Vorläufige Fassung
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
DEAN SPIELMANN
vom 11. März 2025(1 )
Rechtssache C ‑448/23
Europäische Kommission
gegen
Republik Polen
„ Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Verpflichtungen der Mitgliedstaaten – Festlegung der für die Gewährleistung eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes erforderlichen Rechtsbehelfe – Unabhängiges, unparteiisches und durch Gesetz errichtetes Gericht – Verfahren zur Ernennung der Richter des polnischen Verfassungsgerichtshofs – Grundsätze der Autonomie, des Vorrangs, der Wirksamkeit und der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts – Grundsatz der Bindungswirkung der Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union – Urteile des polnischen Verfassungsgerichtshofs “
I. Einleitung
1. Der Vorrang ist nach dem berühmten Ausspruch von Pierre Pescatore(2 ) ein „wesentliches Erfordernis“ des Unionsrechts. In der Zeit nach dieser Beobachtung ist es sporadisch zu Reibungen zwischen dem Unionsrecht und den innerstaatlichen Rechtsordnungen rund um die Anwendung des Grundsatzes des Vorrangs gekommen. Diese Spannungen haben sich hauptsächlich in Versuchen nationaler Verfassungsgerichte geäußert, den Grundsatz des Vorrangs neu zu definieren, wenn sie der Ansicht waren, dass seine Auslegung durch den Gerichtshof zu einem Verzicht auf Teile der nationalen Souveränität führe(3 ).
2. Angesichts einer Infragestellung des Vorrangs, die im Namen des Schutzes der nationalen Verfassungsidentität geltend gemacht wird und so offensichtlich ist, wie sie in der vorliegenden Rechtssache zum Ausdruck kommt, erscheint die Beobachtung von Pierre Pescatore aktueller denn je.
3. Das von der Europäischen Kommission in der vorliegenden Rechtssache nach Art. 258 AEUV eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren gegen die Republik Polen wegen Verstoßes gegen deren Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV stützt sich nämlich auf drei Rügen: Erstens führten zwei Urteile des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof, Polen) vom 14. Juli und 7. Oktober 2021 dazu, dass dieser Mitgliedstaat keinen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleiste, zweitens hätten diese Urteile einen schwerwiegenden Verstoß gegen die Grundsätze des Vorrangs, der Autonomie, der Wirksamkeit und der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts sowie eine Missachtung der Bindungswirkung der Urteile des Gerichtshofs zur Folge, und drittens genüge das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) nicht den Anforderungen an die Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und vorherige Errichtung durch Gesetz, wie sie in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV vorgesehen seien.
4. Die der Republik Polen zur Last gelegten Vertragsverletzungen würden somit einen direkten und frontalen Angriff auf den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts durch das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) im Namen der Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej (Verfassung der Republik Polen, im Folgenden: Verfassung) oder gar der Verfassungsidentität dieses Mitgliedstaats darstellen. Die vorliegende Rechtssache führt uns zurück ins Zentrum der Debatten über die Natur der Unionsverträge und die Autonomie ihrer Rechtsordnung. Sie lädt dazu ein, die komplexe Wechselwirkung zwischen dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts und der nationalen Identität der Mitgliedstaaten, wie sie in Art. 4 Abs. 2 EUV verankert ist, zu hinterfragen.
5. Ein weiterer Aspekt der vorliegenden Rechtssache verdient ebenfalls bereits an dieser Stelle Erwähnung: Zum ersten Mal erhebt die Kommission auf der Grundlage von Art. 258 AEUV eine Vertragsverletzungsklage, die sich nicht nur gegen einen von einem nationalen Verfassungsgericht vertretenen Standpunkt, sondern auch gegen eine Rechtsprechung richtet, mit der die Autorität des Gerichtshofs unter Berufung auf eine angebliche Unvereinbarkeit mit der nationalen Verfassung in Frage gestellt wird.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
6. Art. 4 Abs. 2 EUV lautet:
„Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt. Sie achtet die grundlegenden Funktionen des Staates, insbesondere die Wahrung der territorialen Unversehrtheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der nationalen Sicherheit. Insbesondere die nationale Sicherheit fällt weiterhin in die alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten.“
7. Art. 19 Abs. 1 EUV bestimmt:
„Der Gerichtshof der Europäischen Union umfasst den Gerichtshof, das Gericht und Fachgerichte. Er sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge.
Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.“
8. Art. 279 AEUV sieht vor:
„Der Gerichtshof der Europäischen Union kann in den bei ihm anhängigen Sachen die erforderlichen einstweiligen Anordnungen treffen.“
B. Polnisches Recht
9. Art. 2 der Verfassung lautet:
„Die Republik Polen ist ein demokratischer Rechtsstaat, der die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit umsetzt.“
10. Art. 4 Abs. 1 der Verfassung bestimmt: „In der Republik Polen liegt die oberste Gewalt beim Volk.“
11. In Art. 7 der Verfassung heißt es: „Die öffentliche Gewalt handelt auf der Grundlage und innerhalb der Grenzen des Rechts.“
12. Gemäß Art. 8 Abs. 1 der Verfassung ist „[d]ie Verfassung … die oberste Norm der Republik Polen“.
13. Art. 90 Abs. 1 der Verfassung bestimmt: „Die Republik Polen kann die Zuständigkeiten der öffentlichen Gewalt in bestimmten Angelegenheiten aufgrund eines Vertrags an eine internationale Organisation oder eine internationale Einrichtung abtreten.“
14. Art. 91 der Verfassung hat folgenden Wortlaut:
„(1) Nach seiner Veröffentlichung im Gesetzesblatt der Republik Polen ist ein ratifizierter Vertrag Teil der nationalen Rechtsordnung; er ist unmittelbar anwendbar, es sei denn, seine Anwendung hängt von der Verkündung eines Gesetzes ab.
(2) Ein aufgrund eines Genehmigungsgesetzes ratifizierter Vertrag steht über dem Gesetz, wenn dieses mit dem Vertrag unvereinbar ist. …“
15. Nach Art. 188 der Verfassung „entscheidet [das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof)] über
1. die Übereinstimmung von Gesetzen und Verträgen mit der Verfassung,
2. die Übereinstimmung von Gesetzen mit ratifizierten Verträgen, deren Ratifizierung eine vorherige Genehmigung durch ein Gesetz erfordert,
3. die Übereinstimmung normativer Akte der staatlichen Zentralbehörden mit der Verfassung, den ratifizierten Verträgen und den Gesetzen,
4. die Übereinstimmung der Ziele oder der Tätigkeit der politischen Parteien mit der Verfassung,
5. Verfassungsbeschwerden nach Artikel 79 Absatz 1.“
16. Art. 190 der Verfassung bestimmt:
„(1) Die Urteile des Trybunał Konstytucyjny [(Verfassungsgerichtshof)] sind allgemein verbindlich und endgültig.
(2) Die Urteile des Trybunał Konstytucyjny [(Verfassungsgerichtshof)] betreffend die in Artikel 188 genannten Angelegenheiten werden unverzüglich in dem amtlichen Organ veröffentlicht, in dem der normative Akt veröffentlicht worden ist. Ist der Akt nicht veröffentlicht worden, wird das Urteil im Dziennik Urzędowy Rzeczypospolitej Polskiej ‚Monitor Polski‘ [(Amtsblatt der Republik Polen)] veröffentlicht.
(3) Ein Urteil des Trybunał Konstytucyjny [(Verfassungsgerichtshof)] wird am Tag seiner Veröffentlichung wirksam …
…
(5) Das Trybunał Konstytucyjny [(Verfassungsgerichtshof)] entscheidet mit der Mehrheit der Stimmen.“
17. Art. 193 der Verfassung sieht vor, dass „[j]edes Gericht … dem Trybunał Konstytucyjny [(Verfassungsgerichtshof)] eine Rechtsfrage nach der Übereinstimmung eines normativen Akts mit der Verfassung, den ratifizierten Verträgen oder dem Gesetz vorlegen [kann], wenn die Entscheidung einer bei ihm anhängigen Rechtssache von der Antwort auf diese Frage abhängt“.
18. In Art. 194 Abs. 1 der Verfassung heißt es: „Das Trybunał Konstytucyjny [(Verfassungsgerichtshof)] besteht aus fünfzehn Richtern, die einzeln vom Sejm [(Nationalversammlung)] für einen Zeitraum von neun Jahren aus dem Kreis der Personen ausgewählt werden, die sich durch ihre Rechtskenntnisse auszeichnen. Eine Wiederwahl ist nicht zulässig.“ Darüber hinaus sieht Art. 194 Abs. 2 der Verfassung vor, dass „[d]er Präsident und der Vizepräsident des Trybunał Konstytucyjny [(Verfassungsgerichtshof)] … vom Präsidenten der Republik aus den von der Generalversammlung der Richter des Trybunał Konstytucyjny [(Verfassungsgerichtshof)] vorgeschlagenen Kandidaten ernannt [werden]“.
III. Vorgeschichte des Rechtsstreits und vorgerichtliches Verfahren
19. Das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) erließ am 14. Juli und 7. Oktober 2021 zwei Urteile, in denen es um die Unvereinbarkeit der Rechtsprechung des Gerichtshofs u. a. zu der sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergebenden Verpflichtung zur Gewährleistung eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes mit der Verfassung ging (im Folgenden: streitige Urteile).
20. Genauer gesagt erließ das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) am 14. Juli 2021 in der Besetzung mit fünf Richtern sein Urteil in der Rechtssache P 7/20(4 ). In diesem Urteil prüfte der Verfassungsgerichtshof die von der Disziplinarkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) vorgelegte Rechtsfrage nach der Verfassungsmäßigkeit der gegen die Republik Polen mit dem Beschluss vom 8. April 2020, Kommission/Polen(5 ), getroffenen einstweiligen Anordnungen zur Aussetzung der Anwendung der Rechtsvorschriften über die Übertragung der Zuständigkeit in Disziplinarangelegenheiten von Richtern auf die Disziplinarkammer.
21. Das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) erkannte u. a. an, dass die vom Gerichtshof auf der Grundlage von Art. 279 AEUV getroffenen einstweiligen Anordnungen von den Organen eines Mitgliedstaats, insbesondere von den Gerichten, gemäß dem in Art. 4 Abs. 3 EUV vorgesehenen Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit unmittelbar angewendet werden könnten, allerdings nur, wenn diese Anordnungen vom Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung erfasst seien und die Verfassungsidentität des Mitgliedstaats sowie die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit beachteten.
22. Die im Beschluss Kommission/Polen vorgesehenen einstweiligen Anordnungen betreffend die Organisation und Arbeitsweise der polnischen Gerichte sowie das Verfahren vor diesen Gerichten verstießen, so der Verfassungsgerichtshof, gegen den in Art. 4 Abs. 1 EUV verankerten Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung und die durch Art. 4 Abs. 2 EUV garantierte polnische Verfassungsidentität und seien mit dem in Art. 2 der Verfassung verankerten Verfassungsgrundsatz des demokratischen Rechtsstaats unvereinbar. So bekräftigte das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) den Vorrang der Verfassung als oberste Rechtsquelle in Polen und kam zu dem Schluss, dass der Gerichtshof diesem Mitgliedstaat Ultra-vires -Verpflichtungen auferlege, indem er einstweilige Anordnungen betreffend die Organisation und die Zuständigkeit der polnischen Gerichte sowie das Verfahren vor diesen Gerichten treffe, weshalb Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 279 AEUV gegen die Art. 2 und 7, Art. 8 Abs. 1 sowie Art. 90 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 der Verfassung verstoße.
23. In Bezug auf die Wirkungen seines Urteils vom 14. Juli 2021 vertrat das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) darüber hinaus die Auffassung, dass „die vom Gerichtshof … geschaffenen Normen“, die ultra vires verabschiedet worden und verfassungswidrig seien, nicht in den Genuss der Grundsätze des Vorrangs und der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts kommen dürften, während das von ihm erlassene Urteil ex tunc wirke und sich an alle Adressaten richte, die das Unionsrecht im Hoheitsgebiet der Republik Polen anwendeten.
24. Am 7. Oktober 2021 erließ das Plenum des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) sein Urteil in der Rechtssache K 3/21(6 ), dessen Begründung am 16. November 2022 veröffentlicht wurde und in dessen verfügendem Teil es heißt:
„1. Art. 1 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 [EUV] verstößt, soweit die von gleichen und souveränen Staaten gegründete Europäische Union ‚eine immer engere Union der Völker Europas‘ verwirklicht, deren auf dem Unionsrecht … und dessen Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Union beruhende Integration eine ‚neue Stufe‘ erreicht, in der
a) die Organe der Europäischen Union außerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten handeln, die ihnen von der Republik Polen in den Verträgen übertragen worden sind,
b) die Verfassung nicht die oberste Norm der Republik Polen mit Gültigkeits- und Anwendungsvorrang ist,
c) die Republik Polen nicht als souveräner und demokratischer Staat funktionieren kann,
gegen Art. 2, Art. 8 und Art. 90 Abs. 1 der [Verfassung].
2. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 [EUV] verstößt, da er den nationalen Gerichten (den ordentlichen Gerichten, den Verwaltungsgerichten, den Militärgerichten und dem Obersten Gericht) zur Gewährleistung eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen Zuständigkeiten dafür verleiht,
a) im Rahmen ihrer Entscheidungsfindung von den Bestimmungen der Verfassung abzuweichen, gegen Art. 2, Art. 7, Art. 8 Abs. 1, Art. 90 Abs. 1 und Art. 178 Abs. 1 der Verfassung;
b) ihre Entscheidungen auf Vorschriften zu stützen, die, nachdem sie vom Sejm aufgehoben und/oder vom Trybunał Konstytucyjny [(Verfassungsgerichtshof)] als verfassungswidrig eingestuft worden sind, nicht mehr gelten,
gegen Art. 2, Art. 7, Art. 8 Abs. 1, Art. 90 Abs. 1, Art. 178 Abs. 1 und Art. 190 Abs. 1 der Verfassung.
3. Art. 19 Abs. 1 … sowie Art. 2 [EUV] verstoßen, da sie den nationalen Gerichten (den ordentlichen Gerichten, den Verwaltungsgerichten, den Militärgerichten und dem Obersten Gericht) zur Gewährleistung eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen und zur Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit Zuständigkeiten dafür verleihen,
a) die Rechtmäßigkeit des Verfahrens zur Ernennung von Richtern, einschließlich der Rechtmäßigkeit des Rechtsakts, mit dem der Präsident der Republik Polen einen Richter ernennt, zu überprüfen,
gegen Art. 2, Art. 8 Abs. 1, Art. 90 Abs. 1 und Art. 179 in Verbindung mit Art. 144 Abs. 3 Nr. 17 der Verfassung;
b) die Rechtmäßigkeit einer Entschließung zu überprüfen, mit der die Krajowa Rada Sądownictwa [(Landesjustizrat, Polen, im Folgenden: KRS)] dem Präsidenten der Republik einen Vorschlag zur Ernennung eines Richters unterbreitet,
gegen Art. 2, Art. 8 Abs. 1, Art. 90 Abs. 1 und Art. 186 Abs. 1 der Verfassung;
c) sich zur Fehlerhaftigkeit des Verfahrens zur Ernennung eines Richters zu äußern und dementsprechend einer Person, die im Einklang mit Art. 179 der Verfassung zum Richter ernannt worden ist, die Anerkennung als Richter zu versagen,
gegen Art. 2, Art. 8 Abs. 1, Art. 90 Abs. 1 und Art. 179 in Verbindung mit Art. 144 Abs. 3 Nr. 17 der Verfassung.“
25. Am 22. Dezember 2021 richtete die Kommission gemäß Art. 258 AEUV ein Mahnschreiben an die Republik Polen. Sie warf ihr vor, ihren Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie den allgemeinen Grundsätzen der Autonomie, des Vorrangs, der Wirksamkeit und der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts nicht nachgekommen zu sein und die Bindungswirkung der Urteile des Gerichtshofs missachtet zu haben.
26. Außerdem vertrat die Kommission die Auffassung, dass das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) nicht dem Erfordernis eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) genüge. Im Einzelnen war die Kommission als Erstes der Ansicht, dass im Dezember 2015 drei Richter unter offensichtlicher und offenkundiger Verletzung der nationalen Verfassungsbestimmungen über die Ernennung von Richtern des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) ernannt worden seien, von denen einer, nämlich Richter M. M., sein Amt weiterhin ausübe. Als Zweites sei die Ernennung der Richterin J. P. zur Präsidentin des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) im Dezember 2016 mit mehreren schwerwiegenden Unregelmäßigkeiten behaftet.
27. Mit Schreiben vom 18. Februar 2022 antwortete die Republik Polen auf diese Mahnung und trat dem Vorbringen der Kommission entgegen.
28. Am 15. Juli 2022 richtete die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme an die Republik Polen und machte geltend, dieser Mitgliedstaat sei seinen Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, den allgemeinen Grundsätzen der Autonomie, des Vorrangs, der Wirksamkeit und der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts sowie aus der Bindungswirkung der Urteile des Gerichtshofs nicht nachgekommen.
29. Am 14. September 2022 antwortete die Republik Polen auf die mit Gründen versehene Stellungnahme und hielt an ihrer Auffassung fest, dass die Behauptung einer Vertragsverletzung unbegründet sei.
IV. Verfahren vor dem Gerichtshof
30. Mit ihrer Klageschrift vom 15. Februar 2023 hat die Kommission den Gerichtshof mit der vorliegenden Klage befasst. Sie beantragt,
– festzustellen, dass die Republik Polen in Anbetracht der vom Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) in seinen streitigen Urteilen vorgenommenen Auslegung der Verfassung der Republik Polen ihren Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV nicht nachgekommen ist;
– festzustellen, dass die Republik Polen in Anbetracht der vom Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) in seinen streitigen Urteilen vorgenommenen Auslegung der Verfassung der Republik Polen ihren Verpflichtungen aus den allgemeinen Grundsätzen der Autonomie, des Vorrangs, der Wirksamkeit und der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts nicht nachgekommen ist und die Bindungswirkung der Urteile des Gerichtshofs missachtet hat;
– festzustellen, dass das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) aufgrund von Unregelmäßigkeiten in den Verfahren zur Ernennung dreier seiner Mitglieder im Dezember 2015 und seiner Präsidentin im Dezember 2016 nicht den Anforderungen an ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht genügt, weshalb die Republik Polen ihren Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV nicht nachgekommen ist;
– der Republik Polen die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
31. In ihrer am 6. Oktober 2023 eingereichten Klagebeantwortung hatte die Republik Polen den Gerichtshof aufgefordert, die Klage der Kommission in vollem Umfang als unbegründet abzuweisen und der Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
32. In ihrer Gegenerwiderung vom 31. Januar 2024 hat die Republik Polen die Ausführungen in ihrer Klagebeantwortung zurückgenommen und die von der Kommission in der Klageschrift erhobenen Rügen vollumfänglich anerkannt.
33. Mit Beschlüssen des Präsidenten des Gerichtshofs vom 23. Oktober und 7. November 2023 sind das Königreich Belgien und das Königreich der Niederlande als Streithelfer im Verfahren zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen worden.
V. Rechtliche Würdigung
A. Vorbemerkungen
34. Wie oben in Nr. 4 bemerkt worden ist, hängt die Besonderheit der vorliegenden Rechtssache mit der Tatsache zusammen, dass die Kommission der Republik Polen vorwirft, den Vorrang des Unionsrechts kategorisch abgelehnt zu haben, bis hin zur Infragestellung der eigentlichen Grundlage der europäischen Integration. Mit anderen Worten soll das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) im Namen der Verfassungsidentität seiner Rechtsordnung die Befugnis beanspruchen, die Übereinstimmung der Urteile des Gerichtshofs mit der Verfassung unmittelbar zu überprüfen, womit es sich direkt sowohl gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts als auch gegen die Autorität des Gerichtshofs selbst wende. Ein solches Vorgehen beschränke sich nicht auf einige marginale Reibungen zwischen der Rechtsordnung der Union und der nationalen Rechtsordnung: Es greife den Grundsatz des Vorrangs in seinem Kern an und stelle sogar die Hierarchie der Normen in der Rechtsordnung der Union in Frage.
35. Die vorliegende Rechtssache macht die Wechselwirkung zwischen zwei Grundsätzen deutlich, die aus der Sicht der nationalen Gerichte im Verhältnis zueinander als völlig entgegengesetzt erscheinen können. Auf der einen Seite der Vorrang des Unionsrechts, ein Grundsatz mit „zentripetaler“ Zielrichtung, der den eigentlichen Sockel der supranationalen Integration bildet. Auf der anderen Seite die Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten – ein Begriff mit „zentrifugaler“ Wirkung, der in Art. 4 Abs. 2 EUV vorgesehen ist und auf das verweist, „wodurch ein Staat er selbst und kein anderer ist, was ihn erkennbar und von anderen unterscheidbar macht“(7 ).
36. Außerdem fügt sich diese Rechtssache in rechtlicher Hinsicht in eine größere Dynamik ein: Mehrere mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte oder oberste Gerichte haben bereits auf die Ultra-vires -Theorie zurückgegriffen oder sich auf die Verfassungsidentität ihrer jeweiligen Rechtsordnung berufen, um den Vorrang des Unionsrechts zu relativieren oder sogar in Frage zu stellen(8 ). Man könnte darin ein „Armdrücken“(9 ) zwischen den nationalen Verfassungshütern und der Rechtsordnung der Union sehen.
37. Ich möchte eine gewisse Besorgnis angesichts dieses Phänomens nicht verhehlen: Es veranschaulicht ein Europa des Rechts im Spannungsverhältnis zwischen der Notwendigkeit, die Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts zu wahren, einerseits und dem Wunsch, die Einzigartigkeit unterschiedlicher Verfassungsidentitäten zu schützen, andererseits. Dieses Spannungsverhältnis spiegelt tief greifende und äußerst besorgniserregende Entwicklungen wider, die über den rein technischen Rahmen der Anwendung des Unionsrechts hinausgehen.
38. In diesem Kontext sollte bei der Prüfung der der Republik Polen zur Last gelegten Vertragsverletzungen zum Ausdruck kommen, dass die schwierige Verknüpfung zwischen den Konzepten der nationalen Identität, der Verfassungsidentität und des Vorrangs des Unionsrechts nicht in einem Rechtsvakuum stattfindet, sondern in die Rechtsordnung der Union eingebettet ist. Demnach muss jede Frage nach der Tragweite einer solchen Auslegung die textlichen und kontextualen Elemente berücksichtigen, die für eine Lesart von Art. 4 Abs. 2 EUV im Licht des normativen Umfelds sprechen, in das sich diese Klausel einfügt. Der letztgenannte Punkt stellt unbestreitbar einen zentralen Aspekt der vorliegenden Rechtssache dar, der bei der Würdigung der zweiten Rüge(10 ) eingehender untersucht werden soll.
B. Prüfung der Begründetheit der Klage
39. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Republik Polen die ihr von der Kommission vorgeworfenen Verstöße gegen die Verpflichtungen aus den Vertragsbestimmungen in vollem Umfang anerkennt. Ich möchte jedoch daran erinnern, dass der Gerichtshof, auch wenn die Tatsachen, die den im vorliegenden Klageverfahren gerügten Vertragsverletzungen zugrunde liegen, als anerkannt angesehen werden können, festzustellen hat, ob diese Vertragsverletzungen tatsächlich vorliegen, und zwar auch insoweit, als der betroffene Mitgliedstaat sie nicht bestreitet(11 ).
1. Zur ersten Rüge
a) Vorbringen der Parteien
40. Die Kommission, unterstützt durch das Königreich Belgien und das Königreich der Niederlande, wirft der Republik Polen vor, der den Mitgliedstaaten durch Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV auferlegten Verpflichtung zur Gewährleistung eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen nicht nachgekommen zu sein.
41. Insbesondere beanstandet das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) in seinem Urteil vom 7. Oktober 2021 die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 EUV durch den Gerichtshof als verfassungswidrig. Es stellt u. a. in Abrede, dass die nationalen Gerichte für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Verfahren zur Ernennung von Richtern, die Bewertung der Entschließungen der KRS und die Feststellung der Unrechtmäßigkeit bestimmter Ernennungen zuständig sein sollen. Seiner Ansicht nach verstößt dies gegen das Erfordernis eines „durch Gesetz errichteten Gerichts“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, das speziell auf einer Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Verfahrens zur Ernennung von Richtern beruhe.
42. Im Urteil vom 14. Juli 2021 hat das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) die Auffassung vertreten, die vom Gerichtshof mit seinem Beschluss Kommission/Polen gemäß Art. 279 AEUV getroffenen einstweiligen Anordnungen, die in der Aussetzung der Anwendung der nationalen Bestimmungen über die Übertragung der Zuständigkeit für Entscheidungen in Disziplinarangelegenheiten von Richtern auf die Disziplinarkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) bestünden, seien ultra vires ergangen, da sie weder die Verfassungsidentität des Mitgliedstaats noch die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit beachteten.
43. Die Kommission weist darauf hin, dass die Urteile des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) nach Art. 190 Abs. 1 der Verfassung allgemein verbindlich seien, was ihre Auswirkungen auf alle nationalen Gerichte verstärke.
44. Wie ich bereits ausgeführt habe(12 ), bestreitet die Republik Polen die zur Last gelegte Vertragsverletzung nicht mehr und teilt die Position der Kommission.
b) Würdigung
1) Einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs
45. Ich weise vorab darauf hin, dass, da Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, wie der Gerichtshof in Bezug auf diese Vorschrift anerkannt hat, alle Mitgliedstaaten verpflichtet, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen ein wirksamer Rechtsschutz insbesondere im Sinne von Art. 47 der Charta gewährleistet ist, letztere Bestimmung bei der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV gebührend zu berücksichtigen ist(13 ).
46. Darüber hinaus konkretisiert Art. 19 EUV den in Art. 2 EUV bekräftigten Wert der Rechtsstaatlichkeit und überträgt den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof die Aufgabe, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den Schutz der Rechte zu gewährleisten, die den Einzelnen aus ihm erwachsen. Damit dieser Schutz gewährleistet ist, hat jeder Mitgliedstaat nach gefestigter Rechtsprechung gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dafür zu sorgen, dass Einrichtungen, die als „Gerichte“ im Sinne des Unionsrechts dazu berufen sind, über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung dieses Rechts zu entscheiden, und damit Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz, zu denen u. a. das Erfordernis der Unabhängigkeit gehört, gerecht werden(14 ).
47. Schließlich fällt die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten zwar in deren Zuständigkeit; die Mitgliedstaaten haben bei der Ausübung dieser Zuständigkeit jedoch die Verpflichtungen einzuhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben(15 ).
2) Anwendung auf den vorliegenden Fall
48. In den streitigen Urteilen hat das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) eine Auslegung der Verfassung vorgenommen, die – insbesondere in Bezug auf die Tragweite von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – grundlegend von der Rechtsprechung des Gerichtshofs abweicht. Dieser Gegensatz kommt in dreierlei Hinsicht zum Ausdruck.
49. Als Erstes weist das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) im Urteil vom 7. Oktober 2021 die Auslegung zurück, die der Gerichtshof im Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf)(16 ), gewählt hat. In diesem Urteil hat der Gerichtshof u. a. und im Wesentlichen anerkannt, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Ermangelung eines für die Kontrolle der Entschließungen der KRS zuständigen nationalen Gerichts dahin auszulegen ist, dass er den Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) verpflichtet, die nationalen Rechtsvorschriften unangewendet zu lassen, die ihm unter Verstoß gegen die genannte Vorschrift die Zuständigkeit entziehen, über die er bis dahin für die Entscheidung über diese Entschließungen verfügte(17 ).
50. Aus Nr. 2 Buchst. b des verfügenden Teils des Urteils vom 7. Oktober 2021 in Verbindung mit den Abschnitten 6.2, 6.4, 6.5 und 8.3 der Urteilsbegründung geht aber hervor, dass die auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV gestützte gerichtliche Zuständigkeit – so wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird – gegen die Art. 2 und 7, Art. 8 Abs. 1, Art. 90 Abs. 1, Art. 178 Abs. 1 sowie Art. 190 Abs. 1 der Verfassung verstoßen soll. Desgleichen wird in Nr. 3 Buchst. b des verfügenden Teils desselben Urteils die sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebende Zuständigkeit der nationalen Gerichte für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Entschließungen der KRS, mit denen die Ernennung von Kandidaten für richterliche Ämter vorgeschlagen wird, verneint. Schließlich hält das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) in den Abschnitten 6.2, 6.4, 6.5 und 8.5 an seiner Weigerung fest, die Wirkungen anzuerkennen, die sich aus der im Urteil A. B. u. a. vorgenommenen Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergeben.
51. Als Zweites lehnt das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Verfahren zur Ernennung von Richtern, wie sie in der Rechtsprechung des Gerichtshofs auf der Grundlage von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV festgelegt worden ist, ab. Insbesondere erklärt es in Nr. 3 Buchst. a und c des verfügenden Teils des Urteils vom 7. Oktober 2021 sowie in den Abschnitten 6.4 und 8.4 der Begründung die sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergebende Zuständigkeit der nationalen Gerichte für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Ernennung von Richtern für verfassungswidrig.
52. Das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) beanstandet damit die vom Gerichtshof im Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung)(18 ) vorgenommene Auslegung. Nach dieser Auslegung ist die Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Verfahrens zur Ernennung eines Richters der außerordentlichen Kammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) Bestandteil des durch das Unionsrecht aufgestellten Erfordernisses eines „durch Gesetz errichteten unabhängigen und unparteiischen Gerichts“. Die nationalen Gerichte dürfen gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV mithin die Rechtmäßigkeit des Verfahrens zur Ernennung des Richters prüfen, der die angefochtene Entscheidung erlassen hat, und diese für nicht existent erklären, wenn eine solche Folge in Anbetracht der in Rede stehenden Verfahrenslage unerlässlich ist, um den Vorrang des Unionsrechts zu gewährleisten(19 ). Für das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) liefe eine solche Überprüfung de facto aber darauf hinaus, die betreffenden Richter, „deren Fähigkeit, Urteile zu fällen, sowohl ihr Grundrecht als auch ihre Pflicht darstellt“, zu disqualifizieren(20 ).
53. Als Drittes bestreitet das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) im Urteil vom 14. Juli 2021 die Zuständigkeit des Gerichtshofs u. a. für den Erlass einstweiliger Anordnungen gemäß Art. 279 AEUV. Der Gerichtshof habe ultra vires gehandelt, als er auf der Grundlage dieser Vorschrift einstweilige Anordnungen zur Wahrung der Unabhängigkeit der polnischen Gerichte getroffen habe.
54. Diese einstweiligen Anordnungen, wie beispielsweise die Aussetzung der Zuständigkeit der Disziplinarkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) für Entscheidungen in Disziplinarsachen, waren aber dazu bestimmt, die volle Wirksamkeit von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV zu gewährleisten. Indem das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) die sich aus Art. 279 AEUV ergebende Zuständigkeit des Gerichtshofs für den Erlass einstweiliger Anordnungen zur Wahrung des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz vor einem unabhängigen, unparteiischen und durch Gesetz errichteten Gericht in Frage stellt, verletzt es das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz. Dieser Standpunkt des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof), der eine Anerkennung der Bindungswirkung der vom Gerichtshof getroffenen einstweiligen Anordnungen verbietet, stellt daher eine grobe Verletzung der Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in der Auslegung durch den Gerichtshof dar.
55. Nach alledem ist die Republik Polen, indem sie erstens die Verpflichtung eines nationalen Gerichts abgelehnt hat, Änderungen der nationalen Rechtsordnung, seien sie gesetzgeberischen oder verfassungsrechtlichen Ursprungs, im Fall eines erwiesenen Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV unangewendet zu lassen, zweitens die gerichtliche Kontrolle der Entschließungen der KRS betreffend die Ernennung von Richtern, wie sie vom Gerichtshof auf der Grundlage von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV festgelegt worden ist, abgelehnt hat und drittens die Zuständigkeit des Gerichtshofs für den Erlass einstweiliger Anordnungen bestritten hat, ihrer Verpflichtung aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV zur Gewährleistung eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen nicht nachgekommen.
56. Daher schlage ich dem Gerichtshof vor, die erste Rüge der Kommission als begründet anzusehen.
2. Zur zweiten Rüge
a) Vorbringen der Parteien
57. Die Kommission trägt vor, das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) habe in den streitigen Urteilen eine Auslegung der Verfassung vorgenommen, die im Widerspruch zu den Grundprinzipien der Rechtsordnung der Europäischen Union, nämlich dem Vorrang, der Autonomie, der Wirksamkeit und der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts sowie der Bindungswirkung der Urteile des Gerichtshofs, stehe. Insbesondere gehe aus der Begründung des Urteils vom 7. Oktober 2021 hervor, dass die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV durch den Gerichtshof, die es den zuständigen nationalen Gerichten gestatte, eine wirksame gerichtliche Kontrolle der Entschließungen der KRS vorzunehmen und Streitigkeiten auf der Grundlage von Vorschriften zu entscheiden, die vom Gesetzgeber aufgehoben oder für verfassungswidrig erklärt worden seien, sowie die Ordnungsgemäßheit der Ernennung eines Richters zu prüfen, damit gewährleistet sei, dass die Parteien ein Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz hätten, vom Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) als ultra vires und unzulässiger Eingriff in die polnische Verfassungsidentität angesehen worden sei.
58. Im Urteil vom 7. Oktober 2021 werde unter Verstoß gegen den Grundsatz der Bindungswirkung der Urteile des Gerichtshofs ferner festgestellt, dass die vom Gerichtshof vorgenommene Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV in der polnischen Rechtsordnung keine Rechtswirkungen entfalte. Darüber hinaus stellt die Kommission in Abrede, dass sich die Republik Polen auf die „Verfassungsidentität“ berufen kann, und weist darauf hin, dass die Union zwar die nationale Identität der Mitgliedstaaten achte, diese aber nicht als Rechtfertigung für eine Verletzung der Grundwerte der Union, wie beispielsweise der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit der Justiz, dienen könne.
59. In Bezug auf das Urteil vom 14. Juli 2021 trägt die Kommission vor, die Feststellung des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof), wonach nicht nur die vom Gerichtshof in seinem Beschluss Kommission/Polen erlassenen, sondern auch alle künftigen auf der Grundlage von Art. 279 AEUV getroffenen einstweiligen Anordnungen betreffend das polnische Justizsystem verfassungswidrig seien, habe zur Folge, dass diesen Anordnungen in Polen jede verbindliche Rechtswirkung genommen werde, und verstoße daher gegen die Grundsätze des Vorrangs und der Wirksamkeit des Unionsrechts sowie den Grundsatz der Bindungswirkung der Urteile des Gerichtshofs.
60. Die Republik Polen teilt den Standpunkt der Kommission und fügt hinzu, dass die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht von einem Mitgliedstaat zum anderen unterschiedlich sein könne und die Verwirklichung der Ziele der Verträge ohne die einheitliche Anwendung des Unionsrechts nicht möglich sei.
b) Würdigung
1) Einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs
61. Im Folgenden möchte ich die Grundsätze in Erinnerung rufen, die sich aus der Rechtsprechung zum Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts und zum Begriff „nationale Identität“ im Sinne von Art. 4 Abs. 2 EUV ergeben.
62. Seit dem Urteil Internationale Handelsgesellschaft(21 ), in dem der Gerichtshof den Vorrang des Unionsrechts (damals Gemeinschaftsrecht) vor dem nationalen Recht, einschließlich der nationalen Verfassungsbestimmungen, bekräftigt hat, bis hin zu jüngeren Urteilen, insbesondere dem Urteil Euro Box Promotion u. a. sowie dem Urteil RS (Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts)(22 ), gibt die Rechtsprechung des Gerichtshofs klare Antworten auf die mit der vorliegenden Rechtssache aufgeworfenen Fragen hinsichtlich einer Infragestellung des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts, wenn dieses nach Ansicht eines nationalen Verfassungsgerichts mit der Verfassungsidentität eines Mitgliedstaats kollidiert. Dass es einem Mitgliedstaat nicht möglich ist, seiner nationalen Identität – oder gar Verfassungsidentität – Vorrang vor dem mit unmittelbarer Wirkung ausgestatteten Unionsrecht einzuräumen, ergibt sich nämlich aus einer Reihe allgemeiner Grundsätze der Rechtsordnung der Union rund um den Grundsatz des Vorrangs. Zu diesen Grundsätzen, die ihren Ursprung insbesondere im autonomen Charakter des Unionsrechts haben, gehören u. a. die Gleichheit der Mitgliedstaaten(23 ), der Grundsatz der Loyalität und der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit.
63. So hat der Gerichtshof bereits im Urteil vom 15. Juli 1964, Costa/E.N.E.L. (6/64, EU:C:1964:66, S. 1269 und 1270), anerkannt, dass aus dem Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts folgt, dass dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht, wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können, wenn ihm nicht sein Charakter als Unionsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Union selbst in Frage gestellt werden soll. Darüber hinaus hat der Gerichtshof im selben Urteil hervorgehoben, dass es eine Gefahr für die Verwirklichung der Ziele des EWG-Vertrags bedeuten und dem Verbot dieses Vertrags widersprechende Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit zur Folge haben würde, wenn das Gemeinschaftsrecht je nach der nachträglichen innerstaatlichen Gesetzgebung von einem Staat zum anderen verschiedene Geltung haben könnte(24 ).
64. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass, da er die ausschließliche Zuständigkeit für die verbindliche Auslegung des Unionsrechts hat, es seine Sache ist, in Ausübung dieser Zuständigkeit die Tragweite des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts im Hinblick auf die einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts zu präzisieren, so dass diese Tragweite weder von einer Auslegung von Bestimmungen des nationalen Rechts noch von einer Auslegung von Bestimmungen des Unionsrechts durch ein nationales Gericht, die nicht der Auslegung durch den Gerichtshof entspricht, abhängen darf(25 ).
65. Folglich ist der Gerichtshof – und nur er – befugt, einen Konflikt zwischen dem Unionsrecht und der Verfassungsidentität eines Mitgliedstaats endgültig zu entscheiden.
66. Darüber hinaus hat der Gerichtshof ausdrücklich entschieden, dass die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts nach dem Grundsatz des Vorrangs nicht dadurch beeinträchtigt werden können, dass sich ein Mitgliedstaat auf Bestimmungen des nationalen Rechts beruft, auch wenn sie Verfassungsrang haben. Nach ständiger Rechtsprechung sind die Wirkungen des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts für alle Einrichtungen eines Mitgliedstaats verbindlich, ohne dass dem insbesondere die innerstaatlichen Bestimmungen, auch wenn sie Verfassungsrang haben, entgegenstehen könnten(26 ). Außerdem hat der Gerichtshof wiederholt darauf hingewiesen, dass die Einhaltung der Verpflichtung, jede Vorschrift des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung vollständig anzuwenden, als unerlässlich anzusehen ist, um die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten, was die Möglichkeit ausschließt, eine einseitige Maßnahme welcher Art auch immer gegen die Unionsrechtsordnung durchzusetzen(27 ). Die Verpflichtung zur Beachtung des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts ist auch Ausdruck des in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit, der es gebietet, jede – auch spätere – nationale Vorschrift, die einer Norm des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung entgegensteht, unangewendet zu lassen(28 ).
67. Der Gerichtshof hat darüber hinaus entschieden, dass Art. 4 Abs. 2 EUV weder zum Ziel noch zur Folge hat, dass ein Verfassungsgericht eines Mitgliedstaats unter Missachtung der Verpflichtungen, die sich insbesondere aus Art. 4 Abs. 2 und 3 sowie Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergeben, die Anwendung einer Norm des Unionsrechts mit der Begründung ausschließen kann, dass diese Norm die von ihm definierte nationale Identität des betreffenden Mitgliedstaats missachte(29 ).
68. Insbesondere kann nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, dass die Erfordernisse, die sich aus der Achtung von Werten und Grundsätzen wie der Rechtsstaatlichkeit, dem wirksamen Rechtsschutz und der richterlichen Unabhängigkeit ableiten, wie sie in Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verankert sind, die nationale Identität eines Mitgliedstaats im Sinne von Art. 4 Abs. 2 EUV beeinträchtigen können. Folglich kann Art. 4 Abs. 2 EUV, der unter Berücksichtigung der ihm gleichrangigen Bestimmungen von Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV auszulegen ist, die Mitgliedstaaten nicht von der Verpflichtung zur Einhaltung der sich aus diesen Vorschriften ergebenden Erfordernisse befreien(30 ).
69. Auch wenn die Union, wie es in Art. 4 Abs. 2 EUV heißt, die nationale Identität der Mitgliedstaaten achtet, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen zum Ausdruck kommt, so dass die Mitgliedstaaten bei der Einhaltung ihrer Verpflichtung zur Umsetzung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit über einen gewissen Gestaltungsspielraum verfügen, folgt daraus daher keineswegs, dass die genannte Ergebnispflicht von einem Mitgliedstaat zum anderen variieren kann. Wenngleich die Mitgliedstaaten unterschiedliche nationale Identitäten haben, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen zum Ausdruck kommen und von der Union geachtet werden, schließen sie sich nämlich einem Verständnis von „Rechtsstaatlichkeit“ an, das sie im Sinne eines ihren eigenen Verfassungstraditionen gemeinsamen Wertes teilen und zu dessen dauerhafter Beachtung sie sich verpflichtet haben(31 ).
2) Anwendung auf den vorliegenden Fall
70. Als Erstes geht aus dem Urteil vom 7. Oktober 2021 zunächst hervor, dass das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) entschieden hat, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 2 EUV, so wie sie vom Gerichtshof – insbesondere in den Urteilen A. B. u. a. sowie W. Ż. – ausgelegt werden, mit der Verfassung unvereinbar seien.
71. In mehreren Passagen seines Urteils vom 7. Oktober 2021 stuft das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) die Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach die zuständigen nationalen Gerichte zur Gewährleistung eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes die Entschließungen der KRS kontrollieren und erforderlichenfalls nationale Bestimmungen, die der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV zuwiderlaufen, unangewendet lassen oder sogar die Rechtmäßigkeit des Verfahrens zur Ernennung eines Richters prüfen können, im Wesentlichen als ultra vires und die polnische Verfassungsidentität verletzend ein(32 ).
72. Das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) bringt in diesem Zusammenhang insbesondere zwei Arten von Argumenten vor. Zum einen ist es der Ansicht, dass die den nationalen Gerichten zuerkannte Befugnis zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Verfahrens zur Ernennung von Richtern das verfassungsmäßige Vorrecht des Präsidenten der Republik Polen, einen Richter auf Vorschlag der KRS zu ernennen, einschränke. Zum anderen vertritt es die Auffassung, dass die Anwendung des Erfordernisses eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV durch die polnischen Gerichte die Rechtmäßigkeit der Ernennungsakte des Präsidenten der Republik Polen in Frage stelle und daher gegen Art. 179 in Verbindung mit Art. 144 Abs. 3 Nr. 17 der Verfassung verstoße, die es verböten, Richter nach ihrer Ernennung abzuberufen oder zu kontrollieren.
73. Wie die Nrn. 2 und 3 des verfügenden Teils des Urteils vom 7. Oktober 2021 zeigen, wird der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts mit dieser Erklärung der Verfassungswidrigkeit von Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV direkt in Frage gestellt. In diesen Vorschriften sind grundlegende Vertragsnormen niedergelegt, die ein Wesenszug der allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Rechtsstaatlichkeit sind.
74. Sodann verstößt die vom Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) gewählte Auslegung der Verfassung nicht nur gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – wie im Rahmen der ersten Rüge festgestellt worden ist –, sondern geht darüber hinaus: Sie soll dieser Vorschrift, die vom Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) als Grundlage für die „in der Rechtsprechung des Gerichtshofs umgebauten Normen“ eingestuft wird, jegliche Rechtswirkung im polnischen Hoheitsgebiet nehmen. Dies ergibt sich eindeutig aus Abschnitt 10 der Begründung des Urteils vom 7. Oktober 2021, in dem das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) die Organe der polnischen öffentlichen Gewalt, insbesondere die Gerichte, anweist, von einer Anwendung dieser Normen, so wie sie vom Gerichtshof ausgelegt worden sind, abzusehen. Gestützt auf den durch Art. 190 Abs. 1 der Verfassung garantierten allgemein verbindlichen und endgültigen Charakter seiner Urteile entscheidet das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof), dass es jedem öffentlichen Organ, einschließlich des Gesetzgebers, der ordentlichen Gerichte und der Verwaltungsgerichte, sowie dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) obliegt, das Urteil vom 7. Oktober 2021 durchzuführen.
75. Demnach ist es allen polnischen öffentlichen Organen – einschließlich der Gerichte, die aufgerufen sein könnten, das Unionsrecht anzuwenden – nach diesem Urteil, das eine beispiellose Rebellion darstellt, untersagt, den sich aus dem Vorrang, der Autonomie und der Wirksamkeit des Unionsrechts ergebenden Verpflichtungen zur Gewährleistung der vollen Wirksamkeit von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 in Verbindung mit Art. 2 EUV nachzukommen. Daher verstößt das Urteil vom 7. Oktober 2021 auch gegen die Bindungswirkung der Urteile des Gerichtshofs, die ein wesentlicher Bestandteil der Rechtsordnung der Union ist.
76. Schließlich kann Nr. 1 des verfügenden Teils des Urteils vom 7. Oktober 2021 nach meinem Dafürhalten nicht anders ausgelegt werden, als dass damit die Gültigkeit von Art. 1 Abs. 1 und 2 EUV sowie von Art. 4 Abs. 3 EUV, die zu den grundlegendsten Bestimmungen des EU-Vertrags gehören, unmittelbar in Frage gestellt wird. Diese Infragestellung, so das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof), sei durch die Tatsache gerechtfertigt, dass die Union eine neue Stufe erreicht habe, in der die Organe der Union ultra vires handelten und die Verfassung nicht mehr die oberste Norm in der Republik Polen sei, weshalb dieser Mitgliedstaat nicht mehr als souveräner und demokratischer Staat funktionieren könne. Wie von der Kommission bemerkt worden ist, handelt es sich hierbei um eine äußerst besorgniserregende Feststellung seitens des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof), mit der die Verpflichtung der Republik Polen, die sich aus ihrem Beitritt zur Union ergebenden Rechtsfolgen zu akzeptieren, in Frage gestellt wird.
77. Als Zweites bestreitet das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) in seinem Urteil vom 14. Juli 2021 die Bindungswirkung der vom Gerichtshof auf der Grundlage von Art. 279 AEUV getroffenen einstweiligen Anordnungen. Genauer gesagt ist dieses Gericht der Ansicht, dass solche Anordnungen, wenn sie sich auf die Organisation, die Zuständigkeiten und die Arbeitsweise der polnischen Gerichte sowie die für sie geltenden internen Verfahren bezögen, den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung und die polnische Verfassungsidentität missachteten(33 ). Darüber hinaus überschritten diese Anordnungen, darunter der Beschluss Kommission/Polen, die Grenzen des Unionsrechts und verstießen gegen die polnische Verfassungsordnung.
78. Das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) stützt seine Position auf den Vorrang der Verfassung als oberster Norm der innerstaatlichen Rechtsordnung und vertritt daher die Auffassung, dass der Beschluss Kommission/Polen, mit dem die Zuständigkeit der Disziplinarkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) ausgesetzt worden ist, keinen Vorrang beanspruchen könne. Würde anerkannt, so das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof), dass einstweilige Anordnungen des Gerichtshofs, die mit dem Ziel der Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit ergingen, die nationalen Behörden bänden, liefe dies auf eine Verfälschung sowohl des polnischen Verfassungsgrundsatzes eines demokratischen Rechtsstaats, der in Art. 2 der Verfassung niedergelegt sei, als auch der Zuständigkeitsverteilung hinaus, die sich aus dem in den Unionsverträgen vorgesehenen Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung ergebe.
79. Außerdem wirft das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) dem Gerichtshof vor, vermeintlich „selbst geschaffene“ Normen aufzuerlegen, die es als verfassungswidrig ansieht. Daraus leitet es ab, dass der Grundsatz des Vorrangs und die unmittelbare Wirkung des Unionsrechts für diese als ultra vires erlassen betrachteten Normen nicht mehr gelten. Das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) beansprucht für seine Urteile Endgültigkeit, allgemeine Verbindlichkeit und Wirkung ex tunc und fordert alle polnischen öffentlichen Organe auf, von einer Anwendung der einstweiligen Anordnungen und im weiteren Sinne jeder Norm der Union abzusehen, die seiner Ansicht nach über die durch die Verträge übertragene Zuständigkeit hinausgeht.
80. Hinzu kommt, dass das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) in seinem Urteil vom 14. Juli 2021 nicht nur die Autorität und die Bindungswirkung der vom Gerichtshof in seinem Beschluss Kommission/Polen erlassenen, sondern auch aller künftigen einstweiligen Anordnungen in Frage stellt, die in Bezug auf das polnische Justizsystem gemäß Art. 279 AEUV möglicherweise noch getroffen werden. Damit wendet sich dieses Gericht unmittelbar gegen die Vertragsbestimmungen, auf die der Gerichtshof die Anordnungen stützt, nämlich Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 279 AEUV.
81. Ich möchte insoweit daran erinnern, dass die verfassungsrechtliche Natur der vom Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) angeführten innerstaatlichen Bestimmungen keinesfalls eine Außerkraftsetzung der Grundsätze des Vorrangs, der unmittelbaren Wirkung und der Verbindlichkeit der Entscheidungen des Gerichtshofs rechtfertigen kann. Daher bleibt es mit der Einheit, Autonomie und Wirksamkeit der Rechtsordnung der Union unvereinbar, wenn solche Verfassungsnormen und das Argument, wonach die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten in deren ausschließliche Zuständigkeit falle, geltend gemacht werden, um die sich aus Art. 2, Art. 4 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie Art. 279 AEUV ergebenden Anforderungen zu umgehen.
82. Die letzte Bemerkung zur Geltendmachung von Verfassungsbestimmungen durch das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof), um die Anwendung des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts auszuschließen, führt mich als Drittes dazu, die Analyse der in den streitigen Urteilen enthaltenen Ausführungen dieses Gerichts, die u. a. mit der notwendigen Achtung der Verfassungsidentität der Republik Polen im Sinne von Art. 4 Abs. 2 EUV begründet werden, zu vertiefen.
83. Ich stelle fest, dass sich das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) in den streitigen Urteilen unter Bezugnahme auf Art. 4 Abs. 2 EUV auf die „Verfassungsidentität“ der Republik Polen beruft und zu dem Schluss kommt, dass einige Bestimmungen des Primärrechts der Union mit diesem Grundsatz unvereinbar seien. Mit anderen Worten macht das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) die „Verfassungsidentität“ geltend, stützt sich gleichzeitig aber auf eine Vertragsbestimmung über die „nationale“ Identität. Was das Verhältnis zwischen diesen beiden Begriffen angeht, so bin ich der Ansicht, dass der Begriff der nationalen Identität, obwohl es zweifellos Überschneidungen gibt, umfassender ist, da er nicht nur die in den Verfassungstexten formalisierten Elemente umfasst. Im Gegensatz dazu ist der Begriff der Verfassungsidentität enger gefasst, da er sich auf die in der Verfassung eines Mitgliedstaats verankerten Grundsätze und Werte beschränkt.
84. Meiner Meinung nach verdient diese Frage zur Verfassungsidentität eine nähere Betrachtung, ohne dass jedoch der Rahmen der vorliegenden Rechtssache verlassen und eine allgemeine Theorie aufgestellt werden soll, zumal die Frage von Fall zu Fall unter der sorgfältigen und ausschließlichen Kontrolle des Gerichtshofs geprüft werden muss.
85. Aus einer systematischen Auslegung und Anwendung der Klausel über die nationale Identität, wie sie in Art. 4 Abs. 2 EUV vorgesehen ist, geht insoweit erstens nicht hervor, dass der Gerichtshof sie als einen Faktor ansieht, mit dem sich der unantastbare Grundsatz des Vorrangs einschränken ließe. Einer der Bereiche, in denen ein Rückgriff auf die „nationale Identität“ in der Rechtsprechung eine wichtige Rolle spielt, betrifft u. a. die Prüfung nationaler Maßnahmen, die eine Beschränkung der Grundfreiheiten des Binnenmarkts darstellen. Im Rahmen dieser Rechtssachen ist die Achtung der nationalen Identität sowohl als eigenständige Grundlage für Ausnahmeregelungen als auch als Auslegungsregel für bestehende Rechtfertigungen, wie beispielsweise die öffentliche Ordnung, herangezogen worden(34 ).
86. Im Rahmen der vorliegenden Schlussanträge werde ich mich darauf beschränken, einen kurzen Überblick mit einigen Beispielen aus der Rechtsprechung zu geben.
87. In seiner ersten Funktion wird Art. 4 Abs. 2 EUV wie ein Werkzeug verwendet, das es ermöglicht, einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses zu ermitteln, der eine Abweichung von der Anwendung einer Grundfreiheit rechtfertigt. Beispielsweise hat der Gerichtshof in diesem Kontext geprüft, ob nationale Regelungen zur Erhaltung einer Amtssprache eine Ausnahme rechtfertigen konnten(35 ). Ein weiteres Anwendungsbeispiel betrifft Beschränkungen des Rechts auf Freizügigkeit, die auf einer nationalen Regelung beruhen, mit der die Möglichkeit eingeschränkt wird, sich bei der Erteilung eines Namens auf Adelstitel zu beziehen(36 ). Ein drittes Beispiel bezieht sich auf die Frage, ob der in Art. 1 des deutschen Grundgesetzes verankerte Grundsatz der Menschenwürde eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs rechtfertigen kann(37 ).
88. In seiner zweiten Funktion wird Art. 4 Abs. 2 EUV als Parameter für die Auslegung einiger Bestimmungen des abgeleiteten Rechts in einem Kontext mobilisiert, der mit den grundlegenden Strukturen oder Funktionen der Mitgliedstaaten zusammenhängt(38 ).
89. Allerdings – und darin liegt das wesentliche Element bei der Analyse – gestattet es die Rechtsprechung zur Auslegung von Art. 4 Abs. 2 EUV nicht, wie vom Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) vorgeschlagen, die nationale Identität als ein Element zu betrachten, mit dem sich die volle Anwendung des Grundsatzes des Vorrangs ausschließen ließe. Wie aus der vorstehenden Würdigung hervorgeht, erscheint der Gegensatz zwischen dem Vorrang des Unionsrechts und der nationalen Identität der Mitgliedstaaten in Wirklichkeit als Pseudokonflikt, da beide Begriffe unterschiedliche Funktionen innerhalb der Rechtsordnung der Union erfüllen.
90. Zweitens halte ich es für notwendig, darauf hinzuweisen, dass Art. 4 Abs. 2 EUV nicht so verstanden werden kann, dass er mit Art. 2 EUV und den darin verankerten Grundwerten bricht(39 ). Wie vom Gerichtshof hervorgehoben worden ist, schließen sich „die Mitgliedstaaten[, wenngleich sie] unterschiedliche nationale Identitäten haben, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen zum Ausdruck kommen und von der Union geachtet werden, … einem Verständnis von ‚Rechtsstaatlichkeit‘ an, das sie im Sinne eines ihren eigenen Verfassungstraditionen gemeinsamen Wertes teilen und zu dessen dauerhafter Beachtung sie sich verpflichtet haben“(40 ). Folglich kann die Verfassungsidentität eines Mitgliedstaats keinen Vorrang vor den demokratischen Grundlagen der Union und ihrer Mitgliedstaaten oder den in Art. 2 EUV verankerten gemeinsamen Werten haben(41 ). Ein Ansatz mit variabler Geometrie in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit ist nicht hinnehmbar, wenn es um die Anwendung des Unionsrechts geht. Wie vom Gerichtshof hervorgehoben worden ist, muss ein Verfassungsgericht eines Mitgliedstaats, wenn es der Auffassung ist, dass eine Bestimmung des Unionsrechts in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof gegen die Verpflichtung verstoße, die nationale Identität dieses Mitgliedstaats zu achten, das Verfahren aussetzen und dem Gerichtshof nach Art. 267 AEUV ein Ersuchen um Vorabentscheidung über die Gültigkeit dieser Bestimmung im Licht von Art. 4 Abs. 2 EUV vorlegen(42 ).
91. Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, wird mit der vorliegenden Rechtssache letztlich die zentrale Frage nach der Anwendung des Grundsatzes des Vorrangs durch den Gerichtshof aufgeworfen, unabhängig davon, ob ein Verfassungsgericht sie implizit oder unmittelbar stellt, wenn es dem Gerichtshof die Befugnis abspricht, im Fall eines Konflikts zwischen dem Unionsrecht und der Verfassungsidentität eines Mitgliedstaats in letzter Instanz zu entscheiden. Diese Frage kann nur unter Bezugnahme auf eine grundlegende Feststellung beantwortet werden: Voraussetzung für eine Mitgliedschaft in der Union ist der Beitritt zu „einer rechtlichen Konstruktion …, die auf der grundlegenden Prämisse beruht, dass jeder Mitgliedstaat die in Art. 2 EUV genannten gemeinsamen Werte, auf die sich die Union gründet, mit allen anderen Mitgliedstaaten teilt und anerkennt, dass sie sie mit ihm teilen“(43 ).
92. Zwar kann ein Staat nicht gezwungen werden, gegen seinen Willen der Union beizutreten(44 ). Allerdings muss er sich, sobald er die souveräne Entscheidung trifft, ihr beizutreten, im Einklang mit Art. 49 EUV, der die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, nach ihrem Beitritt die Werte der Union zu achten – Werte, die sie aus freien Stücken und in voller Kenntnis der Sachlage angenommen haben –, an die „Spielregeln“ halten(45 ). Oder wie es das Plenum, der feierlichste Spruchkörper des Gerichtshofs, ausgedrückt hat: „[D]ie Achtung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch einen Mitgliedstaat [ist] eine Voraussetzung für den Genuss aller Rechte …, die sich aus der Anwendung der Verträge auf diesen Mitgliedstaat ergeben … Die Achtung dieser Werte kann nämlich nicht auf eine Verpflichtung reduziert werden, der ein Beitrittskandidat im Hinblick auf seinen Beitritt zur Union unterläge und der er danach wieder entsagen könnte.“(46 )
93. Vor diesem Hintergrund stellt Art. 4 Abs. 2 EUV kein Hindernis dar, sondern lädt zu einem fruchtbaren Dialog zwischen der Rechtsordnung der Union und den nationalen Rechtsordnungen ein. Weit davon entfernt, eine starre Uniformität vorzuschreiben, ermöglicht er den Aufbau eines europäischen Projekts, das keine starre und monolithische Pyramide ist, sondern ein subtiles und dynamisches Netzwerk, in dem die Anerkennung der nationalen Besonderheiten den Zusammenhalt des Ganzen stärkt(47 ). Um die vereinheitlichende Kraft des Unionsrechts zu sichern, ist es jedoch von entscheidender Bedeutung, dass der Gerichtshof schlussendlich das „letzte Wort“ behält.
94. In Anbetracht des Vorstehenden ist der Schluss zu ziehen, dass die Feststellung der Unvereinbarkeit von Art. 2, Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 und Art. 4 Abs. 3 EUV sowie von Art. 279 AEUV mit der Verfassung durch das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) einen offenkundigen, ich würde sogar sagen einen der direktesten, Verstöße gegen die Grundprinzipien der Rechtsordnung der Union darstellt. Diese Positionen missachten nicht nur die Autorität der Urteile des Gerichtshofs, sondern auch sämtliche Werte und Verpflichtungen, die die Verträge den Mitgliedstaaten auferlegen. Daher fügt die vom Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) gewählte Auslegung dem Vorrang, der Autonomie, der Einheitlichkeit und der Wirksamkeit des Unionsrechts erheblichen Schaden zu.
95. Aus den vorerwähnten Gründen schlage ich dem Gerichtshof vor, die zweite Rüge der Kommission als begründet anzusehen.
3. Zur dritten Rüge
a) Vorbringen der Parteien
96. Mit ihrer dritten Rüge wirft die Kommission der Republik Polen vor, die Anforderungen von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta nicht einzuhalten. Diese Anforderungen betreffen die Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Rechtmäßigkeit des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof).
97. Insbesondere ist sie der Ansicht, dass das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) diese Garantien aufgrund von Unregelmäßigkeiten bei der Ernennung von Richtern im Dezember 2015 und bei der Wahl seiner Präsidentin im Dezember 2016 nicht mehr erfülle. Im Dezember 2015 wählte die achte Wahlperiode des Sejm drei Personen (M. M., H. C. und L. M.), um Richter zu ersetzen, deren Amtszeit abgelaufen war, obwohl die siebte Wahlperiode im Oktober 2015 bereits drei andere Richter (R. H., A. J. und K. Ś.) für dieselben Stellen gewählt hatte. Das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) entschied in seinen Urteilen vom 3. und vom 9. Dezember 2015, dass die Wahl der drei Richter durch die achte Wahlperiode verfassungswidrig sei. Die drei unrechtmäßig gewählten Richter wurden aber vereidigt und in ihr Amt eingeführt, während die rechtmäßig gewählten Richter ihr Amt nicht antreten konnten.
98. Zudem hebt die Kommission hervor, dass das Verfahren zur Auswahl der Kandidaten für das Amt des Präsidenten des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof), das im Dezember 2016 zur Ernennung von J. P. geführt habe, mit schweren Unregelmäßigkeiten behaftet gewesen sei.
99. Die Republik Polen teilt zwar den Standpunkt der Kommission, stellt aber klar, dass die nicht ordnungsgemäße Zusammensetzung des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) der Hauptgrund für die Infragestellung der Gültigkeit seiner Urteile sei.
b) Würdigung
1) Einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs
100. Nach ständiger Rechtsprechung muss jedes nationale Gericht, das über Fragen des Unionsrechts zu entscheiden hat, die erforderlichen Garantien für Unabhängigkeit und Unparteilichkeit bieten und durch Gesetz errichtet sein(48 ). Diese Anforderungen ergeben sich aus dem Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, der in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 Abs. 2 der Charta verankert ist, wonach jede Person ein Recht darauf hat, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.
101. Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung verlangen die Erfordernisse der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der Einrichtung und die Ernennung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen(49 ).
102. Außerdem soll das Erfordernis eines „zuvor durch Gesetz errichteten Gericht[s]“ verhindern, dass die Organisation des Justizsystems in das Ermessen der Exekutive gestellt wird, und dafür sorgen, dass dieser Bereich durch ein Gesetz geregelt wird, das von der gesetzgebenden Gewalt im Einklang mit den Vorschriften über die Ausübung ihrer Zuständigkeit erlassen wurde. Dieser Ausdruck spiegelt insbesondere das Rechtsstaatsprinzip wider und umfasst nicht nur die Rechtsgrundlage für die Existenz des Gerichts, sondern auch die Zusammensetzung des Spruchkörpers in jeder Rechtssache sowie alle weiteren Vorschriften des innerstaatlichen Rechts, deren Nichtbeachtung die Teilnahme eines oder mehrerer Richter an der Verhandlung über die Rechtssache vorschriftswidrig macht, was insbesondere Vorschriften über die Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit der Mitglieder des betreffenden Gerichts einschließt(50 ).
103. Hinsichtlich eines Verstoßes gegen dieses Erfordernis hat der Gerichtshof in Anlehnung an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entschieden, dass eine bei der Ernennung von Richtern im betroffenen Justizsystem begangene Vorschriftswidrigkeit insbesondere dann einen Verstoß gegen das Erfordernis, dass ein Gericht durch Gesetz errichtet sein muss, darstellt, wenn die Art und Schwere der Vorschriftswidrigkeit dergestalt ist, dass sie die tatsächliche Gefahr begründet, dass andere Teile der Staatsgewalt – insbesondere die Exekutive – ein ihnen nicht zustehendes Ermessen ausüben können, wodurch die Integrität des Ergebnisses des Ernennungsverfahrens beeinträchtigt und so beim Einzelnen berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des oder der betreffenden Richter geweckt werden. Dies ist der Fall, wenn es um Grundregeln geht, die Bestandteil der Errichtung und der Funktionsfähigkeit dieses Justizsystems sind(51 ). Der Gerichtshof hat daher klargestellt, dass, wie sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergibt, nur Rechtsverletzungen, die grundlegende Vorschriften über das Richterernennungsverfahren und den Amtsantritt der Richter betreffen, eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) begründen(52 ).
2) Anwendung auf den vorliegenden Fall
i) Zur angeblich verfassungswidrigen Ernennung von Richtern am Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof)
104. Vorab ist festzuhalten, dass das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) ein „Gericht“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist, da es über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung und Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden hat(53 ). Diese Schlussfolgerung wird u. a. durch die streitigen Urteile bestätigt, auf die sich die erste und die zweite Rüge der vorliegenden Klage beziehen(54 ).
105. Im vorliegenden Fall ernannte der Sejm der Republik Polen (achte Wahlperiode) am 2. Dezember 2015 drei Personen (M. M., H. C. und L. M.) zum Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof), um am 6. November 2015 frei gewordene Stellen zu besetzen. Der vorherige Sejm (siebte Wahlperiode) hatte aber bereits am 8. Oktober 2015 Entschließungen über die Wahl dreier anderer Richter (R. H., A. J. und K. Ś.) in dieselben Ämter verabschiedet.
106. In seinem Urteil vom 3. Dezember 2015 in der Rechtssache K 34/15(55 ) bestätigte das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) u. a., dass die siebte Wahlperiode des Sejm berechtigt gewesen sei, drei Richter zu ernennen, um die Richter zu ersetzen, deren Amtszeit am 6. November 2015 geendet habe. Außerdem sei der Präsident der Republik Polen verpflichtet gewesen, die drei Personen zu vereidigen, die von der siebten Wahlperiode des Sejm als Ersatz für die Richter gewählt worden seien, deren Amtszeit am 6. November 2015 geendet habe (R. H., A. J. und K. Ś.). Darüber hinaus erklärte das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) mit seinem Urteil K 35/15 vom 9. Dezember 2015(56 ) Art. 137a der Ustawa o Trybunale Konstytucyjnym (Gesetz über den Verfassungsgerichtshof) vom 25. Juni 2015(57 ) in der Fassung der Ustawa o zmianie ustawy z dnia 25 czerwca 2015 r. o Trybunale Konstytucyjnym (ustawa zmieniająca) (Gesetz zur Änderung des Gesetzes vom 25. Juni 2015 über den Verfassungsgerichtshof) vom 19. November 2015 für ungültig, wonach die Frist für die Einreichung einer Bewerbung im Fall der Richter des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof), deren Amtszeit 2015 ablief, sieben Tage ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Vorschrift betrug. Die Verfassungswidrigkeit betraf die Wahl auf Richterstellen am Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) als Ersatz für die Richter, deren Amtszeit am 6. November 2015 abgelaufen war.
107. Obwohl festgestellt worden war, dass die Ernennung von Dezember 2015 vorschriftswidrig erfolgt sei, legten die drei betreffenden Richter ihren Eid vor dem Präsidenten der Republik Polen ab und wurden am 20. Dezember 2016 von der Richterin J. P., nach dem Eintritt des Präsidenten A. R. in den Ruhestand „Richterin in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten“, in ihr Amt eingeführt. Die drei im Oktober 2015 gewählten Richter wiederum konnten ihre Ämter nie antreten, da sie nicht vereidigt worden waren.
108. Wie von der Kommission bemerkt, stellen die Ernennung und der Amtsantritt der drei vorerwähnten Richter am Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) einen offenkundigen Verstoß gegen den Verfassungsgrundsatz betreffend die Ernennung von Richtern an diesem Gerichtshof dar, der integraler Bestandteil der Organisation und Funktionsweise des polnischen Staates ist. Die Kommission weist ferner darauf hin, ohne dass ihr die Republik Polen widerspricht, dass seit dem Ablauf der Frist für die Beantwortung der mit Gründen versehenen Stellungnahme der Kommission vom 15. Juli 2022 (d. h. seit dem 15. September 2022) bis heute keines der beiden Urteile des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) vom 3. und vom 9. Dezember 2015 durchgeführt worden sei und der Richter M. M. nach wie vor an diesem Gerichtshof tage.
109. Für erwähnenswert halte ich auch, dass diese Situation, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 7. Mai 2021, Xero Flor w Polsce sp. z o.o./Polen(58 ), bestätigt hat, gegen ein Grundprinzip der Ernennung von Richtern am Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) verstößt und das Recht auf ein „auf Gesetz beruhendes Gericht“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt. Folglich wird dadurch die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Verfassungsgerichtshofs ernsthaft gefährdet, obwohl Art. 19 EUV und Art. 47 der Charta für nationale Gerichte solche Garantien vorschreiben.
ii) Zu den angeblichen Unregelmäßigkeiten im Verfahren zur Ernennung der Präsidentin des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof)
110. Ich bin ferner der Ansicht, dass auch das Verfahren zur Ernennung der Präsidentin des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) von schweren Unregelmäßigkeiten betroffen gewesen ist.
111. Insbesondere angesichts des bevorstehenden Endes der Amtszeit des vorherigen Präsidenten des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) (am 19. Dezember 2016) überarbeitete der polnische Gesetzgeber das Verfahren zur Auswahl der Kandidaten grundlegend. Es wurde die – in der Verfassung, deren Art. 194 Abs. 2 nur den Präsidenten und den Vizepräsidenten kennt, nicht existierende – neue Stelle eines „Richters in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten“ geschaffen. Am 20. Dezember 2016, also einen Tag nach dem Ausscheiden des vorherigen Präsidenten des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof), ernannte der Präsident der Republik Polen J. P. auf diese neu geschaffene Stelle. Noch am selben Tag führte J. P. die drei vorschriftswidrig ernannten Richter in ihr Amt ein und berief die Generalversammlung ein. Von den 14 anwesenden Richtern weigerten sich acht, an der Abstimmung teilzunehmen, und verlangten eine Verschiebung, um die Anwesenheit eines 15. Richters zu ermöglichen. Dieser Antrag wurde abgelehnt und J. P. mit nur fünf Stimmen der 14 anwesenden Mitglieder, darunter die Stimmen der drei Richter, deren Ernennung bereits angefochten worden war, zur Präsidentin des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) gewählt(59 ). Am 21. Dezember 2016 wurde sie vom Präsidenten der Republik Polen zur Präsidentin des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) ernannt.
112. Diese Abfolge von Ereignissen veranschaulicht meines Erachtens den unmittelbaren und konkreten Einfluss der Legislative und der Exekutive auf die Zusammensetzung und die Funktionsweise des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof), durch den ein hohes Risiko politischer Einmischung entsteht. Die Integrität des Ernennungsverfahrens, das Vertrauen des Einzelnen in die Unabhängigkeit dieses Gerichts und die Achtung der in Art. 19 EUV und Art. 47 der Charta vorgesehenen Garantien werden dadurch tief greifend beeinträchtigt.
113. Im Übrigen wäre es, wie von der Kommission bemerkt, legitim gewesen, vom Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) eine umsichtige Haltung zu erwarten, um die durch diese Unregelmäßigkeiten entstandenen Zweifel zu zerstreuen. Stattdessen soll M. M. in Rechtssachen getagt haben, mit denen die Rechtmäßigkeit seiner eigenen Ernennung unmittelbar in Frage gestellt worden war, wodurch gegen das Erfordernis der Unparteilichkeit verstoßen worden ist(60 ).
114. Letztlich besteht in Anbetracht des Vorstehenden kein Zweifel daran, dass das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) nicht als unabhängiges, unparteiisches und „durch Gesetz errichtetes Gericht“ eingestuft werden kann, wie es Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, verstärkt durch Art. 47 der Charta, verlangt. Dieser Mangel untergräbt nämlich das berechtigte Vertrauen des Einzelnen in die Fähigkeit der nationalen Gerichte, das Unionsrecht im Einklang mit den europäischen Standards anzuwenden, und gefährdet daher die Integrität und Wirksamkeit der Rechtsordnung der Union.
115. Demnach bin ich auf der Grundlage des unstreitigen Sachverhalts der Ansicht, dass das Verfahren zur Ernennung der drei Richter im Dezember 2015 und der Richterin J. P. zur Präsidentin des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) durch mehrere Unregelmäßigkeiten gekennzeichnet war, die als offenkundig und schwerwiegend eingestuft werden können.
116. Im Licht des Vorstehenden schlage ich dem Gerichtshof vor, festzustellen, dass die Republik Polen ihrer Verpflichtung aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV nicht nachgekommen ist, sie also nicht dafür gesorgt hat, dass das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) dem Erfordernis eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts genügt.
117. Aus den vorerwähnten Gründen schlage ich dem Gerichtshof vor, die dritte Rüge der Kommission als begründet anzusehen.
VI. Kosten
118. Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
119. Nach der von mir vorgeschlagenen Lösung ist die Republik Polen, da die Kommission ihre Verurteilung beantragt hat und sie unterlegen ist, zur Tragung ihrer eigenen Kosten sowie der Kosten der Kommission zu verurteilen.
VII. Ergebnis
120. Vor diesem Hintergrund schlage ich dem Gerichtshof vor,
1. festzustellen, dass die Republik Polen in Anbetracht der vom Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof, Polen) in seinen Urteilen vom 14. Juli 2021 und vom 7. Oktober 2021 vorgenommenen Auslegung der Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej (Verfassung der Republik Polen) ihren Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV nicht nachgekommen ist;
2. festzustellen, dass die Republik Polen in Anbetracht der vom Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) in seinen Urteilen vom 14. Juli 2021 und vom 7. Oktober 2021 vorgenommenen Auslegung der Verfassung der Republik Polen ihren Verpflichtungen aus den allgemeinen Grundsätzen der Autonomie, des Vorrangs, der Wirksamkeit und der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts nicht nachgekommen ist und die Bindungswirkung der Urteile des Gerichtshofs missachtet hat;
3. festzustellen, dass das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) aufgrund von Unregelmäßigkeiten in den Verfahren zur Ernennung dreier seiner Mitglieder im Dezember 2015 und seiner Präsidentin im Dezember 2016 nicht den Anforderungen an ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht genügt und folglich die Republik Polen ihren Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV nicht nachgekommen ist;
4. der Republik Polen ihre eigenen Kosten und die Kosten der Europäischen Kommission aufzuerlegen.