C-313/25 PPU – Adrar

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Language of document : ECLI:EU:C:2025:647

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

4. September 2025(*)

„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Einwanderungspolitik – Rückführung von Drittstaatsangehörigen, die sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhalten – Richtlinie 2008/115/EG – Vollstreckung einer bestandskräftig gewordenen Rückkehrentscheidung – Art. 5 – Grundsatz der Nichtzurückweisung – Wohl des Kindes – Familiäre Bindungen – Art. 15 – Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung – Überprüfung der Einhaltung der Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen – Verpflichtung des nationalen Gerichts, die Beachtung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung und der anderen in Art. 5 der Richtlinie 2008/115 genannten Belange zu überprüfen – Prüfung von Amts wegen – Art. 6 und 7, Art. 19 Abs. 2, Art. 24 Abs. 2 und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union “

In der Rechtssache C‑313/25 PPU [Adrar](i)

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Roermond (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Roermond, Niederlande), mit Entscheidung vom 6. Mai 2025, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Mai 2025, in dem Verfahren

GB

gegen

Minister van Asiel en Migratie

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin), des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Zweiten Kammer sowie der Richter M. Gavalec, Z. Csehi und F. Schalin,

Generalanwalt: D. Spielmann,

Kanzlerin: A. Lamote, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 1. Juli 2025,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von GB, vertreten durch N. den Ouden und A. Hol, Advocaten,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. H. S. Gijzen und J. Langer als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Baeckelmans, A. Katsimerou und F. van Schaik als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 1. August 2025

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5, Art. 13 Abs. 1 und 2 und Art. 15 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98) in Verbindung mit den Art. 6 und 7, Art. 19 Abs. 2, Art. 24 Abs. 2 und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem algerischen Staatsangehörigen GB und dem Minister van Asiel en Migratie (Minister für Asyl und Migration, Niederlande, im Folgenden: Minister) wegen dessen Entscheidung, GB zum Zweck seiner Abschiebung nach Algerien in Haft zu nehmen.

 Rechtlicher Rahmen

 Völkerrecht

3        In Art. 33 des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) in der durch das am 31. Januar 1967 in New York geschlossene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge geänderten Fassung heißt es:

„1.      Keiner der vertragschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.

2.      Auf die Vergünstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Flüchtling nicht berufen, der aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit des Landes anzusehen ist, in dem er sich befindet, oder der eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Staates bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt wurde.“

 Unionsrecht

4        In den Erwägungsgründen 2, 4, 8, 16, 22 und 24 der Richtlinie 2008/115 heißt es:

„(2)      Auf seiner Tagung am 4. und 5. November 2004 in Brüssel forderte der Europäische Rat zur Festlegung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik auf, die auf gemeinsamen Normen beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden.

(4)      Eine wirksame Rückkehrpolitik als notwendiger Bestandteil einer gut geregelten Migrationspolitik muss mit klaren, transparenten und fairen Vorschriften unterlegt werden.

(8)      Anerkanntermaßen haben die Mitgliedstaaten das Recht, die Rückkehr illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger sicherzustellen, unter der Voraussetzung, dass faire und effiziente Asylsysteme vorhanden sind, die den Grundsatz der Nichtzurückweisung in vollem Umfang achten.

(16)      Das Mittel der Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung sollte nur begrenzt zum Einsatz kommen und sollte im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und die angestrebten Ziele dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unterliegen. Eine Inhaftnahme ist nur gerechtfertigt, um die Rückkehr vorzubereiten oder die Abschiebung durchzuführen und wenn weniger intensive Zwangsmaßnahmen ihren Zweck nicht erfüllen.

(22)       In Übereinstimmung mit dem [von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 20. November 1989 verabschiedeten Internationalen Übereinkommen über die Rechte des Kindes] sollten die Mitgliedstaaten bei der Durchführung dieser Richtlinie insbesondere das ‚Wohl des Kindes‘ im Auge behalten. In Übereinstimmung mit der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und der Grundfreiheiten sollte bei der Umsetzung dieser Richtlinie der Schutz des Familienlebens besonders beachtet werden.

(24)      Die Richtlinie wahrt die Grundrechte und Grundsätze, die vor allem in der Charta … verankert sind.“

5        Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) Nrn. 4 und 5 der Richtlinie 2008/115 bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke

4.      ‚Rückkehrentscheidung‘: die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme[,] mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird;

5.      ‚Abschiebung‘: die Vollstreckung der Rückkehrverpflichtung, d. h. die tatsächliche Verbringung aus dem Mitgliedstaat“.

6        Art. 5 („Grundsatz der Nichtzurückweisung, Wohl des Kindes, familiäre Bindungen und Gesundheitszustand“) der Richtlinie sieht vor:

„Bei der Umsetzung dieser Richtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise:

a)      das Wohl des Kindes,

b)      die familiären Bindungen,

c)      den Gesundheitszustand der betreffenden Drittstaatsangehörigen,

und halten den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein.“

7        Art. 9 („Aufschub der Abschiebung“) Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten schieben die Abschiebung auf,

a)      wenn diese gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoßen würde …“

8        Art. 12 („Form“) Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/115 sieht vor:

„Rückkehrentscheidungen sowie – gegebenenfalls – Entscheidungen über ein Einreiseverbot oder eine Abschiebung ergehen schriftlich und enthalten eine sachliche und rechtliche Begründung sowie Informationen über mögliche Rechtsbehelfe.“

9        Art. 13 („Rechtsbehelfe“) Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie legt fest:

„(1)      Die betreffenden Drittstaatsangehörigen haben das Recht, bei einer zuständigen Justiz- oder Verwaltungsbehörde oder einem zuständigen Gremium, dessen Mitglieder unparteiisch sind und deren Unabhängigkeit garantiert wird, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 1 einzulegen oder die Überprüfung solcher Entscheidungen zu beantragen.

(2)      Die in Absatz 1 genannte Behörde oder dieses Gremium ist befugt, Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 1 zu überprüfen, und hat auch die Möglichkeit, ihre Vollstreckung einstweilig auszusetzen, sofern eine einstweilige Aussetzung nicht bereits im Rahmen der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften anwendbar ist.“

10      Art. 15 („Inhaftnahme“) der Richtlinie lautet:

„(1)      Sofern in dem konkreten Fall keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können, dürfen die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist, nur in Haft nehmen, um deren Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen, und zwar insbesondere dann, wenn

a)      Fluchtgefahr besteht oder

b)      die betreffenden Drittstaatsangehörigen die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgehen oder behindern.

Die Haftdauer hat so kurz wie möglich zu sein und sich nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen [zu] erstrecken, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden.

(2)      Die Inhaftnahme wird von einer Verwaltungs- oder Justizbehörde angeordnet.

Die Inhaftnahme wird schriftlich unter Angabe der sachlichen und rechtlichen Gründe angeordnet.

Wurde die Inhaftnahme von einer Verwaltungsbehörde angeordnet, so gilt Folgendes:

a)      entweder lässt der betreffende Mitgliedstaat die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme so schnell wie möglich nach Haftbeginn innerhalb kurzer Frist gerichtlich überprüfen,

b)      oder der Mitgliedstaat räumt den betreffenden Drittstaatsangehörigen das Recht ein zu beantragen, dass die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme innerhalb kurzer Frist gerichtlich überprüft wird, wobei so schnell wie möglich nach Beginn des betreffenden Verfahrens eine Entscheidung zu ergehen hat. In einem solchen Fall unterrichtet der Mitgliedstaat die betreffenden Drittstaatsangehörigen unverzüglich über die Möglichkeit, einen solchen Antrag zu stellen.

Ist die Inhaftnahme nicht rechtmäßig, so werden die betreffenden Drittstaatsangehörigen unverzüglich freigelassen.

(3)      Die Inhaftnahme wird in jedem Fall – entweder auf Antrag der betreffenden Drittstaatsangehörigen oder von Amts wegen – in gebührenden Zeitabständen überprüft. Bei längerer Haftdauer müssen die Überprüfungen der Aufsicht einer Justizbehörde unterliegen.

(4)      Stellt sich heraus, dass aus rechtlichen oder anderweitigen Erwägungen keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr besteht oder dass die Bedingungen gemäß Absatz 1 nicht mehr gegeben sind, so ist die Haft nicht länger gerechtfertigt und die betreffende Person unverzüglich freizulassen.

(5)      Die Haft wird so lange aufrechterhalten, wie die in Absatz 1 dargelegten Umstände gegeben sind und wie dies erforderlich ist, um den erfolgreichen Vollzug der Abschiebung zu gewährleisten. Jeder Mitgliedstaat legt eine Höchsthaftdauer fest, die sechs Monate nicht überschreiten darf.

(6)      Die Mitgliedstaaten dürfen den in Absatz 5 genannten Zeitraum nicht verlängern; lediglich in den Fällen, in denen die Abschiebungsmaßnahme trotz ihrer angemessenen Bemühungen aufgrund der nachstehend genannten Faktoren wahrscheinlich länger dauern wird, dürfen sie diesen Zeitraum im Einklang mit dem einzelstaatlichen Recht um höchstens zwölf Monate verlängern:

a)      mangelnde Kooperationsbereitschaft seitens der betroffenen Drittstaatsangehörigen oder

b)      Verzögerungen bei der Übermittlung der erforderlichen Unterlagen durch Drittstaaten.“

 Niederländisches Recht

11      Art. 59 Abs. 1 Buchst. a der Wet tot algehele herziening van de Vreemdelingenwet (Gesetz über die vollständige Reform des Ausländergesetzes) vom 23. November 2000 (Stb. 2000, Nr. 495) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung bestimmt:

„Wenn das öffentliche Interesse oder die nationale Sicherheit dies erfordert, kann [der Minister] einen Ausländer, … dessen Aufenthalt nicht rechtmäßig ist, zum Zweck der Abschiebung in Haft nehmen[.]“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

12      Am 11. September 2024 stellte GB, ein algerischer Staatsangehöriger, in den Niederlanden einen Antrag auf internationalen Schutz. Zur Anhörung über die Gründe für diesen Antrag erschien er nicht.

13      Mit Entscheidung vom 7. Oktober 2024 lehnte der Minister diesen Antrag ohne Prüfung in der Sache ab. Diese Entscheidung gilt auch als Rückkehrentscheidung (im Folgenden: Rückkehrentscheidung). Da GB keinen Rechtsbehelf einlegte, wurde sie bestandskräftig.

14      Am 26. März 2025 wurde GB von den französischen Behörden gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31), in die Niederlande überstellt.

15      Am selben Tag stellte GB in den Niederlanden einen Folgeantrag auf internationalen Schutz, der die Aussetzung der Vollstreckung der Rückkehrentscheidung zur Folge hatte. Nachdem GB am 7. April 2025 zu den Gründen für diesen Antrag angehört worden war, unterrichtete der Minister ihn von seiner Absicht, den Antrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen. Am 9. April 2025 zog GB den Antrag zurück. Die Aussetzung der Rückkehrentscheidung endete somit von Rechts wegen.

16      Am 10. April 2025 ordnete der Minister die Inhaftnahme von GB auf der Grundlage von Art. 15 der Richtlinie 2008/115 an, um in Vollstreckung der Rückkehrentscheidung seine Rückkehr vorzubereiten oder seine Abschiebung nach Algerien durchzuführen. Vor der Inhaftnahme erklärte GB, dass er zum einen befürchte, im Fall der Rückkehr nach Algerien eine unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung zu erleiden, und dass er zum anderen der Vater eines am 18. September 2024 in Frankreich geborenen Kindes sei, um das er sich kümmern wolle, auch wenn er zur Mutter des Kindes, einer algerischen Staatsangehörigen mit Aufenthaltstitel in Frankreich, keine Beziehung mehr habe.

17      Am 16. April 2025 erhob GB bei der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Roermond (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Roermond, Niederlande), dem vorlegenden Gericht, Klage gegen seine Inhaftnahme.

18      Dieses Gericht möchte wissen, ob es nach dem Unionsrecht bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme erfüllt sind, auch prüfen muss, ob der Grundsatz der Nichtzurückweisung und die anderen in Art. 5 der Richtlinie 2008/115 genannten Belange, insbesondere familiäre Bindungen und das Wohl des Kindes, der Abschiebung von GB nach Algerien in Vollstreckung der Rückkehrentscheidung entgegenstehen. Nach niederländischem Recht sei es ihm nämlich verwehrt, eine solche Beurteilung vorzunehmen.

19      Erstens ist dieses Gericht nach seinem Dafürhalten die einzige Justizbehörde, die beurteilen könne, ob die Abschiebung von GB nach Algerien mit dem Grundsatz der Nichtzurückweisung und den anderen in Art. 5 der Richtlinie 2008/115 genannten Belangen vereinbar sei.

20      Es sei nämlich zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens geprüft worden, ob dieser Grundsatz und diese Belange der Abschiebung von GB entgegenstünden.

21      Zunächst habe beim Erlass der Rückkehrentscheidung keine solche Beurteilung stattgefunden, da GB nicht zur Anhörung über die Gründe für seinen Antrag auf internationalen Schutz erschienen sei. Da GB keinen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung eingelegt habe, sei sie bestandskräftig geworden, ohne dass der Grundsatz der Nichtzurückweisung und die anderen in Art. 5 der Richtlinie 2008/115 genannten Belange geprüft worden seien.

22      Sodann sei eine solche Beurteilung auch nicht erfolgt, als GB zum Zweck seiner Abschiebung in Haft genommen worden sei, obwohl er der Sache nach eine erhebliche Änderung der Umstände geltend gemacht habe, indem er zum einen auf die Gefahr einer durch Art. 4 der Charta verbotenen Behandlung im Fall seiner Rückkehr nach Algerien und zum anderen auf die Geburt seines Kindes in Frankreich, um das er sich kümmern wolle, hingewiesen habe.

23      Schließlich könne eine Beurteilung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung und der anderen in Art. 5 der Richtlinie 2008/115 genannten Belange auch nicht in einem späteren Verfahrensstadium vorgenommen werden. Zum einen erfordere nämlich die Vollstreckung einer Rückkehrentscheidung in der nationalen Rechtspraxis keinen neuen Verwaltungs- oder Gerichtsakt, bei dessen Erlass eine solche Würdigung vorgenommen werden könnte. Zum anderen sehe das niederländische Recht keinen eigenständigen Rechtsbehelf gegen die Vollstreckung einer Rückkehrentscheidung vor. GB könne nur Beschwerde gegen eine beabsichtigte und geplante tatsächliche Abschiebung einlegen, sobald ihm deren Datum und Uhrzeit mitgeteilt worden seien. Eine solche Beschwerde betreffe allerdings nur die Vollstreckungsmodalitäten der Rückkehrentscheidung und führe nicht zu einer Beurteilung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung und der anderen in Art. 5 der Richtlinie 2008/115 genannten Belange.

24      Zweitens ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass es nach dem Unionsrecht verpflichtet sei, eine aktuelle Beurteilung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung und der anderen in Art. 5 der Richtlinie 2008/115 genannten Belange vorzunehmen, um GB einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf, das Recht auf Freiheit sowie die Achtung dieses Grundsatzes und dieser Belange zu garantieren.

25      Zum Ersten verpflichte Art. 5 der Richtlinie 2008/115 die zuständige nationale Behörde, den Grundsatz der Nichtzurückweisung in jedem Stadium des Rückkehrverfahrens zu beachten. Mit der Inhaftnahme eines Drittstaatsangehörigen zum Zweck seiner Abschiebung werde die Richtlinie umgesetzt; sie stelle daher ein solches Stadium dar.

26      Zum Zweiten habe der Unionsgesetzgeber in Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 vorgesehen, dass die Abschiebung aufgeschoben werden müsse, wenn sie gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoßen würde. Daher könne eine zuvor erlassene Rückkehrentscheidung mit einem Aufschub der Abschiebung einhergehen, so dass das Vorliegen einer Rückkehrentscheidung, selbst wenn diese bestandskräftig geworden sei, nicht an der Prüfung hindern dürfe, ob die Abschiebung, mit der sie vollstreckt werde, mit dem Grundsatz der Nichtzurückweisung vereinbar sei. Im Übrigen habe das Verbot der Zurückweisung absoluten Charakter.

27      Dagegen seien die in Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 der Charta verankerten Grundrechte keine absoluten Rechte. Allerdings gehe aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass auch diese Rechte dem Erlass einer Rückkehrentscheidung entgegenstehen könnten. Ebenso könnten sie nach Ansicht des vorlegenden Gerichts der Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen in Vollstreckung einer solchen Entscheidung entgegenstehen.

28      Zum Dritten verlange das Recht des betroffenen Drittstaatsangehörigen auf einen wirksamen Rechtsbehelf auch, dass das Gericht, dem die Überprüfung der Einhaltung der Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme zum Zweck seiner Abschiebung in Vollstreckung einer Rückkehrentscheidung obliege, überprüfen könne, ob der Grundsatz der Nichtzurückweisung und die anderen in Art. 5 der Richtlinie 2008/115 genannten Belange der Abschiebung entgegenstünden.

29      Zum Vierten sei die Inhaftnahme zum Zweck der Abschiebung nicht gerechtfertigt und erfülle ihren Zweck nicht mehr, wenn die Abschiebung wegen des Grundsatzes der Nichtzurückweisung oder der anderen in Art. 5 der Richtlinie 2008/115 genannten Belange nicht erfolgen könne. In einem solchen Fall müsse der Betroffene gemäß Art. 15 Abs. 4 dieser Richtlinie unverzüglich freigelassen werden. Bevor der betroffene Drittstaatsangehörige zum Zweck seiner Abschiebung in Haft genommen werde, sei somit zu prüfen, ob die Abschiebung zulässig sei.

30      Unter diesen Umständen hat die Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Roermond (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Roermond), beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind Art. 5, Art. 13 Abs. 1 und 2 sowie Art. 15 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 6, Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass eine Justizbehörde bei der Prüfung, ob die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen der Inhaftnahme eines Drittstaatsangehörigen eingehalten worden sind, verpflichtet ist, sich, erforderlichenfalls von Amts wegen, dessen zu vergewissern, dass der Grundsatz der Nichtzurückweisung der Vollstreckung einer Rückkehrentscheidung nicht entgegensteht, die zu einem früheren Zeitpunkt erlassen wurde und zu deren Vollstreckung der Drittstaatsangehörige in Haft genommen wurde?

2.      Sind Art. 5, Art. 13 Abs. 1 und 2 sowie Art. 15 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 6 und 7, Art. 24 Abs. 2 sowie Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass eine Justizbehörde bei der Prüfung, ob die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen der Inhaftnahme eines Drittstaatsangehörigen eingehalten worden sind, verpflichtet ist, sich, erforderlichenfalls von Amts wegen, dessen zu vergewissern, dass die in Art. 5 der Richtlinie 2008/115 genannten Belange der Vollstreckung einer Rückkehrentscheidung nicht entgegenstehen, die zu einem früheren Zeitpunkt erlassen wurde und zu deren Vollstreckung der Drittstaatsangehörige in Haft genommen wurde?

 Zum Antrag auf Anwendung des Eilvorabentscheidungsverfahrens

31      Das vorlegende Gericht hat die Anwendung des Eilvorabentscheidungsverfahrens gemäß Art. 23a der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs beantragt.

32      Aus diesen Bestimmungen ergibt sich, dass die Anwendung dieses Verfahrens zwei kumulativen Voraussetzungen unterliegt. Zum einen muss die Vorlage zur Vorabentscheidung Auslegungsfragen aufwerfen, die den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, der Gegenstand von Titel V des Dritten Teils des AEU-Vertrags ist, betreffen. Zum anderen müssen die Umstände des Ausgangsverfahrens, so wie sie vom vorlegenden Gericht dargestellt werden, durch das Vorliegen von Dringlichkeit gekennzeichnet sein.

33      Hinsichtlich der ersten Voraussetzung ist festzustellen, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen die Auslegung der Richtlinie 2008/115 betrifft, die zu den von Titel V des Dritten Teils des AEUV über den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts erfassten Bereichen gehört. Daher kommt dieses Ersuchen für ein Eilvorabentscheidungsverfahren in Betracht.

34      Zur der zweiten Voraussetzung, der Dringlichkeit, ist darauf hinzuweisen, dass diese nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs insbesondere dann erfüllt ist, wenn der im Ausgangsverfahren betroffenen Person gegenwärtig ihre Freiheit entzogen ist und ihre weitere Inhaftierung von der Entscheidung des Ausgangsverfahrens abhängt, wobei hinsichtlich der Lage dieser Person auf den Zeitpunkt der Prüfung des Antrags, die Vorlage zur Vorabentscheidung dem Eilverfahren zu unterwerfen, abzustellen ist (Urteile vom 4. Oktober 2024, Bouskoura, C‑387/24 PPU, EU:C:2024:868, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 19. Juni 2025, Kamekris, C‑219/25 PPU, EU:C:2025:456, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35      Im vorliegenden Fall geht erstens aus der Vorlageentscheidung hervor, dass GB am 10. April 2025 zum Zweck seiner Abschiebung nach Algerien in Haft genommen wurde, so dass ihm gegenwärtig seine Freiheit entzogen ist.

36      Zweitens möchte das vorlegende Gericht mit seinen Fragen klären, ob es nach dem Unionsrecht verpflichtet ist, im Rahmen der Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen der Inhaftnahme zu prüfen, ob der Grundsatz der Nichtzurückweisung und die anderen in Art. 5 der Richtlinie 2008/115 genannten Belange der Abschiebung von GB nach Algerien entgegenstehen, da es in diesem Fall dessen Haft beenden müsste.

37      Unter diesen Umständen hat die Zweite Kammer des Gerichtshofs am 21. Mai 2025 auf Vorschlag der Berichterstatterin und nach Anhörung des Generalanwalts beschlossen, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, die Vorlage zur Vorabentscheidung dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen, stattzugeben.

 Zu den Vorlagefragen

 Vorbemerkungen

38      Nach ständiger Rechtsprechung ist das mit Art. 267 AEUV eingerichtete Verfahren ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung der bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten benötigen (vgl. Beschluss vom 26. Januar 1990, Falciola, C‑286/88, EU:C:1990:33, Rn. 7, und Urteil vom 15. April 2021, État belge [Nach der Überstellungsentscheidung eingetretene Umstände], C‑194/19, EU:C:2021:270, Rn. 21).

39      Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen dieses Verfahrens der Zusammenarbeit Aufgabe des Gerichtshofs, dem vorlegenden Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben (vgl. Urteil vom 17. Juli 1997, Krüger, C‑334/95, EU:C:1997:378, Rn. 22 und 23). Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegte Frage gegebenenfalls umzuformulieren (vgl. Urteile vom 28. November 2000, Roquette Frères, C‑88/99, EU:C:2000:652, Rn. 18, und vom 3. Juni 2025, Kinsa, C‑460/23, EU:C:2025:392, Rn. 34).

40      Mit seinen Fragen ersucht das vorlegende Gericht im Wesentlichen um eine Auslegung von Art. 5, Art. 13 Abs. 1 und 2 sowie Art. 15 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit mehreren Bestimmungen der Charta.

41      Art. 13 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/115 sieht insbesondere vor, dass der betreffende Drittstaatsangehörige das Recht hat, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Art. 12 Abs. 1 dieser Richtlinie, d. h. Rückkehrentscheidungen sowie gegebenenfalls Entscheidungen über ein Einreiseverbot oder eine Abschiebung, einzulegen.

42      Im vorliegenden Fall geht jedoch aus den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts hervor, dass der Ausgangsrechtsstreit nicht die Rechtmäßigkeit einer Rückkehrentscheidung oder einer anderen Entscheidung in Bezug auf die Rückkehr im Sinne von Art. 13 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/115 zum Gegenstand hat, sondern die der Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen zum Zweck seiner Abschiebung in Vollstreckung einer bestandskräftig gewordenen Rückkehrentscheidung.

43      In Bezug auf die Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen gemäß Art. 15 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/115 sind gemeinsame Normen der Europäischen Union über den gerichtlichen Schutz in Art. 15 Abs. 2 Unterabs. 3 enthalten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Von Amts wegen erfolgende Prüfung der Haft], C‑704/20 und C‑39/21, EU:C:2022:858, Rn. 82).

44      Daher ist Art. 13 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/115 für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht relevant, so dass seine Auslegung nicht erforderlich ist.

 Zur ersten Frage

45      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 5 und 15 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 6, Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass ein nationales Gericht, das die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen zum Zweck seiner Abschiebung in Vollstreckung einer bestandskräftigen Rückkehrentscheidung zu überprüfen hat, prüfen muss – gegebenenfalls von Amts wegen –, ob der Grundsatz der Nichtzurückweisung der Abschiebung entgegensteht.

46      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das Hauptziel der Richtlinie 2008/115 – wie aus ihren Erwägungsgründen 2 und 4 hervorgeht – in der Einführung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik unter vollständiger Achtung der Grundrechte und der Würde der Betroffenen besteht (Urteile vom 19. Juni 2018, Gnandi, C‑181/16, EU:C:2018:465, Rn. 48, vom 22. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Abschiebung – Medizinisches Cannabis], C‑69/21, EU:C:2022:913, Rn. 88, und vom 17. Oktober 2024, Ararat, C‑156/23, EU:C:2024:892, Rn. 30).

47      Daraus folgt, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie 2008/115 – einschließlich der Anordnung von Haft zur Vorbereitung der Abschiebung eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen – die Grundrechte beachten müssen, die diesem Drittstaatsangehörigen durch die Charta zuerkannt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Abschiebung – Medizinisches Cannabis], C‑69/21, EU:C:2022:913, Rn. 89).

48      Unter Berücksichtigung dieser einleitenden Bemerkungen ist erstens darauf hinzuweisen, dass jede Inhaftnahme eines Drittstaatsangehörigen gemäß der Richtlinie 2008/115 im Rahmen eines Rückkehrverfahrens infolge eines illegalen Aufenthalts einen schwerwiegenden Eingriff in das in Art. 6 der Charta verankerte Recht des Betroffenen auf Freiheit darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Von Amts wegen erfolgende Prüfung der Haft], C‑704/20 und C‑39/21, EU:C:2022:858, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49      Haft ist nämlich die räumliche Beschränkung einer Person auf einen bestimmten Ort, die die Person zwingt, sich dauerhaft in einem eingeschränkten, geschlossenen Bereich aufzuhalten, wo sie von der übrigen Bevölkerung isoliert und ihr die Bewegungsfreiheit entzogen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Von Amts wegen erfolgende Prüfung der Haft], C‑704/20 und C‑39/21, EU:C:2022:858, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung).

50      Zweck der Haft im Sinne der Richtlinie 2008/115 ist indessen nicht die Verfolgung oder Ahndung von Straftaten, sondern die Erreichung der mit dieser Richtlinie im Bereich der Rückkehr verfolgten Ziele (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Von Amts wegen erfolgende Prüfung der Haft], C‑704/20 und C‑39/21, EU:C:2022:858, Rn. 74). Daher dient die zur Abschiebung angeordnete Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen nur zur Gewährleistung der Wirksamkeit des Rückkehrverfahrens und verfolgt keinerlei auf Bestrafung gerichtete Zielsetzung (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. März 2022, Landkreis Gifhorn, C‑519/20, EU:C:2022:178, Rn. 38).

51      Angesichts der Schwere dieses Eingriffs in das in Art. 6 der Charta verankerte Recht auf Freiheit und der Bedeutung dieses Rechts ist die den zuständigen nationalen Behörden zuerkannte Befugnis, Drittstaatsangehörige in Haft zu nehmen, eng begrenzt. Daher kann eine Inhaftierung nur unter Beachtung der allgemeinen und abstrakten Regeln, die ihre Voraussetzungen und Modalitäten festlegen, angeordnet oder verlängert werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. März 2022, Landkreis Gifhorn, C‑519/20, EU:C:2022:178, Rn. 62, sowie Urteil vom 8. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Von Amts wegen erfolgende Prüfung der Haft], C‑704/20 und C‑39/21, EU:C:2022:858, Rn. 75).

52      Die allgemeinen und abstrakten Regeln, die als gemeinsame Normen der Union die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen im Hinblick auf die Richtlinie 2008/115, auch unter dem Blickwinkel von Art. 6 der Charta, festlegen, finden sich in Art. 15 dieser Richtlinie (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Von Amts wegen erfolgende Prüfung der Haft], C‑704/20 und C‑39/21, EU:C:2022:858, Rn. 76 und 77).

53      Nach Art. 15 Abs. 1 dieser Richtlinie dürfen die Mitgliedstaaten, sofern in dem konkreten Fall keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können, Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist, nur in Haft nehmen, um deren Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen, und zwar insbesondere dann, wenn Fluchtgefahr besteht oder die betreffenden Drittstaatsangehörigen die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgehen oder behindern. Die Haftdauer hat so kurz wie möglich zu sein und sich nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen zu erstrecken, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden.

54      Stellt sich heraus, dass die in Art. 15 der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Haft nicht oder nicht mehr erfüllt sind, ist die betroffene Person unverzüglich freizulassen, wie der Unionsgesetzgeber im Übrigen in Art. 15 Abs. 2 Unterabs. 4 und Abs. 4 dieser Richtlinie ausdrücklich vorschreibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Von Amts wegen erfolgende Prüfung der Haft], C‑704/20 und C‑39/21, EU:C:2022:858, Rn. 79, sowie vom 4. Oktober 2024, Bouskoura, C‑387/24 PPU, EU:C:2024:868, Rn. 44).

55      Deshalb werden zum einen gemäß Art. 15 Abs. 2 Unterabs. 4 der Richtlinie 2008/115 die betreffenden Drittstaatsangehörigen unverzüglich freigelassen, wenn die Inhaftierung nicht rechtmäßig ist. Das Gleiche gilt zum anderen gemäß Art. 15 Abs. 4 dieser Richtlinie, wenn sich herausstellt, dass aus rechtlichen oder anderweitigen Erwägungen keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr besteht oder dass die Bedingungen gemäß Art. 15 Abs. 1 nicht mehr gegeben sind.

56      Damit vom Fortbestand einer „hinreichenden Aussicht auf Abschiebung“ im Sinne von Art. 15 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 ausgegangen werden kann, muss zum Zeitpunkt der Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Haft eine tatsächliche Aussicht auf erfolgreichen Vollzug der Abschiebung unter Berücksichtigung der in Art. 15 Abs. 5 und 6 dieser Richtlinie festgelegten Zeiträume bestehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 30. November 2009, Kadzoev, C‑357/09 PPU, EU:C:2009:741, Rn. 65, und vom 5. Juni 2014, Mahdi, C‑146/14 PPU, EU:C:2014:1320, Rn. 60), ohne dass „rechtliche Erwägungen“ im Sinne dieser Bestimmung dem entgegenstehen.

57      Daher muss die zuständige nationale Behörde im Hinblick auf die in Art. 15 der Richtlinie 2008/115 festgelegten Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Haft u. a. prüfen, ob eine hinreichende Aussicht auf die Abschiebung des betreffenden illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen besteht oder ob solche rechtlichen Erwägungen seiner Abschiebung entgegenstehen.

58      Der Begriff „rechtliche Erwägungen“ wird in der Richtlinie 2008/115 nicht definiert. In Anbetracht seiner gewöhnlichen Bedeutung ist davon auszugehen, dass er jede Rechtsvorschrift umfasst, die die Mitgliedstaaten bei der Abschiebung eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen beachten müssen.

59      Dies ist bei Art. 5 der Richtlinie 2008/115, der eine von den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung dieser Richtlinie zu beachtende allgemeine Regel darstellt, der Fall, worüber sich übrigens alle Parteien und Beteiligten, die in der vorliegenden Rechtssache Erklärungen eingereicht haben, einig sind.

60      Insbesondere verpflichtet Art. 5 der Richtlinie 2008/115 die zuständige nationale Behörde, in jedem Stadium des Rückkehrverfahrens den Grundsatz der Nichtzurückweisung einzuhalten, der als Grundrecht in Art. 18 der Charta in Verbindung mit Art. 33 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge in der durch das Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge geänderten Fassung sowie in Art. 19 Abs. 2 der Charta gewährleistet ist (Urteile vom 22. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Abschiebung – Medizinisches Cannabis], C‑69/21, EU:C:2022:913, Rn. 55, sowie vom 17. Oktober 2024, Ararat, C‑156/23, EU:C:2024:892, Rn. 35).

61      Nach ständiger Rechtsprechung ist gemäß Art. 19 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 4 der Charta unabhängig vom Verhalten der betreffenden Person die Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung dieser Person in einen Staat, in dem für sie die ernsthafte Gefahr der Todesstrafe, der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht, uneingeschränkt verboten. Daher dürfen die Mitgliedstaaten einen Ausländer nicht abschieben, ausweisen oder ausliefern, wenn es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass für ihn die reale Gefahr besteht, im Bestimmungsland einer durch diese beiden Bestimmungen der Charta verbotenen Behandlung ausgesetzt zu werden (Urteil vom 17. Oktober 2024, Ararat, C‑156/23, EU:C:2024:892, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

62      Liegen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vor, dass ein illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Bestimmungsland dem tatsächlichen Risiko einer durch die genannten Bestimmungen der Charta verbotenen Behandlung ausgesetzt wäre, darf folglich keine aufenthaltsbeendende Maßnahme gegen ihn ergehen, solange dieses Risiko fortbesteht, was im Übrigen in Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 ausdrücklich vorgesehen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Abschiebung – Medizinisches Cannabis], C‑69/21, EU:C:2022:913, Rn. 58 und 59).

63      Dies gilt auch dann, wenn gegen den betreffenden Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung ergangen ist, die er nicht angefochten hat und die somit bestandskräftig geworden ist.

64      Die nationale Behörde muss nämlich den Grundsatz der Nichtzurückweisung in jedem Stadium des Verfahrens vom Zeitpunkt des Erlasses einer Rückkehrentscheidung bis zum Zeitpunkt der gerichtlichen Überprüfung der Vollstreckung dieser Entscheidung berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Oktober 2024, Ararat, C‑156/23, EU:C:2024:892, Rn. 46), und zwar, wie aus Rn. 61 des vorliegenden Urteils hervorgeht, unabhängig vom Verhalten des betreffenden Drittstaatsangehörigen und insbesondere davon, ob dieser die genannte Entscheidung angefochten hat.

65      Außerdem müssen die Mitgliedstaaten es einem solchen Staatsangehörigen ermöglichen, sich auf jede nach Erlass der Rückkehrentscheidung eingetretene Änderung der Umstände zu berufen, die insbesondere in Anbetracht von Art. 5 der Richtlinie 2008/115 erheblichen Einfluss auf die Beurteilung seiner Situation haben kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Oktober 2024, Ararat, C‑156/23, EU:C:2024:892, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

66      Daraus folgt, dass die zuständige nationale Behörde, wenn sie mit der Anordnung, der Überprüfung oder der Verlängerung einer Inhaftnahme zum Zweck der Abschiebung eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen befasst ist, prüfen muss, ob der Grundsatz der Nichtzurückweisung der Abschiebung entgegensteht.

67      Was zweitens das Recht von Drittstaatsangehörigen, die in Haft genommen wurden, auf wirksamen gerichtlichen Schutz betrifft, müssen die Mitgliedstaaten nach ständiger Rechtsprechung gemäß Art. 47 der Charta dafür Sorge tragen, dass ein wirksamer gerichtlicher Schutz der aus der Unionsrechtsordnung erwachsenden Rechte der Einzelnen gewährleistet ist (Urteil vom 8. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Von Amts wegen erfolgende Prüfung der Haft], C‑704/20 und C‑39/21, EU:C:2022:858, Rn. 81).

68      In Bezug auf die Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen gemäß der Richtlinie 2008/115 ist dieses Recht in Art. 15 Abs. 2 Unterabs. 3 der Richtlinie konkretisiert, wonach dafür zu sorgen ist, dass die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme von Amts wegen oder auf Antrag der betroffenen Person innerhalb kurzer Frist gerichtlich überprüft wird, wenn die Inhaftnahme von einer Verwaltungsbehörde angeordnet wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Von Amts wegen erfolgende Prüfung der Haft], C‑704/20 und C‑39/21, EU:C:2022:858, Rn. 82 und 83).

69      Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115, wonach im Fall der Fortdauer der Inhaftnahme „in gebührenden Zeitabständen“ überprüft werden muss, ob die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Haft noch vorliegen, schreibt darüber hinaus vor, dass diese Überprüfungen bei längerer Haftdauer der Aufsicht einer Justizbehörde unterliegen.

70      Somit hat der Unionsgesetzgeber gemeinsame Verfahrensnormen eingeführt, die gewährleisten sollen, dass in jedem Mitgliedstaat eine Regelung besteht, die es der zuständigen Justizbehörde ermöglicht, die betroffene Person, gegebenenfalls nach einer Prüfung von Amts wegen, freizulassen, sobald sich erweist, dass ihre Inhaftierung nicht oder nicht mehr rechtmäßig ist (Urteil vom 8. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Von Amts wegen erfolgende Prüfung der Haft], C‑704/20 und C‑39/21, EU:C:2022:858, Rn. 86).

71      Damit eine solche Schutzregelung wirksam gewährleistet, dass die strengen Voraussetzungen, denen die Rechtmäßigkeit einer Haft im Sinne der Richtlinie 2008/115 unterliegt, eingehalten sind, muss die zuständige Justizbehörde in der Lage sein, über alle tatsächlichen und rechtlichen Umstände zu befinden, die für die Überprüfung dieser Rechtmäßigkeit relevant sind. Hierfür muss sie die tatsächlichen Umstände und die Beweise berücksichtigen können, die von der Verwaltungsbehörde angeführt worden sind, die die ursprüngliche Inhaftnahme angeordnet hat. Sie muss auch die Tatsachen, Beweise und Stellungnahmen berücksichtigen können, die ihr gegebenenfalls von der betroffenen Person vorgelegt werden. Außerdem muss sie in der Lage sein, jeden anderen für ihre Entscheidung relevanten Umstand zu ermitteln, falls sie dies für erforderlich hält. Ihre Befugnisse im Rahmen einer Überprüfung können keinesfalls auf die von der Verwaltungsbehörde angeführten Umstände und Beweise beschränkt werden (Urteil vom 8. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Von Amts wegen erfolgende Prüfung der Haft], Rn. 87 und die dort angeführte Rechtsprechung).

72      Zudem muss die zuständige Justizbehörde in Anbetracht der Bedeutung des Rechts auf Freiheit, der Schwere des Eingriffs in dieses Recht, den die Inhaftnahme von Personen aus anderen Gründen als der Verfolgung oder Ahndung von Straftaten darstellt, und des durch die vom Unionsgesetzgeber eingeführten gemeinsamen Normen hervorgehobenen Erfordernisses eines hohen gerichtlichen Schutzes, der es erlaubt, dem zwingenden Gebot nachzukommen, die betreffende Person freizulassen, wenn die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Haft nicht oder nicht mehr erfüllt sind, sämtliche ihr zur Kenntnis gebrachten, insbesondere tatsächlichen Umstände berücksichtigen, wie sie im Rahmen von Prozessmaßnahmen ergänzt oder aufgeklärt werden, die sie gemäß ihrem nationalen Recht für geboten hält, und anhand dieser Umstände gegebenenfalls den Verstoß gegen eine sich aus dem Unionsrecht ergebende Rechtmäßigkeitsvoraussetzung feststellen, auch wenn dieser Verstoß von der betroffenen Person nicht geltend gemacht wurde. Diese Verpflichtung besteht unbeschadet der Verpflichtung der Justizbehörde, die eine solche Rechtmäßigkeitsvoraussetzung somit von Amts wegen zu prüfen hat, die Parteien gemäß dem Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens aufzufordern, sich zu dieser Voraussetzung zu äußern (Urteil vom 8. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Von Amts wegen erfolgende Prüfung der Haft], C‑704/20 et C‑39/21, EU:C:2022:858, Rn. 88).

73      Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung der in den Rn. 54 bis 66 des vorliegenden Urteils genannten Gründe ist festzustellen, dass die für die Überprüfung der Inhaftnahme oder der Fortdauer der Haft eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen zuständige Justizbehörde sich gegebenenfalls von Amts wegen dessen vergewissern muss, dass der Grundsatz der Nichtzurückweisung der Abschiebung dieses Staatsangehörigen nicht entgegensteht. Sollte sie zu dem Schluss kommen, dass dieser Grundsatz der Abschiebung entgegensteht, wäre sie gemäß Art. 15 Abs. 2 Unterabs. 4 und Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 verpflichtet, den betreffenden Staatsangehörigen unverzüglich freizulassen.

74      Aus dem Vorstehenden ergibt sich auch, dass eine nationale Regel oder Praxis, nach der die vollständige Prüfung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung nur im Rahmen eines Verfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes vorgenommen werden kann, gegen die Art. 5 und 15 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 der Charta verstoßen würde. Diese Richtlinie einschließlich ihres Art. 5 gilt nämlich für jeden illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen, unabhängig von den dieser Situation zugrunde liegenden Gründen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. Juni 2021, Westerwaldkreis, C‑546/19, EU:C:2021:432, Rn. 45, sowie vom 17. Oktober 2024, Ararat, C‑156/23, EU:C:2024:892, Rn. 32 und 40).

75      Entgegen dem Vorbringen der niederländischen Regierung in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof kann von GB daher nicht verlangt werden, dass er einen Antrag auf internationalen Schutz stellt, damit ihm die vollständige Einhaltung des in Art. 5 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 der Charta verankerten Grundsatzes der Nichtzurückweisung gewährleistet wird (vgl. entsprechend Urteil vom 17. Oktober 2024, Ararat, C‑156/23, EU:C:2024:892, Rn. 41).

76      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Art. 5 und 15 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 6, Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass ein nationales Gericht, das die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen zum Zweck seiner Abschiebung in Vollstreckung einer bestandskräftigen Rückkehrentscheidung zu überprüfen hat, prüfen muss – gegebenenfalls von Amts wegen –, ob der Grundsatz der Nichtzurückweisung der Abschiebung entgegensteht.

 Zur zweiten Frage

77      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 5 und 15 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 6 und 7, Art. 24 Abs. 2 und Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass ein nationales Gericht, das die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen zum Zweck seiner Abschiebung in Vollstreckung einer bestandskräftigen Rückkehrentscheidung zu überprüfen hat, prüfen muss – gegebenenfalls von Amts wegen –, ob das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen im Sinne von Art. 5 Buchst. a und b dieser Richtlinie der Abschiebung entgegenstehen.

78      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich aus den Gründen für die Antwort auf die erste Frage ergibt, dass die Justizbehörde, die für die Überprüfung der Inhaftnahme oder der Fortdauer der Haft eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen gemäß Art. 15 der Richtlinie 2008/115 zuständig ist, feststellen muss – gegebenenfalls von Amts wegen –, ob ein Verstoß gegen die in Art. 15 festgelegten Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme vorliegt. Im Rahmen dieser Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen hat sie u. a. zu prüfen, ob eine hinreichende Aussicht auf Abschiebung des Drittstaatsangehörigen besteht, ohne dass rechtliche Erwägungen seiner Abschiebung entgegenstehen.

79      Art. 5 der Richtlinie 2008/115, der, wie in Rn. 59 des vorliegenden Urteils dargelegt, eine von den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung dieser Richtlinie zu beachtende allgemeine Regel darstellt und insbesondere unter die „rechtlichen Erwägungen“ im Sinne von Art. 15 Abs. 4 dieser Richtlinie fällt, verpflichtet die Mitgliedstaaten, das Wohl des Kindes, die familiären Bindungen und den Gesundheitszustand des betreffenden Drittstaatsangehörigen gebührend zu berücksichtigen. Wie auch der Grundsatz der Nichtzurückweisung müssen diese Belange in jedem Stadium des Rückkehrverfahrens gebührend Berücksichtigung finden, insbesondere beim Erlass einer Rückkehrentscheidung, einer Entscheidung über ein Einreiseverbot oder einer Abschiebungsmaßnahme (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. Mai 2018, K.A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 104, vom 14. Januar 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Rückkehr eines unbegleiteten Minderjährigen], C‑441/19, EU:C:2021:9, Rn. 44, vom 22. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Abschiebung – Medizinisches Cannabis], C‑69/21, EU:C:2022:913, Rn. 91, sowie vom 27. April 2023, M.D. [Verbot der Einreise nach Ungarn], C‑528/21, EU:C:2023:341, Rn. 89 bis 91), oder auch bei der Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung.

80      Daraus folgt, dass die zuständige Justizbehörde im Rahmen der Prüfung der Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen der Inhaftnahme zu prüfen hat – gegebenenfalls von Amts wegen –, ob die genannten Belange zum einen der Inhaftnahme des betreffenden illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen als solcher und zum anderen seiner Abschiebung in Vollstreckung einer bestandskräftigen Rückkehrentscheidung entgegenstehen.

81      Diese Auslegung wird durch den mit Art. 5 der Richtlinie 2008/115 verfolgten Zweck untermauert. Wie in den Erwägungsgründen 22 und 24 dieser Richtlinie bestätigt wird, soll Art. 5 nämlich im Rahmen des mit der Richtlinie eingeführten Rückkehrverfahrens die Wahrung mehrerer Grundrechte gewährleisten, darunter das Recht auf Familienleben und die Grundrechte des Kindes, wie sie in den Art. 7 und 24 der Charta verankert sind. Angesichts des mit ihm verfolgten Zwecks darf Art. 5 folglich nicht eng ausgelegt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. März 2021, Belgischer Staat [Rückkehr des Elternteils eines Minderjährigen], C‑112/20, EU:C:2021:197, Rn. 35).

82      Allerdings haben die durch die Art. 7 und 24 der Charta garantierten Rechte im Gegensatz zu dem in Art. 4 der Charta verankerten Schutz vor jeder unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung keinen absoluten Charakter und können daher unter den in Art. 52 Abs. 1 der Charta genannten Voraussetzungen eingeschränkt werden (Urteil vom 22. Februar 2022, Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides [Familienverband – bereits gewährter Schutz], C‑483/20, EU:C:2022:103, Rn. 36).

83      Darüber hinaus obliegt einem illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit, aufgrund derer er die zuständige nationale Behörde unverzüglich über jede relevante Veränderung seines Familienlebens informieren muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Mai 2018, K.A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 103 bis 105).

84      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Art. 5 und 15 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 6 und 7, Art. 24 Abs. 2 und Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass ein nationales Gericht, das die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen zum Zweck seiner Abschiebung in Vollstreckung einer bestandskräftigen Rückkehrentscheidung zu überprüfen hat, prüfen muss – gegebenenfalls von Amts wegen –, ob das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen im Sinne von Art. 5 Buchst. a und b dieser Richtlinie der Abschiebung entgegenstehen.

 Kosten

85      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

1.      Die Art. 5 und 15 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger in Verbindung mit Art. 6, Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

sind dahin auszulegen, dass

ein nationales Gericht, das die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen zum Zweck seiner Abschiebung in Vollstreckung einer bestandskräftigen Rückkehrentscheidung zu überprüfen hat, prüfen muss – gegebenenfalls von Amts wegen –, ob der Grundsatz der Nichtzurückweisung der Abschiebung entgegensteht.

2.      Die Art. 5 und 15 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 6 und 7, Art. 24 Abs. 2 und Art. 47 der Charta der Grundrechte

sind dahin auszulegen, dass

ein nationales Gericht, das die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen zum Zweck seiner Abschiebung in Vollstreckung einer bestandskräftigen Rückkehrentscheidung zu überprüfen hat, prüfen muss – gegebenenfalls von Amts wegen –, ob das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen im Sinne von Art. 5 Buchst. a und b dieser Richtlinie der Abschiebung entgegenstehen.

Unterschriften




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