C-316/19 – Kommission/ Slowenien (Archives de la BCE)

C-316/19 – Kommission/ Slowenien (Archives de la BCE)

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2020:641

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 3. September 2020(1)

Rechtssache C316/19

Europäische Kommission

gegen

Republik Slowenien

„Vertragsverletzungsverfahren – Art. 343 AEUV – Vorrechte und Befreiungen der Union – Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) und der Europäischen Zentralbank (EZB) – Art. 39 – Vorrechte und Befreiungen der EZB – Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union – Art. 2, 18 und 22 – Unverletzlichkeit der Archive der EZB – Zusammenarbeit von Unionsorganen und mitgliedstaatlichen Strafverfolgungsbehörden – Handeln im gegenseitigen Einvernehmen bei Anwendung des Protokolls – Durchsuchung und Beschlagnahme von Dokumenten in den Räumlichkeiten der Banka Slovenije – Dokumente, die mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB zusammenhängen – Art. 4 Abs. 3 EUV – Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit“

I.      Einleitung

1.        Gegenstand des vorliegenden Vertragsverletzungsverfahrens ist das Verhalten der slowenischen Strafverfolgungsbehörden im Zusammenhang mit einer Durchsuchung und Beschlagnahme von Dokumenten und Datenträgern in den Räumen der slowenischen Zentralbank Banka Slovenije. Diese erfolgten im Rahmen eines u. a. gegen den ehemaligen Präsidenten der Banka Slovenije geführten innerstaatlichen Ermittlungsverfahrens. Konkret geht es dabei um den Vorwurf des Amtsmissbrauchs bei der Restrukturierung einer slowenischen Privatbank im Jahr 2013, also noch vor Schaffung der Europäischen Bankenunion, in deren Rahmen die Bankenaufsicht und ‑abwicklung in großen Teilen von den nationalen Aufsichtsbehörden – im Fall Sloweniens der Zentralbank – auf die Union übertragen wurden.(2)

2.        Die unionsrechtliche Dimension des Falls resultiert aus der Stellung der nationalen Zentralbanken im Europäischen System der Zentralbanken (im Folgenden: ESZB). Denn bei Wahrnehmung ihrer Kernaufgaben im Bereich der Währungspolitik sind die nationalen Zentralbanken und die Europäische Zentralbank (im Folgenden: EZB) – in den Worten des Gerichtshofs – „vereint“ und arbeiten so eng zusammen, dass „ein anderer Zusammenhang und eine weniger ausgeprägte Unterscheidung zwischen der Rechtsordnung der Union und den nationalen Rechtsordnungen“ besteht.(3)

3.        Vor diesem Hintergrund wirft die Europäische Kommission den slowenischen Strafverfolgungsbehörden vor, durch die ohne Genehmigung der EZB erfolgte umfangreiche Durchsuchung und Beschlagnahme in den Räumen der Banka Slovenije die Unverletzlichkeit der Archive der EZB missachtet zu haben. Diese wird durch das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union(4) garantiert. Die slowenischen Behörden sehen in diesem Vorwurf eine unzulässige Einmischung in ein rein nationales Ermittlungsverfahren.

4.        Dem Gerichtshof kommt somit in der vorliegenden Rechtssache die Aufgabe zu, das Spannungsverhältnis aufzulösen, in welchem das Interesse der Union am Erhalt der Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit der EZB und das Interesse der Mitgliedstaaten an der Effektivität ihrer Strafverfolgungsmaßnahmen stehen können.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Satzung des ESZB und der EZB

5.        Das Protokoll Nr. 4 zum AEUV über die Satzung des ESZB und der EZB (im Folgenden: Satzung des ESZB und der EZB)(5) bestimmt in seinem Art. 9.2:

„Die EZB stellt sicher, dass die dem ESZB nach Artikel 127 Absätze 2, 3 und 5 [AEUV] übertragenen Aufgaben entweder durch ihre eigene Tätigkeit nach Maßgabe dieser Satzung oder durch die nationalen Zentralbanken nach den Artikeln 12.1 und 14 erfüllt werden.“

6.        Art. 12.1. der Satzung des ESZB und der EZB sieht vor:

„Der EZB-Rat erlässt die Leitlinien und Beschlüsse, die notwendig sind, um die Erfüllung der dem ESZB nach den Verträgen und dieser Satzung übertragenen Aufgaben zu gewährleisten. …

Unbeschadet dieses Artikels nimmt die EZB die nationalen Zentralbanken zur Durchführung von Geschäften, die zu den Aufgaben des ESZB gehören, in Anspruch, soweit dies möglich und sachgerecht erscheint.“

7.        Art. 14.3 dieser Satzung lautet:

„Die nationalen Zentralbanken sind integraler Bestandteil des ESZB und handeln gemäß den Leitlinien und Weisungen der EZB. Der EZB-Rat trifft die notwendigen Maßnahmen, um die Einhaltung der Leitlinien und Weisungen der EZB sicherzustellen, und kann verlangen, dass ihm hierzu alle erforderlichen Informationen zur Verfügung gestellt werden.“

8.        Art. 39 der Satzung des ESZB und der EZB lautet:

„Die EZB genießt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten die zur Erfüllung ihrer Aufgabe erforderlichen Vorrechte und Befreiungen nach Maßgabe des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union.“

B.      Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Union

9.        Art. 1 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union bestimmt:

„Die Räumlichkeiten und Gebäude der Union sind unverletzlich. Sie dürfen nicht durchsucht, beschlagnahmt, eingezogen oder enteignet werden. Die Vermögensgegenstände und Guthaben der Union dürfen ohne Ermächtigung des Gerichtshofs nicht Gegenstand von Zwangsmaßnahmen der Verwaltungsbehörden oder Gerichte sein.“

10.      Art. 2 dieses Protokolls lautet:

„Die Archive der Union sind unverletzlich.“

11.      Art. 18 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union lautet wie folgt:

„Bei der Anwendung dieses Protokolls handeln die Organe der Union und die verantwortlichen Behörden der beteiligten Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen.“

12.      Art. 22 Abs. 1 desselben Protokolls sieht vor:

„Dieses Protokoll gilt auch für die Europäische Zentralbank, die Mitglieder ihrer Beschlussorgane und ihre Bediensteten; die Bestimmungen des Protokolls über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank bleiben hiervon unberührt.“

C.      Abkommen über den Sitz der EZB

13.      Art. 3 des Abkommens zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Zentralbank über den Sitz der Europäischen Zentralbank vom 18. September 1998 (im Folgenden: Sitzabkommen)(6) sieht Folgendes vor:

„Die in Artikel 2 des [Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union] festgelegte Unverletzlichkeit der Archive gilt insbesondere für alle Akten, Schreiben, Dokumente, Manuskripte, Fotografien, Film- und Tonaufzeichnungen, Rechnerprogramme und Magnetbänder oder Disketten, die sich im Eigentum oder Besitz der EZB befinden, und für alle darin enthaltenen Informationen.“

III. Hintergrund des Rechtsstreits

14.      Zwischen September 2014 und April 2015 eröffnete die Nacionalni preiskovalni urad (nationale Ermittlungsbehörde, Slowenien) aufgrund verschiedener Hinweise ein Ermittlungsverfahren gegen einige leitende Mitglieder des Aufsichtsrats der slowenischen Nationalbank wegen des Verdachts des Amtsmissbrauchs im Rahmen der Restrukturierung einer slowenischen Privatbank im Jahr 2013. Das Ermittlungsverfahren betraf u. a. den damaligen Präsidenten der Banka Slovenije.

15.      Im Zeitraum von Februar bis April 2015 forderte die Ermittlungsbehörde die Banka Slovenije mehrfach auf Grundlage der slowenischen Strafprozessordnung auf, ihr bestimmte Dokumente und Informationen im Zusammenhang mit diesen Vorwürfen zu übermitteln. Diesen Aufforderungen kam die Banka Slovenije jedenfalls nicht vollumfänglich nach.

16.      Daraufhin ordnete das Okrožno sodišče v Ljubljani (Bezirksgericht Ljubljana, Slowenien) auf Antrag der slowenischen Staatsanwaltschaft eine Durchsuchung und Beschlagnahme in den Räumlichkeiten der Banka Slovenije an. Der Präsident der slowenischen Zentralbank widersprach diesem Vorgehen unter Verweis auf das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Union.

17.      Gleichwohl durchsuchte die Polizei am 6. Juli 2016 die Banka Slovenije und beschlagnahmte u. a. die folgenden Dokumente und Daten:

–        sämtliche Kommunikation, die über das E‑Mail-Konto des Präsidenten der Banka Slovenije versandt wurde;

–        sämtliche elektronischen Dokumente, die sich an dem Arbeitsplatz des Präsidenten oder auf seinem Laptop befanden und auf den Zeitraum zwischen den Jahren 2012 und 2014 datieren, unabhängig von deren Inhalt;

–        Teile der verkörperten Dokumente, die sich im Büro des Präsidenten befanden und auf den Zeitraum zwischen den Jahren 2012 und 2014 datieren;

–        sämtliche Dokumente, die sich auf dem zentralen IT‑Server der Banka Slovenije befanden und den Präsidenten betreffen.

18.      Noch am selben Tag erhob der Präsident der EZB unter Verweis auf die Unverletzlichkeit der Archive der EZB förmlich Protest gegen die Beschlagnahme der genannten Dokumente. Er rügte insbesondere, dass die slowenischen Behörden vor der Durchführung der Maßnahme nicht versucht hätten, sich mit der EZB abzustimmen.

19.      Im Rahmen des daraufhin entstandenen Kontakts zwischen dem slowenischen Vertreter der EZB und den für die Ermittlungen zuständigen slowenischen Behörden vertraten Letztere den Standpunkt, dass über die eventuell auf einige der beschlagnahmten Dokumente anwendbaren Vorrechte und Befreiungen erst nach deren Sichtung entschieden werden könne. Den Vorschlag der EZB, sich auf eine gemeinsame Vorgehensweise zur Identifizierung der Dokumente der EZB zu einigen, um zu verhindern, dass diese Dokumente ohne vorherige Freigabe durch die EZB ausgewertet würden, nahmen die slowenischen Behörden trotz grundsätzlich zum Ausdruck gebrachter Kooperationsbereitschaft nicht an. Denn der slowenische Generalstaatsanwalt sah in diesem Vorschlag einen unzulässigen Eingriff in das laufende Ermittlungsverfahren. Allerdings wurde ein Treffen zwischen dem zuständigen Staatsanwalt und dem Vertreter der EZB für den 18. November 2016 vereinbart, bei dem über die Einzelheiten der Kooperation gesprochen werden sollte.

20.      Am 27. Oktober 2016 teilte der zuständige Staatsanwalt dem Vertreter der EZB mit, dass die Ermittler bereits am 17. November 2016 mit der Sicherung der elektronischen Daten nach der slowenischen Strafprozessordnung beginnen würden(7) und der Vertreter der EZB eingeladen sei, daran teilzunehmen.

21.      Am 16. November 2016 legte die EZB beim Okrožno sodišče v Ljubljani (Bezirksgericht Ljubljana) einen Eilrechtsbehelf ein, um die unmittelbar bevorstehende Sicherung der elektronischen Dokumente zu verhindern. Nach Darstellung der slowenischen Regierung war auch die Rechtmäßigkeit der Durchsuchung und Beschlagnahme an sich Gegenstand dieses Rechtsbehelfs. Jedenfalls wies das Okrožno sodišče v Ljubljani (Bezirksgericht Ljubljana) diesen am darauffolgenden Tag zurück, da das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Union den Beschlagnahmen und der Sicherung nicht entgegenstehe.

22.      Ebenfalls am 17. November 2016 begann die Sicherung der elektronischen Dokumente, insbesondere diejenigen auf dem Laptop des Präsidenten der slowenischen Zentralbank. Der Vertreter der EZB nahm an diesen Vorgängen teil und machte ausdrücklich eine Verletzung der Archive der EZB geltend. Dies führte nicht zu einem Ausschluss von bestimmten Dokumenten. Das ursprünglich für den 18. November 2016 anberaumte Treffen zwischen dem zuständigen Staatsanwalt und dem Vertreter der EZB wurde auf unbestimmte Zeit verschoben.

23.      Gegen die Entscheidung des Okrožno sodišče v Ljubljani (Bezirksgericht Ljubljana) vom 17. November 2016 legte die EZB am 17. Januar 2017 Beschwerde beim slowenischen Verfassungsgerichtshof ein. Ihrer Ansicht nach hätte das Okrožno sodišče v Ljubljani (Bezirksgericht Ljubljana) die Frage nach der Auslegung des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union dem Gerichtshof vorlegen müssen und habe somit ihr Grundrecht auf den gesetzlichen Richter verletzt.

24.      Mit E‑Mail vom 15. Mai 2017 informierte der zuständige Staatsanwalt den Vertreter der EZB, dass die Polizei aktuell die beschlagnahmten und gesicherten Dokumente auswerte und dabei dazu angewiesen sei, alle Dokumente auszusondern, die offiziell und formell von der EZB ausgestellt wurden, sowie alle E‑Mails, deren Absender die EZB und deren Empfänger die Banka Slovenije ist. Bezüglich dieser Dokumente würde der EZB sodann Gelegenheit gegeben, sich zu den potenziellen Auswirkungen ihrer Verwendung im Ermittlungs- und Strafverfahren auf die Wahrnehmung ihrer Aufgaben und Befugnisse zu äußern. Slowenien bleibe jedoch bei seinem Standpunkt, dass diese Dokumente nicht den „Archiven der EZB“ entstammten. Für den Fall, dass die EZB hinsichtlich bestimmter Dokumente Bedenken hätte, boten die slowenischen Behörden an, das Strafverfahren unter strikter Geheimhaltung und Ausschluss der Öffentlichkeit durchzuführen, wenn sich diese Dokumente als für das Strafverfahren unerlässlich erweisen sollten.

25.      Die EZB hielt demgegenüber an ihrem Standpunkt fest, dass unter dem Schutz des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union auch Dokumente der Banka Slovenije fallen, soweit sie in Erfüllung ihrer Aufgaben im Rahmen des ESZB und des Eurosystems erstellt wurden. Außerdem müsste die EZB alle Dokumente, die unter den Schutz dieses Protokolls fallen, vor ihrer Verwendung im Ermittlungs- oder Strafverfahren freigeben.

26.      Bei einem Treffen beider Seiten am 12. Juni 2017 konnte keine Einigung in dieser Frage erzielt werden.

27.      Am 13. Februar 2018 übermittelte die EZB der Staatsanwaltschaft ihren abschließenden Vorschlag zur Identifizierung der Dokumente, die unter das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Union fallen.

28.      Mit Entscheidung vom 19. April 2018 wies der slowenische Verfassungsgerichtshof die Beschwerde der EZB vom 17. Januar 2017 mangels Grundrechtsfähigkeit derselben zurück.

29.      Am 13. Juni 2018 informierte der zuständige Staatsanwalt den Vertreter der EZB bei einem gemeinsamen Treffen, dass die Polizei die Prüfung der beschlagnahmten Dokumente abgeschlossen habe. Er kündigte an, dass die EZB die in Nr. 24 der vorliegenden Schlussanträge genannten Dokumente nach Erstellung des Abschlussberichts der Polizei überprüfen könnte. Um zu vermeiden, dass sich die EZB in die laufenden Untersuchungen einmische, würden die für den Abschlussbericht verwendeten Dokumente allerdings erst an die EZB herausgegeben, wenn die Polizei sie an die Staatsanwaltschaft übergeben habe.

IV.    Vorverfahren

30.      Am 28. April 2017 forderte die Kommission Slowenien gemäß Art. 258 AEUV auf, zu dem Vorwurf Stellung zu nehmen, dass Slowenien bei der Durchsuchung und Beschlagnahme in den Räumen der Banka Slovenije am 6. Juli 2016 die Unverletzlichkeit der Archive der EZB nicht gewährleistet und dadurch gegen Art. 343 AEUV, Art. 39 der Satzung des ESZB und der EZB und gegen die Art. 2 und 22 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union verstoßen habe. Zudem hätten sich die slowenischen Behörden unter Missachtung ihrer Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit aus Art. 4 Abs. 3 EUV und aus Art. 18 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union einer konstruktiven Diskussion entzogen.

31.      Slowenien antwortete, dass die beschlagnahmten Dokumente nicht unter den Begriff der „Archive der EZB“ im Sinne des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union subsumiert werden könnten. Die Dokumente hätten sich im Eigentum und Besitz der Banka Slovenije befunden, die im Verhältnis zur EZB als „Dritte“ anzusehen sei. Außerdem hätten die slowenischen Behörden während des gesamten Verfahrens bestmöglich Rücksicht auf die Rechtsansichten der EZB genommen, ohne aber zu dem Schluss gekommen zu sein, dass diese in der Sache zutreffend sind. Vielmehr habe die EZB gegen ihre Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit verstoßen, indem sie versucht habe, die Sicherung von Beweisen für die Zwecke des nationalen Ermittlungs- und Strafverfahrens zu verhindern.

32.       Die Kommission schloss sich dieser Ansicht nicht an und richtete am 20. Juli 2018 eine mit Gründen versehene Stellungnahme an Slowenien, die am 11. September 2018 auf diese antwortete.

V.      Anträge der Parteien und Verfahren vor dem Gerichtshof

33.      Mit Schriftsatz vom 16. April 2019 hat die Kommission die vorliegende Klage erhoben.

34.      Die Kommission beantragt,

–        gemäß Art. 258 AEUV festzustellen, dass Slowenien gegen seine Verpflichtungen aus Art. 343 AEUV, Art. 39 der Satzung des ESZB und der EZB, die Art. 2, 18 und 22 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union sowie Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen hat, indem die slowenischen Behörden einseitig Dokumente, die mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems zusammenhängen, in den Geschäftsräumen der Banka Slovenije beschlagnahmt und mit der EZB in dieser Frage nicht loyal zusammengearbeitet hat;

–        Slowenien die Kosten aufzuerlegen.

35.      Slowenien beantragt,

–        die Klage der Kommission abzuweisen.

36.      Mit Beschluss vom 3. September 2019 hat der Präsident des Gerichtshofs die EZB als Streithelferin der Kommission zugelassen.

37.      An der mündlichen Verhandlung vom 22. Juni 2020 haben Slowenien, die Kommission und die EZB teilgenommen.

VI.    Rechtliche Würdigung

38.      Die Kommission stützt ihre Klage auf zwei Rügen, die an unterschiedliche Handlungen der slowenischen Strafverfolgungsbehörden anknüpfen.

39.      Hierbei betrifft die erste Rüge die Ereignisse am 6. Juli 2016, d. h. die eigentliche Durchsuchung der Räumlichkeiten der Banka Slovenije und die Beschlagnahme bestimmter Dokumente und Datenträger.(8) Durch ihr Vorgehen hat Slowenien nach Auffassung der Kommission die Unverletzlichkeit der Archive der EZB aus Art. 343 AEUV, Art. 39 der Satzung des ESZB und der EZB, Art. 2 und Art. 22 in Verbindung mit Art. 18 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union missachtet und gegen Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen (dazu unter A.).

40.      Außerdem ist die Kommission der Ansicht, dass sich die slowenischen Behörden vor und nach der Durchsuchung und Beschlagnahme nicht ausreichend mit der EZB abgestimmt hätten. Dieses Verhalten ist Gegenstand der zweiten Rüge, mit der die Kommission eine Verletzung der Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit aus Art. 18 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union und Art. 4 Abs. 3 EUV geltend macht (dazu unter B.).

A.      Zur Rechtmäßigkeit der Durchsuchung und Beschlagnahme in den Räumlichkeiten der Banka Slovenije (erste Rüge)

41.      Was die erste Rüge der Kommission betrifft, streiten die Parteien einerseits über die Frage, ob Dokumente, die sich im Besitz einer nationalen Zentralbank befinden, unter den Schutz der Archive der EZB fallen können, der in den Art. 2 und 22 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union vorgesehen ist. Während dies nach Ansicht Sloweniens bereits begrifflich ausgeschlossen sein soll, sieht die Kommission auch solche Dokumente als geschützt an, soweit sie mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB oder des Eurosystems zusammenhängen.

42.      Andererseits besteht Uneinigkeit hinsichtlich des Rechtsregimes, welches auf „Archive der EZB“ Anwendung findet. Die EZB und die Kommission sind nämlich der Auffassung, dass Erstere hinsichtlich aller Dokumente, die unter diesen Begriff fallen, vor ihrer Verwendung in einem nationalen Ermittlungs- oder Strafverfahren ihr Einverständnis geben muss. Demgegenüber meint Slowenien, dass die EZB der Beschlagnahme der Dokumente für die Zwecke des Ermittlungs- und Strafverfahrens jedenfalls nur dann entgegentreten könnte, wenn sie darlegt, dass diese die Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit der EZB beeinträchtigt.

43.      Folglich ist in einem ersten Schritt zu prüfen, ob und gegebenenfalls für welche Art von Dokumenten, die sich im Besitz einer nationalen Zentralbank befinden, der in den Art. 2 und 22 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union vorgesehene Schutz der „Archive der EZB“ gilt (dazu unter 1.).

44.      In einem zweiten Schritt ist zu erörtern, welche Handlungen das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Union im Hinblick auf die Archive der EZB konkret ge- oder verbietet (dazu unter 2.).

1.      Zum Begriff der „Archive der EZB“

a)      Zur Auslegung von Art. 2 in Verbindung mit Art. 22 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union

45.      Die Art. 2 und 22 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union definieren den Begriff der Archive der EZB nicht.

46.      Gemäß Art. 3 des Sitzabkommens zwischen der EZB und der Bundesrepublik Deutschland fallen darunter „insbesondere alle Akten, Schreiben, Dokumente, Manuskripte, Fotografien, Film- und Tonaufzeichnungen, Rechnerprogramme und Magnetbänder oder Disketten, die sich im Eigentum oder Besitz der EZB befinden, und … alle darin enthaltenen Informationen“.

47.      Die Frage, inwieweit die Vorschriften des Sitzabkommens überhaupt allgemeine Geltung beanspruchen können(9), bedarf im vorliegenden Fall keiner Antwort, da Art. 3 des Sitzabkommens ausweislich seines Wortlauts („insbesondere“) die geschützten Dokumente nicht abschließend aufzählt und die Kommission sich auf einen darüber hinausgehenden Schutz der Archive der Union stützt. Aus Sicht der Kommission gilt die Unverletzlichkeit der Archive der EZB nämlich nicht nur für Dokumente, die sich „im Eigentum oder im Besitz“ der EZB befinden, sondern auch für Dokumente die sich im Besitz einer nationalen Zentralbank befinden und von dieser stammen, soweit diese mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB zusammenhängen.

48.      Dem tritt Slowenien entgegen, indem es darauf verweist, dass die Beschränkung des Schutzes auf Dokumente, die sich „im Eigentum oder Besitz“ der jeweiligen Organisation befinden, allgemeinen völkerrechtlichen Grundsätzen entspreche.(10) Die Vorrechte und Befreiungen der Union leiteten sich von den Immunitäten ab, die internationalen Organisationen im Völkerrecht gewährt werden, um diese vor ungerechtfertigten Eingriffen durch den Sitzstaat zu schützen. Da die Union mit zunehmender Integration nicht mehr als klassische internationale Organisation angesehen werden könne, verlören die ihr gewährten Vorrechte und Befreiungen zudem ihre Berechtigung und seien daher restriktiv zu handhaben. Denn anders als dies bei internationalen Organisationen typischerweise der Fall sei, befinde sich die Union im Verhältnis zu ihren Mitgliedstaaten nicht in einer schwächeren Position. Jedenfalls sei ein Dokument dann nicht mehr von Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union geschützt, wenn die betreffende Institution dieses Dokument an eine nationale Behörde – wie etwa eine Zentralbank – kommuniziere oder weitergebe. Denn in der Weitergabe an Dritte sei ein Verzicht auf die Vorrechte und Befreiungen des Protokolls zu sehen. Schließlich gebiete auch der funktionale Charakter der Vorrechte und Befreiungen der Union eine einschränkende Auslegung.

49.      Der Begriff der Archive der Union ist im Licht des Völkerrechts unionsrechtlich autonom(11) auszulegen. Bei dieser Auslegung sind nach ständiger Rechtsprechung nicht nur der Wortlaut der Bestimmung, sondern auch ihr Regelungszusammenhang und ihr Sinn und Zweck zu berücksichtigen.(12)

50.      Aus dem Zusammenspiel mit Art. 1 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union lässt sich schließen, dass die streitigen Dokumente und Datenträger nicht schon allein deshalb aus dem Schutzbereich von Art. 2 in Verbindung mit Art. 22 des Protokolls herausfallen, weil sie sich nicht in den Räumlichkeiten der EZB befanden. Denn alle Gegenstände, die sich in den Gebäuden und Räumlichkeiten der EZB befinden, werden bereits durch Art. 1 in Verbindung mit Art. 22 des Protokolls geschützt. Wenn Art. 2 des Protokolls daneben ein eigenständiger Anwendungsbereich verbleiben soll, müssen davon also grundsätzlich auch Dokumente und Datenträger umfasst sein, die sich an anderen Orten als in den Räumlichkeiten der EZB befinden, soweit es sich dabei um „Archive der Union“ handelt.

51.      Zu Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union hat der Gerichtshof außerdem entschieden, dass die Unverletzlichkeit der Archive der Union nicht absolut gilt, sondern funktional zu verstehen ist.(13) Entgegen der Auffassung Sloweniens folgt daraus allerdings keine generelle Verpflichtung zur einschränkenden Auslegung von Art. 2 in Verbindung mit Art. 22 des Protokolls. Vielmehr bedeutet dies, dass der Umfang des Schutzes durch den Sinn und Zweck der betreffenden Befreiung beschränkt wird.(14) Gleichzeitig folgt daraus, dass der Schutzbereich auch nur mit Blick auf diesen Zweck ermittelt werden kann.(15)

52.      Der Zweck der genannten Vorschriften ist es – darüber sind sich die Parteien des vorliegenden Verfahrens einig –, die Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit der EZB zu erhalten.(16) In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof entschieden, dass die Unverletzlichkeit der Archive insbesondere verhindern soll, dass in den geschützten Dokumenten enthaltene Informationen bekannt werden, wenn dadurch die Funktionsfähigkeit oder Unabhängigkeit der betroffenen Institution beeinträchtigt werden könnte, namentlich, weil die Erfüllung der Aufgaben dieser Institution gefährdet würde.(17)

53.      Ihre Hauptaufgabe, nämlich die Gewährleistung der Preisstabilität(18), erfüllt die EZB gemäß Art. 127 AEUV jedoch nicht alleine, sondern gemeinsam mit den nationalen Zentralbanken, die zusammen mit der EZB das ESZB bilden (vgl. Art. 282 Abs. 1 AEUV).

54.      Die Funktionsfähigkeit und ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung des ESZB bzw. des Eurosystems(19) setzen eine enge, arbeitsteilige Zusammenarbeit und einen ständigen Austausch zwischen der EZB und den nationalen Zentralbanken voraus. Gemäß Art. 9.2 der Satzung der EZB und des ESZB werden hierbei alle dem ESZB auf Grundlage von Art. 127 AEUV übertragenen Aufgaben entweder durch die EZB selbst oder durch die nationalen Zentralbanken erfüllt. Dementsprechend hat der Gerichtshof befunden, dass die EZB und die nationalen Zentralbanken im ESZB „vereint“ sind und eng zusammenarbeiten, so dass eine weniger ausgeprägte Unterscheidung zwischen der Rechtsordnung der Union und den nationalen Rechtsordnungen besteht.(20)

55.      Aus diesem Grund ist das Argument Sloweniens zurückzuweisen, nach dem sich die EZB eines Dokuments entäußere, wenn sie es an die nationalen Zentralbanken übergibt oder versendet und ein solches Dokument daher in der Folge nicht mehr vom Schutz der Art. 2 und 22 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union erfasst sei. Denn soweit es sich dabei um ein Dokument handelt, welches mit der Tätigkeit des ESZB zusammenhängt, verlässt es durch die Weitergabe an eine nationale Zentralbank nicht dessen Rahmen. Solange sich ein Dokument aber im vorgesehenen Rahmen des ESZB befindet, muss es grundsätzlich auch unter das Schutzregime fallen, welches das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Union für Archive der EZB vorsieht.

56.      Insofern kann auch nicht von einer Weitergabe an „Dritte“ die Rede sein. Zwar sind die Zentralbanken und ihre Präsidentinnen oder Präsidenten auch nationale Behörden. Mit Blick auf das ESZB haben sie jedoch eine funktionale Doppelstellung inne.(21) Hierbei sind die nationalen Zentralbanken nicht mit mitgliedstaatlichen Behörden vergleichbar, die in anderen Bereichen mit der Umsetzung von Unionsrecht betraut sind. Vielmehr sind die nationalen Zentralbanken gemäß Art. 14.3 der Satzung der EZB und des ESZB „integraler Bestandteil“ des ESZB. Die Präsidentin oder der Präsident der Zentralbank eines Mitgliedstaats, dessen Währung der Euro ist, ist außerdem gemäß Art. 283 Abs. 1 AEUV Mitglied des EZB-Rates.

57.      Wollte man den Schutz der Archive der EZB im Kontext des ESZB mithin auf Dokumente beschränken, die von der EZB stammen oder sich jedenfalls in ihrem Besitz befinden – unter Ausschluss all derjenigen, die sich im Besitz der nationalen Zentralbanken befinden oder von diesen stammen –, wären in großem Umfang Dokumente, deren Bekanntwerden die ordnungsgemäße Erfüllung der Aufgaben des ESZB bzw. des Eurosystems gefährden könnte, von diesem Schutz ausgenommen. Die Unverletzlichkeit der Archive der EZB könnte folglich ihre Funktion nicht erfüllen.

58.      Dies gilt umso mehr, als bestimmte währungspolitische Maßnahmen in besonderem Maß die Vertraulichkeit bestimmter Informationen voraussetzen und sich diese auch oder sogar zuvorderst im Eigentum und Besitz der nationalen Zentralbanken befinden können. Dies kann etwa am Beispiel des Public Sector Purchase Programme (PSPP) des ESZB veranschaulicht werden, in dessen Rahmen vor allem die nationalen Zentralbanken des Eurosystems Schuldtitel, insbesondere Staatsanleihen, an den Sekundärmärkten kaufen. Voraussetzung für das Funktionieren dieses Programms ist es, dass der genaue Schlüssel und der Umfang des Ankaufs von Staatsanleihen bestimmter Mitgliedstaaten auf den Sekundärmärkten nicht bekannt sind.(22) Diese Informationen befinden sich aber aller Voraussicht nach auch in Dokumenten, die sich im Eigentum und Besitz der betreffenden nationalen Zentralbanken befinden.

59.      Darüber hinaus kann jedenfalls mit Blick auf die Institutionen des ESZB bzw. des Eurosystems auch nicht dem Einwand Sloweniens gefolgt werden, wonach mit zunehmender Integration der Union die Vorrechte und Befreiungen ihrer Institutionen an Bedeutung verlören. Denn die Unabhängigkeit der EZB, die durch Art. 343 AEUV, Art. 39 der Satzung des ESZB und der EZB und das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Union gerade geschützt werden soll, findet ihren Ursprung nicht allein im Status der Union als internationale Organisation. Vielmehr ist diese Unabhängigkeit nach Konzeption der Verträge unerlässliche Voraussetzung für die Gewährleistung der Preisstabilität und setzt in einem besonderen Maße die Unabhängigkeit der mit dieser Aufgabe betrauten Institutionen voraus.(23) Das Erfordernis der Unabhängigkeit gilt daher gemäß Art. 130 Abs. 1 AEUV ebenso für die nationalen Zentralbanken.

60.      Folglich muss der Archivbegriff alle Dokumente umfassen, die im Zusammenhang mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems von der EZB oder von den nationalen Zentralbanken erstellt, verarbeitet und versendet werden, und zwar unabhängig davon, ob sie sich im Besitz der EZB oder der nationalen Zentralbanken befinden.

61.      Wie eng der Zusammenhang eines Dokuments mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB ist, spielt hierbei bei der Qualifizierung desselben als Teil der Archive noch keine Rolle. Soweit durch das Bekanntwerden der in einem Dokument enthaltenen Informationen aufgrund seiner untergeordneten Bedeutung für die Tätigkeit des ESZB keine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit oder Unabhängigkeit der EZB droht, führt dies nämlich entgegen der Ansicht Sloweniens nicht dazu, dass ein solches Dokument schon gar nicht als Teil der „Archive der EZB“ anzusehen ist. Dieses funktionale Erfordernis betrifft vielmehr die Reichweite der Immunität im konkreten Fall(24), die sogleich in einem zweiten Schritt zu untersuchen sein wird (dazu unter 2.).

b)      Zur Betroffenheit von „Archiven der EZB“ im vorliegenden Fall

62.      Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens Sache der Kommission, das Vorliegen der Voraussetzungen der behaupteten Vertragsverletzung nachzuweisen.(25) Bezogen auf den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass die Kommission zunächst nachweisen muss, dass sich unter den am 6. Juli 2016 von den slowenischen Strafverfolgungsbehörden beschlagnahmten Dokumenten auch solche befunden haben, die mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB zusammenhängen. Dabei reicht es grundsätzlich nicht aus, dass die Kommission sich auf irgendeine Vermutung stützt.(26)

63.      Im vorliegenden Fall besteht jedoch die Besonderheit, dass sich alle streitigen Dokumente bereits im Besitz der slowenischen Strafverfolgungsbehörden befinden. Die Kommission kann folglich nicht mit Sicherheit feststellen, welche Dokumente im Einzelnen beschlagnahmt worden sind.

64.      Es ist allerdings unstreitig, dass bei der Durchsuchung u. a. sämtliche Kommunikation, die über das E‑Mail-Konto des Präsidenten der Banka Slovenije versandt wurde, sowie sämtliche elektronischen Dokumente, die sich an dem Arbeitsplatz des Präsidenten oder auf seinem Laptop befanden und auf den Zeitraum zwischen den Jahren 2012 und 2014 datieren, beschlagnahmt wurden. Unter diesen Dokumenten müssen sich zwangsläufig auch solche befinden, die mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB zusammenhängen. Denn der Präsident der Banka Slovenije ist gemäß Art. 283 Abs. 1 AEUV Mitglied des EZB-Rates, welcher wiederum nach Art. 129 Abs. 1 AEUV das ESZB leitet und alle für dessen Funktionieren wesentlichen Entscheidungen trifft.(27)

65.      In dieser Situation obliegt es Slowenien, substantiiert zu bestreiten, dass Dokumente betroffen sind, die mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB zusammenhängen.(28) Da Slowenien aber vorträgt, die zuständigen Stellen könnten diese Dokumente gar nicht identifizieren, ist davon auszugehen, dass von der Durchsuchung und Beschlagnahme in den Räumen der Banka Slovenije am 6. Juli 2016 auch „Archive der EZB“ betroffen waren.

2.      Zum Vorliegen eines Verstoßes gegen das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Union

a)      Zum funktionalen Charakter der Vorrechte und Befreiungen der Union

66.      Aus der alleinigen Feststellung, dass jedenfalls auch solche Dokumente von der Beschlagnahme betroffen waren, die unter den Begriff der „Archive der EZB“ subsumiert werden können, folgt allerdings noch kein Immunitätsverstoß. Vielmehr ist im nächsten Schritt noch zu klären, was die „Unverletzlichkeit“ der Archive der EZB konkret beinhaltet bzw. unter welchen Umständen ein Verstoß gegen das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Union anzunehmen ist.

67.      Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiung der Union konkretisiert den Begriff der „Unverletzlichkeit“ nicht weiter. Allerdings stellt Art. 1 Satz 2 des Protokolls im Hinblick auf die Räumlichkeiten und Gebäude der Union, die gemäß Satz 1 ebenfalls „unverletzlich“ sind, klar, dass diese nicht „durchsucht, beschlagnahmt, eingezogen oder enteignet werden“ dürfen.

68.      Diese Beispiele für verbotene Handlungen müssen grundsätzlich auch für Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union gelten. Denn es ist nicht ersichtlich, warum der Begriff der „Unverletzlichkeit“ in Art. 2 des Protokolls eine andere Bedeutung haben sollte, als in dessen Art. 1. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs bestätigt insoweit, dass bei der Auslegung einer Vorschrift des Protokolls der Wortlaut und die Wertungen seiner anderen Vorschriften zu berücksichtigen sind.(29)

69.      Nach Auffassung Sloweniens stellt die Beschlagnahme der betroffenen Dokumente unter den konkreten Umständen des vorliegenden Falls dennoch keine Verletzung der Archive der EZB dar. Denn eine solche sei nur anzunehmen, wenn dadurch die Funktionsfähigkeit oder Unabhängigkeit der EZB beeinträchtigt würde.

70.      Zur Begründung seiner Ansicht stützt sich Slowenien im Wesentlichen auf den funktionalen Charakter der in Art. 2 in Verbindung mit Art. 22 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union enthaltenen Befreiung.(30) Bei funktionaler Immunität scheidet eine Übermittlung derartiger Dokumente nur aus, wenn dadurch die Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit der Unionseinrichtung beeinträchtigt werden kann.(31) Außerdem sind die Organe und Einrichtungen der Union nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs grundsätzlich verpflichtet, die mitgliedstaatlichen Behörden bei strafrechtlichen Ermittlungen zu unterstützen, wenn sie sich auf Informationen über Tatsachen beziehen, die sich im Besitz dieser Unionsorgane befinden; etwa indem sie ihnen die betreffenden Unterlagen zur Verfügung stellen.

71.       Daraus folgert Slowenien für den vorliegenden Fall, dass die Unverletzlichkeit der Archive der EZB den Ermittlungsmaßnahmen der slowenischen Behörden nur insoweit entgegengehalten werden könne, als durch die Beschlagnahme der betreffenden Dokumente für die Zwecke des Ermittlungs- und Strafverfahrens die Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit der EZB beeinträchtigt werden könne. Den entsprechenden Nachweis hätten aber weder die EZB noch die Kommission erbracht.

72.      Diese beiden Institutionen weisen demgegenüber darauf hin, dass der Zugriff durch die mitgliedstaatlichen Strafverfolgungsbehörden nach der allgemeinen Systematik der Vorrechte und Befreiungen grundsätzlich immer das Einverständnis der betroffenen Stelle voraussetze.(32) Sollte diese eine Genehmigung verweigern, bedürfe es einer Entscheidung des Gerichtshofs. Dies gelte nach dessen Rechtsprechung auch für den Zugriff auf Archive der Union.(33) Da die slowenischen Behörden aber weder eine Genehmigung von der EZB eingeholt noch den Gerichtshof angerufen haben, verletze die Durchsuchung und Beschlagnahme der betreffenden Dokumente die Archive der EZB. Auf eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit oder Unabhängigkeit der EZB käme es daher nicht an.

73.      Diese Auffassung ist aus meiner Sicht nicht mit dem rein funktionalen Charakter der Vorrechte und Befreiungen der Union vereinbar. Gleichzeitig kann es den mitgliedstaatlichen Behörden aber auch nicht gestattet sein, ohne Rücksicht auf eventuell bestehende Vorrechte und Befreiungen der Unionsorgane Beschlagnahmen durchzuführen, solange sich im Nachhinein herausstellt, dass die betroffenen Dokumente keine Informationen enthielten, die die Erfüllung der Aufgaben dieser Organe beeinträchtigen könnten. Denn dieses Ergebnis wäre wiederum nicht mit dem Ziel eines effektiven und vollständigen Schutzes der Unionsorgane gegen Beeinträchtigungen oder Gefährdungen ihres ordnungsgemäßen Funktionierens und ihrer Unabhängigkeit zu vereinbaren.(34)

74.      Dieses Spannungsverhältnis lässt sich auflösen, indem man zwischen materiellen und verfahrensrechtlichen Verstößen gegen das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Union unterscheidet.

75.      Materiell schützen die Art. 2 und 22 des Protokolls die Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit der EZB. Damit dieser Schutz jedoch vollständig und effektiv gewährleistet werden kann, muss er in bestimmten Situationen um verfahrensrechtliche Garantien erweitert werden.

76.      Daher müssen gemäß Art. 18 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union die Organe und Mitgliedstaaten bei Anwendung des Protokolls im gegenseitigen Einvernehmen handeln. Die Vorschrift konkretisiert insoweit den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV.(35) Für die betroffene Unionseinrichtung hat der Gerichtshof aus dieser Vorschrift eine Pflicht zur Freigabe von Dokumenten hergeleitet, soweit keine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit oder Unabhängigkeit dieser Einrichtung droht.(36) Spiegelbildlich dazu trifft die mitgliedstaatlichen Behörden grundsätzlich die Pflicht, eine solche Freigabeentscheidung einzuholen, wenn sie auf Archive der Union zugreifen wollen, vorliegend also auf Dokumente, die mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB zusammenhängen.(37)

77.      Durch diese Pflicht wird die von Art. 2 des Protokolls materiell geschützte Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit der Unionseinrichtungen verfahrensrechtlich abgesichert. Denn sie stellt sicher, dass die betroffenen Unionseinrichtungen ihre Rechte aus dem Protokoll überhaupt wahrnehmen können. Wenn die mitgliedstaatlichen Behörden, die auf bestimmte Dokumente oder Daten zugreifen wollen, mit den betreffenden Stellen der Union nämlich gar nicht in Austausch treten, können Letztere nicht beurteilen, inwiefern ihre Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit durch dieses Begehren beeinträchtigt sein könnte und welche Vorkehrungen sie gegebenenfalls zu treffen haben, um solche Beeinträchtigungen zu verhindern oder zu minimieren. Dies gilt insbesondere in einer Situation wie der vorliegenden, in der sich die fraglichen Dokumente nicht im Besitz der betroffenen Unionseinrichtung befinden.

78.      Der Vorwurf der Kommission betrifft nun aber gerade diesen verfahrensrechtlichen Aspekt des Schutzes der Archive der Union. Denn sie wirft den slowenischen Strafverfolgungsbehörden im Kern vor, ohne vorherige Abstimmung mit der EZB gehandelt zu haben. Gegenstand des Vorwurfs ist demgegenüber nicht eine konkrete Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit oder Unabhängigkeit der EZB.

79.      Zwar kann durch eine Pflicht zur vorherigen Abstimmung mit den betreffenden Stellen der Union die Schlagkraft bestimmter Ermittlungsmaßnahmen gefährdet werden, worauf die slowenische Regierung zu Recht hinweist. Dies ist allerdings im Rahmen des Ausgleichs der widerstreitenden Interessen, der den Vorschriften des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union inhärent ist, unter Umständen hinzunehmen. Den Interessen der mitgliedstaatlichen Strafverfolgungsbehörden wird dadurch Rechnung getragen, dass die betroffene Unionsstelle ihrerseits umfassend zur loyalen Kooperation verpflichtet ist.(38) Dies schließt geeignete Maßnahmen zum Schutz der Ermittlungsinteressen ein. Zudem unterliegt ihre Entscheidung vollumfänglich der Überprüfung durch den Gerichtshof.(39)

80.      Hierbei zeigt der zweite Beschluss des Gerichtshofs in der Rechtssache Zwartveld, dass allgemeine oder pauschale Behauptungen die Verweigerung der Freigabe von Dokumenten nicht rechtfertigen können.(40) Dadurch wird sichergestellt, dass die Unionsorgane strafrechtliche Maßnahmen der Mitgliedstaaten nicht unangemessen oder willkürlich beeinträchtigen. Die Bedenken Sloweniens, dass bereits ein irgendwie gearteter Zusammenhang von Zentralbankdokumenten mit den Aufgaben des ESZB jeglichen Zugriff der nationalen Behörden ausschließen und deren Ermittlungen damit vollumfänglich vereiteln könnte, sind mithin unbegründet.

81.      Im Übrigen ist nicht ersichtlich, dass die Beschlagnahme am 6. Juli 2016 unter Ausnutzung eines Überraschungseffekts durchgeführt wurde. Ganz im Gegenteil wusste die Banka Slovenije bereits durch den vorherigen Kontakt mit den slowenischen Strafverfolgungsbehörden, dass diese Zugriff auf bestimmte Dokumente begehrten.

82.      Ein Verstoß gegen die verfahrensrechtlichen Gewährleistungen des Schutzes der Archive der Union setzt mithin nicht voraus, dass materiell bereits eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit der betreffenden Unionseinrichtung dargelegt wurde.(41)

83.      Diese Differenzierung zwischen verfahrensrechtlichen und materiellen Verstößen gegen das Protokoll kann sich dabei unter Umständen auf die Beweisverwertung auswirken. Denn für die Frage der Verwertbarkeit eines Dokuments als Beweis in einem nationalen Strafverfahren kann es durchaus eine Rolle spielen, ob es unter materieller Verletzung der Vorrechte und Befreiungen der Union oder unter Verstoß gegen die verfahrensrechtlichen Aspekte der Immunität erlangt wurde.(42)

84.      Da vorliegend feststeht, dass die slowenischen Strafverfolgungsbehörden die Durchsuchung und Beschlagnahme am 6. Juli 2016 einseitig und ohne vorherige Abstimmung mit der EZB durchgeführt und auch keine Entscheidung des Gerichtshofs eingeholt haben, haben sie gegen Art. 2 und Art. 22 in Verbindung mit Art. 18 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union verstoßen.

b)      Hilfsweise: zum Nachweis einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit der EZB

85.      Wenngleich die erste Rüge der Kommission schon aus den soeben dargelegten Gründen Erfolg hat, kann es im weiteren Verlauf des Streits zwischen der EZB und Slowenien entscheidend sein, ob die Beschlagnahme auch zu einem materiellen Immunitätsverstoß geführt hat. In diesem Zusammenhang stellt sich dann die Frage nach dem Nachweis einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit oder Unabhängigkeit der EZB.

86.      Sollte der Gerichtshof der Auffassung Sloweniens folgen, nach der bereits die Qualifizierung eines Dokuments als Teil der „Archive der EZB“ voraussetzt, dass die Möglichkeit einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit der EZB besteht(43), wäre diese Frage sogar für die Zwecke des vorliegenden Verfahrens entscheidungserheblich.

87.      Aus den Beschlüssen des Gerichtshofs in der Rechtssache Zwartveld folgt insoweit, dass es grundsätzlich der betroffenen Unionseinrichtung obliegt, darzulegen, inwieweit durch das Bekanntwerden der in den betreffenden Dokumenten enthaltenen Informationen die Funktionsfähigkeit und die Unabhängigkeit der Union beeinträchtigt und die Erfüllung der der betreffenden Einrichtung übertragenen Aufgaben gefährdet werden.(44)

88.      Allerdings stellt sich auch hier das bereits angesprochene Problem, dass sich die beschlagnahmten Dokumente im Besitz der slowenischen Strafverfolgungsbehörden befinden und folglich weder die EZB noch die Kommission wissen, welche Dokumente im Einzelnen betroffen sind.(45) Die Kenntnis der Dokumente und ihres Inhalts sind jedoch unerlässlich, um beurteilen zu können, ob das Bekanntwerden der darin enthaltenen Informationen die Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit der EZB beeinträchtigt.

89.      Auch in diesem Zusammenhang ist daher ein Rückgriff auf Art. 18 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union erforderlich. Dieser verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Zusammenarbeit mit den Unionsorganen, um die ordnungsgemäße Anwendung des Protokolls sicherzustellen. Konkret müssen die slowenischen Behörden daher die Identifizierung der Dokumente ermöglichen, die als „Archive der EZB“ anzusehen sind, und der EZB hinsichtlich dieser Dokumente die Möglichkeit zur Stellungnahme einräumen.

90.      Analog dazu verpflichtet Art. 4 Abs. 3 EUV einen Mitgliedstaat im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens nach der Rechtsprechung dazu, der Kommission alle Informationen zur Verfügung zu stellen, anhand derer sie das Vorliegen einer Vertragsverletzung beurteilen kann.(46) Wie bereits dargelegt wurde, kann die Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit sogar dazu führen, dass es dem Mitgliedstaat obliegt, die Angaben der Kommission und deren Folgen substantiiert zu bestreiten, wenn die Kommission genügend Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Vertragsverletzung durch diesen beigebracht hat.(47)

91.      Allerdings kann nicht jeder Informationsvorsprung auf Seiten des beklagten Mitgliedstaats zu einer solchen Umkehr der Beweislast führen. Vielmehr muss nach den Gesamtumständen des Falls, der Natur der nachzuweisenden Tatsache und dem einschlägigen Unionsrecht(48) ein Abweichen von der Beweislastverteilung gerechtfertigt erscheinen.

92.      Vorliegend ist aus meiner Sicht im Hinblick auf die Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des ESZB keine Beweislastumkehr angezeigt. Vielmehr müsste die EZB konkret darlegen, warum das Bekanntwerden der Informationen in bestimmten Dokumenten die Erfüllung der Aufgaben des ESZB gefährden könnte.(49) Diesen Nachweis kann die EZB jedoch nur erbringen, wenn die slowenischen Behörden mit ihr zusammenarbeiten und ihr alle Informationen zur Verfügung stellen, die ihr diese Beurteilung erlauben. Diese Notwendigkeit unterstreicht im Übrigen, dass es geboten ist, im vorliegenden Fall bereits aufgrund der Verletzung des verfahrensrechtlichen Aspekts der Immunität einen Verstoß gegen das Unionsrecht festzustellen.

B.      Zur Pflicht zur Abstimmung mit der EZB vor und nach der Durchsuchung und Beschlagnahme (zweite Rüge)

93.      Mit ihrer zweiten Rüge wirft die Kommission Slowenien einen Verstoß gegen seine Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit aus Art. 18 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union sowie aus Art. 4 Abs. 3 EUV vor, da die slowenischen Strafverfolgungsbehörden in keinen „konstruktiven Dialog“ mit der EZB getreten seien. Im Kern wirft die Kommission den slowenischen Behörden hierbei vor, sich weder vor noch nach der Durchsuchung und Beschlagnahme der Dokumente ausreichend mit der EZB abgestimmt zu haben, um die Beeinträchtigung ihrer Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit zu minimieren.

94.      Was das Verhalten der slowenischen Behörden vor der Durchführung der Durchsuchung und Beschlagnahme in den Räumlichkeiten der Banka Slovenije betrifft, überschneidet sich die zweite Rüge inhaltlich mit der ersten. Denn der Vorwurf im Rahmen der ersten Rüge bezieht sich gerade auf das einseitige Vorgehen der slowenischen Strafverfolgungsbehörden bei der Durchsuchung und Beschlagnahme, d. h. auf die fehlende vorherige Abstimmung mit der EZB. Insoweit wurde bereits festgestellt, dass darin ein Verstoß gegen Art. 18 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union zu sehen ist.(50)

95.      Folglich bleibt zu prüfen, ob und gegebenenfalls welche Verpflichtungen aus Art. 18 des Protokolls mit Blick auf den Zeitraum nach der eigentlichen Durchsuchung und Beschlagnahme folgen.

96.      Nach ständiger Rechtsprechung verpflichtet Art. 4 Abs. 3 EUV die Mitgliedstaaten dazu, alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu ergreifen, um die Geltung und die Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten.(51)

97.      Art. 18 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union, der insoweit Art. 4 Abs. 3 EUV konkretisiert, verpflichtet die Institutionen der Union und die mitgliedstaatlichen Behörden zur Zusammenarbeit, um Konflikte bei der Auslegung und Anwendung der Bestimmungen des Protokolls zu vermeiden.(52) Diese Verpflichtung ist ihrer Natur nach beiderseitig.(53) Müssen hierbei – wie vorliegend – widerstreitende Interessen in Ausgleich gebracht werden, impliziert sie, dass jede Seite die eigenen Kompetenzen schonend ausüben muss, um die berechtigten Interessen der anderen Seite so wenig wie möglich zu beeinträchtigen.(54)

98.      Damit die EZB ihre Rechte aus dem Protokoll überhaupt wahrnehmen kann, muss Slowenien daher zunächst die Identifizierung derjenigen Dokumente ermöglichen, die als Teil der „Archive der EZB“ anzusehen sind, und der EZB Gelegenheit geben, mit Blick auf eine mögliche Beeinträchtigung ihrer Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit Stellung zu nehmen.(55) In diesem Rahmen müsste die EZB sodann konkrete Gründe vortragen, die gegen eine Verwendung im nationalen Ermittlungs- oder Strafverfahren sprechen.

99.      Um drohende Beeinträchtigungen zu minimieren und gleichzeitig den Fortgang der Ermittlungen nicht über Gebühr zu verzögern, müssen beide Seiten dabei zu einer raschen Prüfung beitragen. Slowenien hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die EZB über sechs Monate verstreichen hat lassen, um den slowenischen Behörden ihre Kriterien zur Identifizierung der geschützten Dokumente zu übermitteln.(56) Die EZB konnte diese Verzögerung in der mündlichen Verhandlung nicht erklären. Allerdings haben die slowenischen Behörden der EZB überhaupt nur im Hinblick auf die in Nr. 24 der vorliegenden Schlussanträge genannten Dokumente eine Möglichkeit zur Stellungnahme angeboten. Anstatt hinsichtlich aller anderen Dokumente eine Prüfung zu verwehren, hätte entweder bereits der Ermittlungsrichter – nach dem Vorbild der Rechtssache Zwartveld – oder das mit der Beschwerde der EZB befasste Gericht(57) den Gerichtshof anrufen müssen, um den Umfang des Schutzes der Art. 2 und 22 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union zu bestimmen.(58)

100. Diese Verpflichtung erübrigt sich auch nicht etwa durch das Angebot der slowenischen Behörden, das nationale Strafverfahren unter strengen Geheimhaltungsauflagen oder unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchzuführen. Zwar können dies durchaus Gesichtspunkte sein, die bei der Beurteilung der Frage zu berücksichtigen sind, ob durch die Verwendung bestimmter Dokumente im nationalen Strafverfahren eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit der EZB droht. Wenn Slowenien in dieser Frage eine andere Ansicht vertritt, muss es jedoch eine Entscheidung des Gerichtshofs herbeiführen und kann nicht einseitig entscheiden, die betreffenden Dokumente im Strafverfahren zu verwenden.

101. In diesem Zusammenhang ergibt sich außerdem aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass überhaupt nur die Freigabe von solchen Dokumenten verlangt werden kann, die für die Zwecke des nationalen Ermittlungs- oder Strafverfahrens relevant sind.(59)

102. Daraus folgt für das vorliegende Verfahren, dass sich die slowenischen Behörden spätestens bei der Sicherung der beschlagnahmten Dokumente auf diejenigen Dokumente hätten beschränken müssen, die für die Zwecke des nationalen Ermittlungsverfahrens benötigt werden. Dies gilt jedenfalls insoweit, als nicht ausgeschlossen werden kann, dass ein bestimmtes Dokument schützenswerte Interessen der EZB berührt, was darzulegen wiederum dieser obliegt.(60) Im Sinne einer schonenden Ausübung der eigenen Kompetenzen(61) hätten die slowenischen Behörden außerdem alle Dokumente umgehend zurückgeben müssen, die als Archive der EZB zu qualifizieren sind und keine Relevanz für dieses Verfahren haben. In diesem Zusammenhang ist außerdem darauf hinzuweisen, dass die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit nach ständiger Rechtsprechung ebenfalls erfordert, die rechtswidrigen Folgen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht zu beheben.(62)

103. Bis zur Klageerhebung durch die Kommission haben die slowenischen Behörden allerdings weder dargelegt, welche Dokumente sie aus welchen Gründen für die Zwecke des Ermittlungs- und Strafverfahrens verwendet haben oder verwenden wollen, noch die nicht benötigten Dokumente, die Archive der EZB darstellen, an die Banka Slovenije oder die EZB herausgegeben.

104. Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass Slowenien auch durch sein Verhalten nach der Durchsuchung und Beschlagnahme in den Räumlichkeiten der Banka Slovenije gegen Art. 18 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union verstoßen hat.

VII. Kosten

105. Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da Slowenien mit seinem Vorbringen unterliegt, sind ihm gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen. Gemäß Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, wonach die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten tragen, trägt die EZB ihre eigenen Kosten.(63)

VIII. Ergebnis

106. In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, wie folgt zu entscheiden:

1.      Die Republik Slowenien

–        hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 2 und Art. 22 in Verbindung mit Art. 18 des Protokolls Nr. 7 über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union verstoßen, dass die slowenischen Strafverfolgungsbehörden am 6. Juli 2016 in den Räumlichkeiten der Banka Slovenije u. a. sämtliche Kommunikation, die über das E‑Mail-Konto des Präsidenten der Banka Slovenije versandt wurde, sowie sämtliche elektronischen Dokumente, die sich an dem Arbeitsplatz des Präsidenten oder auf seinem Laptop befanden und auf den Zeitraum zwischen den Jahren 2012 und 2014 datieren, beschlagnahmt haben, ohne sich vorher mit der EZB abzustimmen oder eine Entscheidung des Gerichtshofs einzuholen,

–        hat außerdem dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 18 des Protokolls Nr. 7 über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union verstoßen, dass sie im Nachgang zur Beschlagnahme weder die Identifizierung der Dokumente durch die EZB ermöglicht hat, die im Zusammenhang mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB stehen, um dieser die Möglichkeit einzuräumen, hinsichtlich einer eventuellen Beeinträchtigung ihrer Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit Stellung zu nehmen, noch begründet hat, welche Dokumente für die Zwecke des nationalen Straf- und Ermittlungsverfahrens unerlässlich sind, noch alle anderen Dokumente, die als Archive der EZB zu qualifizieren sind, zurückgegeben hat.

2.      Die Republik Slowenien trägt die Kosten.

3.      Die EZB trägt ihre eigenen Kosten.

































































Leave a Comment

Schreibe einen Kommentar