C-154/23 – Kommission/ Estland (Directive lanceurs d’alerte)

C-154/23 – Kommission/ Estland (Directive lanceurs d’alerte)

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Language of document : ECLI:EU:C:2025:148

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

6. März 2025(*)

„ Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Art. 258 AEUV – Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden – Richtlinie (EU) 2019/1937 – Art. 26 Abs. 1 und 3 – Unterbliebene Umsetzung und unterbliebene Mitteilung der Umsetzungsmaßnahmen – Art. 260 Abs. 3 AEUV – Antrag auf Verurteilung zur Zahlung eines Pauschalbetrags und eines täglichen Zwangsgelds – Kriterien für die Festlegung der Höhe der Sanktionen – Automatische Anwendung eines Schwerekoeffizienten “

In der Rechtssache C‑154/23

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 und Art. 260 Abs. 3 AEUV, eingereicht am 14. März 2023,

Europäische Kommission, vertreten durch J. Baquero Cruz und L. Maran als Bevollmächtigte,

Klägerin,

gegen

Republik Estland, vertreten durch N. Grünberg und M. Kriisa als Bevollmächtigte,

Beklagte,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Vizepräsidenten des Gerichtshofs T. von Danwitz in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Sechsten Kammer, des Richters A. Kumin und der Richterin I. Ziemele (Berichterstatterin),

Generalanwalt: N. Emiliou,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission,

–        festzustellen, dass die Republik Estland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 26 Abs. 1 und 3 der Richtlinie (EU) 2019/1937 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2019 zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden (ABl. 2019, L 305, S. 17) verstoßen hat, dass sie nicht alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie nachzukommen, erlassen und der Kommission diese Vorschriften nicht mitgeteilt hat;

–        anzuordnen, dass der Republik Estland die Zahlung eines Pauschalbetrags an die Kommission auferlegt wird, der dem höheren der beiden folgenden Beträge entspricht:

–        ein pauschaler Tagessatz von 600 Euro, multipliziert mit der Anzahl der Tage zwischen dem Tag nach Ablauf der in der Richtlinie 2019/1937 festgelegten Frist für die Umsetzung dieser Richtlinie und dem Tag, an dem der Verstoß abgestellt wird, oder, falls der Verstoß andauert, dem Tag der Verkündung des Urteils in der vorliegenden Rechtssache;

–        ein Mindestpauschalbetrag von 168 000 Euro;

–        anzuordnen, dass für den Fall, dass die im ersten Gedankenstrich genannte Vertragsverletzung bis zum Tag der Verkündung des Urteils in der vorliegenden Rechtssache fortdauert, der Republik Estland die Zahlung eines Zwangsgelds an die Kommission in Höhe von 2 340 Euro für jeden Tag des Verzugs ab dem Tag der Verkündung des Urteils in der vorliegenden Rechtssache bis zu dem Tag auferlegt wird, an dem die Republik Estland ihren Verpflichtungen aus der Richtlinie 2019/1937 nachgekommen ist;

–        der Republik Estland die Kosten aufzuerlegen.

 Rechtlicher Rahmen

 Richtlinie 2019/1937

2        In den Erwägungsgründen 1 und 4 der Richtlinie 2019/1937 heißt es:

„(1)      … [P]otenzielle Hinweisgeber [schrecken] aus Angst vor Repressalien häufig davor zurück, ihre Bedenken oder ihren Verdacht zu melden. In diesem Zusammenhang wird sowohl auf Unionsebene als auch auf internationaler Ebene zunehmend anerkannt, dass es eines ausgewogenen und effizienten Hinweisgeberschutzes bedarf.

(4)      Der bestehende Hinweisgeberschutz in der Union ist in den Mitgliedstaaten unterschiedlich und in den verschiedenen Politikbereichen uneinheitlich gestaltet. Die Folgen der von Hinweisgebern gemeldeten Verstöße gegen das Unionsrecht, die eine grenzüberschreitende Dimension aufweisen, zeigen deutlich, dass ein unzureichender Schutz in einem Mitgliedstaat die Funktionsweise der Unionsvorschriften nicht nur in diesem Mitgliedstaat, sondern auch in anderen Mitgliedstaaten und in der Union als Ganzem beeinträchtigt.“

3        Art. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Ziel dieser Richtlinie ist eine bessere Durchsetzung des Unionsrechts und der Unionspolitik in bestimmten Bereichen durch die Festlegung gemeinsamer Mindeststandards, die ein hohes Schutzniveau für Personen sicherstellen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden.“

4        Art. 26 der Richtlinie sieht vor:

„(1)      Die Mitgliedstaaten setzen die Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie bis zum 17. Dezember 2021 nachzukommen.

(3)      Bei Erlass der Vorschriften gemäß den Absätzen 1 und 2 nehmen die Mitgliedstaaten in den Vorschriften selbst oder durch einen Hinweis bei der amtlichen Veröffentlichung auf diese Richtlinie Bezug. Die Mitgliedstaaten regeln die Einzelheiten dieser Bezugnahme. Sie teilen der Kommission unverzüglich den Wortlaut dieser Vorschriften mit.“

 Mitteilung von 2023

5        Die Mitteilung der Kommission 2023/C 2/01 mit dem Titel „Finanzielle Sanktionen in Vertragsverletzungsverfahren“ (ABl. 2023, C 2, S. 1, im Folgenden: Mitteilung von 2023) widmet sich in Abschnitt 3 dem „Zwangsgeld“ und in Abschnitt 4 dem „Pauschalbetrag“.

6        Abschnitt 3.2 der Mitteilung von 2023, der sich auf die Anwendung des Schwerekoeffizienten im Rahmen der Berechnung des täglichen Zwangsgelds bezieht, bestimmt:

„Ein Verstoß, der darin besteht, dass ein Mitgliedstaat … es versäumt hat, Maßnahmen zur Umsetzung einer im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens erlassenen Richtlinie mitzuteilen, wird immer als schwerwiegend angesehen. Um die Höhe der Sanktion an die besonderen Umstände des Falles anzupassen, bestimmt die Kommission den Schwerekoeffizienten auf der Grundlage von zwei Parametern: der Bedeutung der verletzten oder nicht umgesetzten Unionsvorschriften und den Auswirkungen des Verstoßes auf allgemeine und besondere Interessen.

…“

7        In Abschnitt 3.2.2 dieser Mitteilung heißt es:

„Bei Klagen nach Artikel 260 Absatz 3 AEUV wendet die Kommission systematisch einen Schwerekoeffizienten von 10 an, wenn die Umsetzungsmaßnahmen nicht vollständig mitgeteilt wurden. In einer Union, in der das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit gilt, sind alle Richtlinien als gleichrangig zu betrachten und müssen von den Mitgliedstaaten innerhalb der von ihnen gesetzten Fristen vollständig umgesetzt werden.

Bei einer teilweisen Nichtmitteilung von Umsetzungsmaßnahmen ist die Bedeutung der Umsetzungslücke bei der Festsetzung des Schwerekoeffizienten zu berücksichtigen, der niedriger als 10 ist. Darüber hinaus können die Auswirkungen des Verstoßes auf allgemeine und besondere Interessen in Betracht gezogen werden …“

8        In Abschnitt 3.3 („Anwendung des Dauerkoeffizienten“) der Mitteilung heißt es:

„…

Der Dauerkoeffizient wird als Multiplikator zwischen 1 und 3 ausgedrückt. Er wird zu einem Satz von 0,10 pro Monat ab dem Datum des ersten Urteils oder ab dem Tag nach Ablauf der Frist für die Umsetzung der betreffenden Richtlinie berechnet.

…“

9        Abschnitt 3.4 („Zahlungsfähigkeit eines Mitgliedstaats“) der Mitteilung sieht vor:

„…

Wie hoch Sanktionen sein müssen, damit sie eine abschreckende Wirkung haben, hängt von der Zahlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten ab. Diese Abschreckungswirkung spiegelt sich im Faktor n wider. Er ist definiert als ein gewichteter geometrischer Mittelwert des Bruttoinlandsprodukts (BIP) … des betreffenden Mitgliedstaats im Vergleich zum durchschnittlichen BIP der Mitgliedstaaten mit einer Gewichtung von zwei und der Bevölkerungszahl des betreffenden Mitgliedstaats im Vergleich zum Durchschnitt der Bevölkerungszahlen der Mitgliedstaaten mit einer Gewichtung von eins. Dies entspricht der Zahlungsfähigkeit des betreffenden Mitgliedstaats im Verhältnis zur Zahlungsfähigkeit der anderen Mitgliedstaaten:

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Die Kommission hat … beschlossen, ihre Methode zur Berechnung des Faktors n zu überarbeiten. Er stützt sich nun in erster Linie auf das BIP der Mitgliedstaaten und erst in zweiter Linie auf ihre Bevölkerungszahl als demografisches Kriterium, das eine angemessene Abweichung zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten ermöglicht. Durch die Berücksichtigung der Bevölkerungszahl der Mitgliedstaaten zu einem Drittel bei der Berechnung des Faktors n werden die Abweichungen zwischen den Faktoren n der Mitgliedstaaten im Vergleich zu einer Berechnung, die ausschließlich auf dem BIP der Mitgliedstaaten beruht, auf ein angemessenes Maß reduziert. Dadurch erhält die Berechnung des Faktors n auch ein stabiles Element, da die Bevölkerungszahl auf jährlicher Basis wahrscheinlich nicht stark schwanken wird. Im Gegensatz dazu kann das BIP eines Mitgliedstaats stärkeren jährlichen Schwankungen unterliegen, insbesondere in Zeiten einer Wirtschaftskrise. Da das BIP eines Mitgliedstaats nach wie vor zwei Drittel der Berechnung ausmacht, bleibt es der wichtigste Faktor für die Beurteilung der Zahlungsfähigkeit eines Mitgliedstaats.

…“

10      In Abschnitt 4.2 der Mitteilung von 2023 wird die Methode zur Berechnung des Pauschalbetrags folgendermaßen präzisiert:

„Die Berechnung des Pauschalbetrags erfolgt weitgehend wie die Berechnung des Zwangsgeldes, d. h. durch

–        Multiplikation eines Grundbetrags mit einem Schwerekoeffizienten,

–        Multiplikation des Ergebnisses mit dem Faktor n,

–        Multiplikation des Ergebnisses mit der anhaltenden Dauer des Verstoßes in Tagen …

…“

11      Abschnitt 4.2.1 dieser Mitteilung sieht vor:

„Zur Berechnung des Pauschalbetrags wird der Tagessatz mit der Anzahl der Tage, an denen der Mitgliedstaat dem Urteil nicht nachkommt, multipliziert. Die Letztere ist wie folgt gerechnet:

–        bei Klagen nach Artikel 260 Absatz 3 AEUV die Anzahl der Tage nach Ablauf der Umsetzungsfrist der betreffenden Richtlinie bis zu dem Tag, an dem der Verstoß abgestellt wird bzw. in Fällen, in denen der Verstoß fortbesteht, dem Tag der Urteilsverkündung gemäß Artikel 260 AEUV.

…“

12      In Abschnitt 4.2.2 der Mitteilung heißt es:

„Bei der Berechnung des Pauschalbetrags zieht die Kommission den gleichen Schwerekoeffizienten und den gleichen Faktor n wie bei der Berechnung des Zwangsgeldes heran …

Der Grundbetrag für den Pauschalbetrag ist niedriger als der für das Zwangsgeld. …

Der für Pauschalbeträge geltende Grundbetrag ist in Punkt 2 des Anhangs festgelegt.

…“

13      Anhang I („Daten, die zur Festlegung der dem Gerichtshof vorgeschlagenen finanziellen Sanktionen verwendet werden“) der Mitteilung von 2023 sieht in Punkt 1 vor, dass der Grundbetrag für das in Abschnitt 3 dieser Mitteilung angeführte Zwangsgeld auf 3 000 Euro pro Tag festgesetzt wird, in Punkt 2, dass der Grundbetrag für den in Abschnitt 4.2.2 dieser Mitteilung angeführten Pauschalbetrag auf 1 000 Euro pro Tag festgesetzt wird und damit bei einem Drittel des Grundbetrags für das Zwangsgeld liegt, und in Punkt 3, dass der Faktor „n“ für die Republik Estland auf 0,06 festgesetzt ist. In Punkt 5 dieses Anhangs I wird präzisiert, dass sich der für die Republik Estland festgelegte Mindestpauschalbetrag auf 168 000 Euro beläuft.

 Vorverfahren und Verfahren vor dem Gerichtshof

14      Am 27. Januar 2022 richtete die Kommission ein Aufforderungsschreiben an die Republik Estland, in dem sie dieser vorwarf, ihr nicht die Rechts- und Verwaltungsvorschriften mitgeteilt zu haben, die erforderlich seien, um der Richtlinie 2019/1937 nachzukommen, deren Umsetzungsfrist am 17. Dezember 2021 abgelaufen sei. In ihrer Antwort vom 28. März 2022 räumte die Republik Estland die gegen sie erhobenen Vorwürfe ein und wies darauf hin, dass der Entwurf des Gesetzes zur Umsetzung dieser Richtlinie dem estnischen Parlament zur Prüfung vorgelegt worden sei und dass das Umsetzungsgesetz am 1. Juni 2022 in Kraft treten solle.

15      Da sie keine weitere Mitteilung über die Umsetzung der Richtlinie 2019/1937 erhielt, richtete die Kommission am 15. Juli 2022 eine mit Gründen versehene Stellungnahme an die Republik Estland, mit der sie diese aufforderte, ihren Verpflichtungen aus dieser Richtlinie innerhalb einer Frist von zwei Monaten nach Erhalt dieser Stellungnahme nachzukommen.

16      In ihrer Antwort vom 13. September 2022 auf diese Stellungnahme erläuterte die Republik Estland, die die ihr vorgeworfene Vertragsverletzung nicht bestritt, den Stand des Gesetzgebungsverfahrens zum Erlass des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2019/1937.

17      Da die Kommission der Ansicht war, dass dieser Mitgliedstaat seinen Verpflichtungen nach wie vor nicht nachgekommen sei, entschied sie am 14. März 2023, beim Gerichtshof die vorliegende Klage zu erheben.

18      Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 4. Januar 2024 ist das Verfahren bis zur Verkündung des Urteils in der Rechtssache C‑147/23 ausgesetzt worden. Nach der Verkündung des Urteils vom 25. April 2024, Kommission/Polen (Whistleblower-Richtlinie) (C‑147/23, EU:C:2024:346), ist das Verfahren in der vorliegenden Rechtssache durch Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom selben Tag wieder aufgenommen worden.

 Zur Klage

 Zur Vertragsverletzung nach Art. 258 AEUV

 Vorbringen der Parteien

19      Die Kommission weist darauf hin, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 288 Abs. 3 AEUV verpflichtet seien, die Vorschriften, die für die Umsetzung der Richtlinien innerhalb der in diesen Richtlinien festgelegten Fristen in das jeweilige nationale Recht erforderlich seien, zu erlassen und ihr diese Vorschriften unverzüglich mitzuteilen.

20      Das Vorliegen einer Verletzung dieser Verpflichtungen sei anhand der Situation des Mitgliedstaats zu beurteilen, wie sie sich bei Ablauf der Frist darstelle, die in der an ihn gerichteten mit Gründen versehenen Stellungnahme festgelegt sei.

21      Im vorliegenden Fall habe die Republik Estland jedoch vor Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 15. Juli 2022 gesetzten Frist weder die zur Umsetzung der Richtlinie 2019/1937 erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen noch die Kommission über deren Erlass unterrichtet.

22      In ihrer Klagebeantwortung räumt die Republik Estland die ihr vorgeworfene Vertragsverletzung ein und weist darauf hin, dass die Prüfung des Entwurfs des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2019/1937 aufgrund der Parlamentswahlen vom 5. März 2023 auf Juni 2023 verschoben worden sei. Des Weiteren führt dieser Mitgliedstaat aus, dass die bestehenden nationalen Rechtsvorschriften bestimmte Bestimmungen enthielten, die in konkreten Bereichen den Schutz von Hinweisgebern ermöglichten, ohne dass sie jedoch als Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie eingestuft werden könnten.

23      In ihrer Erwiderung weist die Kommission darauf hin, dass nach ständiger Rechtsprechung Bestimmungen, Übungen oder Umstände der nationalen Rechtsordnung die verspätete Umsetzung einer Richtlinie nicht rechtfertigen könnten.

 Würdigung durch den Gerichtshof

24      Gemäß Art. 26 Abs. 1 der Richtlinie 2019/1937 mussten die Mitgliedstaaten bis zum 17. Dezember 2021 die Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft setzen, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie nachzukommen. Des Weiteren sieht Art. 26 Abs. 3 dieser Richtlinie vor, dass die Mitgliedstaaten bei Erlass dieser nationalen Vorschriften in den Vorschriften selbst oder durch einen Hinweis bei der amtlichen Veröffentlichung auf diese Richtlinie Bezug nehmen. Außerdem waren die Mitgliedstaaten nach diesem Art. 26 Abs. 3 verpflichtet, der Kommission den Wortlaut der nationalen Vorschriften mitzuteilen.

25      Nach ständiger Rechtsprechung ist das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand der Situation zu beurteilen, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist befand, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt wurde, und spätere Veränderungen können vom Gerichtshof nicht berücksichtigt werden (Urteil vom 25. April 2024, Kommission/Polen [Whistleblower-Richtlinie], C‑147/23, EU:C:2024:346, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26      Der Gerichtshof hat außerdem wiederholt entschieden, dass die Mitgliedstaaten, wenn eine Richtlinie sie ausdrücklich dazu verpflichtet, zu gewährleisten, dass auf sie in den zu ihrer Umsetzung erforderlichen Vorschriften selbst oder durch einen Hinweis bei deren amtlicher Veröffentlichung Bezug genommen wird, in jedem Fall eine positive Maßnahme zur Umsetzung der betreffenden Richtlinie erlassen müssen (Urteil vom 14. März 2024, Kommission/Lettland [Europäischer Kodex für die elektronische Kommunikation], C‑454/22, EU:C:2024:235, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27      Im vorliegenden Fall richtete die Kommission, nachdem sie festgestellt hatte, dass die Republik Estland ihr nicht die zur Umsetzung der Richtlinie 2019/1937 erforderlichen Vorschriften mitgeteilt hatte, am 15. Juli 2022 eine mit Gründen versehene Stellungnahme an diesen Mitgliedstaat, in der sie ihn aufforderte, den in dieser Stellungnahme genannten Verpflichtungen innerhalb einer Frist von zwei Monaten ab Erhalt der Stellungnahme nachzukommen.

28      Wie sich aus der Klagebeantwortung und der Gegenerwiderung, die die Republik Estland im vorliegenden Verfahren eingereicht hat, ergibt, hatte dieser Mitgliedstaat bei Ablauf dieser Frist jedoch nicht die Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen, die erforderlich sind, um der Richtlinie 2019/1937 nachzukommen, und daher der Kommission diese Vorschriften auch nicht mitgeteilt.

29      Die Republik Estland, die die ihr vorgeworfene Vertragsverletzung nicht bestreitet, weist darauf hin, dass die Verzögerung bei der Umsetzung und damit der Mitteilung der Umsetzungsmaßnahmen u. a. auf die Parlamentswahlen vom 5. März 2023 zurückzuführen sei.

30      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich ein Mitgliedstaat nach ständiger Rechtsprechung nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände seiner internen Rechtsordnung berufen kann, um die Nichteinhaltung von aus dem Unionsrecht folgenden Verpflichtungen – wie die fehlende Umsetzung einer Richtlinie innerhalb der gesetzten Frist – zu rechtfertigen (Urteil vom 25. April 2024, Kommission/Polen [Whistleblower-Richtlinie], C‑147/23, EU:C:2024:346, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31      Außerdem hat der Unionsgesetzgeber, wie schon aus dem Wortlaut von Art. 26 Abs. 1 der Richtlinie 2019/1937 hervorgeht, eine Umsetzungsfrist von zwei Jahren als ausreichend erachtet, um den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, der Erfüllung ihrer Verpflichtungen nachzukommen.

32      Somit ist festzustellen, dass die Republik Estland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 26 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2019/1937 verstoßen hat, dass sie bis zum Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 15. Juli 2022 gesetzten Frist nicht die Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen hat, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie nachzukommen, und diese Vorschriften daher nicht der Kommission mitgeteilt hat.

 Zum Antrag nach Art. 260 Abs. 3 AEUV

 Vorbringen der Parteien

33      Da die Kommission der Ansicht ist, dass die der Republik Estland vorgeworfene Vertragsverletzung zu dem Zeitpunkt, zu dem sie beim Gerichtshof die vorliegende Klage erhoben habe, fortbestanden habe, schlägt sie vor, diesen Mitgliedstaat gemäß Art. 260 Abs. 3 AEUV zur Zahlung eines Pauschalbetrags und eines täglichen Zwangsgelds zu verurteilen.

34      Bei der Festsetzung der Höhe dieser finanziellen Sanktionen stützt sich die Kommission auf die in Abschnitt 2 der Mitteilung von 2023 aufgeführten allgemeinen Grundsätze sowie auf die in den Abschnitten 3 und 4 dieser Mitteilung dargelegte Berechnungsmethode. Die Kommission weist insbesondere darauf hin, dass die Festlegung dieser Höhe auf den grundlegenden Kriterien der Schwere des Verstoßes, seiner Dauer und der erforderlichen Abschreckungswirkung der finanziellen Sanktionen, um einen erneuten Verstoß zu verhindern, beruhen müsse.

35      Was als Erstes die Schwere des Verstoßes betrifft, weist die Kommission darauf hin, dass der gemäß der Mitteilung von 2023 anwendbare Koeffizient zwischen mindestens 1 und höchstens 20 liege. Sie wende gemäß Abschnitt 3.2.2 dieser Mitteilung systematisch einen Schwerekoeffizienten von 10 an, wenn die Vorschriften, die die Umsetzung einer Richtlinie ermöglichten, nicht vollständig mitgeteilt worden seien, da jede Nichtumsetzung einer Richtlinie und jede nicht erfolgte Mitteilung dieser Vorschriften unabhängig von der Art der Bestimmungen der betreffenden Richtlinie denselben Schweregrad habe.

36      Als Zweites führt die Kommission in Bezug auf die Dauer des Verstoßes aus, dass nach Abschnitt 3.3 der Mitteilung von 2023 der Dauerkoeffizient in der Form eines Multiplikators zwischen 1 und 3 ausgedrückt werde und zu einem Satz von 0,10 pro Monat ab dem Tag nach Ablauf der Frist für die Umsetzung der betreffenden Richtlinie bis zur Entscheidung der Kommission, den Gerichtshof anzurufen, berechnet werde. Da die Dauer dieses Zeitraums im vorliegenden Fall 13 Monate betrage, sei der zu berücksichtigende Dauerkoeffizient 1,3.

37      Was als Drittes das Kriterium der erforderlichen Abschreckungswirkung der finanziellen Sanktionen unter Berücksichtigung der Zahlungsfähigkeit des betreffenden Mitgliedstaats betrifft, weist die Kommission darauf hin, dass dieses durch den Faktor „n“ ausgedrückt werde, der für jeden Mitgliedstaat in Punkt 3 des Anhangs I der Mitteilung von 2023 festgelegt sei. Seine Berechnung beruhe auf dem Verhältnis zwischen dem BIP des betreffenden Staates und dem durchschnittlichen nationalen BIP der Union, multipliziert mit dem Verhältnis zwischen der Bevölkerung dieses Staates und der durchschnittlichen nationalen Bevölkerung der Union. Das erste Verhältnis werde zu zwei Dritteln gewichtet, während das zweite Verhältnis zu einem Drittel gewichtet werde. Gemäß diesem Punkt 3 betrage der Faktor „n“ für die Republik Estland 0,06.

38      Somit schlägt die Kommission erstens in Bezug auf die Berechnung des Pauschalbetrags gemäß Abschnitt 4.2 der Mitteilung von 2023 vor, einen Schwerekoeffizienten von 10 anzusetzen und den Faktor „n“ in Höhe von 0,06 anzuwenden. Das Produkt dieser beiden Elemente solle mit dem in Punkt 2 des Anhangs I dieser Mitteilung festgelegten Grundbetrag für den Pauschalbetrag, d. h. 1 000 Euro, multipliziert werden, was einem Betrag von 600 Euro entspreche, der gemäß Abschnitt 4.2.1 dieser Mitteilung mit der Anzahl der Tage zu multiplizieren sei, an denen der Verstoß fortbestanden habe. Die Kommission weist darauf hin, dass die Zahlung dieses Pauschalbetrags unter der Bedingung auferlegt werden solle, dass er 168 000 Euro übersteige, den Mindestpauschalbetrag, der für die Republik Estland in Punkt 5 des Anhangs I der Mitteilung von 2023 festgelegt worden sei.

39      Zweitens schlägt die Kommission in Bezug auf die Festsetzung der Höhe des Zwangsgelds vor, den in Punkt 1 des Anhangs I der Mitteilung von 2023 festgelegten Grundbetrag für das Zwangsgeld in Höhe von 3 000 Euro pro Tag mit dem Schwerekoeffizienten 10, dem Dauerkoeffizienten 1,3 sowie dem Faktor „n“ von 0,06 zu multiplizieren. Daraus ergibt sich ein Zwangsgeld in Höhe von 2 340 Euro pro Tag.

40      Schließlich schlägt die Kommission vor, als Zeitpunkt, zu dem die Zahlungsverpflichtung wirksam werde, den Zeitpunkt der Verkündung des in dieser Rechtssache anstehenden Urteils heranzuziehen.

41      In ihrer Klagebeantwortung weist die Republik Estland darauf hin, dass die Vorschläge der Kommission zur Höhe der finanziellen Sanktionen über das hinausgingen, was erforderlich sei, um die Wirksamkeit und Abschreckungswirkung dieser Sanktionen zu gewährleisten.

42      Hinsichtlich der Höhe des Pauschalbetrags ist der Mitgliedstaat der Ansicht, dass der von der Kommission vorgeschlagene Betrag nicht die tatsächlichen Auswirkungen der Vertragsverletzung auf die öffentlichen und privaten Interessen berücksichtige.

43      Zum einen erlaube die systematische Anwendung eines Schwerekoeffizienten von 10 der Kommission nicht, die bestehenden Rechtsvorschriften zum Schutz von Hinweisgebern zu berücksichtigen. So sähen § 3 des Töölepingu seadus (Arbeitsvertragsgesetz) (RT I, 7. März 2023) und § 13 des Avaliku teenistuse seadus (Gesetz über den öffentlichen Dienst) (RT I, 7. März 2023) ein allgemeines Verbot von Repressalien gegen Hinweisgeber vor, wie es Art. 19 der Richtlinie 2019/1937 vorschreibe. Darüber hinaus werde der Schutz von Hinweisgebern durch § 6 Abs. 2 des Korruptsioonivastane seadus (Gesetz zur Korruptionsbekämpfung) (RT I, 13. April 2021), die §§ 49, 51, 52 und 521 des Rahapesu ja terrorismi tõkestamise seadus (Gesetz zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismus) (RT I, 10. Februar 2023), die §§ 502 und 503 des Finantsinspektsiooni seadus (Gesetz über die Finanzaufsicht) (RT I, 30. November 2022) sowie die §§ 2011, 2012 und 23749 des Väärtpaberituru seadus (Wertpapiermarktgesetz) (RT I, 17. März 2023) gewährleistet. Zudem hätten mehrere Behörden interne Meldekanäle eingerichtet.

44      Zum anderen weist dieser Mitgliedstaat auf seine zahlreichen Bemühungen zur Umsetzung der Richtlinie 2019/1937 hin und führt aus, dass die Prüfung des Entwurfs des Gesetzes zur Umsetzung dieser Richtlinie aufgrund der Parlamentswahlen am 5. März 2023 mehr Zeit in Anspruch genommen habe als ursprünglich vorgesehen.

45      Schließlich macht die Republik Estland geltend, dass angesichts der, was sie betreffe, noch immer äußerst geringen Zahl von Fällen der Nichtumsetzung die Verhinderung einer Wiederholung von Verstößen nicht den von der Kommission geforderten Betrag rechtfertige.

46      Folglich würde die Anwendung eines Schwerekoeffizienten von 5 oder weniger ausreichen, um das Ziel der Überzeugung und Abschreckung zu erreichen.

47      Aus denselben Gründen sollte auch die von der Kommission vorgeschlagene Höhe des Zwangsgelds herabgesetzt werden.

48      In ihrer Erwiderung weist die Kommission darauf hin, dass der von ihr vorgeschlagene Schwerekoeffizient von 10 moderat sei und dem in Abschnitt 3.2.2 der Mitteilung von 2023 vorgesehenen Niveau entspreche.

49      Die verschiedenen von der Republik Estland in ihrer Klagebeantwortung angeführten Vorschriften des nationalen Rechts könnten bei der Bestimmung dieses Koeffizienten nicht berücksichtigt werden, da sie für die Bestimmung des Stands der Umsetzung der Richtlinie 2019/1937 in nationales Recht nicht relevant seien.

50      Diese nationalen Vorschriften seien der Kommission nämlich nicht notifiziert worden. Außerdem enthielten sie keine Bezugnahme auf diese Richtlinie und stellten daher keine positive Umsetzungsmaßnahme dar.

51      Damit genügten die genannten nationalen Vorschriften nicht den Anforderungen an Klarheit und Genauigkeit, die nach der Rechtsprechung erforderlich seien, um die Rechtssicherheit der Begünstigten der durch die Richtlinie 2019/1937 gewährten Rechte und die uneingeschränkte Anwendung von deren Bestimmungen zu gewährleisten.

52      Folglich hält die Kommission an der Höhe der finanziellen Sanktionen, die sie in ihrer Klageschrift vorgeschlagen hat, fest.

53      In ihrer Gegenerwiderung weist die Republik Estland zum einen darauf hin, dass die nationalen Vorschriften, auf die sie sich in ihrer Klagebeantwortung bezogen habe, zeigten, dass die negativen Auswirkungen der ihr vorgeworfenen Vertragsverletzung auf die öffentlichen und privaten Interessen zu relativieren seien. Die Höhe der vorgeschlagenen finanziellen Sanktionen sollte daher den Umständen angepasst werden und in einem angemessenen Verhältnis zu dem begangenen Verstoß stehen. Zum anderen erfordere die Bestimmung des Grades der Überzeugung- und Abschreckungswirkung dieser Sanktionen eine Berücksichtigung der besonderen Umstände jedes Einzelfalls.

54      Insoweit könne die Kommission die automatische Anwendung eines Schwerekoeffizienten nicht mit der Notwendigkeit rechtfertigen, die Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Vielmehr gebiete dieser Grundsatz eine differenzierte Beurteilung je nach dem normativen Inhalt der jeweiligen Richtlinie sowie der besonderen Situation eines jeden Mitgliedstaats.

55      Im vorliegenden Fall verfüge die Republik Estland bereits über sektorspezifische Rechtsvorschriften, die in gewissem Umfang der von der Richtlinie 2019/1937 vorgeschriebenen Schutzregelung entsprächen. Der Mitgliedstaat verweist insoweit auf den vierten Erwägungsgrund dieser Richtlinie, wonach diese die Lücken schließen solle, die sich aus einem fragmentierten und ungleichen Schutzniveau ergeben könnten.

56      Außerdem rechtfertige die begrenzte Zahl der von diesem Mitgliedstaat begangenen Zuwiderhandlungen eine Herabsetzung dieser Beträge, da die Wiederholungsgefahr begrenzt sei.

57      Folglich beantragt die Republik Estland zum einen, die Höhe des Pauschalbetrags durch Multiplikation eines Tagessatzes von 300 Euro mit der Anzahl der Tage ab dem Tag nach dem Ablauf der Umsetzungsfrist bis zu dem Tag, an dem die Vertragsverletzung beendet wird, oder, falls keine Behebung erfolgt, dem Tag der Verkündung des Urteils in der vorliegenden Rechtssache zu bestimmen. Zum anderen beantragt sie, die Höhe des Zwangsgelds ab dem Tag der Verkündung des Urteils in der vorliegenden Rechtssache bis zum Zeitpunkt der vollständigen Umsetzung der Richtlinie 2019/1937 auf 1 170 Euro für jeden Tag des Verzugs festzusetzen.

 Würdigung durch den Gerichtshof

–       Zum Antrag nach Art. 260 Abs. 3 AEUV

58      Art. 260 Abs. 3 Unterabs. 1 AEUV sieht vor, dass die Kommission, wenn sie beim Gerichtshof Klage nach Art. 258 AEUV erhebt, weil sie der Auffassung ist, dass der betreffende Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtung verstoßen hat, die zur Umsetzung einer gemäß einem Gesetzgebungsverfahren erlassenen Richtlinie erforderlichen Vorschriften mitzuteilen, dann, wenn sie dies für zweckmäßig hält, die Höhe des von diesem Mitgliedstaat zu zahlenden Pauschalbetrags oder Zwangsgelds benennen kann, die sie den Umständen nach für angemessen hält. Gemäß Art. 260 Abs. 3 Unterabs. 2 AEUV kann der Gerichtshof, wenn er einen Verstoß feststellt, gegen den betreffenden Mitgliedstaat die Zahlung eines Pauschalbetrags oder eines Zwangsgelds bis zur Höhe des von der Kommission genannten Betrags verhängen, wobei die Zahlungsverpflichtung ab dem vom Gerichtshof in seinem Urteil festgelegten Zeitpunkt gilt.

59      Da, wie sich aus Rn. 32 des vorliegenden Urteils ergibt, feststeht, dass die Republik Estland bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 15. Juli 2022 gesetzten Frist die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um die Bestimmungen der Richtlinie 2019/1937 in ihr nationales Recht umzusetzen, weder erlassen noch folglich der Kommission mitgeteilt hatte, fällt die somit festgestellte Vertragsverletzung in den Anwendungsbereich von Art. 260 Abs. 3 AEUV.

60      Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass mit dem in Art. 260 Abs. 3 AEUV vorgesehenen Mechanismus nicht nur das Ziel verfolgt wird, die Mitgliedstaaten dazu anzuhalten, innerhalb kürzester Zeit eine Vertragsverletzung zu beenden, die ohne eine solche Maßnahme tendenziell fortbestehen würde, sondern auch das Ziel, das Verfahren zur Verhängung finanzieller Sanktionen bei Verletzungen der Pflicht, nationale Vorschriften zur Umsetzung einer gemäß einem Gesetzgebungsverfahren erlassenen Richtlinie mitzuteilen, zu vereinfachen und zu beschleunigen (Urteil vom 25. April 2024, Kommission/Polen [Whistleblower-Richtlinie], C‑147/23, EU:C:2024:346, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

61      Um dieses Ziel zu erreichen, sieht Art. 260 Abs. 3 AEUV die Verhängung zweier Arten von finanziellen Sanktionen vor, nämlich eines Pauschalbetrags und eines täglichen Zwangsgelds.

62      Während die Verhängung eines täglichen Zwangsgelds besonders geeignet erscheint, um einen Mitgliedstaat dazu anzuhalten, eine Vertragsverletzung innerhalb kürzester Zeit zu beenden, beruht die Verurteilung zur Zahlung eines Pauschalbetrags eher auf der Beurteilung der Folgen einer Nichterfüllung der Verpflichtungen des betreffenden Mitgliedstaats für die vorliegenden privaten und öffentlichen Interessen, insbesondere wenn die Vertragsverletzung über einen längeren Zeitraum fortbestanden hat (Urteil vom 25. April 2024, Kommission/Polen [Whistleblower-Richtlinie], C‑147/23, EU:C:2024:346, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

63      Die Kommission begründet die Art und die Höhe der beantragten finanziellen Sanktionen insoweit unter Berücksichtigung der von ihr erlassenen Leitlinien, wie sie in ihren Mitteilungen enthalten sind; diese binden den Gerichtshof zwar nicht, tragen aber dazu bei, die Transparenz, Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit des Vorgehens der Kommission zu gewährleisten (Urteil vom 25. April 2024, Kommission/Polen [Whistleblower-Richtlinie], C‑147/23, EU:C:2024:346, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).

64      Im vorliegenden Fall hat sich die Kommission auf die Mitteilung von 2023 gestützt, um ihren Antrag auf Verurteilung der Republik Estland zur Zahlung eines täglichen Zwangsgeldes und eines Pauschalbetrags zu begründen und deren Höhe festzusetzen.

65      Was die Zweckmäßigkeit der Verhängung solcher finanzieller Sanktionen betrifft, so hat der Gerichtshof nach ständiger Rechtsprechung in jeder Rechtssache und anhand der Umstände des Einzelfalls, mit dem er befasst ist, sowie nach Maßgabe des ihm erforderlich erscheinenden Grades an Überzeugungs- und Abschreckungswirkung die angemessenen finanziellen Sanktionen zu bestimmen, um insbesondere die Wiederholung ähnlicher Verstöße gegen das Unionsrecht zu verhindern (Urteil vom 25. April 2024, Kommission/Polen [Whistleblower-Richtlinie], C‑147/23, EU:C:2024:346, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).

66      Was erstens die Verhängung eines Pauschalbetrags betrifft, deuten ungeachtet dessen, dass die Republik Estland die Dienststellen der Kommission über den Stand des Verfahrens zur Umsetzung der Bestimmungen der Richtlinie 2019/1937 in nationales Recht auf dem Laufenden gehalten hat, alle rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkte der festgestellten Vertragsverletzung darauf hin, dass die wirksame Verhinderung einer zukünftigen Wiederholung entsprechender Verstöße gegen das Unionsrecht den Erlass einer abschreckenden Maßnahme wie der Verhängung eines Pauschalbetrags erfordern kann. Die Republik Estland hatte nämlich keine Vorschrift erlassen, die die Umsetzung dieser Richtlinie bis zum Ablauf der in Art. 26 Abs. 1 der Richtlinie 2019/1937 vorgesehenen Frist ermöglicht hätte. Außerdem wurde der Kommission keine dieser Vorschriften bis zum Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 15. Juli 2022 gesetzten Frist und nicht einmal zum Zeitpunkt der Prüfung des Sachverhalts durch den Gerichtshof notifiziert.

67      Zweitens ist, was die Verhängung eines Zwangsgelds betrifft, eine solche Sanktion grundsätzlich nur insoweit geboten, als die Vertragsverletzung, die mit dem Zwangsgeld geahndet werden soll, bis zur Prüfung des Sachverhalts durch den Gerichtshof fortbesteht, wobei davon auszugehen ist, dass diese Prüfung zum Zeitpunkt des Abschlusses des Verfahrens stattfindet. Es ist klarzustellen, dass in einem Fall, in dem wie hier keine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, das insoweit zu berücksichtigende Datum dasjenige des Abschlusses des schriftlichen Verfahrens ist (Urteil vom 25. April 2024, Kommission/Polen [Whistleblower-Richtlinie], C‑147/23, EU:C:2024:346, Rn. 64).

68      Um zu bestimmen, ob im vorliegenden Fall die Verhängung eines Zwangsgelds in Betracht kommt, ist mithin zu prüfen, ob die in Rn. 32 des vorliegenden Urteils festgestellte Vertragsverletzung bis zum Zeitpunkt des Abschlusses des schriftlichen Verfahrens (14. August 2023) angedauert hat.

69      Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass die Republik Estland bis zu diesem Zeitpunkt die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um die Richtlinie 2019/1937 in ihr innerstaatliches Recht umzusetzen, weder erlassen noch folglich mitgeteilt hatte. Somit ist festzustellen, dass dieser Mitgliedstaat seine Vertragsverletzung bis zur Prüfung des Sachverhalts durch den Gerichtshof fortgesetzt hat.

70      Unter diesen Umständen ist die Verurteilung der Republik Estland zur Zahlung eines täglichen Zwangsgelds, wie von der Kommission beantragt, ein angemessenes finanzielles Mittel, um sicherzustellen, dass dieser Mitgliedstaat die festgestellte Vertragsverletzung schnellstmöglich beendet und seinen Verpflichtungen aus der Richtlinie 2019/1937 nachkommt. Da jedoch nicht auszuschließen ist, dass die Umsetzung dieser Richtlinie zum Zeitpunkt der Verkündung des Urteils in der vorliegenden Rechtssache vollständig abgeschlossen ist, ist die Verhängung eines Zwangsgelds nur insoweit angemessen, als die Vertragsverletzung zum Zeitpunkt dieser Verkündung noch andauert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. April 2024, Kommission/Polen [Whistleblower-Richtlinie], C‑147/23, EU:C:2024:346, Rn. 66).

–       Zur Höhe der finanziellen Sanktionen

71      Was die Berechnung der von der Kommission geforderten Sanktionen betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 260 Abs. 3 AEUV nur der Gerichtshof befugt ist, gegen einen Mitgliedstaat eine finanzielle Sanktion zu verhängen. Im Rahmen eines auf der Grundlage dieser Bestimmung eingeleiteten Verfahrens verfügt der Gerichtshof jedoch nur über ein begrenztes Ermessen, da im Fall der Feststellung einer Vertragsverletzung durch den Gerichtshof dieser hinsichtlich der Art und des Höchstbetrags der Sanktion, die er verhängen kann, an die Vorschläge der Kommission gebunden ist (Urteil vom 25. April 2024, Kommission/Polen [Whistleblower-Richtlinie], C‑147/23, EU:C:2024:346, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).

72      Bei der Ausübung seines diesbezüglichen Ermessens innerhalb des Rahmens der Vorschläge der Kommission ist es Sache des Gerichtshofs, die Höhe der gegen einen Mitgliedstaat gemäß Art. 260 Abs. 3 AEUV verhängten finanziellen Sanktionen so festzusetzen, dass sie zum einen den Umständen angepasst ist und zum anderen in angemessenem Verhältnis zu dem begangenen Verstoß steht. Zu den insoweit relevanten Faktoren zählen u. a. Aspekte wie die Schwere der festgestellten Vertragsverletzung, der Zeitraum, in dem sie fortbestanden hat, und die Zahlungsfähigkeit des betroffenen Mitgliedstaats (Urteil vom 25. April 2024, Kommission/Polen [Whistleblower-Richtlinie], C‑147/23, EU:C:2024:346, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung).

73      Es ist auch darauf hinzuweisen, dass im Rahmen dieses Ermessens Leitlinien wie die Mitteilungen der Kommission den Gerichtshof nicht binden, aber dazu beitragen, die Transparenz, Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit des Handelns der Kommission selbst zu gewährleisten, wenn dieses Organ dem Gerichtshof Vorschläge unterbreitet (Urteil vom 25. April 2024, Kommission/Polen [Whistleblower-Richtlinie], C‑147/23, EU:C:2024:346, Rn. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung).

74      Im vorliegenden Fall hat sich die Kommission bei der Festlegung der Höhe der erforderlichen finanziellen Sanktionen auf die Mitteilung von 2023 gestützt.

75      Was als Erstes die Schwere des festgestellten Verstoßes betrifft, so geht aus Abschnitt 3.2 der Mitteilung von 2023 hervor, dass nach Auffassung der Kommission das Versäumnis, die Vorschriften zur Umsetzung einer im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens erlassenen Richtlinie mitzuteilen, immer als schwerwiegend angesehen wird. Daher rechtfertige dieser Verstoß die automatische Anwendung eines Schwerekoeffizienten von 10.

76      Die Republik Estland beanstandet die Höhe dieses Koeffizienten und den Automatismus seiner Anwendung im vorliegenden Fall.

77      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Pflicht, Vorschriften zu erlassen, um die vollständige Umsetzung einer Richtlinie sicherzustellen, und die Pflicht, diese Vorschriften der Kommission mitzuteilen, wesentliche Pflichten der Mitgliedstaaten zur Gewährleistung der vollen Wirksamkeit des Unionsrechts darstellen und dass die Verletzung dieser Pflichten daher mit Sicherheit als gewichtig zu erachten ist (Urteil vom 25. April 2024, Kommission/Polen [Whistleblower-Richtlinie], C‑147/23, EU:C:2024:346, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).

78      Im vorliegenden Fall ist hervorzuheben, dass die Richtlinie 2019/1937 ein entscheidendes Instrument des Unionsrechts ist, da sie nach ihrem Art. 1 in Verbindung mit ihrem ersten Erwägungsgrund gemeinsame Mindeststandards festlegt, die ein hohes Maß an ausgewogenem und effizientem Schutz von Personen gewährleisten, die Verstöße gegen dieses Recht in Bereichen melden, in denen solche Verstöße das Allgemeininteresse besonders beeinträchtigen können. Durch die Schaffung eines Systems zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht in einem beruflichen Kontext melden, trägt diese Richtlinie nämlich dazu bei, Verletzungen des öffentlichen Interesses in besonders sensiblen Bereichen wie der öffentlichen Auftragsvergabe, der Verhinderung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung, dem Umweltschutz oder den finanziellen Interessen der Union zu verhindern. So sehen die Bestimmungen der genannten Richtlinie die Verpflichtung für juristische Personen sowohl des öffentlichen als auch des privaten Sektors vor, interne Meldekanäle sowie Verfahren für die Entgegennahme von Meldungen und entsprechende Folgemaßnahmen einzurichten, wobei die Rechte der Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, sowie die Bedingungen, unter denen sie den so konzipierten Schutz in Anspruch nehmen können, gewährleistet werden müssen (Urteil vom 25. April 2024, Kommission/Polen [Whistleblower-Richtlinie], C‑147/23, EU:C:2024:346, Rn. 73).

79      Die unterbliebene Umsetzung der Bestimmungen der Richtlinie 2019/1937 innerhalb der gesetzten Frist beeinträchtigt jedoch zwangsläufig das Unionsrecht und seine einheitliche und wirksame Anwendung, da Verstöße gegen dieses Recht möglicherweise nicht gemeldet werden, wenn Personen, die von solchen Verstößen Kenntnis haben, keinen Schutz vor möglichen Repressalien genießen (Urteil vom 25. April 2024, Kommission/Polen [Whistleblower-Richtlinie], C‑147/23, EU:C:2024:346, Rn. 74).

80      Allerdings muss die Höhe der finanziellen Sanktionen, die gegen einen Mitgliedstaat gemäß Art. 260 Abs. 3 AEUV verhängt werden, den Umständen angepasst sein und in einem angemessenen Verhältnis zu dem begangenen Verstoß stehen (Urteil vom 25. April 2024, Kommission/Polen [Whistleblower-Richtlinie], C‑147/23, EU:C:2024:346, Rn. 75), wie in Rn. 72 des vorliegenden Urteils ausgeführt.

81      Aus diesem Grund hat der Gerichtshof entschieden, dass die automatische Anwendung desselben Schwerekoeffizienten in allen Fällen, in denen eine Richtlinie nicht vollständig umgesetzt worden ist und in denen daher die Maßnahmen zur Umsetzung dieser Richtlinie nicht mitgeteilt werden, zwangsläufig die Anpassung der Höhe der finanziellen Sanktionen an die Umstände, die den Verstoß kennzeichnen, und die Verhängung verhältnismäßiger Sanktionen verhindert (Urteil vom 25. April 2024, Kommission/Polen [Whistleblower-Richtlinie], C‑147/23, EU:C:2024:346, Rn. 76).

82      Insoweit hat der Gerichtshof klargestellt, dass die Kommission aufgrund der Annahme, dass die Verletzung der Pflicht zur Mitteilung der Maßnahmen zur Umsetzung einer Richtlinie unabhängig von der betreffenden Richtlinie als gleich schwerwiegend anzusehen ist, nicht in der Lage ist, die finanziellen Sanktionen entsprechend den Auswirkungen der Nichterfüllung dieser Pflicht auf private und öffentliche Interessen anzupassen, wie es in Abschnitt 3.2.2 der Mitteilung von 2023 vorgesehen ist (Urteil vom 25. April 2024, Kommission/Polen [Whistleblower-Richtlinie], C‑147/23, EU:C:2024:346, Rn. 77).

83      Im vorliegenden Fall hat die Republik Estland in ihrer Klagebeantwortung geltend gemacht, dass ihre Rechtsvorschriften bereits bestimmte Vorschriften – die in Rn. 43 des vorliegenden Urteils aufgeführt sind – zum Schutz von Personen, die Rechtsverstöße meldeten, umfasst hätten, die den Anforderungen der Richtlinie 2019/1937 entsprächen.

84      So sähen § 3 des Arbeitsvertragsgesetzes und § 13 des Gesetzes über den öffentlichen Dienst ein allgemeines Verbot von Repressalien gegen Hinweisgeber vor, wie es Art. 19 der Richtlinie 2019/1937 vorschreibe. Darüber hinaus werde der Schutz von Hinweisgebern durch § 6 Abs. 2 des Gesetzes zur Korruptionsbekämpfung, die §§ 49, 51, 52 und 521 des Gesetzes zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismus, die §§ 502 und 503 des Gesetzes über die Finanzaufsicht sowie die §§ 2011, 2012 und 23749 des Wertpapiermarktgesetzes gewährleistet. Zudem hätten mehrere Behörden interne Meldekanäle eingerichtet.

85      Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass nicht nachgewiesen worden ist, dass die Folgen der im vorliegenden Fall festgestellten Vertragsverletzung für die privaten und öffentlichen Interessen so negativ sind wie im Fall einer vollständigen Nichtumsetzung der Richtlinie 2019/1937. Soweit die Kommission geltend macht, dass diese nationalen Rechtsvorschriften bei der Beurteilung der Höhe des herangezogenen Schwerekoeffizienten nicht zu berücksichtigen seien, da sie ihr nicht notifiziert worden seien, genügt die Feststellung, dass die fehlende Notifizierung dieser Rechtsvorschriften für sich genommen keinen Einfluss auf die tatsächlichen Auswirkungen dieser Rechtsvorschriften auf diese Interessen haben kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. April 2024, Kommission/Polen [Whistleblower-Richtlinie], C‑147/23, EU:C:2024:346, Rn. 92).

86      Allerdings hat die Republik Estland in ihrer Klagebeantwortung selbst eingeräumt, dass die Vorschriften zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht meldeten, in der estnischen Rechtsordnung verstreut gewesen seien und entgegen den Anforderungen von Art. 26 Abs. 3 der Richtlinie 2019/1937 keinen ausdrücklichen Hinweis auf den Schutz dieser Personen enthielten.

87      Das Fehlen spezifischer und klarer Vorschriften für den Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, wie dieser Schutz in der Richtlinie 2019/1937 vorgesehen ist, behindert jedoch einen wirksamen Schutz dieser Personen und ist daher geeignet, die einheitliche und wirksame Anwendung dieses Rechts in den von dieser Richtlinie erfassten Bereichen in Frage zu stellen (Urteil vom 25. April 2024, Kommission/Polen [Whistleblower-Richtlinie], C‑147/23, EU:C:2024:346, Rn. 94).

88      Wie in Rn. 78 des vorliegenden Urteils ausgeführt, trägt die Richtlinie 2019/1937 nämlich durch die Schaffung eines hohen Maßes an Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht in einem beruflichen Kontext melden, dazu bei, Beeinträchtigungen des öffentlichen Interesses in besonders sensiblen Bereichen wie der öffentlichen Auftragsvergabe, der Verhinderung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung, dem Schutz der Umwelt oder der finanziellen Interessen der Union zu verhindern (Urteil vom 25. April 2024, Kommission/Polen [Whistleblower-Richtlinie], C‑147/23, EU:C:2024:346, Rn. 95).

89      Wie in Rn. 79 des vorliegenden Urteils ausgeführt, werden jedoch Personen, die Kenntnis von einem Verstoß gegen das Unionsrecht in diesen Bereichen haben, mangels eines wirksamen Schutzes möglicherweise davon abgehalten, diesen Verstoß zu melden, da sie sich hierdurch Repressalien aussetzen könnten (Urteil vom 25. April 2024, Kommission/Polen [Whistleblower-Richtlinie], C‑147/23, EU:C:2024:346, Rn. 96).

90      In Anbetracht des in Art. 1 der Richtlinie 2019/1937 genannten Ziels und des ersten Erwägungsgrundes dieser Richtlinie wiegt das Versäumnis, die für die vollständige und genaue Umsetzung dieser Richtlinie erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, besonders schwer (Urteil vom 25. April 2024, Kommission/Polen [Whistleblower-Richtlinie], C‑147/23, EU:C:2024:346, Rn. 97).

91      Es ist außerdem darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass gegen die Republik Estland erstmals ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 260 Abs. 3 AEUV eingeleitet worden ist, bei der Bestimmung der Höhe des gegen sie zu verhängenden Pauschalbetrags nicht berücksichtigt werden kann. Das frühere Verhalten eines Mitgliedstaats steht nämlich in keinem Zusammenhang mit den Folgen der Nichtumsetzung der betreffenden Richtlinie für private und öffentliche Interessen.

92      Als Zweites ist im Zusammenhang mit der Beurteilung der Dauer des Verstoßes zum einen darauf hinzuweisen, dass in Bezug auf den Beginn des Zeitraums, der bei der Festsetzung des Pauschalbetrags zu berücksichtigen ist, für die Bemessung der Dauer der betreffenden Vertragsverletzung nicht auf den Zeitpunkt des Ablaufs der Frist, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme der Kommission gesetzt worden ist, sondern auf den Zeitpunkt des Ablaufs der in der fraglichen Richtlinie vorgesehenen Umsetzungsfrist, d. h. den 17. Dezember 2021, abzustellen ist (Urteil vom 25. April 2024, Kommission/Polen [Whistleblower-Richtlinie], C‑147/23, EU:C:2024:346, Rn. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung).

93      Zum anderen ist bei der Festsetzung eines Zwangsgelds die Dauer des Verstoßes unter Heranziehung des Zeitpunkts zu bemessen, zu dem der Gerichtshof den Sachverhalt prüft, und nicht etwa des Zeitpunkts, zu dem die Kommission ihn damit befasst (Urteil vom 8. Juli 2019, Kommission/Belgien [Art. 260 Abs. 3 AEUV – Hochgeschwindigkeitsnetze], C‑543/17, EU:C:2019:573, Rn. 87).

94      Es steht jedoch fest, dass die Republik Estland bei Ablauf der in Art. 26 Abs. 1 der Richtlinie 2019/1937 vorgesehenen Umsetzungsfrist, d. h. am 17. Dezember 2021, nicht die Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen hatte, die erforderlich sind, um diese Richtlinie umzusetzen, und diese Vorschriften somit der Kommission entgegen Art. 26 Abs. 3 dieser Richtlinie auch nicht mitgeteilt hatte. Daraus folgt, dass die in Rede stehende Vertragsverletzung, die am Tag der Prüfung des Sachverhalts durch den Gerichtshof nicht beendet war, seit drei Jahren andauert.

95      Als Drittes geht in Bezug auf die Zahlungsfähigkeit der Republik Estland aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass unbeschadet der Möglichkeit der Kommission, auf einer Vielzahl von Kriterien beruhende finanzielle Sanktionen vorzuschlagen, um es u. a. zu ermöglichen, eine angemessene Differenzierung zwischen den verschiedenen Mitgliedstaaten beizubehalten, das BIP dieses Staates als vorrangiger Faktor bei der Beurteilung seiner Zahlungsfähigkeit und bei der Festsetzung hinreichend abschreckender und verhältnismäßiger Sanktionen zu berücksichtigen ist, um zukünftigen ähnlichen Verstößen gegen das Unionsrecht wirksam vorzubeugen (Urteil vom 25. April 2024, Kommission/Polen [Whistleblower-Richtlinie], C‑147/23, EU:C:2024:346, Rn. 81 und die dort angeführte Rechtsprechung).

96      Insoweit hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass die jüngste Entwicklung des BIP des Mitgliedstaats zu berücksichtigen ist, wie sie sich zum Zeitpunkt der Prüfung des Sachverhalts durch den Gerichtshof darstellt (Urteil vom 25. April 2024, Kommission/Polen [Whistleblower-Richtlinie], C‑147/23, EU:C:2024:346, Rn. 82 und die dort angeführte Rechtsprechung).

97      Im vorliegenden Fall ist der Faktor „n“, der die Zahlungsfähigkeit des betreffenden Mitgliedstaats im Verhältnis zur Zahlungsfähigkeit der anderen Mitgliedstaaten darstellt und von der Kommission gemäß den Abschnitten 3.4 und 4.2 der Mitteilung von 2023 angewendet wird, definiert als gewichteter geometrischer Mittelwert des BIP des betreffenden Mitgliedstaats im Verhältnis zum durchschnittlichen BIP der Mitgliedstaaten, gewichtet mit zwei Dritteln bei der Berechnung des Faktors „n“, und der Bevölkerung des betreffenden Mitgliedstaats im Verhältnis zur durchschnittlichen Bevölkerung der Mitgliedstaaten, gewichtet mit einem Drittel bei der Berechnung des Faktors „n“, wie aus der in Rn. 9 des vorliegenden Urteils angegebenen Gleichung hervorgeht. Die Kommission rechtfertigt diese Methode zur Berechnung des Faktors „n“ sowohl mit dem Ziel, eine angemessene Abweichung zwischen den Faktoren „n“ der Mitgliedstaaten im Vergleich zu einer Berechnung, die ausschließlich auf dem BIP der Mitgliedstaaten beruhe, zu ermöglichen, als auch mit dem Ziel, eine gewisse Stabilität bei der Berechnung des Faktors „n“ zu gewährleisten, da die Bevölkerungszahl auf jährlicher Basis wahrscheinlich nicht stark schwanken werde (Urteil vom 25. April 2024, Kommission/Polen [Whistleblower-Richtlinie], C‑147/23, EU:C:2024:346, Rn. 83 und die dort angeführte Rechtsprechung).

98      Der Gerichtshof hat jedoch entschieden, dass die Bestimmung der Zahlungsfähigkeit des betreffenden Mitgliedstaats in die Methode der Berechnung des Faktors „n“ nicht die Berücksichtigung eines demografischen Kriteriums gemäß den in den Abschnitten 3.4 und 4.2 der Mitteilung von 2023 vorgesehenen Modalitäten einbeziehen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. April 2024, Kommission/Polen [Whistleblower-Richtlinie], C‑147/23, EU:C:2024:346, Rn. 84 bis 86).

99      Daher ist nach der in Rn. 95 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung und mangels eines einschlägigen Kriteriums, das die Kommission vorgebracht hätte, um eine stabile Berechnung zu gewährleisten und eine angemessene Abweichung zwischen den Faktoren „n“ der Mitgliedstaaten beizubehalten, die Höhe der finanziellen Sanktionen unter Berücksichtigung des durchschnittlichen BIP der Republik Estland der letzten drei Jahre festzusetzen.

100    Nach alledem ist unter Berücksichtigung des Ermessens, das dem Gerichtshof durch Art. 260 Abs. 3 AEUV eingeräumt wird, wonach er bei finanziellen Sanktionen, deren Zahlung er anordnet, keinen Betrag festsetzen darf, der über den von der Kommission genannten Betrag hinausgeht, zum einen festzustellen, dass die wirksame Verhinderung der zukünftigen Wiederholung von Verstößen, die demjenigen entsprechen, der sich aus der Verletzung von Art. 26 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2019/1937 ergibt und der die volle Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt, die Verhängung eines Pauschalbetrags erfordert, dessen Höhe auf 500 000 Euro festzusetzen ist, und zum anderen, dass die Republik Estland für den Fall, dass die in Rn. 32 des vorliegenden Urteils festgestellte Vertragsverletzung am Tag der Verkündung des Urteils in der vorliegenden Rechtssache noch andauert, zu verurteilen ist, an die Kommission ab diesem Tag und bis zur Beendigung dieser Vertragsverletzung durch diesen Mitgliedstaat ein tägliches Zwangsgeld in Höhe von 1 500 Euro zu zahlen.

 Kosten

101    Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission die Verurteilung der Republik Estland beantragt hat und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr neben ihren eigenen Kosten die Kosten aufzuerlegen, die der Kommission entstanden sind.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Republik Estland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 26 Abs. 1 und 3 der Richtlinie (EU) 2019/1937 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2019 zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, verstoßen, dass sie bis zum Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme der Europäischen Kommission vom 15. Juli 2022 gesetzten Frist die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie nachzukommen, nicht erlassen und diese Vorschriften daher der Kommission nicht mitgeteilt hat.

2.      Die Republik Estland hat dadurch, dass sie zum Zeitpunkt der Prüfung des Sachverhalts durch den Gerichtshof die Maßnahmen, die zur Umsetzung der Bestimmungen der Richtlinie 2019/1937 in ihr innerstaatliches Recht erforderlich sind, weder erlassen noch folglich diese Maßnahmen der Europäischen Kommission mitgeteilt hat, ihre Vertragsverletzung fortgesetzt.

3.      Die Republik Estland wird verurteilt, an die Europäische Kommission

–        einen Pauschalbetrag in Höhe von 500 000 Euro zu zahlen;

–        in dem Fall, dass die in Nr. 1 des Tenors festgestellte Vertragsverletzung am Tag der Verkündung des vorliegenden Urteils noch andauert, ab diesem Tag ein tägliches Zwangsgeld in Höhe von 1 500 Euro zu zahlen, bis dieser Mitgliedstaat die Vertragsverletzung beendet hat.

4.      Die Republik Estland trägt neben ihren eigenen Kosten die der Europäischen Kommission entstandenen Kosten.

Unterschriften



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