidungen ergehen.

78.      Die Bestimmungen über die Rechtshängigkeit orientieren sich somit an der allgemeinen Systematik der Verordnung Nr. 44/2001. Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten und das Ziel des freien Verkehrs gerichtlicher Entscheidungen würden nämlich gefährdet, wenn es keinen autonomen Mechanismus gäbe, der die Entstehung von Parallelverfahren wegen derselben Streitigkeit verhindern kann(42).

79.      Insofern ist die Rechtshängigkeit eng mit dem negativen Aspekt der Rechtskraft verknüpft(43). Denn die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung, deren Anerkennung in einem Rechtsstreit verlangt wird, verhindert, dass eine von einem Gericht eines ersten Mitgliedstaats entschiedene Streitigkeit Gegenstand einer neuen Klage vor einem Gericht eines zweiten Mitgliedstaats sein kann.

80.      Daraus folgt, dass die Vorschriften über die Rechtshängigkeit und die Anerkennung den gemeinsamen Zweck haben, zur vollen Wirkung der im Ursprungsmitgliedstaat ergangenen gerichtlichen Entscheidung beizutragen, ohne dass es möglich sein soll, sie durch eine Entscheidung eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats in Frage zu stellen(44).

81.      Überdies nahm der Gerichtshof auf diesen Zusammenhang bei seiner Entscheidung Bezug, dass mit den Bestimmungen über die Anerkennung ein Rechtsstreit unvereinbar wäre, der denselben Gegenstand hat und zwischen denselben Parteien geführt wird wie eine Klage, über die bereits von einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats entschieden wurde(45). Zur Stützung seiner Argumentation fügte der Gerichtshof im Wesentlichen hinzu, dass sich die Unvereinbarkeit einer solchen Klage aus den Bestimmungen über die Rechtshängigkeit ergibt, die den Fall betreffen, dass „bei Gerichten verschiedener Vertragsstaaten Klagen wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht“ werden, und die das später angerufene Gericht verpflichten, sich von Amts wegen zugunsten des zuerst angerufenen Gerichts für unzuständig zu erklären. Daraus leitete er ab, dass die genannten Bestimmungen das Bestreben zum Ausdruck bringen, zu vermeiden, dass die Gerichte zweier Vertragsstaaten über denselben Rechtsstreit entscheiden(46).

82.      Darüber hinaus sollen, wie der Gerichtshof im Wesentlichen feststellte, die Bestimmungen über die Rechtshängigkeit die Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen erleichtern, indem sie verhindern, dass die Anerkennung einer im Ursprungsstaat ergangenen Entscheidung wegen ihrer Unvereinbarkeit mit einer Entscheidung, die zwischen denselben Parteien in einem anderen Mitgliedstaat ergangen ist, versagt werden könnte(47).

83.      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass zu den in Art. 34 der Verordnung Nr. 44/2001 genannten Gründen für die Versagung der Anerkennung zum einen die Unvereinbarkeit mit einer im ersuchten Mitgliedstaat zwischen denselben Parteien ergangenen Entscheidung(48) und zum anderen die Unvereinbarkeit mit einer früheren, in einem anderen Staat ergangenen Entscheidung(49) gehören.

84.      Im Hinblick auf dieses Ziel und die Unmöglichkeit, aus einem Vergleich der verschiedenen innerstaatlichen Bestimmungen einen gemeinsamen Ansatz für die Rechtshängigkeit abzuleiten(50), kam der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die Begriffe der Identität der Parteien, der Grundlage und des Gegenstands autonom auszulegen sind(51).

85.      Die Vorschriften über die Rechtshängigkeit und die Versagung der Anerkennung einer gerichtlichen Entscheidung erstrecken sich jedoch nicht auf den speziellen von Art. 33 Abs. 3 der Verordnung Nr. 44/2001 erfassten Fall.

86.      Auch wenn die Vorschriften über die Rechtshängigkeit verhindern sollen, dass es zu widersprüchlichen Entscheidungen und damit zu Fällen, in denen die Einrede der Rechtskraft erhoben werden könnte, kommt, gibt es nämlich Situationen, für die Art. 27 der Verordnung nicht gilt, sei es, weil das später angerufene Gericht die Anwendung dieser Vorschrift unterlassen hat oder weil mangels paralleler Verfahren die Rechtshängigkeit nicht wirksam geltend gemacht werden konnte.

87.      Desgleichen ist eine Anerkennung nur dann zu versagen, wenn die Einrede der Rechtskraft nicht zuvor im Rahmen eines zweiten Verfahrens erhoben wurde, so dass zwei tatsächlich ergangene Entscheidungen miteinander unvereinbar sind.

88.      Der in Art. 33 Abs. 3 der Verordnung Nr. 44/2001 geregelte Fall betrifft eine sowohl intermediäre als auch autonome Situation, bei der die Anerkennung eines in einem ersten Mitgliedstaat ergangenen Urteils in einem Rechtsstreit verlangt wird, um Ansprüche abzuwehren, die im Rahmen eines Verfahrens vor dem Gericht eines zweiten Mitgliedstaats geltend gemacht werden.

89.      In einem solchen Fall muss das Gericht, vor dem die Einrede der Rechtskraft erhoben wird, über einfache Vergleichskriterien verfügen, die es ihm ermöglichen, über die Zulässigkeit der bei ihm gestellten Anträge zu entscheiden. Aus diesem Blickwinkel stellt die Identität des Streitstoffs der im Ursprungsmitgliedstaat ergangenen gerichtlichen Entscheidung und des Streitstoffs, mit dem das Gericht des anderen Mitgliedstaats befasst wurde, das Kernelement dieses Vergleichs dar. Angesichts des von mir angesprochenen gemeinsamen Zwecks der Mechanismen setzt eine solche Identität logischerweise voraus, dass ein Zusammenhang zwischen den Parteien, der Grundlage und dem Gegenstand jedes Verfahrens hergestellt wird.

90.      Daher scheint mir die Übertragung des für die Rechtshängigkeit geltenden Kriteriums der Identität der Parteien, der Grundlage und des Gegenstands geeignet, dem nationalen Richter ein unionsrechtlich definiertes Instrument an die Hand zu geben(52), das der Notwendigkeit gerecht wird, die Wiederholung eines bereits von einem anderen Unionsgericht entschiedenen Rechtsstreits zu vermeiden.

91.      Hervorzuheben ist allerdings, dass dieses Kriterium allein dazu dient, dem Richter die Prüfung zu ermöglichen, ob über die bei ihm anhängige Klage bereits ein Gericht eines Mitgliedstaats entschieden hat, so dass seine Anwendung keinen Einfluss auf die Wirkungen der einer gesonderten Regelung unterliegenden Anerkennung hat.

92.      Mit anderen Worten bin ich der Ansicht, dass zwar die Beurteilung der Zulässigkeit der vor einem Gericht eines Mitgliedstaats gestellten Anträge einen auf der Identität der Parteien, der Grundlage und des Gegenstands beruhenden Vergleich voraussetzt, doch sind die Wirkungen der ursprünglichen gerichtlichen Entscheidung, deren Anerkennung in einem Rechtsstreit verlangt wird, im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs stets ausschließlich anhand des Rechts des Ursprungsstaats zu bestimmen.

93.      Diese beiden Lösungen greifen meines Erachtens harmonisch ineinander. Ich halte den komparativen Ansatz für geeignet, die Wirkungen einer Entscheidung in dem Mitgliedstaat, in dem sie erlassen wurde, zu wahren, indem jede Möglichkeit, sie durch eine in einem zweiten Mitgliedstaat erhobene Klage in Frage zu stellen, ausgeschlossen wird.

94.      Angesichts all dieser Überlegungen bin ich der Auffassung, dass die umformulierten Fragen im Wege einer im Licht der die Anerkennung regelnden Vorschriften vorzunehmenden Übertragung der vom Gerichtshof für die Anwendung von Art. 27 der Verordnung Nr. 44/2001 entwickelten Auslegung der Begriffe „Grundlage“ und „Gegenstand“ zu prüfen sind.

b)      Zur Identität von Grundlage und Gegenstand

95.      In Bezug auf die Identität der Grundlage hat der Gerichtshof festgestellt, dass im Sinne der Regeln für die Rechtshängigkeit diese Bedingung erfüllt ist, wenn die von den Parteien geführten Rechtsstreitigkeiten auf demselben Vertragsverhältnis beruhen(53). Aufgrund eines allgemeineren Ansatzes versteht der Gerichtshof darunter den Sachverhalt und die rechtliche Regelung, die der Klage zugrunde lagen(54).

96.      Angesichts dieser Definition besteht meines Erachtens kein Zweifel daran, dass die vom Employment Tribunal beschiedenen und die vor den französischen Gerichten gestellten Anträge dieselbe Grundlage haben, da sie in tatsächlicher Hinsicht auf der Auflösung des Arbeitsvertrags zwischen den Parteien und in rechtlicher Hinsicht auf den durch diesen Vertrag entstandenen Verpflichtungen beruhen.

97.      In Bezug auf die Identität des Gegenstands im Sinne von Art. 27 der Verordnung Nr. 44/2001 stellte der Gerichtshof zunächst fest, dass sie nicht auf die formale Identität zweier Klagen beschränkt werden kann(55).

98.      Im Fall eines internationalen Kaufvertrags über bewegliche Sachen führte der Gerichtshof hierzu aus, dass die auf Vertragserfüllung gerichtete Klage den Zweck verfolgt, den Vertrag wirksam werden zu lassen, während die Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit und Auflösung ihm gerade jede Wirksamkeit nehmen soll. Der Gerichtshof leitete daraus ab, dass die Wirksamkeit des Vertrags Kernpunkt beider Rechtsstreitigkeiten ist und die Klagen denselben Gegenstand haben(56).

99.      Der Gerichtshof stellte sodann klar, dass der Gegenstand im Zweck der Klage besteht, wobei der Begriff „Gegenstand“ nicht auf die formale Identität der beiden Klagen beschränkt werden kann, und dass hierfür die jeweiligen Klageansprüche in den Rechtsstreitigkeiten zu berücksichtigen sind(57). In Anbetracht dessen ist der Gerichtshof der Ansicht, dass dieser Begriff weit auszulegen ist(58).

100. Auf der Grundlage dieser Definition hat der Gerichtshof eine Kasuistik zum Begriff „Gegenstand“ ausgearbeitet(59). Demnach betrifft eine Klage auf Feststellung, dass der Beklagte für einen Schaden haftet, und auf dessen Verurteilung zur Zahlung von Schadensersatz denselben Anspruch wie eine vom Beklagten früher erhobene Klage auf Feststellung, dass er für diesen Schaden nicht haftet(60). Dasselbe gilt erst recht, wenn die Klagen auf den Ersatz desselben Schadens gerichtet sind(61). Dagegen hat er die Identität des Gegenstands bei Anträgen verneint, von denen der eine darauf abzielte, einen Beklagten haftbar zu machen, und der andere darauf, die Höhe des Schadensersatzes für den Fall der Haftung zu beschränken(62).

101. Aus diesen Beispielen ergibt sich, dass der Gerichtshof im Rahmen einer weiten Auslegung des Begriffs „Gegenstand“ den Zweck der Klagen im Licht der potenziellen Auswirkungen der zu treffenden Entscheidungen analysiert, um jedes Risiko einer Unvereinbarkeit von Entscheidungen, die in zwei Mitgliedstaaten ergangen sind, zu vermeiden.

102. Diese Definition der Identität des Gegenstands ist nunmehr auf die Vorschriften über die Anerkennung zu übertragen. Hierzu stelle ich fest, dass Rechtshängigkeit die konkurrierende Befassung zweier nach der Verordnung Nr. 44/2001 zuständiger Gerichte voraussetzt. In einem solchen Kontext zweier parallel geführter Verfahren ist es logisch, auf den jeweiligen Zweck der gleichzeitig anhängigen Klagen abzustellen.

103. Wird die Anerkennung im Wege einer Einrede der Rechtskraft verlangt, muss im Wesentlichen geprüft werden, ob sich die bei einem Gericht eines zweiten Mitgliedstaats gestellten Anträge mit der zuvor im ersten Mitgliedstaat entschiedenen Sache überschneiden.

104. Dies impliziert meines Erachtens, dass geklärt werden muss, ob das vom Kläger mit der Erhebung einer neuen Klage angestrebte Ergebnis mit dem Inhalt des Klagebegehrens, über das durch die ursprüngliche Entscheidung entschieden wurde, kollidiert, und sei es auch nur potenziell.

105. Daraus ergibt sich, dass im Kontext der Anerkennung in einem Rechtsstreit die Prüfung der Identität des Gegenstands anhand eines genauen Vergleichs zwischen den beim Gericht des ersten Mitgliedstaats gestellten und von ihm beschiedenen Anträgen sowie von Inhalt und Zweck der im Verfahren vor dem Gericht des zweiten Mitgliedstaats gestellten Anträge zu erfolgen hat.

106. Auf der Grundlage dieser Elemente scheint mir, dass zwischen Klagen, die sich auf die Auflösung des Arbeitsvertrags beziehen, und Klagen auf Erfüllung des Arbeitsvertrags grundsätzlich keine Identität des Gegenstands besteht. Denn der von einem Gericht eines Mitgliedstaats entschiedene Rechtsstreit über die Auflösung des Arbeitsvertrags und ihre finanziellen Folgen hat keine Auswirkungen auf Klagen wegen der Zahlung von Beträgen, die aufgrund dieses Vertrags für die Erbringung der Arbeitsleistung geschuldet werden.

107. Eine solche Verschiedenheit des Gegenstands stellt allerdings keineswegs die Verpflichtung des Gerichts des zweiten Mitgliedstaats in Frage, bei seiner Entscheidung in der Sache die Wirkungen zu berücksichtigen, die sich aus der im ersten Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung ergeben. Somit wäre in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens das mit Klagen auf Zahlung von Entgelten für die Erfüllung eines Arbeitsvertrags befasste Gericht verpflichtet, die möglichen Implikationen der ursprünglichen Entscheidung auf die Entgeltansprüche des Klägers zu berücksichtigen(63).

108. In Anbetracht all dieser Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die zweite und die dritte Frage in ihrer umformulierten Fassung zu antworten, dass die Art. 33 und 36 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen sind, dass in dem Fall, in dem die Anerkennung einer in einem ersten Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung in einem Rechtsstreit vor dem Gericht eines zweiten Mitgliedstaats verlangt wird, Klagen, die auf denselben Arbeitsvertrag gestützt werden und von denen die einen Pflichten im Zusammenhang mit der Erfüllung dieses Vertrags und die anderen Pflichten im Zusammenhang mit dessen Auflösung betreffen, dieselbe Grundlage, aber nicht denselben Gegenstand haben.

VI.    Ergebnis

109. Im Licht der vorstehenden Erwägungen schlage ich vor, die Vorlagefragen der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) wie folgt zu beantworten:

1.      Die Art. 33 und 36 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen

sind dahin auszulegen, dass

die Anerkennung einer gerichtlichen Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist, dessen Recht eine Regel für die Bündelung von Anträgen vorsieht, die es den Parteien verbietet, in Bezug auf Ansprüche, die schon im ursprünglichen Verfahren hätten geltend gemacht werden können, eine neue Klage zu erheben, einer Entscheidung des Gerichts des Mitgliedstaats, in dem die Anerkennung verlangt wird, über solche Ansprüche selbst dann nicht entgegensteht, wenn das Recht dieses Staates eine ähnliche Pflicht zur Bündelung von Anträgen vorsieht.

2.      Die Art. 33 und 36 der Verordnung Nr. 44/2001

sind dahin auszulegen, dass

in dem Fall, in dem die Anerkennung einer in einem ersten Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung in einem Rechtsstreit vor dem Gericht eines zweiten Mitgliedstaats verlangt wird, Klagen, die auf denselben Arbeitsvertrag gestützt werden und von denen die einen Pflichten im Zusammenhang mit der Erfüllung dieses Vertrags und die anderen Pflichten im Zusammenhang mit dessen Auflösung betreffen, dieselbe Grundlage, aber nicht denselben Gegenstand haben.

































































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