Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTS (Sechste erweiterte Kammer)
13. November 2024(* )
„ Verbraucherschutz – Stoffe, deren Verwendung Beschränkungen unterliegt, die verboten sind oder die von der Union geprüft werden – Art. 8 Abs. 1 und 2 und Anhang III der Verordnung (EG) Nr. 1925/2006 – Verbot von Zubereitungen aus Blättern von Aloe‑Arten, die Hydroxyanthracen-Derivate enthalten – Art. 1 Nr. 1 dritter Eintrag der Verordnung (EU) 2021/468 “
In der Rechtssache T‑189/21,
Aloe Vera of Europe BV mit Sitz in Amsterdam (Niederlande), vertreten durch Rechtsanwälte B. Van Vooren und P. Bogaert,
Klägerin,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch B. Rous Demiri, I. Galindo Martín und K. Mifsud-Bonnici als Bevollmächtigte,
Beklagte,
erlässt
DAS GERICHT (Sechste erweiterte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin M. J. Costeira, der Richterin M. Kancheva, der Richter U. Öberg (Berichterstatter) und P. Zilgalvis sowie der Richterin E. Tichy‑Fisslberger,
Kanzler: M. Zwozdziak-Carbonne, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
auf die mündliche Verhandlung vom 26. Juni 2023
folgendes
Urteil
1 Mit ihrer Klage nach Art. 263 AEUV begehrt die Klägerin, die Aloe Vera of Europe BV, die Nichtigerklärung der Verordnung (EU) 2021/468 der Kommission vom 18. März 2021 zur Änderung des Anhangs III der Verordnung (EG) Nr. 1925/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf botanische Arten, die Hydroxyanthracen-Derivate enthalten (ABl. 2021, L 96, S. 6, im Folgenden: angefochtene Verordnung), soweit die Europäische Kommission mit Art. 1 Nr. 1 dritter Eintrag dieser Verordnung „Zubereitungen aus Blättern von Aloe -Arten, die Hydroxyanthracen-Derivate enthalten“, in Anhang III Teil A der Verordnung (EG) Nr. 1925/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Zusatz von Vitaminen und Mineralstoffen sowie bestimmten anderen Stoffen zu Lebensmitteln (ABl. 2006, L 404, S. 26) aufgenommen hat.
Vorgeschichte des Rechtsstreits
2 Die Klägerin, eine Gesellschaft niederländischen Rechts, ist eine der europäischen Tochtergesellschaften des internationalen Konzerns Aloe vera of America, Inc. Dieser Konzern ist auf Produkte aus Aloe Vera spezialisiert. Die Klägerin verkauft Gel aus der Aloe-Vera -Pflanze in Form von Getränken, die aus dem Gelee aus dem Inneren des Aloe-Vera -Blatts hergestellt werden (im Folgenden: Produkte der Klägerin).
3 Aloe Vera ist eine Aloe -Art, deren Blatt aus drei Schichten besteht, nämlich erstens aus einer dicken grünen Außenhaut, die die Pflanze vor Witterungseinflüssen schützt, zweitens aus einer Zwischenschicht aus einem gelblichen Latex, die Hydroxyanthracen-Derivate (im Folgenden HAD) enthält, und drittens aus einer feuchten, transparenten Innenschicht aus gallertartiger Flüssigkeit, die die Nährstoffe der Pflanze enthält (im Folgenden: Gel aus dem Inneren des Aloe-Vera -Blatts).
4 HAD bilden eine Kategorie von Chemikalien mit heterogener und unterschiedlicher Struktur. Sie kommen in verschiedenen botanischen Arten natürlich vor, wie z. B. in bestimmten Aloe -Arten sowie in bestimmten Obst- und Gemüsesorten. Sie werden wegen ihrer abführenden Wirkung weithin in Nahrungsergänzungsmitteln und pflanzlichen Arzneimitteln verwendet.
5 Am 29. Juni 2016 ersuchte die Kommission die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA), die verfügbaren Informationen über die Sicherheit der Verwendung von HAD aus sämtlichen Quellen in Lebensmitteln auszuwerten. Sie ersuchte sie ferner darum, eine tägliche Aufnahmemenge für HAD zu empfehlen, die hinsichtlich möglicher gesundheitsschädlicher Auswirkungen auf die allgemeine Bevölkerung und gegebenenfalls auf schutzbedürftige Untergruppen der Bevölkerung unbedenklich ist.
6 Dabei stützte sich die Kommission insbesondere auf Art. 8 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1925/2006 sowie auf die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 307/2012 der Kommission vom 11. April 2012 zur Festlegung von Durchführungsbestimmungen für die Anwendung von Artikel 8 der Verordnung Nr. 1925/2006 (ABl. 2012, L 102, S. 2).
7 Am 22. November 2017 gab die EFSA eine wissenschaftliche Stellungnahme mit dem Titel „Safety of hydroxyanthracene derivates for use in food“ (Sicherheit von Hydroxyanthracen-Derivaten zur Verwendung in Lebensmitteln, im Folgenden: wissenschaftliche Stellungnahme von 2017) ab, in der sie zu folgendem Schluss kam:
„Hydroxyanthracene, Emodin, Aloe-Emodin und der strukturverwandte Stoff Danthron [haben sich] als in vitro genotoxisch erwiesen. Die Aloe-Extrakte haben sich ebenfalls als in vitro genotoxisch erwiesen, was nach den Schlussfolgerungen der Sachverständigengruppe höchstwahrscheinlich – zumindest teilweise – auf die darin enthaltenen [HAD] zurückzuführen ist. Die Sachverständigengruppe hat allerdings darüber hinaus festgestellt, dass Aloe-Extrakte, die arm an Hydroxyanthracenen sind, einen oder mehrere zusätzliche genotoxische Bestandteile enthielten.
Darüber hinaus ist nachgewiesen worden, dass Aloe-Emodin bei Mäusen genotoxisch war, dass Ganzblatt-Aloe-Extrakt karzinogen für Ratten war und dass es Beweise für die Karzinogenität von Danthron, einem strukturellen Analogon, bei beiden Nagetierarten gab. Da Aloe-Emodin und Emodin in den Extrakten enthalten sein können, ist die Sachverständigengruppe zu dem Schluss gekommen, dass [HAD] als genotoxisch und karzinogen anzusehen sind, es sei denn, es liegen spezifische gegenteilige Daten vor, wie im Fall von Rhein, und dass Sicherheitsbedenken für Extrakte bestehen, die [HAD] enthalten, obwohl weiterhin Unsicherheit besteht. Die Sachverständigengruppe war nicht in der Lage, eine Empfehlung zur täglichen Aufnahme von [HAD] abzugeben, die hinsichtlich der gesundheitsschädlichen Auswirkungen auf die Bevölkerung im Allgemeinen und gegebenenfalls auf schutzbedürftige Untergruppen der Bevölkerung unbedenklich ist.“
8 Auf der Grundlage der Schlussfolgerungen der wissenschaftlichen Stellungnahme von 2017 erstellte die Kommission im Hinblick auf eine Erörterung mit einer Expertengruppe für Nahrungsergänzungsmittel und angereicherte Lebensmittel am 22. Juni 2018 einen ersten Verordnungsvorschlag. Darin schlug sie u. a. vor, auf der Grundlage von Art. 8 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1925/2006 „Aloeblatt und Aloeblattzubereitungen aus Aloe-Arten, die in Nahrungsergänzungsmitteln als Abführmittel verwendet werden“, in die Liste der Stoffe, deren Zusatz zu Lebensmitteln oder Verwendung in Lebensmitteln verboten ist, in Anhang III Teil A der Verordnung Nr. 1925/2006 aufzunehmen.
9 Am 4. März 2020 wurde ein Verordnungsentwurf der öffentlichen Konsultation unterzogen, um allen Verfahrensbeteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Dieser sah u. a. vor, den Zusatz von „Extrakten aus Blättern von Aloe-Arten, die [HAD] enthalten“, zu Lebensmitteln bzw. deren Verwendung bei der Herstellung von Lebensmitteln zu verbieten.
10 Am 10. Juni 2020 erstellte die Kommission einen zusammenfassenden Bericht über die abgehaltene Sitzung mit der Fachgruppe „Allgemeines Lebensmittelrecht“ des Ständigen Ausschusses für die Lebensmittelkette und Tiergesundheit (im Folgenden: Scopaff-Ausschuss).
11 Am 5. Oktober 2020 legte die Kommission dem Scopaff-Ausschuss einen überarbeiteten Verordnungsentwurf vor.
12 Aus dem zusammenfassenden Bericht der Sitzung vom 5. Oktober 2020 geht hervor, dass der Scopaff-Ausschuss im Rahmen einer Erklärung eine Schwelle für die Quantifizierung von HAD erwähnte, nach der ein Wert von mindestens 1 ppm von Aloe-Emodin, Emodin oder Aloin A und Aloin B in bestimmten Produkten einen eindeutigen Beweis für das Vorhandensein dieser Stoffe in den jeweiligen Produkten darstelle.
13 Am 5. November 2020 wurde der Scopaff-Ausschuss im Wege des schriftlichen Verfahrens konsultiert, damit dieser eine Stellungnahme zum Verordnungsentwurf der Kommission abgab. Im Anschluss an die befürwortende Stellungnahme des Ausschusses vom 12. November 2020 wurde der Verordnungsentwurf vom Europäischen Parlament und vom Rat der Europäischen Union geprüft.
14 Am 18. März 2021 erließ die Kommission die angefochtene Verordnung, mit der sie durch Art. 1 Nr. 1 dritter Eintrag „Zubereitungen aus Blättern von Aloe -Arten, die [HAD] enthalten“, in Anhang III Teil A der Verordnung Nr. 1925/2006 aufnahm.
15 Hierzu führte die Kommission im siebten Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung aus, dass „[die EFSA] … [feststellte], dass die [HAD] Aloe-Emodin und Emodin sowie der strukturell verwandte Stoff Danthron nachweislich in vitro genotoxisch sind“, dass „Aloe-Extrakte … sich ebenfalls als in vitro genotoxisch erwiesen [haben], was höchstwahrscheinlich auf im Extrakt vorhandene [HAD] zurückzuführen ist“, dass „[d]arüber hinaus … Aloe-Emodin in vivo genotoxisch ist“ und dass „der Ganzblatt-Aloe-Extrakt und Danthron, ein strukturelles Analogon, krebserregend sind“.
16 Im achten Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung heißt es:
„Da Aloe-Emodin und Emodin in den Extrakten enthalten sein können, kam die [EFSA] zu dem Schluss, dass [HAD] als genotoxisch und karzinogen anzusehen sind, es sei denn, es liegen spezifische gegenteilige Daten vor, und dass Sicherheitsbedenken für Extrakte bestehen, die [HAD] enthalten, obwohl weiterhin Unsicherheit besteht. Die [EFSA] war nicht in der Lage, Empfehlungen bezüglich der für die menschliche Gesundheit unbedenklichen täglichen Aufnahme von [HAD] abzugeben.“
17 Im neunten Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung führte die Kommission weiter aus, dass „[a]ngesichts der schwerwiegenden gesundheitsschädlichen Auswirkungen der Verwendung in Lebensmitteln von Aloe-Emodin, Emodin, Danthron und Aloe-Extrakten, die [HAD] enthalten, und der Tatsache, dass keine für die menschliche Gesundheit unbedenkliche tägliche Aufnahme von [HAD] festgelegt werden konnte, … diese Stoffe verboten werden [sollten]“, und dass „daher … Zubereitungen aus Aloe-Emodin, Emodin, Danthron und Aloe, die [HAD] enthalten, in Anhang III Teil A der Verordnung [Nr. 1925/2006] aufgenommen werden [sollten]“.
18 Im zehnten Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung fügte die Kommission schließlich hinzu, dass „[HAD] [b]ei der Herstellung … durch eine Reihe von Filterverfahren aus den pflanzlichen Zubereitungen entfernt werden [können], wodurch Produkte entstehen, die diese Stoffe nur in Spuren als Verunreinigungen enthalten“.
Anträge der Verfahrensbeteiligten
19 Die Klägerin beantragt,
– die angefochtene Verordnung für nichtig zu erklären, soweit sie sich in Art. 1 Nr. 1 dritter Eintrag auf „Zubereitungen aus Blättern von Aloe-Arten, die Hydroxyanthracen-Derivate enthalten“, bezieht;
– der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
20 Die Kommission beantragt,
– die Klage abzuweisen;
– der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
Zur Zulässigkeit neuen Vorbringens im Laufe des Verfahrens
21 In der Gegenerwiderung hat die Kommission Zweifel an der Zulässigkeit eines in der Erwiderung vorgebrachten „neuen Klagegrundes“ der Klägerin im Sinne von Art. 84 der Verfahrensordnung des Gerichts geäußert.
22 So habe die Klägerin in der Klageschrift behauptet, dass die wissenschaftliche Stellungnahme von 2017 kein Sicherheitsproblem in Bezug auf Gel aus dem Inneren des Aloe-Vera -Blatts belege, und sie habe ihren Klagegrund auf die in ihrem Produkt enthaltene HAD-Menge gestützt. In der Erwiderung habe sie aber neue Argumente vorgebracht, die sich auf das Fehlen spezifischer Beweise für die schädlichen Auswirkungen bestimmter in den Aloe-Vera -Blättern enthaltener HAD, nämlich Aloin A und Aloin B, in der Stellungnahme bezögen.
23 Es ist festzustellen, dass die EFSA, wie die Kommission ausführt, ersucht wurde, einen möglichen Zusammenhang zwischen der Aufnahme von HAD als Stoffgruppe und den gesundheitsschädlichen Auswirkungen zu prüfen. Sie wurde hingegen nicht ersucht, für jede untersuchte botanische Art die spezifische HAD-Zusammensetzung anzugeben.
24 In Nr. 2.2 der wissenschaftlichen Stellungnahme von 2017 wies die EFSA jedoch darauf hin, dass „die Aloe-Vera -(L)-Blätter Aloin A und Aloin B enthalten“, bei denen es sich um zwei spezifische HAD handelt.
25 Die Produkte der Klägerin enthalten Gel aus dem Inneren des Aloe-Vera -Blatts. Hierzu hat sie in der Klageschrift geltend gemacht, dass das Verbot des Zusatzes ihrer Produkte aus Gel aus dem Inneren des Aloe-Vera -Blatts zu Lebensmitteln bzw. ihrer Verwendung bei der Herstellung von Lebensmitteln nicht auf einer wissenschaftlichen Grundlage beruhe und dass die einzigen in ihren Produkten enthaltenen HAD Aloin A und Aloin B seien. Ihr Vorbringen in der Erwiderung zum Fehlen von Beweisen in Bezug auf die schädlichen Auswirkungen dieser beiden spezifischen HAD in der wissenschaftlichen Stellungnahme von 2017 stellt daher eine Bestätigung und Konkretisierung ihres Vorbringens aus der Klageschrift dar.
26 Im Rahmen eines kontradiktorischen Verfahrens kann ein Argument, das eine Erweiterung eines bereits zuvor – unmittelbar oder implizit – in der Klageschrift vorgetragenen Klagegrundes darstellt und einen engen Zusammenhang mit diesem aufweist, nicht für unzulässig erklärt werden. Zudem können Argumente, die inhaltlich in engem Zusammenhang mit einem in der Klageschrift geltend gemachten Klagegrund stehen, nicht als neue Klagegründe im Sinne von Art. 84 Abs. 1 der Verfahrensordnung angesehen werden, so dass sie in der Erwiderung oder in der mündlichen Verhandlung vorgebracht werden können (Urteil vom 8. November 2018, „Pro NGO!“/Kommission, T‑454/17, EU:T:2018:755, Rn. 70).
27 Das Vorbringen der Klägerin in der Erwiderung ist demnach gegenüber dem in der Klageschrift geltend gemachten Klagegrund nicht neu.
28 Die von der Kommission geäußerten Zweifel an der Zulässigkeit dieses Vorbringens sind daher als unbegründet zurückzuweisen.
Zur Begründetheit
29 In der Klageschrift hat die Klägerin als einzigen Klagegrund einen Verstoß gegen das Vorsorgeprinzip geltend gemacht. In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin klargestellt, dass dieser Klagegrund so zu verstehen sei, dass mit ihm insbesondere ein Verstoß gegen Art. 8 der Verordnung Nr. 1925/2006 gerügt werde, so dass das Gericht über den Verstoß gegen das Vorsorgeprinzip als solchen nicht zu entscheiden brauche. Sie hat auch klargestellt, dass dieser Klagegrund als aus vier Klagegründen bestehend zu verstehen sei.
30 So werden mit dem umformulierten ersten Klagegrund ein Verstoß gegen Art. 8 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a Ziff. i der Verordnung Nr. 1925/2006 und ein offensichtlicher Beurteilungsfehler geltend gemacht, da zum einen keine wissenschaftliche Gewissheit darüber bestehe, dass Zubereitungen aus Blättern von Aloe -Arten, darunter Gel aus dem Inneren des Aloe-Vera -Blatts, gesundheitsschädlich seien, und zum anderen insoweit keine Risikoschwelle festgelegt worden sei.
31 Mit dem umformulierten zweiten Klagegrund wird gerügt, dass sich die Kommission beim Erlass der angefochtenen Verordnung zu Unrecht auf das schriftliche Verfahren nach Art. 3 Abs. 5 der Verordnung (EU) Nr. 182/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Festlegung der allgemeinen Regeln und Grundsätze, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren (ABl. 2011, L 55, S. 13), gestützt habe.
32 Mit dem umformulierten dritten Klagegrund wird geltend gemacht, Art. 1 Nr. 1 dritter Eintrag der angefochtenen Verordnung führe zu einem willkürlichen vollständigen Verbot von Aloe-Vera -Zubereitungen, das Zubereitungen aus dem Gel aus dem Inneren des Aloe-Vera -Blatts umfasse, und mit dem umformulierten vierten Klagegrund wird ein Verstoß gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Nichtdiskriminierung gerügt.
33 Das Gericht hält es für zweckmäßig, zunächst das Vorbringen der Klägerin zu prüfen, wonach keinerlei Risikoschwelle für Zubereitungen aus Blättern von Aloe -Arten, darunter Zubereitungen aus dem Gel aus dem Inneren des Aloe-Vera -Blatts, gemäß Art. 8 Abs. 2 Buchst. a Ziff. i der Verordnung Nr. 1925/2006 ermittelt worden sei.
34 In diesem Zusammenhang trägt die Klägerin vor, die Kommission könne nach Art. 8 Abs. 2 Buchst. a Ziff. i und Buchst. b der Verordnung Nr. 1925/2006 beschließen, bestimmte Stoffe oder Zutaten, die sie enthielten, in ein Verzeichnis aufzunehmen, mit dem deren Zusatz bzw. Verwendung bei der Herstellung von Lebensmitteln verboten werde, oder sie in ein Verzeichnis aufzunehmen, mit dem sie einer Prüfung durch die Union unterworfen würden.
35 Die Klägerin macht insbesondere geltend, die Kommission verwechsle zwei unterschiedliche Konzepte, nämlich die HAD-Menge, die Lebensmitteln absichtlich zugesetzt werden könne, ohne dass dies Anlass zu Gesundheitsbedenken gebe, und die HAD-Menge, die in Lebensmitteln als Rückstand bestehen könne, ohne dass dies Anlass zu Gesundheitsbedenken gebe.
36 In Bezug auf das erste Konzept sei die EFSA nicht in der Lage gewesen, eine annehmbare tägliche Aufnahmemenge zu empfehlen, da der Mechanismus, der der Genotoxizität bestimmter HAD zugrunde liege, noch zu bestimmen gewesen sei. In Bezug auf das zweite Konzept habe eine solche Aufnahmemenge mangels einschlägiger Daten nicht empfohlen werden können. Insoweit habe die EFSA ausdrücklich erklärt, dass Informationen über das Aloe-Vera -Gel gefehlt hätten. Daher sei die fehlende Empfehlung einer sicheren täglichen Aufnahmemenge dieses Gels nicht auf Bedenken in Bezug auf die Genotoxizität, sondern auf das Fehlen von Daten zurückzuführen.
37 Daher habe die Kommission dadurch gegen Art. 8 Abs. 2 Buchst. a Ziff. i der Verordnung Nr. 1925/2006 verstoßen, dass sie „Zubereitungen aus Blättern von Aloe-Arten, die [HAD] enthalten“ – was Zubereitungen aus dem Gel aus dem Inneren des Aloe-Vera -Blatts umfasse –, in Anhang III Teil A der Verordnung Nr. 1925/2006 aufgenommen habe, ohne eine Risikoschwelle festzulegen.
38 Nach Ansicht der Kommission war die Sachverständigengruppe zum einen nicht in der Lage, Ratschläge zur täglichen Aufnahme von HAD zu erteilen, die hinsichtlich der gesundheitsschädlichen Auswirkungen der HAD unbedenklich sei, und zwar aufgrund der spezifischen Sorge vor deren Genotoxizität. In Bezug auf die Genotoxizität werde jedoch keine Sicherheitsschwelle festgelegt, da das System vorsehe, dass genotoxische Stoffe nicht absichtlich in die Lebensmittelkette eingeführt werden dürften.
39 Zum anderen würden die Produkte der Klägerin als Zusätze zu Lebensmitteln verwendet, was zu einer höheren Aufnahme des fraglichen Stoffes führen könne, als wenn dieser in natürlichem Zustand aufgenommen würde. Die EFSA unterscheide im Übrigen nicht danach, ob Lebensmitteln absichtlich HAD zugesetzt worden seien oder ob diese darin natürlich enthalten seien. Selbst wenn man davon ausginge, dass die EFSA zwischen dem absichtlichen und dem unabsichtlichen Zusatz von HAD hätte unterscheiden können, hätte es sie nicht daran gehindert, zu ihrem Ergebnis in Bezug auf HAD als Stoffkategorie zu gelangen.
40 Daher habe keine unschädliche Menge der fraglichen Stoffe festgestellt werden können. Die Kommission habe somit innerhalb der Grenzen der in der Verordnung Nr. 1925/2006 festgelegten Voraussetzungen gehandelt.
41 Aus der Rechtsprechung ergibt sich, dass die Kommission, wenn sie komplexe technische oder wissenschaftliche Bewertungen vorzunehmen hat, über ein weites Ermessen verfügt. In einem solchen Fall beschränkt sich die gerichtliche Kontrolle darauf, zu prüfen, ob die Verfahrensvorschriften eingehalten worden sind, ob der Sachverhalt von der Kommission zutreffend festgestellt worden ist und ob keine offensichtlich fehlerhafte Würdigung dieses Sachverhalts und kein Ermessensmissbrauch vorliegen. Jedoch ist die Kontrolle durch das Gericht in Bezug auf die Schlussfolgerungen der Kommission, in denen keine komplexen technischen oder wissenschaftlichen Bewertungen vorgenommen werden, umfassend. Auch hinsichtlich der Rechtsfragen kann die Kontrolle durch das Gericht nur umfassend sein (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. September 2020, Medac Gesellschaft für klinische Spezialpräparate/Kommission, T‑549/19, EU:T:2020:444, Rn. 47 [nicht veröffentlicht] und die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Ein die Nichtigerklärung eines Rechtsakts rechtfertigender offensichtlicher Fehler eines Organs bei der Würdigung eines komplexen Sachverhalts kann nur festgestellt werden, wenn die vom Kläger vorgebrachten Beweise ausreichen, um die Sachverhaltswürdigung in dem Rechtsakt als nicht plausibel erscheinen zu lassen. Von dieser Plausibilitätsprüfung abgesehen darf das Gericht die Beurteilung eines komplexen Sachverhalts durch den Urheber der Entscheidung nicht durch seine eigene Beurteilung ersetzen. Die Beschränkung der Prüfung durch den Unionsrichter berührt jedoch nicht dessen Pflicht, die sachliche Richtigkeit der angeführten Beweise, ihre Zuverlässigkeit und ihre Kohärenz zu prüfen und zu kontrollieren, ob diese Beweise alle relevanten Daten darstellen, die bei der Beurteilung einer komplexen Situation heranzuziehen waren, und ob sie die aus ihnen gezogenen Schlüsse zu stützen vermögen (vgl. Urteil vom 11. Februar 2015, Spanien/Kommission, T‑204/11, EU:T:2015:91, Rn. 32 und 33 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
43 Darüber hinaus bezieht sich das Ermessen der Unionsbehörden, das eine begrenzte gerichtliche Kontrolle seiner Ausübung impliziert, nicht ausschließlich auf die Art und die Tragweite der zu erlassenden Bestimmungen, sondern in bestimmtem Umfang auch auf die Feststellung der Grunddaten. Für eine solche gerichtliche Kontrolle ist es aber, auch wenn sie begrenzt ist, erforderlich, dass die Unionsorgane, die den in Rede stehenden Rechtsakt erlassen haben, in der Lage sind, vor den Unionsgerichten zu belegen, dass sie beim Erlass des Rechtsakts ihr Ermessen tatsächlich ausgeübt haben, was voraussetzt, dass alle erheblichen Faktoren und Umstände der Situation, die mit diesem Rechtsakt geregelt werden sollte, berücksichtigt worden sind (vgl. Urteil vom 8. Juli 2010, Afton Chemical, C‑343/09, EU:C:2010:419, Rn. 33 und 34 sowie die dort angeführte Rechtsprechung; Urteile vom 30. April 2015, Polynt und Sitre/ECHA, T‑134/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:254, Rn. 53, und vom 11. Mai 2017, Deza/ECHA, T‑115/15, EU:T:2017:329, Rn. 164).
44 Zu den Rechtsfragen, die das Gericht umfassend zu überprüfen hat, gehören die Auslegung von Rechtsvorschriften anhand objektiver Kriterien sowie die Feststellung, ob die Tatbestandsmerkmale einer solchen Rechtsvorschrift erfüllt sind (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteile vom 11. Juli 1985, Remia u. a./Kommission, 42/84, EU:C:1985:327, Rn. 34, und vom 9. November 2022, Cambodge und CRF/Kommission, T‑246/19, EU:T:2022:694, Rn. 45).
45 Art. 8 der Verordnung Nr. 1925/2006 legt das Verfahren fest, das anzuwenden ist, um einen anderen Stoff als Vitamine oder Mineralstoffe oder eine Zutat, die einen anderen Stoff als Vitamine oder Mineralstoffe enthält, in Anhang III dieser Verordnung aufzunehmen, der Listen dieser Stoffe enthält, deren Zusatz zu Lebensmitteln oder Verwendung bei der Herstellung von Lebensmitteln einem Verbot oder Bedingungen unterliegt oder hinsichtlich deren wissenschaftliche Ungewissheit besteht.
46 Insoweit findet nach Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1925/2006 das Verfahren des Verbots, der Beschränkung bzw. der Prüfung durch die Union Anwendung, wenn ein anderer Stoff als Vitamine oder Mineralstoffe oder eine Zutat, die einen anderen Stoff als Vitamine oder Mineralstoffe enthält, Lebensmitteln zugesetzt oder bei der Herstellung von Lebensmitteln unter Bedingungen verwendet wird, die zu einer Aufnahme von Mengen dieses Stoffes führen würden, welche weit über den unter normalen Bedingungen bei einer ausgewogenen und abwechslungsreichen Ernährung vernünftigerweise anzunehmenden Mengen liegen, oder die ein potenzielles Risiko für die Verbraucher bergen würden.
47 Außerdem kann die Kommission nach Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1925/2006 aus eigener Initiative oder anhand der von den Mitgliedstaaten übermittelten Angaben, nachdem die EFSA jeweils eine Bewertung der vorliegenden Informationen vorgenommen hat, die Aufnahme des fraglichen Stoffes oder der fraglichen Zutat in Anhang III der Verordnung beschließen. Insbesondere heißt es in Art. 8 Abs. 2 Buchst. a und b der Verordnung Nr. 1925/2006:
„…
a) Stellt sich heraus, dass eine derartige Verwendung gesundheitsschädlich ist, so wird der Stoff und/oder die Zutat, die diesen enthält,
i) in Anhang III Teil A aufgenommen, und der Zusatz dieses Stoffs und/oder dieser Zutat zu Lebensmitteln oder deren Verwendung bei der Herstellung von Lebensmitteln verboten, oder
ii) in Anhang III Teil B aufgenommen, und der Zusatz dieses Stoffs und/oder dieser Zutat zu Lebensmitteln oder deren Verwendung bei der Herstellung von Lebensmitteln nur unter den dort genannten Bedingungen erlaubt.
b) Stellt sich heraus, dass eine derartige Verwendung möglicherweise gesundheitsschädlich ist, jedoch weiterhin eine wissenschaftliche Unsicherheit besteht, so wird der Stoff in Anhang III Teil C aufgenommen.“
48 Ferner ergibt sich aus dem zweiten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1925/2006, dass mit dieser Verordnung „der Zusatz von Vitaminen und Mineralstoffen zu Lebensmitteln sowie die Verwendung bestimmter anderer Stoffe oder Zutaten geregelt werden [sollen], die andere Stoffe als Vitamine oder Mineralstoffe enthalten und Lebensmitteln zugesetzt werden oder bei der Herstellung von Lebensmitteln unter Bedingungen verwendet werden, die zur Aufnahme von Mengen führen, welche weit über den unter normalen Bedingungen bei einer ausgewogenen und abwechslungsreichen Ernährung vernünftigerweise anzunehmenden Mengen liegen und/oder die sonst ein potenzielles Risiko für die Verbraucher bergen“.
49 Das durch Art. 8 der Verordnung Nr. 1925/2006 eingeführte Verfahren ist dadurch gekennzeichnet, dass einer wissenschaftlichen Bewertung der Wirkung des Zusatzes eines Stoffes oder einer Zutat, die diesen enthält, zu Lebensmitteln bzw. ihrer Verwendung bei der Herstellung von Lebensmitteln durch die EFSA eine wesentliche Rolle zukommt. Da die Kommission nämlich keine wissenschaftlichen Beurteilungen hinsichtlich der Feststellung etwaiger gesundheitsschädlicher Auswirkungen dieser Stoffe und Zutaten vornehmen kann, soll die obligatorische Konsultation der EFSA ihr die wissenschaftlichen Beurteilungsgrundlagen liefern, die unerlässlich sind, damit sie in voller Sachkenntnis die geeigneten Maßnahmen zur Gewährleistung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus ergreifen kann.
50 Art. 8 Abs. 2 ist in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1925/2006 so zu lesen, dass die Kommission beschließen kann, den Zusatz eines anderen Stoffes als Vitamine oder Mineralstoffe oder einer Zutat, die diesen enthält, zu einem Lebensmittel bzw. deren Verwendung bei der Herstellung von Lebensmitteln zu verbieten oder unter bestimmten Bedingungen zu erlauben oder aber einen Stoff einer Prüfung durch die Union zu unterwerfen; dies gilt unter bestimmten Voraussetzungen, vor allem wenn ein – gegebenenfalls potenzielles – Risiko entsteht, insbesondere wenn Mengen des fraglichen Stoffes aufgenommen werden, die weit über den unter normalen Bedingungen bei einer ausgewogenen und abwechslungsreichen Ernährung vernünftigerweise anzunehmenden Mengen liegen oder die sonst ein potenzielles Risiko für die Verbraucher bergen.
51 So gibt es nach Art. 8 Abs. 2 Buchst. a Ziff. i der Verordnung Nr. 1925/2006 im Licht von Art. 8 Abs. 1 dieser Verordnung zwei Voraussetzungen dafür, dass der Zusatz eines Stoffes oder einer Zutat, die diesen enthält, zu Lebensmitteln bzw. deren Verwendung bei der Herstellung von Lebensmitteln verboten werden kann, nämlich zum einen, dass dies „zu einer Aufnahme von Mengen dieses Stoffes führen [würde], welche weit über den unter normalen Bedingungen bei einer ausgewogenen und abwechslungsreichen Ernährung vernünftigerweise anzunehmenden Mengen liegen, und/oder die ein potenzielles Risiko für die Verbraucher bergen würden“, und zum anderen, dass sich herausstellt, dass „eine derartige Verwendung gesundheitsschädlich ist“.
52 Diese Auslegung wird durch den Wortlaut des 20. Erwägungsgrundes der Verordnung Nr. 1925/2006 bestätigt, in dem unterschieden wird zwischen der Aufnahme von anderen Stoffen als Vitaminen oder Mineralstoffen oder von Zutaten unter normalen Bedingungen, die nicht geregelt zu werden braucht, und der Aufnahme solcher Stoffe oder Zutaten, die diese enthalten, die Lebensmitteln als Auszüge oder Konzentrate zugesetzt werden und die dazu führen können, „dass sie in deutlich höherer Menge aufgenommen werden als bei einer angemessenen und abwechslungsreichen Ernährung“.
53 Im vorliegenden Fall hat sich die Kommission auf die wissenschaftliche Stellungnahme von 2017 gestützt, deren oben in Rn. 7 wiedergegebene Schlussfolgerungen in den Erwägungsgründen 7 und 8 der angefochtenen Verordnung übernommen worden sind, um auf der Grundlage von Art. 8 Abs. 2 Buchst. a Ziff. i der Verordnung Nr. 1925/2006 „Zubereitungen aus Blättern von Aloe-Arten, die [HAD] enthalten“, in Anhang III Teil A der Verordnung Nr. 1925/2006 aufzunehmen, so dass deren Zusatz zu Lebensmitteln oder Verwendung bei der Herstellung von Lebensmitteln verboten ist.
54 In Bezug auf die erste Voraussetzung für ein Verbot des Zusatzes eines Stoffes oder einer Zutat, die diesen enthält, zu Lebensmitteln bzw. der Verwendung dieses Stoffes oder dieser Zutat bei der Herstellung von Lebensmitteln, nämlich die Aufnahme von Mengen, welche weit über den unter normalen Bedingungen bei einer ausgewogenen und abwechslungsreichen Ernährung vernünftigerweise anzunehmenden Mengen liegen oder die sonst ein potenzielles Risiko für die Verbraucher bergen, ist festzustellen, dass durch Art. 1 Nr. 1 dritter Eintrag der angefochtenen Verordnung alle „Zubereitungen aus Blättern von Aloe-Arten, die [HAD] enthalten“, unabhängig von der Menge an HAD, die sie enthalten, verboten sind.
55 Hierzu hat die Kommission in den Erwägungsgründen 8 und 9 der angefochtenen Verordnung ausgeführt, dass die EFSA nicht in der Lage war, Empfehlungen bezüglich der für die menschliche Gesundheit unbedenklichen täglichen Aufnahme von HAD abzugeben, was im Übrigen aus den Schlussfolgerungen der oben in Rn. 7 wiedergegebenen wissenschaftlichen Stellungnahme von 2017 hervorgeht. In Abschnitt 2.7.2 („Exposure via normal diet“, Exposition durch normale Ernährung) der wissenschaftlichen Stellungnahme von 2017 wies die EFSA auch darauf hin, dass Pflanzenteile, die HAD enthalten, Teil einer normalen Ernährung sein können, dass aber von den Verfahrensbeteiligten im Anschluss an die Aufforderung zur Übermittlung von Daten zu den HAD-Konzentrationen in verzehrten Pflanzenteilen keine Daten zur Verfügung gestellt wurden.
56 Darüber hinaus geht aus dem zehnten Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung hervor, dass bei der Herstellung HAD durch eine Reihe von Filterverfahren aus den pflanzlichen Zubereitungen entfernt werden können, wodurch Produkte entstehen, die diese Stoffe nur in Spuren als Verunreinigungen enthalten.
57 Trotz dieser Erwägungen bezieht sich die angefochtene Verordnung in Art. 1 Nr. 1 dritter Eintrag auf alle „Zubereitungen aus Blättern von Aloe-Arten, die [HAD] enthalten“, unabhängig von der enthaltenen HAD-Menge.
58 Die Kommission scheint daher davon ausgegangen zu sein, dass die Unzulänglichkeit von Daten über eine für die Gesundheit unbedenkliche tägliche Aufnahme sie zu der Annahme berechtige, es gebe keinerlei Maß einer unbedenklichen Verwendung von HAD, so dass sie diese insgesamt habe verbieten können.
59 Dieses Fehlen eines Schwellenwerts verstößt jedoch gegen Art. 8 Abs. 2 Buchst. a Ziff. i in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1925/2006, aus dem sich, wie oben in Rn. 33 ausgeführt, ergibt, dass das darin vorgesehene Verbotsverfahren voraussetzt, dass in Fällen, in denen andere Stoffe als Vitamine oder Mineralstoffe oder Zutaten, die sie enthalten, Lebensmitteln zugesetzt oder bei deren Herstellung verwendet werden, eine gesundheitsschädliche Wirkung festgestellt wird, so dass dies „zu einer Aufnahme von Mengen dieses Stoffes [führt], welche weit über den unter normalen Bedingungen bei einer ausgewogenen und abwechslungsreichen Ernährung vernünftigerweise anzunehmenden Mengen liegen“.
60 Im Übrigen geht weder aus der wissenschaftlichen Stellungnahme von 2017 noch aus den Akten hervor, dass Art. 1 Nr. 1 dritter Eintrag der angefochtenen Verordnung erlassen worden wäre, weil die fraglichen Stoffe und Zubereitungen aus anderen Gründen ein potenzielles Risiko für die Verbraucher darstellten.
61 Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1925/2006 räumt der Kommission zwar die Befugnis ein, andere Stoffe als Vitamine oder Mineralstoffe oder Zutaten, die diese Stoffe enthalten, in Anhang III der Verordnung aufzunehmen, jedoch muss die Kommission die in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen erfüllen.
62 Ein allgemeines Verbot des Zusatzes von Stoffen und Zubereitungen, die bestimmte Stoffe enthalten, wie die in Art. 1 Nr. 1 dritter Eintrag der angefochtenen Verordnung genannten, zu Lebensmitteln bzw. der Verwendung dieser Stoffe und Zubereitungen bei der Herstellung von Lebensmitteln, das unabhängig von der in den genannten Zubereitungen enthaltenen Stoffmenge gilt, erfüllt jedoch nicht die Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 2 Buchst. a Ziff. i in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1925/2006.
63 Zwar ergibt sich aus dem 20. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1925/2006, dass die Beweislast für die Sicherheit der Lebensmittel bei den Lebensmittelunternehmern liegt, da sie für die Sicherheit der Lebensmittel, die sie in Verkehr bringen, verantwortlich sind. Nach demselben Erwägungsgrund liegt die Beweislast jedoch nur dann bei den Lebensmittelunternehmern, wenn der Zusatz dieses Stoffes in Form von Auszügen oder Konzentraten dazu führen kann, dass sie in deutlich höherer Menge aufgenommen werden als bei einer angemessenen und abwechslungsreichen Ernährung.
64 Diese Schlussfolgerung wird durch Art. 3 Abs. 3 der Durchführungsverordnung Nr. 307/2012 bestätigt, wonach für die Zwecke dieser Verordnung die Bedingungen, die zur Aufnahme von Mengen des Stoffes führen, welche weit über den unter normalen Bedingungen bei einer ausgewogenen und abwechslungsreichen Ernährung vernünftigerweise anzunehmenden Mengen liegen, tatsächlich gegeben sind und von Fall zu Fall anhand der durchschnittlichen Aufnahme des Stoffes durch die allgemeine erwachsene Bevölkerung oder andere Bevölkerungsgruppen, für die ein Risiko bestehen könnte, bewertet werden.
65 In Ermangelung von Daten zu den Stoffmengen, die im Sinne des 20. Erwägungsgrundes der Verordnung Nr. 1925/2006 „bei einer ausgewogenen und abwechslungsreichen Ernährung“ aufgenommen werden können, oder zu den im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Verordnung „unter normalen Bedingungen bei einer ausgewogenen und abwechslungsreichen Ernährung vernünftigerweise anzunehmenden“ Mengen sind Lebensmittelunternehmer nicht in der Lage, einen angemessenen Vergleich zwischen den Mengen eines Stoffes unter normalen Bedingungen und den Mengen desselben Stoffes bei Verwendung und Zusatz in Form von Konzentraten anzustellen.
66 Folglich verstößt Art. 1 Nr. 1 dritter Eintrag der angefochtenen Verordnung gegen Art. 8 Abs. 2 Buchst. a Ziff. i in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1925/2006, soweit er den Zusatz sämtlicher „Zubereitungen aus Blättern von Aloe-Arten, die [HAD] enthalten“, bzw. ihre Verwendung bei der Herstellung von Lebensmitteln unabhängig von der enthaltenen HAD-Menge verbietet.
67 Nach alledem ist dem ersten Klagegrund, mit dem ein Verstoß gegen Art. 8 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1925/2006 und ein offensichtlicher Beurteilungsfehler gerügt werden, stattzugeben und Art. 1 Nr. 1 dritter Eintrag der angefochtenen Verordnung für nichtig zu erklären, ohne dass das Gericht über die übrigen Klagegründe und das übrige Vorbringen der Klägerin zu entscheiden braucht.
Kosten
68 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
69 Da die Kommission unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Klägerin die Kosten einschließlich der Kosten des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Sechste erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Art. 1 Nr. 1 dritter Eintrag der Verordnung (EU) 2021/468 der Kommission vom 18. März 2021 zur Änderung des Anhangs III der Verordnung (EG) Nr. 1925/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf botanische Arten, die Hydroxyanthracen-Derivate enthalten, mit dem „Zubereitungen aus Blättern von Aloe-Arten, die Hydroxyanthracen-Derivate enthalten“, in Anhang III Teil A der Verordnung (EG) Nr. 1925/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Zusatz von Vitaminen und Mineralstoffen sowie bestimmten anderen Stoffen zu Lebensmitteln aufgenommen wurden, wird für nichtig erklärt.
2. Die Europäische Kommission trägt die Kosten einschließlich der Kosten des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes.
Zilgalvis
Tichy-Fisslberger
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 13. November 2024.
Unterschriften