C-422/22 – Zakład Ubezpieczeń Społecznych Oddział w Toruniu

C-422/22 – Zakład Ubezpieczeń Społecznych Oddział w Toruniu

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2023:512

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN RICHARD DE LA TOUR

vom 22. Juni 2023(1)

Rechtssache C422/22

Zakład Ubezpieczeń Społecznych Oddział w Toruniu

gegen

TE

(Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht, Polen])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Wanderarbeitnehmer – Soziale Sicherheit – Anzuwendende Rechtsvorschriften – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Art. 76 – Pflicht zur gegenseitigen Information und Zusammenarbeit – Verordnung (EG) Nr. 987/2009 – A1‑Bescheinigung – Widerruf von Amts wegen – Art. 6 und 16 – Keine Verpflichtung der ausstellenden Behörde, ein Dialog- und Vermittlungsverfahren mit der zuständigen Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einzuleiten – Art. 2 und 20 – Pflicht zur Unterrichtung dieser Behörde innerhalb kürzester Zeit nach Widerruf der Bescheinigung“

I.      Einleitung

1.        Das Vorabentscheidungsersuchen hat die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 987/2009(2) zum Gegenstand und betrifft konkret die analoge Anwendung der Art. 6 und 16 der Verordnung auf ein Verfahren des Widerrufs einer A1‑Bescheinigung.

2.        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen TE und dem Zakład Ubezpieczeń Społecznych Oddział w Toruniu (Sozialversicherungsanstalt, Geschäftsstelle Toruń, Polen) (im Folgenden: ZUS) über deren Entscheidung, die A1‑Bescheinigung zu widerrufen, mit der auf Antrag von TE sein Status für die Zwecke der Anwendung der polnischen Rechtsvorschriften zur Sozialversicherung im Zeitraum vom 22. August 2016 bis 21. August 2017 bescheinigt wurde.

3.        Der Gerichtshof hat noch nicht entschieden, welches Verfahren in einem solchen Fall des Widerrufs einer A1‑Bescheinigung auf Veranlassung der ausstellenden Behörde anzuwenden ist. Ich werde die Gründe darlegen, aus denen die Bestimmungen der Verordnung Nr. 987/2009 zu den Fällen, in denen Zweifel an der Gültigkeit einer solchen Bescheinigung bestehen, oder zur Feststellung der anwendbaren Rechtsvorschriften in einer solchen Situation nicht maßgeblich sind. Ich bin vielmehr der Ansicht, dass in Ermangelung eines Dialog- und Vermittlungsverfahrens die zuständigen Behörden der betroffenen Mitgliedstaaten bei einem Widerruf einer A1‑Bescheinigung von Amts wegen im Rahmen der vom Unionsgesetzgeber geregelten Zusammenarbeit einen nachträglichen Informationsaustausch vornehmen müssen, damit die Rechte der betroffenen Personen nicht beeinträchtigt werden.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Verordnung (EG) Nr. 883/2004

4.        Titel II („Bestimmung des anwendbaren Rechts“) der Verordnung (EG) Nr. 883/2004(3) umfasst die Art. 11 bis 16.

5.        In Art. 11 dieser Verordnung heißt es:

„(1)      Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel.

(3)      Vorbehaltlich der Artikel 12 bis 16 gilt Folgendes:

a)      eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats;

…“

6.        Art. 13 („Ausübung von Tätigkeiten in zwei oder mehr Mitgliedstaaten“) der Verordnung sieht in Abs. 2 vor:

„Eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, unterliegt

a)      den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, wenn sie dort einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt,

oder

b)      den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sich der Mittelpunkt ihrer Tätigkeiten befindet, wenn sie nicht in einem der Mitgliedstaaten wohnt, in denen sie einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt.“

7.        Nach Art. 72 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 hat die Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (im Folgenden: Verwaltungskommission) die Aufgabe, alle Verwaltungs- und Auslegungsfragen zu behandeln, die sich aus den Bestimmungen dieser Verordnung oder der Verordnung Nr. 987/2009 ergeben.

8.        Art. 76 („Zusammenarbeit“) Abs. 3, 4 und 6 der Verordnung Nr. 883/2004 lauten:

„(3)      Die Behörden und Träger der Mitgliedstaaten können für die Zwecke dieser Verordnung miteinander sowie mit den betroffenen Personen oder deren Vertretern unmittelbar in Verbindung treten.

(4)      Die Träger und Personen, die in den Geltungsbereich dieser Verordnung fallen, sind zur gegenseitigen Information und Zusammenarbeit verpflichtet, um die ordnungsgemäße Anwendung dieser Verordnung zu gewährleisten.

Die Träger beantworten gemäß dem Grundsatz der guten Verwaltungspraxis alle Anfragen binnen einer angemessenen Frist und übermitteln den betroffenen Personen in diesem Zusammenhang alle erforderlichen Angaben, damit diese die ihnen durch diese Verordnung eingeräumten Rechte ausüben können.

(6)      Werden durch Schwierigkeiten bei der Auslegung oder Anwendung dieser Verordnung die Rechte einer Person im Geltungsbereich der Verordnung in Frage gestellt, so setzt sich der Träger des zuständigen Mitgliedstaats oder des Wohnmitgliedstaats der betreffenden Person mit dem Träger des anderen betroffenen Mitgliedstaats oder den Trägern der anderen betroffenen Mitgliedstaaten in Verbindung. Wird binnen einer angemessenen Frist keine Lösung gefunden, so können die betreffenden Behörden die Verwaltungskommission befassen.“

B.      Verordnung Nr. 987/2009

9.        In den Erwägungsgründen 1, 2, 8 und 10 der Verordnung Nr. 987/2009 heißt es:

„(1)      Die [Verordnung Nr. 883/2004] modernisiert die Regeln für die Koordinierung der mitgliedstaatlichen Systeme der sozialen Sicherheit, legt dabei die Durchführungsmaßnahmen und ‑verfahren fest und achtet auf deren Vereinfachung, die allen Beteiligten zugute kommen soll. Hierfür müssen die Durchführungsbestimmungen erlassen werden.

(2)      Die Organisation einer wirksameren und engeren Zusammenarbeit zwischen den Trägern der sozialen Sicherheit ist maßgeblich, damit die Personen im Geltungsbereich der [Verordnung Nr. 883/2004] ihre Rechte so rasch und so gut wie möglich in Anspruch nehmen können.

(8)      Mitgliedstaaten, zuständige Behörden und Träger der sozialen Sicherheit sollten die Möglichkeit haben, sich auf vereinfachte Verfahren und Verwaltungsvereinbarungen zu einigen, die sie für wirksamer und innerhalb ihrer jeweiligen Systeme der sozialen Sicherheit für geeigneter halten. Solche Vereinbarungen sollten die Rechte der Personen im Geltungsbereich der [Verordnung Nr. 883/2004] allerdings nicht beeinträchtigen.

(10)      Zur Ermittlung des zuständigen Trägers – d. h. die für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften sind anwendbar oder ihm obliegt die Gewährung bestimmter Leistungen – muss die objektive Situation des Versicherten oder seiner Familienangehörigen von den Trägern eines oder mehrerer Mitgliedstaaten geprüft werden. Um den Schutz der betreffenden Person während dieses erforderlichen Informationsaustauschs unter den Trägern zu gewährleisten, ist ihr vorläufiger Anschluss an ein System der sozialen Sicherheit vorzusehen.“

10.      Titel I Kapitel II („Vorschriften über die Zusammenarbeit und den Datenaustausch“) der Verordnung Nr. 987/2009 umfasst die Art. 2 bis 7.

11.      Art. 2 („Umfang und Modalitäten des Datenaustauschs zwischen den Trägern“) der Verordnung sieht in Abs. 2 vor:

„Die Träger stellen unverzüglich all jene Daten, die zur Begründung und Feststellung der Rechte und Pflichten der Personen, für die die Grundverordnung gilt, benötigt werden, zur Verfügung oder tauschen diese ohne Verzug aus. Diese Daten werden zwischen den Mitgliedstaaten entweder unmittelbar von den Trägern selbst oder mittelbar über die Verbindungsstellen übermittelt.“

12.      Art. 5 („Rechtswirkung der in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Dokumente und Belege“) der Verordnung Nr. 987/2009 lautet:

„(1)      Vom Träger eines Mitgliedstaats ausgestellte Dokumente, in denen der Status einer Person für die Zwecke der Anwendung der Grundverordnung und der Durchführungsverordnung bescheinigt wird, sowie Belege, auf deren Grundlage die Dokumente ausgestellt wurden, sind für die Träger der anderen Mitgliedstaaten so lange verbindlich, wie sie nicht von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurden, widerrufen oder für ungültig erklärt werden.

(2)      Bei Zweifeln an der Gültigkeit eines Dokuments oder der Richtigkeit des Sachverhalts, der den im Dokument enthaltenen Angaben zugrunde liegt, wendet sich der Träger des Mitgliedstaats, der das Dokument erhält, an den Träger, der das Dokument ausgestellt hat, und ersucht diesen um die notwendige Klarstellung oder gegebenenfalls um den Widerruf dieses Dokuments. Der Träger, der das Dokument ausgestellt hat, überprüft die Gründe für die Ausstellung und widerruft das Dokument gegebenenfalls.

(3)      Bei Zweifeln an den Angaben der betreffenden Personen, der Gültigkeit eines Dokuments oder der Belege oder der Richtigkeit des Sachverhalts, der den darin enthaltenen Angaben zugrunde liegt, nimmt der Träger des Aufenthalts- oder Wohnorts, soweit dies möglich ist, nach Absatz 2 auf Verlangen des zuständigen Trägers die nötige Überprüfung dieser Angaben oder dieses Dokuments vor.

(4)      Erzielen die betreffenden Träger keine Einigung, so können die zuständigen Behörden frühestens einen Monat nach dem Zeitpunkt, zu dem der Träger, der das Dokument erhalten hat, sein Ersuchen vorgebracht hat, die Verwaltungskommission anrufen. Die Verwaltungskommission bemüht sich binnen sechs Monaten nach ihrer Befassung um eine Annäherung der unterschiedlichen Standpunkte.“

13.      Art. 6 („Vorläufige Anwendung der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats und vorläufige Gewährung von Leistungen“) der Verordnung Nr. 987/2009 bestimmt:

„(1)      Besteht zwischen den Trägern oder Behörden zweier oder mehrerer Mitgliedstaaten eine Meinungsverschiedenheit darüber, welche Rechtsvorschriften anzuwenden sind, so unterliegt die betreffende Person vorläufig den Rechtsvorschriften eines dieser Mitgliedstaaten, sofern in der Durchführungsverordnung nichts anderes bestimmt ist …

(2)      Besteht zwischen den Trägern oder Behörden zweier oder mehrerer Mitgliedstaaten eine Meinungsverschiedenheit darüber, welcher Träger die Geld- oder Sachleistungen zu gewähren hat, so erhält die betreffende Person, die Anspruch auf diese Leistungen hätte, wenn es diese Meinungsverschiedenheit nicht gäbe, vorläufig Leistungen nach den vom Träger des Wohnorts anzuwendenden Rechtsvorschriften oder – falls die betreffende Person nicht im Hoheitsgebiet eines der betreffenden Mitgliedstaaten wohnt – Leistungen nach den Rechtsvorschriften, die der Träger anwendet, bei dem der Antrag zuerst gestellt wurde.

(3)      Erzielen die betreffenden Träger oder Behörden keine Einigung, so können die zuständigen Behörden frühestens einen Monat nach dem Tag, an dem die Meinungsverschiedenheit im Sinne von Absatz 1 oder Absatz 2 aufgetreten ist, die Verwaltungskommission anrufen. Die Verwaltungskommission bemüht sich nach ihrer Befassung binnen sechs Monaten um eine Annäherung der Standpunkte.

(4)      Steht entweder fest, dass nicht die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats anzuwenden sind, die für die betreffende Person vorläufig angewendet worden sind, oder dass der Träger, der die Leistungen vorläufig gewährt hat, nicht der zuständige Träger ist, so gilt der als zuständig ermittelte Träger rückwirkend als zuständig, als hätte die Meinungsverschiedenheit nicht bestanden, und zwar spätestens entweder ab dem Tag der vorläufigen Anwendung oder ab der ersten vorläufigen Gewährung der betreffenden Leistungen.

(5)      Falls erforderlich, regeln der als zuständig ermittelte Träger und der Träger, der die Geldleistungen vorläufig gezahlt oder Beiträge vorläufig erhalten hat, die finanzielle Situation der betreffenden Person in Bezug auf vorläufig gezahlte Beiträge und Geldleistungen gegebenenfalls nach Maßgabe von Titel IV Kapitel III der Durchführungsverordnung.

Sachleistungen, die von einem Träger nach Absatz 2 vorläufig gewährt wurden, werden von dem zuständigen Träger nach Titel IV der Durchführungsverordnung erstattet.“

14.      In Art. 7 („Vorläufige Berechnung von Leistungen und Beiträgen“) dieser Verordnung heißt es:

„(1)      Steht einer Person nach der Grundverordnung ein Leistungsanspruch zu oder hat sie einen Beitrag zu zahlen, und liegen dem zuständigen Träger nicht alle Angaben über die Situation in einem anderen Mitgliedstaat vor, die zur Berechnung des endgültigen Betrags der Leistung oder des Beitrags erforderlich sind, so gewährt dieser Träger auf Antrag der betreffenden Person die Leistung oder berechnet den Beitrag vorläufig, wenn eine solche Berechnung auf der Grundlage der dem Träger vorliegenden Angaben möglich ist, sofern die Durchführungsverordnung nichts anderes bestimmt.

(2)      Sobald dem betreffenden Träger alle erforderlichen Belege oder Dokumente vorliegen, ist eine Neuberechnung der Leistung oder des Beitrags vorzunehmen.“

15.      Titel II („Bestimmung der anwendbaren Rechtsvorschriften“) dieser Verordnung enthält die Art. 14 bis 21.

16.      Art. 16 („Verfahren bei der Anwendung von Artikel 13 der Grundverordnung“) dieser Verordnung bestimmt:

„(1)      Eine Person, die in zwei oder mehreren Mitgliedstaaten eine Tätigkeit ausübt, teilt dies dem von der zuständigen Behörde ihres Wohnmitgliedstaats bezeichneten Träger mit.

(2)      Der bezeichnete Träger des Wohnorts legt unter Berücksichtigung von Artikel 13 der Grundverordnung und von Artikel 14 der Durchführungsverordnung unverzüglich fest, welchen Rechtsvorschriften die betreffende Person unterliegt. Diese erste Festlegung erfolgt vorläufig. Der Träger unterrichtet die bezeichneten Träger jedes Mitgliedstaats, in dem die Person eine Tätigkeit ausübt, über seine vorläufige Festlegung.

(3)      Die vorläufige Festlegung der anzuwendenden Rechtsvorschriften nach Absatz 2 erhält binnen zwei Monaten, nachdem die von den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats bezeichneten Träger davon in Kenntnis gesetzt wurden, endgültigen Charakter, es sei denn, die anzuwendenden Rechtsvorschriften wurden bereits auf der Grundlage von Absatz 4 endgültig festgelegt, oder mindestens einer der betreffenden Träger setzt den von der zuständigen Behörde des Wohnmitgliedstaats bezeichneten Träger vor Ablauf dieser zweimonatigen Frist davon in Kenntnis, dass er die Festlegung noch nicht akzeptieren kann oder diesbezüglich eine andere Auffassung vertritt.

(4)      Ist aufgrund bestehender Unsicherheit bezüglich der Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften eine Kontaktaufnahme zwischen den Trägern oder Behörden zweier oder mehrerer Mitgliedstaaten erforderlich, so werden auf Ersuchen eines oder mehrerer der von den zuständigen Behörden der betreffenden Mitgliedstaaten bezeichneten Träger oder auf Ersuchen der zuständigen Behörden selbst die geltenden Rechtsvorschriften unter Berücksichtigung von Artikel 13 der Grundverordnung und der einschlägigen Bestimmungen von Artikel 14 der Durchführungsverordnung einvernehmlich festgelegt.

Sind die betreffenden Träger oder zuständigen Behörden unterschiedlicher Auffassung, so bemühen diese sich nach den vorstehenden Bedingungen um Einigung; es gilt Artikel 6 der Durchführungsverordnung.

…“

17.      Art. 19 („Unterrichtung der betreffenden Personen und der Arbeitgeber“) der Verordnung Nr. 987/2009 sieht in Abs. 2 vor:

„Auf Antrag der betreffenden Person oder ihres Arbeitgebers bescheinigt der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften nach Titel II der Grundverordnung anzuwenden sind, dass und gegebenenfalls wie lange und unter welchen Umständen diese Rechtsvorschriften anzuwenden sind.“

18.      Art. 20 („Zusammenarbeit zwischen den Trägern“) der Verordnung Nr. 987/2009 bestimmt:

„(1)      Die maßgeblichen Träger erteilen dem zuständigen Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften nach Titel II der Grundverordnung für eine Person gelten, alle Auskünfte, die notwendig sind für die Festsetzung des Zeitpunkts, ab dem diese Rechtsvorschriften anzuwenden sind, und der Beiträge, welche die betreffende Person und ihr bzw. ihre Arbeitgeber nach diesen Rechtsvorschriften zu leisten haben.

(2)      Der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften nach Titel II der Grundverordnung auf eine Person anzuwenden sind, macht Informationen über den Zeitpunkt, ab dem diese Rechtsvorschriften anzuwenden sind, dem Träger zugänglich, der von der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften diese Person zuletzt unterlag, bezeichnet wurde.“

III. Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits und Vorlagefragen

19.      TE, ein im polnischen Handelsregister eingetragener Unternehmer, der eine selbständige Tätigkeit ausübt und dessen Einkünfte in Polen besteuert werden, unterzeichnete am 11. August 2016 einen Vertrag mit einer in Warschau (Polen) ansässigen Gesellschaft, wonach er im Rahmen eines bestimmten Projekts ab dem 22. August 2016 bis zum Projektende in Frankreich Dienstleistungen erbringen sollte, die üblicherweise zu den Aufgaben eines „Second Site Managers“ gehören.

20.      Auf der Grundlage dieses Vertrags wurde vom ZUS(4) eine A1‑Bescheinigung(5) ausgestellt, die besagt, dass TE im Zeitraum vom 22. August 2016 bis 21. August 2017 (im Folgenden: streitiger Zeitraum) den polnischen Rechtsvorschriften unterliege.

21.      Im Zuge einer Überprüfung von Amts wegen stellte der ZUS fest, dass TE während des streitigen Zeitraums nur in einem Mitgliedstaat, nämlich Frankreich, tätig war. Mit Entscheidung vom 1. Dezember 2017 (im Folgenden: angefochtene Entscheidung) widerrief der ZUS daher diese A1‑Bescheinigung(6) und vertrat die Ansicht, dass TE während des streitigen Zeitraums nicht den polnischen Rechtsvorschriften unterlegen habe. Da der ZUS der Meinung war, dass die maßgebliche Vorschrift für die Bestimmung der auf TE anzuwendenden Rechtsvorschriften Art. 11 der Verordnung Nr. 883/2004 sei, erließ er diese Entscheidung, ohne zuvor das Verfahren nach Art. 16(7) der Verordnung Nr. 987/2009 zur Koordinierung mit dem zuständigen französischen Träger im Hinblick auf die anzuwendenden Rechtsvorschriften durchgeführt zu haben.

22.      TE erhob vor dem Sąd Okręgowy w Toruniu (Regionalgericht Toruń, Polen) Klage gegen die streitige Entscheidung. Mit Urteil vom 5. Juni 2019 stellte dieses Gericht fest, dass TE zum einen im streitigen Zeitraum nicht in einem einzigen Mitgliedstaat gearbeitet habe, so dass er unter Art. 13 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004 falle, und dass zum anderen der ZUS das in den Art. 6, 15(8) und 16 der Verordnung Nr. 987/2009 vorgesehene Koordinierungsverfahren nicht ausgeschöpft habe, obwohl dieses Verfahren für die Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften zwingend vorgeschrieben sei. Daher forderte das Gericht im Lauf des Gerichtsverfahrens den ZUS auf, das genannte Verfahren der Zusammenarbeit mit dem zuständigen französischen Träger einzuleiten, was der ZUS jedoch mit der Begründung verweigerte, dass dies nicht gerechtfertigt sei. Um zu vermeiden, dass TE von keinem System der sozialen Sicherheit erfasst wird, entschied der Sąd Okręgowy w Toruniu (Regionalgericht Toruń), dass TE während des streitigen Zeitraums den polnischen Rechtsvorschriften unterlegen habe, und erhielt daher die Gültigkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden A1‑Bescheinigung aufrecht.

23.      Mit Urteil vom 5. Februar 2020 wies das Sąd Apelacyjny w Gdańsku (Berufungsgericht Danzig, Polen) die Berufung des ZUS gegen dieses Urteil zurück.

24.      Der ZUS legte gegen dieses Urteil vor dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) Kassationsbeschwerde ein. Er machte geltend, dass, sofern der Widerruf der in Rede stehenden A1‑Bescheinigung die vorherige Durchführung des in der Verordnung Nr. 987/2009 vorgesehenen Koordinierungsverfahrens erfordere, die streitige Entscheidung mit einem Mangel behaftet sei, der nur im Rahmen des Verfahrens vor dem ZUS selbst behoben werden könne. Somit seien die vom Sąd Okręgowy w Toruniu (Regionalgericht Toruń) und vom Sąd Apelacyjny w Gdańsku (Berufungsgericht Danzig) erlassenen Gerichtsentscheidungen fehlerhaft, weil diese Gerichte, statt über das anwendbare Recht zu entscheiden, den Fall an den ZUS hätten zurückverweisen müssen, damit dieser in Zusammenarbeit mit dem zuständigen französischen Träger eine Überprüfung der A1‑Bescheinigung hätte vornehmen können.

25.      Unter diesen Umständen hat der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist der Träger eines Mitgliedstaats, der eine A1‑Bescheinigung ausgestellt hat und von Amts wegen – ohne Ersuchen des zuständigen Trägers des betreffenden Mitgliedstaats – die ausgestellte Bescheinigung annullieren/widerrufen oder für ungültig erklären will, verpflichtet, ein Verständigungsverfahren mit dem zuständigen Träger eines anderen Mitgliedstaats in Analogie zu den nach den Art. 6 und 16 der Verordnung Nr. 987/2009 geltenden Vorschriften durchzuführen?

2.      Muss das Verständigungsverfahren bereits vor der Annullierung/dem Widerruf oder der Ungültigerklärung der ausgestellten Bescheinigung durchgeführt werden oder ist diese Annullierung/dieser Widerruf oder diese Ungültigerklärung vorläufig gemäß Art. 16 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 und wird dann endgültig, wenn der betreffende Träger des anderen Mitgliedstaats weder Einwände erhebt noch eine andere Auffassung vertritt?

26.      Der ZUS, die polnische, die belgische, die tschechische und die französische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

IV.    Würdigung

27.      Mit seinen beiden Vorlagefragen, die meines Erachtens zusammen geprüft werden können, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 6 und 16 der Verordnung Nr. 987/2009 dahin auszulegen sind, dass ein Träger, der auf der Grundlage von auf eigene Veranlassung durchgeführten Überprüfungen festgestellt hat, dass er zu Unrecht eine A1‑Bescheinigung ausgestellt hat, diese widerrufen kann, ohne zuvor ein Dialog- und Vermittlungsverfahren mit den zuständigen Trägern der betreffenden Mitgliedstaaten einzuleiten, um die anzuwendenden Rechtsvorschriften zu bestimmen.

28.      Zunächst ist festzustellen, dass weder die Verordnung Nr. 883/2004 noch die Verordnung Nr. 987/2009 eine Bestimmung enthalten, die unmittelbar auf die Umstände des vorliegenden Falles, die zum Widerruf einer A1‑Bescheinigung geführt haben, anwendbar ist.

29.      Art. 76 Abs. 6 der Verordnung Nr. 883/2004 beschränkt sich darauf, den allgemeinen Rahmen für ein Dialog- und Vermittlungsverfahren festzulegen, wobei das erste dem zweiten vorangestellt ist(9). Die Verordnung Nr. 987/2009 führt die Fälle auf, in denen dieses Verfahren durchgeführt wird.

30.      So bestimmt in Bezug auf den Widerruf einer A1‑Bescheinigung nur Art. 5 der Verordnung Nr. 987/2009 ein besonderes Verfahren „[b]ei Zweifeln an der Gültigkeit eines Dokuments [in dem der Status einer Person bescheinigt wird] oder der Richtigkeit des Sachverhalts, der den im Dokument enthaltenen Angaben zugrunde liegt“(10).

31.      Die einzelnen Verfahrensschritte, die in Art. 5 Abs. 2 bis 4 aufgeführt sind, dienen zum einen dazu, im Rahmen einer Abstimmung zwischen zuständigen Trägern die für die Bestätigung oder Nichtbestätigung der Gültigkeit der A1‑Bescheinigung maßgeblichen Angaben zu erfassen, und zum anderen dazu, eine etwaige Meinungsverschiedenheit zwischen diesen Trägern auszuräumen(11).

32.      Aus diesen Bestimmungen geht eindeutig hervor, dass das genannte Verfahren auf Veranlassung des „Trägers des Mitgliedstaats, der das Dokument erhält“(12) durchgeführt wird. Daher gibt es keine Vorschrift für den Fall, dass der ausstellende Träger, nachdem er von Amts wegen Überprüfungen vorgenommen hat, davon überzeugt ist, dass die A1‑Bescheinigung zu widerrufen ist(13).

33.      Mit den Vorlagefragen wird dem Gerichtshof daher die Frage gestellt, ob im Hinblick auf die Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 sowie deren Auslegung in seiner Rechtsprechung eine A1‑Bescheinigung nur nach vorheriger Abstimmung zwischen den zuständigen Trägern der betroffenen Mitgliedstaaten, um die auf die betreffende Person anwendbaren Rechtsvorschriften zu bestimmen, widerrufen werden kann.

34.      Was den rechtlichen Rahmen betrifft, in dem sich die Fragen des vorlegenden Gerichts bewegen, ist erstens darauf hinzuweisen, dass zum einen mit der Verordnung Nr. 987/2009 die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Tragweite und zu den Rechtswirkungen der E101-Bescheinigung(14) sowie zu dem Verfahren kodifiziert worden ist, das zur Beilegung etwaiger Streitigkeiten zwischen den Trägern der betreffenden Mitgliedstaaten über die Gültigkeit oder die Richtigkeit dieser Bescheinigung zu befolgen ist(15).

35.      Zum anderen hat diese Verordnung damit die aus dieser Rechtsprechung hervorgegangenen Grundsätze festgeschrieben, nämlich:

–        den bindenden Charakter einer solchen Bescheinigung, der auf den zwingenden Regeln der Einheitlichkeit des anwendbaren nationalen Rechts, der loyalen Zusammenarbeit und der Rechtssicherheit beruht, denen auch in der Verordnung Nr. 883/2004 eine besondere Bedeutung beigemessen wurde(16),

–        die ausschließliche Zuständigkeit des ausstellenden Trägers für die Beurteilung ihrer Gültigkeit(17) und

–        die Inanspruchnahme des Dialogverfahrens zwischen den Trägern der betreffenden Mitgliedstaaten und des Vermittlungsverfahrens vor der Verwaltungskommission zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen diesen Trägern sowohl über die Richtigkeit der ausgestellten Dokumente als auch über die Bestimmung der auf den betreffenden Arbeitnehmer anwendbaren Rechtsvorschriften(18).

36.      Zweitens hat der Unionsgesetzgeber daher offensichtlich keinen weiten Anwendungsbereich dieses Dialog- und Vermittlungsverfahrens vorgesehen, sondern es besonderen Bedürfnissen der loyalen Zusammenarbeit vorbehalten(19).

37.      Ich weise auch darauf hin, dass im Praktischen Leitfaden der Kommission zum anwendbaren Recht in der Europäischen Union (EU), im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) und in der Schweiz(20) Möglichkeiten erwähnt werden, die Situation der betroffenen Person auf Veranlassung des ausstellenden Trägers erneut zu prüfen, gegebenenfalls gefolgt von einem Widerruf der Bescheinigung. Allerdings finden sich darin keine Empfehlungen zur Durchführung des Dialog- und Vermittlungsverfahrens. Dasselbe gilt für den Beschluss Nr. A1(21), der lediglich die Situation behandelt, in der entweder ein Träger Zweifel an der Gültigkeit eines Dokuments äußert, das von einem Träger eines anderen Mitgliedstaats ausgestellt wurde, oder unterschiedliche Auffassungen über die Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften bestehen(22).

38.      Diese Feststellung, die von allen Parteien, die schriftliche Erklärungen eingereicht haben, geteilt wird, ist meiner Meinung nach die logische und zwingende Folge des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens(23). Danach ist die Richtigkeit der Entscheidung des ausstellenden Trägers, eine Bescheinigung auszustellen(24), ohne weitere Formalitäten anzuerkennen. Daher muss dieser Grundsatz ebenso auf die Entscheidung angewendet werden, sie einseitig zu widerrufen, wenn kein Zweifel an der objektiven Situation(25) der betroffenen Person besteht(26). Anders ausgedrückt ist es aufgrund des mit der Verordnung Nr. 987/2009 eingeführten Systems und auf der Grundlage der in der Verordnung Nr. 883/2004 festgelegten Grundsätze kaum denkbar, dass der Widerruf der Bescheinigung von der Zustimmung eines Trägers eines anderen Mitgliedstaats oder gar von einer vorherigen Abstimmung abhängig gemacht wird, erst recht nicht in einem solchen Fall(27). Zudem ist ein Widerruf, wenn ein Betrug nachgewiesen wird, für den ausstellenden Träger zwingend(28).

39.      Drittens wird der fehlende Wille des Unionsgesetzgebers, für eine solche Situation besondere Vorschriften zu erlassen, durch zwei weitere Feststellungen untermauert. Zum einen sind nur bei „Ungewissheit hinsichtlich der Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften“(29) und im Sonderfall der Anwendung von Art. 13 der Verordnung Nr. 883/2004 Kontakte zwischen den zuständigen Trägern oder Behörden gemäß Art. 16 Abs. 4 der Verordnung Nr. 987/2009 vorgesehen(30).

40.      Zum anderen sind vorläufige Lösungen zum Schutz der betroffenen Person in Bezug auf das anzuwendende Recht sowie die Gewährung von Leistungen nach Art. 6 dieser Verordnung nur im Fall von „unterschiedlichen Auffassungen“ oder „Meinungsverschiedenheiten“(31) zwischen diesen Trägern oder Behörden vorgesehen. Diese Einschränkung der Abstimmungsfälle scheint mir angemessen im Hinblick auf die Dringlichkeit(32), mit der das auf die Situation der betroffenen Person anwendbare Recht bestimmt werden muss, und die Notwendigkeit, die Verwaltungskommission gemäß Art. 5 Abs. 4 sowie Art. 6 Abs. 3 der Verordnung nicht mit zu vielen Fällen zu befassen(33).

41.      Den Widerruf der A1-Bescheinigung von der Stellungnahme oder Entscheidung eines anderen Mitgliedstaats über die Bestimmung des auf den betreffenden Arbeitnehmer anwendbaren Systems der sozialen Sicherheit abhängig zu machen, auch wenn der Widerruf verspätet nach ihrer Ausstellung erfolgt(34), kann sich daher meines Erachtens nicht aus einer ausschließlich teleologischen Auslegung der Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 ergeben, da deren Bestimmungen auf Situationen beschränkt sind, in denen sich Schwierigkeiten bei der Bestimmung des anwendbaren Rechts ergeben.

42.      Viertens bin ich in Bezug auf die soziale Absicherung der Ansicht, dass der Grundsatz zu berücksichtigen ist, nach dem die A1‑Bescheinigung die Vermutung eines ordnungsgemäßen Anschlusses des betreffenden Arbeitnehmers an ein System der sozialen Sicherheit begründet(35), die auf der durch dieses Dokument bescheinigten Situation beruht(36). In Übereinstimmung mit der Kommission und der französischen Regierung weise ich darauf hin, dass diese Bescheinigung keine Rechte begründet(37). Ihr Widerruf hat daher nur zur Folge, dass für die zuständigen Behörden keine bindende Wirkung mehr von der Bescheinigung ausgeht.

43.      Zudem besteht bei einer Entscheidung zum Widerruf durch den ausstellenden Träger nicht das Risiko der doppelten Beitragszahlung(38).

44.      All diese Erwägungen sprechen daher dafür, dass es im Fall des Widerrufs einer A1-Bescheinigung von Amts wegen keine Verpflichtung zur vorherigen Abstimmung oder Vermittlung zwischen den zuständigen Trägern der betroffenen Mitgliedstaaten gibt.

45.      Ich neige jedoch zu der Auffassung, dass die Betrachtung unvollständig wäre, wenn sie nicht den Unterschied zwischen dem Widerruf und der Ausstellung einer Bescheinigung berücksichtigen würde, da der Widerruf dadurch, dass die Rechtslage des Arbeitnehmers anders bewertet wird, diesen zwangsläufig beschwert und wesentliche, ja sogar konkrete schädigende Folgen haben kann(39).

46.      Nach ständiger Rechtsprechung soll die A1-Bescheinigung nämlich die Freizügigkeit des Arbeitnehmers fördern(40) und trägt zur Rechtssicherheit sowohl für den Arbeitnehmer als auch für die betreffenden Träger bei. Der Gerichtshof hat diesen Aspekt in seiner Rechtsprechung zu den bindenden Wirkungen dieser Bescheinigung und zuletzt zu einer Entscheidung über die Aussetzung ihrer Wirkungen(41) besonders hervorgehoben.

47.      Um dem vorlegenden Gericht eine sinnvolle Antwort geben zu können, müssen daher meiner Ansicht nach unabhängig von den Umständen des Widerrufs der A1-Bescheinigung(42) zwei Aspekte berücksichtigt werden, die die Komplexität erhöhen:

–        Diese Bescheinigung kann, wie die E101-Bescheinigung, Rückwirkung entfalten(43). Der Gerichtshof hat klargestellt, dass „eine solche Bescheinigung, auch wenn ihre Ausstellung besser vor Beginn des betreffenden Zeitraums erfolgt, auch während dieses Zeitraums und sogar nach dessen Ablauf ausgestellt werden [kann]“(44), und

–        insbesondere die Verjährungsvorschriften, die sich auf die Erstattung von Sozialbeiträgen auswirken würden(45).

48.      Darüber hinaus hat die polnische Regierung den Gerichtshof insbesondere auf das Risiko hingewiesen, dass der Arbeitnehmer keine soziale Absicherung haben könnte.

49.      In diesem Zusammenhang ist daher meines Erachtens darauf hinzuweisen, dass das in Art. 76 Abs. 6 der Verordnung Nr. 883/2004 vorgesehene Dialog- und Vermittlungsverfahren(46) nicht den einzigen Rahmen darstellt, den der Unionsgesetzgeber vorgesehen hat, um die tatsächliche Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer durch Sozialschutz zu gewährleisten(47).

50.      Tatsächlich sehen mehrere andere Bestimmungen den Austausch von Informationen zur Bestimmung der Rechte und Pflichten der betreffenden Personen vor.

51.      Erstens sehen Art. 2 Abs. 2, Art. 15 und Art. 16 Abs. 2 und 3 sowie Art. 20 der Verordnung Nr. 987/2009 im Rahmen der in Art. 76 Abs. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 vorgesehenen Zusammenarbeit den direkten Austausch von Informationen zwischen Trägern oder Verbindungsstellen gemäß den in den Erwägungsgründen 1 und 2 dieser Verordnung zum Ausdruck gebrachten Zielen vor.

52.      Zweitens legt Art. 16 („Ausnahmen von den Artikeln 11 bis 15“) der Verordnung Nr. 883/2004 in Abs. 1 fest, dass „[z]wei oder mehr Mitgliedstaaten, die zuständigen Behörden dieser Mitgliedstaaten oder die von diesen Behörden bezeichneten Einrichtungen … im gemeinsamen Einvernehmen Ausnahmen von den Artikeln 11 bis 15 im Interesse bestimmter Personen oder Personengruppen vorsehen [können]“(48).

53.      Daher bin ich wie die tschechische, die belgische und die französische Regierung auf der Grundlage von Art. 76 Abs. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 sowie von Art. 2 und 20 der Verordnung Nr. 987/2009 in Verbindung mit Art. 6 dieser Verordnung erstens der Auffassung, dass diese Bestimmungen im Fall des Widerrufs der A1‑Bescheinigung auf Veranlassung des ausstellenden Trägers einen rechtlichen Rahmen mit ausreichendem Schutz der Arbeitnehmer(49) für das Verfahren vorgeben, das die folgenden Schritte umfassen würde:

–        die einseitige Entscheidung über den Widerruf der A1‑Bescheinigung ab Kenntnis der Umstände, die die Bescheinigung offenkundig ungültig machen(50), und

–        die Unterrichtung der betreffenden Person und des Trägers des Aufnahmemitgliedstaats(51) innerhalb kürzester Frist(52).

54.      Zweitens kann der Schutz des Arbeitnehmers in diesem Stadium auch auf dreierlei Weise durchgesetzt werden. Zunächst kann dieser oder sein Arbeitgeber beim Träger des Aufnahmemitgliedstaats eine A1-Bescheinigung beantragen(53).

55.      Sodann kann bei Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Träger, der über den Widerruf der A1-Bescheinigung unterrichtet wurde, und dem Träger, der den Widerruf beschlossen hat, der erste Träger unter den in Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 vorgesehenen Bedingungen vorläufig Leistungen gewähren(54). Zu der von der polnischen Regierung geäußerten Befürchtung, dass der zuständige Träger untätig bleiben könnte, stelle ich fest, dass aus den dem Gerichtshof übermittelten schriftlichen Erklärungen nicht hervorgeht, dass die konkreten Schwierigkeiten, die im Interesse des betroffenen Arbeitnehmers(55) zu überwinden sind, sich von denen unterscheiden, die durch den Widerruf einer A1-Bescheinigung auf Antrag eines Trägers eines anderen Mitgliedstaats verursacht werden(56).

56.      Umgekehrt erscheint mir die bloße Forderung nach angemessenen Fristen für die Abstimmung vor der Entscheidung über den Widerruf der A1-Bescheinigung analog zu einigen Bestimmungen der Verordnung Nr. 987/2009 in Anbetracht der vorliegenden Situation unzureichend. Denn es geht darum, die Wirkungen einer Bescheinigung, deren Fehlerhaftigkeit außer Zweifel steht, aufzuheben, wenn sie nicht vorläufig aufrechterhalten werden können(57). Im Übrigen stelle ich zum einen fest, dass je nach Träger in der Praxis Lösungen im Interesse der Arbeitnehmer umgesetzt werden können, wie die tschechische, die belgische(58) und die französische Regierung betont haben. Zum anderen kann die Zusammenarbeit zwischen Mitgliedstaaten auf bilateraler Ebene unter Wahrung der Rechte der von der Verordnung Nr. 883/2004 betroffenen Personen konkretisiert werden(59).

57.      Darüber hinaus kann bei Meinungsverschiedenheiten oder Schwierigkeiten bei der Auslegung oder Anwendung der Verordnung Nr. 883/2004 das Dialog- und Vermittlungsverfahren in Anspruch genommen werden, das in den Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 in diesen konkreten Fällen vorgesehen ist(60).

58.      Schließlich steht es, wenn keine Bescheinigung vorliegt, parallel dazu dem betreffenden Arbeitnehmer oder seinem Arbeitgeber immer noch frei, ein Gericht anzurufen, damit dieses über die Mitgliedschaft des Arbeitnehmers entscheidet, wie der Ausgangsfall zeigt(61).

59.      Drittens weise ich darauf hin, dass das Risiko nachteiliger Folgen für den Arbeitnehmer in Situationen, in denen es nicht um Betrug geht, begrenzt ist(62).

60.      Daher schlage ich dem Gerichtshof vor, zu entscheiden, dass bei Fehlen eines in den Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 vorgesehenen Dialog- und Vermittlungsverfahrens im Fall des Widerrufs einer A1-Bescheinigung von Amts wegen durch den Träger, der sie zu Unrecht ausgestellt hat, dieser den Träger des Aufnahmemitgliedstaats so schnell wie möglich davon unterrichten muss, aber nicht verpflichtet ist, sich vorher mit ihm abzustimmen.

V.      Schlussfolgerung

61.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) wie folgt zu antworten:

Die Art. 5, 6 und 16 sowie die Art. 2 und 20 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 geänderten Fassung

sind dahin auszulegen, dass

–        ein Träger, der auf der Grundlage von auf eigene Veranlassung durchgeführten Überprüfungen festgestellt hat, dass er zu Unrecht eine A1-Bescheinigung ausgestellt hat, diese widerrufen kann, ohne zuvor ein Dialog- und Vermittlungsverfahren mit den zuständigen Trägern der betreffenden Mitgliedstaaten einzuleiten, um die anzuwendenden Rechtsvorschriften zu bestimmen.

–        Dieser Träger ist jedoch verpflichtet, die zuständigen Träger der betreffenden Mitgliedstaaten so schnell wie möglich von seiner Entscheidung über den Widerruf zu unterrichten.
































































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