C-87/22 – TT (Déplacement illicite de l’enfant)

C-87/22 – TT (Déplacement illicite de l’enfant)

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2023:248

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PRIIT PIKAMÄE

vom 23. März 2023(1)

Rechtssache C87/22

TT,

Beteiligte:

AK

(Vorabentscheidungsersuchen des Landesgerichts Korneuburg [Österreich])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Art. 10 und 15 – Zuständigkeit im Bereich der elterlichen Verantwortung – Ersuchen an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, das den Fall besser beurteilen kann, sich für zuständig zu erklären – Voraussetzungen – Gericht des Mitgliedstaats, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde – Haager Übereinkommen vom 25. Oktober 1980“

I.      Einleitung

1.        Im Borrás-Bericht(2) heißt es, dass „[e]ine und möglicherweise die schwerwiegendste Eventualität in Bezug auf den Schutz der gemeinsamen Kinder bei ehelichen Krisen … die Gefahr [ist], dass das Kind von einem Elternteil aus dem Land seines gewöhnlichen Aufenthalts entführt wird, mit allen Folgen, die dies für die Stabilität und die Sicherheit des Kindes mit sich bringt“(3). Dies ist genau die Situation, mit der wir im vorliegenden Fall konfrontiert sind.

2.        Mit seinen beiden Vorlagefragen ersucht das Landesgericht Korneuburg (Österreich) den Gerichtshof um die Auslegung insbesondere von Art. 15 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003(4) im Zusammenhang mit einem Rechtsstreit zwischen zwei slowakischen Staatsangehörigen, TT, dem Antragsteller des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: der Vater), der in Österreich wohnt, und AK, der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: die Mutter), über das Sorgerecht für ihre Kinder, die sich derzeit mit der Mutter in der Slowakei aufhalten.

3.        Die vorliegende Rechtssache bietet dem Gerichtshof daher die Gelegenheit, zum einen die Tragweite von Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 über die Verweisung der Rechtssache an ein Gericht, das den Fall besser beurteilen kann, näher zu bestimmen, und sich zum anderen mit der bisher ungeklärten Frage des Verhältnisses zwischen dieser Bestimmung und Art. 10 dieser Verordnung über die Zuständigkeit im Fall einer Kindesentführung zu befassen.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Internationales Recht

4.        Nach Art. 1 Buchst. a des am 25. Oktober 1980 in Den Haag geschlossenen Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführungen (im Folgenden: Haager Übereinkommen von 1980) hat das Übereinkommen insbesondere zum Ziel, „die sofortige Rückgabe widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbrachter oder dort zurückgehaltener Kinder sicherzustellen“.

B.      Unionsrecht

5.        Neben Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sind in der vorliegenden Rechtssache auch die Art. 8, 10, 11, 15 und 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 von Relevanz.

III. Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

6.        Der Vater und die Mutter waren ein unverheiratetes Paar, als ihre Kinder, V und M, im Jahr 2012 in der Slowakei geboren wurden. Nach slowakischem Recht steht ihnen das gemeinsame Sorgerecht für die Kinder zu.

7.        Beide Eltern arbeiteten in der Slowakei(5). Im Jahr 2014 zog die Familie nach Österreich; die Kinder besuchten bis zum Jahr 2017 eine Kinderkrippe und einen Kindergarten. Anschließend wurden sie im selben Jahr in der Slowakei eingeschult und pendelten täglich zwischen ihrem Wohnort in Österreich und der schulischen Einrichtung in der Slowakei. Die Kinder sprechen mit ihren Eltern und Großeltern slowakisch und beherrschen nur wenige Worte in der deutschen Sprache.

8.        Die Eltern trennten sich Anfang des Jahres 2020. Seit Juli 2020 leben die Kinder ohne Einverständnis des Vaters bei ihrer Mutter in der Slowakei.

9.        Gestützt auf das Haager Übereinkommen von 1980 stellte der Vater einen Antrag auf Rückgabe der Kinder, der nach Art. 8 Abs. 1 und Abs. 3 Buchst. f dieses Übereinkommens beim Okresny súd Bratislava I (Bezirksgericht Bratislava I, Slowakei) eingereicht wurde.

10.      Gleichzeitig beantragte der Vater beim Bezirksgericht Bruck an der Leitha (Österreich) u. a. das alleinige Sorgerecht für die beiden Kinder mit der Begründung, dass die Mutter durch das illegale Verbringen der Kinder von Österreich in die Slowakei ihr Wohlergehen gefährdet und sie am Umgang mit ihm gehindert habe.

11.      Die Mutter trat diesem Antrag entgegen und bestritt die Zuständigkeit des Bezirksgerichts Bruck an der Leitha mit der Begründung, dass der gewöhnliche Aufenthaltsort der Kinder stets in der Slowakei gewesen sei und sie am Ort der Familienwohnung in Österreich sozial nicht integriert seien. Mit Beschluss vom 4. Januar 2021 wurde der von der Mutter erhobenen Einrede der fehlenden Zuständigkeit dieses österreichischen Gerichts in erster Instanz stattgegeben.

12.      Der Vater legte Rekurs beim Landesgericht Korneuburg ein, das mit Beschluss vom 23. Februar 2021 die erstinstanzliche Entscheidung abänderte und die von der Mutter erhobene Einrede der fehlenden Zuständigkeit verwarf.

13.      Mit Beschluss vom 23. Juni 2021 bestätigte der Oberste Gerichtshof (Österreich) die Entscheidung des Landesgerichts Korneuburg.

14.      Am 23. September 2021 beantragte die Mutter beim Bezirksgericht Bruck an der Leitha, ein slowakisches Gericht gemäß Art. 15 Abs. 1 Buchst. b und Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 zu ersuchen, sich gemäß Art. 15 Abs. 5 dieser Verordnung für zuständig zu erklären. Hierbei machte die Mutter zum einen geltend, dass neben dem Rückgabeverfahren, das gemäß dem Haager Übereinkommen von 1980 vor dem Okresny súd Bratislava I (Bezirksgericht Bratislava I) eingeleitet worden sei, mehrere Verfahren beim Okresny súd Bratislava V (Bezirksgericht Bratislava V, Slowakei) anhängig seien, die sowohl vom Vater als auch von ihr selbst eingeleitet worden seien, und zum anderen, dass diese Gerichte aufgrund der zahlreichen Beweise, die sie gesammelt hätten, die Frage der elterlichen Verantwortung für die beiden Kinder besser beurteilen könnten.

15.      Der Vater trat diesem Antrag mit der Begründung entgegen, dass die in Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehene Zuständigkeit der Gerichte eines Mitgliedstaats nicht übertragbar sei, wenn bei den Gerichten des anderen Mitgliedstaats, die sich für zuständig erklären sollten, ein Antrag auf Rückgabe gemäß dem Haager Übereinkommen von 1980 anhängig sei.

16.      Das Bezirksgericht Bruck an der Leitha gab dem Antrag der Mutter statt. Dieses Gericht war der Ansicht, dass der Okresny súd Bratislava V (Bezirksgericht Bratislava V), der bereits mehrere Entscheidungen zum Umgangsrecht des Vaters mit den Kindern getroffen habe, am besten in der Lage sei, über die elterliche Verantwortung und das Umgangsrecht in Bezug auf die beiden Kinder zu entscheiden, die sich seit Juli 2020 mit der Mutter in der Slowakei aufhielten und in Österreich sozial nicht integriert seien. Darüber hinaus würde die Durchführung des Verfahrens vor einem österreichischen Gericht dieses Verfahren aufgrund der Notwendigkeit, einen vereidigten Dolmetscher für alle Gespräche und Untersuchungen im Rahmen der Ermittlungen der österreichischen Kinder- und Jugendorganisationen und für die bestellten kinderpsychologischen Sachverständigen bereitzustellen, erschweren.

17.      Der Vater legte gegen diesen Beschluss Rekurs beim Landesgericht Korneuburg ein.

18.      Das vorlegende Gericht stellt fest, dass die Frage nach dem Verhältnis zwischen Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 und deren Art. 10 vom Gerichtshof noch nicht entschieden worden sei. In diesem Zusammenhang fragt es sich, ob in dem Fall, in dem der Mitgliedstaat, der um die Ausübung seiner Zuständigkeit nach Art. 15 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung ersucht werde, derselbe sei wie der Mitgliedstaat, in dem das Kind zwischenzeitlich seinen gewöhnlichen Aufenthalt infolge eines widerrechtlichen Verbringens begründet habe, die Zuständigkeit für die Entscheidung über das Sorgerecht für dieses Kind auf ein Gericht dieses Mitgliedstaats übertragen werden könne. Für den Fall, dass der Gerichtshof diese Frage bejaht, fragt sich dieses Gericht außerdem, ob die in Art. 15 Abs. 1 der genannten Verordnung aufgeführten Voraussetzungen, die im Fall ihrer Erfüllung die Übertragung der Zuständigkeit auf ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats ermöglichen, abschließenden Charakter haben oder ob angesichts der Besonderheit des widerrechtlichen Verbringens andere Umstände berücksichtigt werden können.

19.      Unter diesen Umständen hat das Landesgericht Korneuburg mit Beschluss vom 4. Januar 2022, der in der Kanzlei des Gerichtshofs am 9. Februar 2022 eingegangen ist, das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Ist Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen, dass das Ersuchen eines [Gerichts eines] Mitgliedstaats, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, in dem Fall, dass seines Erachtens ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung hat, den Fall oder einen bestimmten Teil des Falles besser beurteilen kann, sich für zuständig zu erklären, auch dann zulässig ist, wenn es sich bei dem anderen Mitgliedstaat um einen Mitgliedstaat handelt, in dem das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt nach einem widerrechtlichen Verbringen erlangt hat?

2.      Für den Fall der Bejahung der Frage 1:

Ist Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen, dass die darin genannten Kriterien für die Zuständigkeitsverschiebung abschließend geregelt sind, ohne dass es weiterer Kriterien mit Rücksicht auf ein eingeleitetes Verfahren nach Art. 8 Abs. 1 und Abs. 3 Buchst. f des Haager Übereinkommens von 1980 bedarf?

20.      Schriftliche Erklärungen haben die Parteien des Ausgangsverfahrens, die slowakische Regierung sowie die Europäische Kommission eingereicht. Diese Beteiligten haben mit Ausnahme der slowakischen Regierung auch an der mündlichen Verhandlung vom 12. Januar 2023 teilgenommen.

IV.    Würdigung

21.      In der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Situation halten sich zwei im Jahr 2012 in der Slowakei geborene Kinder slowakischer Eltern, die nicht verheiratet sind, derzeit mit ihrer Mutter in diesem Mitgliedstaat auf, ohne die Zustimmung des Vaters, der in Österreich arbeitet, dem Mitgliedstaat, in dem die Familie im Zeitraum zwischen dem Jahr 2014 und dem Verbringen der Kinder durch ihre Mutter lebte.

A.      Zu den Besonderheiten des vorliegenden Falles

22.      Die Umstände der vorliegenden Rechtssache erfordern meiner Ansicht nach einige Erläuterungen, um den spezifischen Kontext, in den sie eingebettet sind, besser zu verstehen. Ich erinnere jedoch daran, dass nach ständiger Rechtsprechung allein das vorlegende Gericht dafür zuständig ist, den Sachverhalt des Rechtsstreits, mit dem es befasst ist, festzustellen und zu beurteilen(6).

23.      Erstens geht aus dem Vorlagebeschluss hervor, dass sowohl der Vater als auch die Mutter mehrere Verfahren, die insbesondere das Umgangsrecht und die Unterhaltszahlungen betreffen, bei den slowakischen Gerichten eingeleitet haben. Diesbezüglich haben die Parteien des Ausgangsverfahrens auf die Frage des Gerichtshofs nach dem aktuellen Stand dieser Verfahren, ihrer rechtlichen Grundlage und der Art etwaiger von diesen Gerichten getroffener Entscheidungen bestätigt, dass derzeit mehrere Verfahren bei den genannten Gerichten anhängig seien. Da diese Verfahren Auswirkungen auf die rechtliche Beurteilung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Situation haben können, werde ich diese Verfahren vorbehaltlich ihrer Prüfung durch das vorlegende Gericht im Folgenden näher erläutern.

24.      Im Hinblick auf das Sorgerecht für die Kinder gibt der Vater an, dass von der Mutter am 17. Juli 2020 zwei Anträge beim Okresny súd Bratislava V (Bezirksgericht Bratislava V) eingereicht worden seien, als das Sorgerechtsverfahren, das er am 15. Juli 2020 beim Bezirksgericht Bruck an der Leitha eingeleitet habe, bereits in Österreich anhängig gewesen sei. Dieses Verfahren habe sich auf einen Antrag auf Erlass einstweiliger Anordnungen gemäß Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 und einen Antrag in der Hauptsache bezogen. Im erstgenannten Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes sei mit Beschluss vom 14. August 2020 eine Zurückweisung erfolgt, während das zweite Verfahren gemäß Art. 16 des Haager Übereinkommens von 1980 ausgesetzt worden sei, bis eine Entscheidung in dem vom Vater vor dem Okresny súd Bratislava I (Bezirksgericht Bratislava I) angestrengten Verfahren über die Rückgabe der Kinder ergangen sei(7).

25.      Im Hinblick auf das Umgangsrecht hat der Vater erläutert, dass das Okresny súd Bratislava V (Bezirksgericht Bratislava V) mit Beschluss vom 10. Februar 2021 gemäß Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 einstweilige Anordnungen erlassen habe, um seinen Umgang mit den Kindern bis zum Abschluss des bei diesem Gericht anhängigen(8) Sorgerechtsverfahrens(9) zu regeln. In der mündlichen Verhandlung hat er angegeben, dass sein Umgangsrecht trotz des Erlasses einer Anordnung zur Durchsetzung dieser Entscheidung von der Mutter, gegen die im Januar 2023 ein Bußgeld verhängt worden sei, nicht beachtet worden sei.

26.      Im Hinblick auf die Unterhaltspflicht habe der Okresny súd Bratislava V (Bezirksgericht Bratislava V) mit Beschluss vom 12. Februar 2021 eine einstweilige Anordnung gemäß Art. 14 der Verordnung (EG) Nr. 4/2009(10) erlassen, die die bis zum Abschluss des bei diesem Gericht anhängigen und ausgesetzten Sorgerechtsverfahrens geltende Verpflichtung des Vaters zur Zahlung von Unterhalt für die Kinder betreffe.

27.      Zweitens weist der Vater darauf hin, dass sich kein slowakisches Gericht gemäß Art. 9 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003(11) für zuständig erklärt habe, über das Umgangsrecht zu entscheiden. Er macht geltend, dass alle bisherigen Entscheidungen des Okresny súd Bratislava V (Bezirksgericht Bratislava V) vorläufiger Natur seien, im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes ergangen seien und entweder auf der Grundlage von Art. 20 dieser Verordnung oder von Art. 14 der Verordnung Nr. 4/2009 getroffen worden seien.

28.      Ich werde auf diese Umstände im Zusammenhang mit der Auslegung von Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 und dem Verhältnis zwischen dieser Bestimmung und Art. 10 dieser Verordnung zurückkommen(12).

B.      Zur ersten Vorlagefrage

29.      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass das Gericht eines Mitgliedstaats, dessen Zuständigkeit für Entscheidungen über das Sorgerecht für ein Kind auf Art. 10 dieser Verordnung in seiner Eigenschaft als Gericht des Mitgliedstaats, in dem dieses Kind unmittelbar vor seinem widerrechtlichen Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, beruht, berechtigt ist, gemäß Art. 15 Abs. 1 Buchst. b der genannten Verordnung das Gericht des Mitgliedstaats, in den dieses Kind von einem Elternteil widerrechtlich verbracht worden ist und in dem es mit diesem Elternteil zusammen wohnt, zu ersuchen, sich für zuständig zu erklären.

30.      Um diese Frage zu beantworten, werde ich zunächst untersuchen, ob das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Verbringen der Kinder ein widerrechtliches Verbringen im Sinne der Verordnung Nr. 2201/2003 ist (Abschnitt 1). Im Hinblick darauf, dass die slowakischen Gerichte auf der Grundlage von Art. 20 dieser Verordnung einstweilige Anordnungen erlassen haben, die u. a. das Umgangsrecht des Vaters betreffen, werde ich anschließend einige Überlegungen zum Umfang der auf diese Bestimmung gestützten Zuständigkeit anstellen (Abschnitt 2), bevor ich schließlich die Tragweite von Art. 15 der genannten Verordnung und sein Verhältnis zu Art. 10 dieser Verordnung kläre (Abschnitt 3).

1.      Zum widerrechtlichen Verbringen im Sinne von Art. 2 Nr. 11 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003

31.      Um festzustellen, ob der Rechtsstreit auf ein widerrechtliches Verbringen von Kindern im Sinne der Verordnung Nr. 2201/2003 zurückzuführen ist, ist zu prüfen, ob die in Art. 2 Nr. 11 dieser Verordnung genannten Voraussetzungen erfüllt sind.

32.      Nach Art. 2 Nr. 11 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 kommt es für die Frage, ob das Verbringen (oder Zurückhalten) eines Kindes widerrechtlich ist oder nicht, darauf an, ob ein „Sorgerecht … aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes oder aufgrund einer rechtlich verbindlichen Vereinbarung nach dem Recht des Mitgliedstaats …, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte“, besteht(13). Was das Bestehen eines Sorgerechts betrifft, bestimmt die Verordnung nicht, welcher Person ein Sorgerecht zustehen muss, damit das Verbringen eines Kindes im Sinne von Art. 2 Nr. 11 als ein widerrechtliches Verbringen angesehen werden kann, sondern verweist für die Bestimmung des Inhabers dieses Sorgerechts auf das Recht des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor seinem Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Nach Ansicht des Gerichtshofs hängt die Widerrechtlichkeit des Verbringens eines Kindes im Rahmen der Anwendung der genannten Verordnung ausschließlich vom Bestehen eines Sorgerechts ab, das durch das anwendbare nationale Recht, gegen das das Verbringen verstößt, verliehen wurde(14).

33.      Im vorliegenden Fall geht jedoch aus dem Vorlagebeschluss hervor, dass nach dem slowakischen Recht, das zum Zeitpunkt der Geburt der Kinder für die Eltern galt, unverheirateten Eltern das gemeinsame Sorgerecht für die Kinder zusteht. Diesbezüglich haben die Parteien des Ausgangsverfahrens in der mündlichen Verhandlung auf eine hierauf gerichtete Frage des Gerichtshofs bestätigt, dass ihnen nach slowakischem Recht ein gemeinsames Sorgerecht zusteht.

34.      In der im Ausgangsverfahren vorliegenden Situation wurden die Kinder von ihrer Mutter ohne Zustimmung des Vaters von Österreich in die Slowakei „verbracht“ und somit unter Verletzung des den Eltern nach slowakischem Recht gemeinsam zustehenden Sorgerechts, das, wie aus dem Vorlagebeschluss und den schriftlichen und mündlichen Stellungnahmen der Parteien hervorgeht, weder vom vorlegenden Gericht noch von den slowakischen Gerichten in Frage gestellt worden ist(15).

35.      Daraus folgt, dass, da die Eltern in dem Mitgliedstaat, in dem die Kinder vor ihrem Verbringen ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten, nämlich Österreich, offensichtlich als Inhaber des gemeinsamen Sorgerechts anerkannt waren, von der Annahme auszugehen ist, dass das Verbringen der Kinder durch die Mutter von diesem Mitgliedstaat in die Slowakei ohne die Zustimmung des Vaters ein „widerrechtliches Verbringen“ im Sinne von Art. 2 Nr. 11 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 ist, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist.

2.      Zum Umfang der auf Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 beruhenden Zuständigkeit

36.      Ich erinnere daran, dass der Vater in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, dass die bisherigen Entscheidungen des Okresny súd Bratislava V (Bezirksgericht Bratislava V) zu u. a. seinem Umgangsrecht vorläufiger Natur seien und im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes und auf der Grundlage von Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 ergangen seien. Das Gericht habe seine Zuständigkeit ferner auf diese Bestimmung gestützt, als es die beiden von der Mutter im Sorgerechtsverfahren gestellten Anträge auf Erlass einstweiliger Anordnungen zurückgewiesen habe.

37.      Daher stellt sich die Frage, ob die Tatsache, dass der Okresny súd Bratislava V (Bezirksgericht Bratislava V) Maßnahmen nach Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 ergriffen hat, bedeutet, dass sich dieses Gericht nach dieser Verordnung für zuständig erklärt hat, und ob gegebenenfalls diese Zuständigkeitserklärung Auswirkungen auf seine Zuständigkeit nach Art. 15 der genannten Verordnung haben könnte.

38.      Die Antwort auf diese Frage ergibt sich eindeutig aus dem Wortlaut von Art. 20 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003. In dieser Bestimmung heißt es: „Die Gerichte eines Mitgliedstaats können in dringenden Fällen ungeachtet der Bestimmungen dieser Verordnung die nach dem Recht dieses Mitgliedstaats vorgesehenen einstweiligen Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen in Bezug auf in diesem Staat befindliche Personen oder Vermögensgegenstände auch dann anordnen, wenn für die Entscheidung in der Hauptsache gemäß dieser Verordnung ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats zuständig ist.“

39.      Der Gerichtshof hat Art. 20 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 bereits dahin ausgelegt, dass die Gerichte eines Mitgliedstaats, in dem sich das Kind befindet, bei Erfüllung der drei in dieser Bestimmung genannten kumulativen Voraussetzungen berechtigt sind, die nach dem Recht dieses Mitgliedstaats vorgesehenen einstweiligen Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen zu erlassen, selbst wenn diese Verordnung die Zuständigkeit für die Entscheidung in der Hauptsache einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats zuweist(16). Er hat klargestellt, dass diese Bestimmung restriktiv auszulegen ist, da sie eine Ausnahme von der durch die Verordnung geschaffenen Zuständigkeitsregelung darstellt(17). Wie Generalanwalt Bot festgestellt hat, handelt es sich bei diesem Kriterium nämlich nicht um ein Kriterium für eine allgemeine Zuständigkeit, sondern um eine Ermächtigung dafür, unter dem doppelten Druck einer für das Kind bestehenden Gefahr und der Notwendigkeit raschen Handelns, um es davor zu bewahren, tätig zu werden. Sie hat zur Folge, dass das Recht des angerufenen Gerichts ohne das Kriterium der ursprünglichen Zuständigkeit geltend gemacht werden kann(18). Eine solche Bestimmung stellt also keine Zuständigkeitsregelung dar und hat folglich nicht den Zweck, eine Zuständigkeit in der Hauptsache zuzuweisen(19). In diesem Zusammenhang genügt der Hinweis darauf, dass die auf dieser Grundlage getroffenen Maßnahmen außer Kraft treten, sobald die nach derselben Verordnung in der Hauptsache zuständigen Gerichte die Maßnahmen getroffen haben, die sie für angemessen halten(20).

40.      Im vorliegenden Fall bedeutet also die Tatsache, dass ein slowakisches Gericht nach Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 vorläufige Sofortmaßnahmen im Hinblick auf das Umgangsrecht des Vaters erlassen hat, nicht, dass sich dieses Gericht für die Entscheidung in der Hauptsache für zuständig erklärt hat, und dieser Umstand kann sich folglich nicht auf die Zuständigkeit nach Art. 15 dieser Verordnung auswirken.

3.      Zur Tragweite von Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 und seinem Verhältnis zu Art. 10 dieser Verordnung

a)      Allgemeine Erwägungen

41.      Zunächst stelle ich fest, dass die in der Verordnung Nr. 2201/2003 festgelegten Zuständigkeitsregeln gemäß dem 12. Erwägungsgrund dieser Verordnung dem Wohl des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet wurden.

42.      Was den Grundsatz des Vorrangs des Kindeswohls(21) betrifft, so lässt sich dem 33. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 entnehmen, dass diese Verordnung insbesondere darauf abzielt, die Wahrung der Grundrechte des Kindes im Sinne des Art. 24 der Charta zu gewährleisten. Insbesondere hat nach Art. 24 Abs. 3 der Charta jedes Kind „Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen, es sei denn, dies steht seinem Wohl entgegen“(22).

43.      Was den Grundsatz der räumlichen Nähe anbelangt, so sind es gemäß Art. 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 die Gerichte des Ortes, an dem das Kind zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, die aufgrund ihrer geografischen Nähe im Allgemeinen am besten in der Lage sind, die zum Wohl des Kindes zu treffenden Maßnahmen zu beurteilen(23). Ein Abweichen von dieser Zuständigkeitsregelung ist jedoch in besonderen Zuständigkeitsvorschriften vorgesehen, insbesondere in den Art. 10 und 15 dieser Verordnung, die ich im Folgenden untersuchen werde(24).

b)      Zur Zuständigkeitsregel in Fällen von Kindesentführung nach Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003

44.      Im vorliegenden Fall war aufgrund der im Vorlagebeschluss enthaltenen Informationen das Bezirksgericht Bruck an der Leitha, das Gericht am gewöhnlichen Aufenthaltsort der Kinder vor ihrer widerrechtlichen Verbringung, gemäß Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 für die Entscheidung über das Sorgerecht für die Kinder zuständig.

45.      Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die in Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehene besondere Zuständigkeitsregel die Wirkung neutralisiert, die die Anwendung der in Art. 8 Abs. 1 dieser Verordnung aufgestellten allgemeinen Zuständigkeitsregel im Fall einer Kindesentführung hätte, nämlich den Übergang der Zuständigkeit auf den Mitgliedstaat, in dem das Kind infolge seiner Entführung einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat. Da dieser Zuständigkeitsübergang dem widerrechtlich Handelnden einen prozessualen Vorteil verschaffen könnte, sieht Art. 10 dieser Verordnung vor, dass die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, gleichwohl zuständig bleiben, es sei denn, dass bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind(25). Die durch diese Bestimmung bewirkte Neutralisierung hat nämlich zur Folge, dass im Falle eines widerrechtlichen Verbringens ausschließlich die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig sind, in dem das Kind vor dem Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Diese Gerichte bleiben auch dann zuständig, wenn sich das Kind später in einer Situation befindet, die vorübergehender oder vorläufiger Natur ist, wenn der alte gewöhnliche Aufenthaltsort weggefallen ist, während der neue gewöhnliche Aufenthaltsort noch nicht begründet wurde(26).

46.      Der Gerichtshof hat auch entschieden, dass die Entführung eines Kindes grundsätzlich keine Übertragung der Zuständigkeit von den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, auf die Gerichte des Mitgliedstaats, in den das Kind verbracht wurde, zur Folge haben sollte, selbst wenn das Kind nach der Entführung in diesem Mitgliedstaat einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet haben sollte(27). Nur wenn das Kind einen solchen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat begründet hat und überdies eine der in Art. 10 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003 aufgeführten alternativen Voraussetzungen erfüllt ist(28), ist eine Übertragung der Zuständigkeit vorgesehen(29).

47.      Im vorliegenden Fall scheinen die Kinder zwar einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt in der Slowakei begründet zu haben, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist, doch geht aus den Akten der Rechtssache nicht hervor, dass eine der in dieser Bestimmung aufgeführten alternativen Voraussetzungen erfüllt ist(30).

48.      In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob zwischen den Art. 10 und 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 ein hierarchisches Verhältnis in dem Sinne besteht, dass das Gericht, das normalerweise „für die Entscheidung in der Hauptsache“ zuständig ist, die Rechtssache nicht an ein Gericht, das den Fall „besser beurteilen kann“, verweisen kann, wenn es sich bei diesem Gericht um das Gericht des Mitgliedstaats handelt, in den die Kinder von einem Elternteil widerrechtlich verbracht worden sind.

c)      Zur Tragweite von Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003

49.      Ich stelle fest, dass die Verordnung Nr. 2201/2003 in Anlehnung an das Haager Übereinkommen von 1996(31) eine ihrer wichtigsten Neuerungen einführt, nämlich „einen Mechanismus für den Dialog zwischen den Richtern [der Mitgliedstaaten] auf der Grundlage der Beurteilung ihrer Zuständigkeit nach Zweckmäßigkeitserwägungen“ mit Blick auf den Grundsatz des Vorrangs des Kindeswohls(32).

50.      Art. 15 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003 sieht also vor, dass in Ausnahmefällen und sofern dies dem Wohl des Kindes entspricht, die Gerichte eines Mitgliedstaats, die für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig sind, in dem Fall, dass ihres Erachtens ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung hat, den Fall oder einen bestimmten Teil des Falles besser beurteilen kann, „ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats ersuchen [können], sich gemäß Absatz 5 für zuständig zu erklären“(33).

51.      Diese Bestimmung enthält nämlich eine Zuständigkeitsregel, die die in den Art. 8 bis 14 der Verordnung Nr. 2201/2003 enthaltenen Zuständigkeitsregeln vervollständigt(34). Diese innovative Regelung sieht einen Mechanismus der Zusammenarbeit vor, der es dem Gericht eines Mitgliedstaats, das nach einer dieser Zuständigkeitsregeln „für die Entscheidung in der Hauptsache“ zuständig ist, gestattet, den Fall ausnahmsweise an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats zu verweisen, das den Fall besser beurteilen kann(35). Diese Bestimmung ermöglicht ein gewisses Maß an Flexibilität im System dieser Verordnung, wenn sich herausstellt, dass es „dem Wohl des Kindes entspricht, seinen Schutz durch andere Gerichte als die des Staats seines gewöhnlichen Aufenthalts zu gewährleisten“(36).

52.      Doch welche Gerichte sind nach der Verordnung Nr. 2201/2003 „für die Entscheidung in der Hauptsache“ zuständig?

53.      Da Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 pauschal auf die Gerichte eines Mitgliedstaats verweist, die gemäß den Zuständigkeitsvorschriften dieser Verordnung für die „Entscheidung in der Hauptsache“ zuständig sind, kann es sich bei diesen Gerichten entweder um die Gerichte des gewöhnlichen Aufenthaltsorts des Kindes, die auf der Grundlage von Art. 8 dieser Verordnung angerufen wurden, oder um eines der nach Art. 9, 10 oder 12 dieser Verordnung zuständigen Gerichte oder um das auf der Grundlage von Art. 13 dieser Verordnung angerufene Gericht handeln(37).

54.      In diesem Zusammenhang erinnere ich daran, dass der Gerichtshof bereits befunden hat, dass Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 die in den Art. 8 bis 14 dieser Verordnung enthaltenen Zuständigkeitsregeln durch einen Mechanismus der Zusammenarbeit vervollständigt, der dem Gericht eines Mitgliedstaats, das nach einer dieser Vorschriften für die Entscheidung des Falles zuständig ist, in Ausnahmefällen eine Verweisung an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats ermöglicht, das den Fall besser beurteilen kann(38).

55.      Wie einige Autoren zu Recht hervorgehoben haben, „lässt die Verordnung [Nr. 2201/2003] unabhängig von der Grundlage der Zuständigkeit des nach dieser Verordnung angerufenen Gerichts und trotz der Bemühungen um eine Verfeinerung und Anpassung der gerichtlichen Anknüpfungspunkte, die diese Verordnung unternimmt, in Art. 15 zu, dass der auf diese Weise bestimmte Gerichtsstand nicht notwendigerweise derjenige ist, der am besten für die Entscheidung in der Hauptsache geeignet ist“(39).

56.      Der Gerichtshof hat gleichwohl im Urteil IQ (40) festgestellt, dass der in Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 festgelegte Übertragungsmechanismus nicht zwischen zwei Gerichten anwendbar ist, die beide nach Art. 8 bzw. 12 dieser Verordnung in der Hauptsache zuständig sind(41). Eine solche Auslegung bezieht sich jedoch auf eine andere Situation als die des vorliegenden Falles, so dass dieses Urteil der Anwendung von Art. 15 der genannten Verordnung in der vorliegenden Rechtssache nicht entgegensteht(42).

57.      Jedenfalls erlaubt Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 dem Gericht, das nach den Zuständigkeitsregeln der Verordnung „für die Entscheidung in der Hauptsache“ zuständig ist, die Rechtssache nicht nur an ein anderes Gericht zu übertragen, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, sondern auch an jedes Gericht eines Mitgliedstaats, einschließlich eines Gerichts, das nach keiner dieser Regeln als zuständig gilt(43), wie dies bei der Übertragung an das Gericht des Mitgliedstaats, in den das Kind im Sinne von Art. 10 der genannten Verordnung widerrechtlich verbracht wurde, der Fall ist.

d)      Zum Verhältnis von Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 und Art. 10 dieser Verordnung

58.      Als Erstes spricht, wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen dargelegt hat, die Tatsache, dass sowohl Art. 10 als auch Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 in Abschnitt 2 („Elterliche Verantwortung“) unter Kapitel II („Zuständigkeit“) dieser Verordnung aufgeführt sind, für die Anwendbarkeit von deren Art. 15, selbst in Fällen, in denen die Zuständigkeit auf Art. 10 der Verordnung beruht.

59.      Denn weder aus dem Wortlaut noch aus der Systematik von Abschnitt 2 des Kapitels II der Verordnung Nr. 2201/2003 ergibt sich, dass die in Art. 15 dieser Verordnung vorgesehene Möglichkeit ausgeschlossen ist, wenn das Gericht nach Art. 10 dieser Verordnung zuständig ist(44). Im Gegenteil, da Art. 15 Abs. 4 und 5 der Verordnung vorsehen, dass, sofern die Frist, innerhalb derer das Gericht des anderen Mitgliedstaats angerufen werden oder sich für zuständig erklären muss, nicht eingehalten wird, das zuerst angerufene Gericht „weiterhin nach den Artikeln 8 bis 14 [der Verordnung Nr. 2201/2003] zuständig [ist]“ (Hervorhebung nur hier), bedeutet dies, dass der Unionsgesetzgeber in Betracht gezogen hat, dass diese Möglichkeit von einem Gericht eines Mitgliedstaats, dessen Zuständigkeit ursprünglich auf Art. 10 dieser Verordnung beruht, wirksam ausgeübt werden kann und, wenn keine Verweisung erfolgt, gemäß diesem Artikel „das befasste Gericht weiterhin … zuständig [sein]“ kann(45). Diese Analyse wird durch die Tatsache gestützt, dass das zuständige Gericht nach Art. 15 der genannten Verordnung von Amts wegen entscheiden kann, den Verweisungsmechanismus in Gang zu setzen, auch wenn diese Vorgehensweise gemäß Abs. 2 in fine dieser Bestimmung von mindestens einer der Parteien akzeptiert worden sein muss(46).

60.      Als Zweites ist daran zu erinnern, dass Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 den zuständigen Gerichten einen gewissen Ermessensspielraum einräumt, jedoch innerhalb der Grenzen des Mechanismus, den diese Bestimmung etabliert, und, wie ich bereits dargelegt habe, beruhend auf einem Geist der Zusammenarbeit zwischen den Gerichten, der die Rechtssicherheit nicht gefährdet(47).

61.      Als Drittes muss ich darauf hinweisen, dass das Ziel der Verordnung Nr. 2201/2003, die Achtung der Grundrechte des Kindes, wie sie in Art. 24 der Charta niedergelegt sind, sicherzustellen, bedeutet, dass gemäß Abs. 2 dieser Bestimmung das Wohl des Kindes bei allen das Kind betreffenden Maßnahmen, insbesondere denen der Hoheitsträger, eine vorrangige Erwägung sein muss. Folglich liegt es auf der Hand, dass bei der Auslegung dieser Verordnung in erster Linie dieses Interesse berücksichtigt werden muss. In diesem Zusammenhang bin ich der Ansicht, dass die Anwendbarkeit von Art. 15 der Verordnung außer Zweifel steht, wenn, wie im vorliegenden Fall, die Zuständigkeit für die Entscheidung in der Hauptsache auf Art. 10 der genannten Verordnung beruht. Denn wie die Kommission zu Recht hervorgehoben hat, bezweckt die Anwendbarkeit der letztgenannten Bestimmung selbst im Fall des widerrechtlichen Verbringens eines Kindes, von der Regel der grundsätzlichen Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind bis zu seiner Entführung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, gerade mit dem Ziel abzuweichen, dem Wohl des Kindes Rechnung zu tragen(48).

62.      Dies vorausgeschickt, bin ich der Ansicht, dass das Ziel der Achtung des Vorrangs des Kindeswohls, wie es in der Verordnung Nr. 2201/2003 und in Art. 24 der Charta gewährleistet wird, gegebenenfalls zwei unterschiedliche Ansätze rechtfertigen kann. Man könnte erstens die Auffassung vertreten, dass in einem konkreten Fall die Verweisung der Rechtssache nach Art. 15 der Verordnung an das Gericht des Mitgliedstaats, in dem das Kind nach einem widerrechtlichen Verbringen (oder Zurückhalten) seinen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt hat, nicht dem Wohl des Kindes dient, oder zweitens, dass in Anbetracht der konkreten Umstände des Falls ausnahmsweise die Verweisung an das Gericht des Mitgliedstaats, in dem das Kind infolge des widerrechtlichen Verbringens seinen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt hat, zulässig sein kann.

63.      Meines Erachtens darf die Wahrung dieses Interesses hingegen nicht dazu führen, dass das nach Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 in Fragen der elterlichen Verantwortung zuständige Gericht systematisch oder absolut auf die Ausübung der Befugnis verzichten kann, die ihm der in Art. 15 dieser Verordnung vorgesehene Verweisungsmechanismus verleiht, wenn das Gericht, das mit Rücksicht auf den Grundsatz des Kindeswohls „den Fall besser beurteilen kann“, das Gericht des Mitgliedstaats ist, in dessen Hoheitsgebiet das Kind infolge eines widerrechtlichen Verbringens seinen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat. Denn Art. 15 der genannten Verordnung bietet die nötige Flexibilität, damit die Gerichte der Mitgliedstaaten abweichend von Art. 10 der Verordnung in besonderen Fällen die Zuständigkeit übernehmen können, wenn die Übertragung der Zuständigkeit dem Wohl des Kindes dient(49).

64.      In diesem Zusammenhang erinnere ich daran, dass der Gerichtshof festgestellt hat, dass das Erfordernis, dass die Verweisung dem Kindeswohl entsprechen muss, mit sich bringt, dass sich das zuständige Gericht anhand der konkreten Umstände des Falls vergewissert, dass die von ihm erwogene Verweisung an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats nicht die Gefahr nachteiliger Auswirkungen auf die Lage des Kindes birgt. Der Gerichtshof hat klargestellt, dass das zuständige Gericht hierfür zu würdigen hat, welche etwaigen negativen Auswirkungen eine solche Verweisung auf die emotionalen, familiären und sozialen Beziehungen des Kindes oder auf seine materielle Lage haben könnte(50).

65.      Als Viertes und Letztes muss ich darauf hinweisen, dass ich in einem Zusammenhang wie dem hier in Rede stehenden wie Generalanwältin Sharpston(51) Zweifel daran habe, dass der Grundsatz, dass Ausnahmen oder Abweichungen von einer Regel eng auszulegen sind, vorbehaltlos angewendet werden sollte. Denn im Fall von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 entspricht die Regel der Beibehaltung der Zuständigkeit des Gerichts des früheren gewöhnlichen Aufenthalts zwar einem der Grundprinzipien dieser Verordnung, nämlich der rechtswidrigen Handlung des entziehenden Elternteils jede rechtliche Wirkung zu nehmen, doch die Ausnahme entspricht einem anderen Grundprinzip, da es sich um eine Zuständigkeitsregel handelt, die auf das Wohl des Kindes gemäß Art. 24 der Charta und insbesondere auf das Kriterium der Nähe ausgerichtet ist(52).

66.      In Anbetracht des Wortlauts, der Systematik und der Ziele der Verordnung Nr. 2201/2003 ist somit davon auszugehen, dass eine Verweisung ausnahmsweise auch dann möglich ist, wenn die beabsichtigte Übertragung an ein Gericht des Mitgliedstaats erfolgt, in den das betreffende Kind widerrechtlich verbracht wurde, sofern sich das zuständige Gericht anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls ordnungsgemäß vergewissert hat, dass die Verweisung die drei kumulativen Voraussetzungen des Art. 15 Abs. 1 der Verordnung erfüllt, wobei die wichtigste Voraussetzung darin besteht, dass die Verweisung dem Wohl des betroffenen Kindes dient.

67.      Diese Voraussetzungen sind Gegenstand der zweiten Vorlagefrage.

C.      Zur zweiten Vorlagefrage

68.      Mit seiner zweiten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die in Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 genannten Voraussetzungen abschließenden Charakter haben, und, falls dies bejaht wird, unter welcher Voraussetzung oder welchen Voraussetzungen ein nach Art. 8 Abs. 1 und Abs. 3 Buchst. f des Haager Übereinkommens von 1980 gestellter Antrag auf Rückgabe eines Kindes, über den noch keine abschließende Entscheidung getroffen worden ist, berücksichtigt werden kann(53).

69.      Bevor ich diese Voraussetzungen untersuche, um festzustellen, ob ein Rückführungsverfahren nach dieser Bestimmung von den zuständigen Gerichten berücksichtigt werden kann, wenn sie die Anwendung von Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 prüfen (Abschnitt 2), werde ich einige Überlegungen zum Regelungsgefüge dieser Verordnung und des Haager Übereinkommens von 1980 sowie zum zugrunde liegenden Sachverhalt des vorliegenden Antrags auf Rückgabe der Kinder anstellen, wie er sich aus dem Vorlagebeschluss und den Antworten auf die vom Gerichtshof in der mündlichen Verhandlung gestellten Fragen ergibt (Abschnitt 1).

1.      Zum Antrag auf Rückgabe der Kinder gemäß dem Haager Übereinkommen von 1980 und Art. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003

70.      Zunächst erinnere ich daran, dass das Haager Übereinkommen von 1980 in den Art. 8 bis 11, 13 und 20 ein besonderes Verfahren vorsieht, dass darauf abzielt, „[die] sofortige Rückgabe [des Kindes] in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts sicherzustellen“(54). Wenn sich ein widerrechtliches Verbringen von Kindern, wie im Ausgangsverfahren, innerhalb der Union ereignet, „ergänzt und präzisiert [die Verordnung (EG) Nr. 2201/2003] insbesondere in ihrem Art. 11, [diese] Regeln des Übereinkommens“(55). Aufgrund der Überschneidungen und des engen Zusammenhangs zwischen den Bestimmungen dieser Verordnung und den Bestimmungen dieses Übereinkommens können sich letztere somit auf den Sinn, die Tragweite und die Wirksamkeit der Bestimmungen dieser Verordnung auswirken(56).

71.      Zweitens stelle ich fest, dass der Gerichtshof das Verhältnis zwischen Art. 60 und Art. 62 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003(57) bereits erläutert hat, als er entschied, dass „Entführungen von Kindern aus einem Mitgliedstaat in einen anderen nunmehr [diesem] Komplex von Regeln [unterliegen] …, wobei [den Regeln dieser Verordnung] in ihrem Anwendungsbereich der Vorrang zukommt„(58).

72.      Dies vorausgeschickt, geht aus dem Vorlagebeschluss und den Antworten der Parteien auf die Fragen des Gerichtshofs hervor, dass zumindest bis zum Tag der mündlichen Verhandlung keine abschließende Entscheidung des Okresny súd Bratislava I (Bezirksgericht Bratislava I) über den Antrag des Vaters auf Rückgabe der Kinder, den er am 3. August 2020 bei diesem Gericht gestellt hatte, ergangen ist(59). In diesem Zusammenhang hat der Vater erklärt, dass das Ausbleiben einer Entscheidung dieses Gerichts innerhalb einer angemessenen Frist unter anderem darauf zurückzuführen sei, dass der erste mit dem Rückgabeantrag befasste Richter aufgrund eines Strafverfahrens wegen Veruntreuung suspendiert worden sei und das Rückgabeverfahren einem anderen Richter habe übertragen werden müssen(60).

73.      Es stellt sich daher die Frage, ob es möglich ist, diese Umstände bei der konkreten Beurteilung jeder der in Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 aufgestellten Voraussetzungen zu berücksichtigen. Diese Frage werde ich im Folgenden beantworten.

2.      Zur Berücksichtigung des Rückgabeantrags als Sachverhaltselement im Rahmen der Beurteilung der abschließenden Voraussetzungen des Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003

74.      Aus dem Wortlaut von Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 geht klar hervor, dass die in dieser Bestimmung aufgeführten Bedingungen abschließend aufgezählt werden.

75.      Hierzu hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Verweisung an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats nach Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 nur dann erfolgen kann, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind, nämlich dass eine Bindung zwischen dem Kind und einem anderen Mitgliedstaat im Sinne von Art. 15 Abs. 3 Buchst. a bis e dieser Verordnung besteht, dass das Gericht, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, der Ansicht ist, dass ein Gericht dieses anderen Mitgliedstaats den Fall besser beurteilen kann, und dass die Verweisung dem Wohl des Kindes dient, in dem Sinne, dass sie nicht die Gefahr nachteiliger Auswirkungen auf die Lage des betroffenen Kindes birgt(61). Das normalerweise für einen Fall zuständige Gericht muss also, um eine Verweisung an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats beantragen zu dürfen, die starke Vermutung widerlegen können, die für die Beibehaltung seiner eigenen Zuständigkeit nach der genannten Verordnung spricht(62). Um diese Vermutung zu widerlegen, darf dieses Gericht keine anderen als die in Art. 15 dieser Verordnung aufgeführten Voraussetzungen, die vom Gerichtshof restriktiv ausgelegt werden, berücksichtigen.

76.      Die Kommission hat in ihren schriftlichen Erklärungen erläutert, dass ihrer Ansicht nach das Vorliegen eines Antrags auf Rückgabe nach dem Haager Übereinkommen von 1980, über den in dem Mitgliedstaat, in den das Kind widerrechtlich verbracht worden sei, keine abschließende Entscheidung getroffen worden sei, als solches nicht automatisch Auswirkungen auf die Frage habe, ob die Voraussetzungen des Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 erfüllt seien. In einer Antwort auf eine vom Gerichtshof in der mündlichen Verhandlung gestellte Frage hat sie ausgeführt, dass ein solcher Umstand vom zuständigen Gericht bei der Beurteilung der ersten Voraussetzung, die das Bestehen einer besonderen Bindung zwischen dem Kind und einem anderen Mitgliedstaat betreffe, nicht berücksichtigt werden könne. In der Tat hat der Gerichtshof in Bezug auf diese Voraussetzung bereits entschieden, dass Fälle, in denen die in Art. 15 Abs. 3 Buchst. a bis e dieser Verordnung abschließend aufgeführten Elemente nicht vorliegen, von vorneherein vom Verweisungsmechanismus ausgeschlossen sind(63). Mit anderen Worten, eine solche „besondere Bindung“ besteht nur, wenn, wie im vorliegenden Fall, eines oder mehrere Kriterien dieser Bestimmung erfüllt sind(64). Daher kann das Vorliegen eines Rückgabeverfahrens nach dem Haager Übereinkommen von 1980 keinen Einfluss auf die Beurteilung dieser Kriterien haben.

77.      Die Kommission hat jedoch ergänzt, dass in faktischer Hinsicht das Vorliegen eines Rückgabeantrags vom zuständigen Gericht bei der Prüfung der zweiten und der dritten Voraussetzung berücksichtigt werden könne, d. h. bei der Prüfung, ob es ein Gericht gibt, das den Fall oder einen Teil des Falls „besser beurteilen kann“, und bei der Prüfung des Kindeswohls im Fall einer möglichen Übertragung an das Gericht eines Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung hat.

78.      Ich stimme diesem Ansatz zu, sofern es um die Berücksichtigung eines faktischen Umstands geht, und zwar die Existenz eines Rückgabeantrags, über den noch keine abschließende Entscheidung getroffen worden ist.

79.      Hinsichtlich der Voraussetzung der Existenz eines Gerichts, das den Fall „besser beurteilen kann“, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass das zuständige Gericht, das den Fall abgeben will, sicherstellen muss, dass die Verweisung geeignet ist, im Vergleich zur Beibehaltung seiner eigenen Zuständigkeit einen „realen und konkreten Mehrwert“ für eine das Kind betreffende Entscheidung zu erbringen(65).

80.      Im vorliegenden Fall ist in der mündlichen Verhandlung klargestellt worden, dass bei Anwendung von Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 eine mögliche Übertragung der Zuständigkeit des österreichischen Gerichts nicht auf den Okresny súd Bratislava I (Bezirksgericht Bratislava I), sondern auf den Okresny súd Bratislava V (Bezirksgericht Bratislava V) erfolgen würde, der bereits mehrere Entscheidungen zu dringenden einstweiligen Maßnahmen betreffend das Umgangsrecht des Vaters und das Recht der Kinder auf Unterhalt auf der Grundlage von Art. 20 dieser Verordnung und Art. 14 der Verordnung Nr. 4/2009 erlassen hat. Es handelt sich also um einen Umstand, der für die Annahme, dass dieses zweite Gericht besser in der Lage sein wird, den Fall zu beurteilen, von Relevanz ist.

81.      Die Verzögerung des Rückgabeverfahrens vor dem Okresny súd Bratislava I (Bezirksgericht Bratislava I) um mehr als zwei Jahre wäre hingegen ein Umstand, der bei der Feststellung, dass dieses Gericht, nicht im Sinne von Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 in der Lage ist, den Fall besser zu beurteilen, eine Rolle spielt. Denn bei der Prüfung, ob ein Gericht besser in der Lage ist, den Fall zu beurteilen, ist die Tatsache, dass das Gericht des Mitgliedstaats, an den das zuständige Gericht die Rechtssache verweisen will, noch keine Entscheidung über den Antrag auf Rückgabe der Kinder getroffen hat, ein negativer Umstand, da gemäß Art. 16 des Haager Übereinkommens von 1980(66) vorübergehend weder dieses Gericht noch andere Gerichte in diesem Mitgliedstaat eine Entscheidung in der Hauptsache treffen können(67).

82.      Was die Voraussetzung des Kindeswohls betrifft, würde sowohl eine Verweisung der Rechtssache an ein Gericht, das die sofortige Rückgabe des Kindes in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts nicht gewährleistet und hierbei eine erhebliche Verzögerung verursacht hat(68), als auch eine Verweisung an ein Gericht, das nicht in der Lage ist, eine Sachentscheidung über das Sorgerecht zu treffen, weil es gemäß Art. 16 des Haager Übereinkommens von 1980 vorübergehend an einer Entscheidung gehindert ist, dem Kindeswohl zuwiderlaufen(69).

83.      Dies vorausgeschickt, scheint mir, dass eine solche Verweisung nicht völlig ausgeschlossen werden kann. Die Tatsache, dass die vom zuständigen Gericht beabsichtigte Verweisung an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats gemäß Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 dem Wohl des Kindes dienen muss, bedeutet, dass sich das zuständige Gericht anhand der konkreten Umstände des Falls vergewissern muss, dass bei dieser Verweisung die Grundrechte des Kindes gewahrt werden. Zwar sieht Art. 11 Abs. 8 dieser Verordnung vor, dass „[u]ngeachtet einer nach Artikel 13 des Haager Übereinkommens von 1980 ergangenen Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes verweigert wird, … eine spätere Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird und die von einem nach dieser Verordnung zuständigen Gericht erlassen wird, … vollstreckbar [ist], um die Rückgabe des Kindes sicherzustellen“(70). Dies bedeutet, dass die Entscheidung, keine Rückgabe anzuordnen, zu einer „bedingten Annahme“ des zuständigen Gerichts führt, das in diesem Fall das letzte Wort in Bezug auf die Rückgabe des Kindes hat(71). Doch selbst in diesem Fall darf die Rechtswidrigkeit des Verbringens des Kindes die zuständigen Gerichte nicht dazu veranlassen, automatisch eine Entscheidung „ungeachtet einer abgelehnten Rückgabe“ im Sinne von Art. 11 Abs. 8 der Verordnung zu erlassen, ohne Umstände zu berücksichtigen, die für den Verbleib des Kindes in dem Mitgliedstaat, in den es widerrechtlich verbracht wurde, sprechen könnten(72).

84.      Das zuständige Gericht muss daher in jeden Fall eine ausführliche Prüfung des Kindeswohls vornehmen, was sich als wesentlich erweist, um die Interessen des Kindes zu berücksichtigen und seine Grundrechte zu achten. In diesem Zusammenhang erinnere ich zum einen daran, dass die der Verordnung Nr. 2201/2003 zugrunde liegenden Prinzipien des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung ein angemessenes Maß an Zusammenarbeit und Information zwischen den Gerichten des Mitgliedstaats, in den das betreffende Kind widerrechtlich verbracht worden ist, und den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem das Kind vor seinem Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt hat, voraussetzen. Zum anderen weise ich darauf hin, dass Art. 15 dieser Verordnung ein gewisses Maß an Flexibilität in dem durch die Verordnung geschaffenen System ermöglicht, wenn sich herausstellt, dass es dem Wohl des Kindes dient, wenn sein Schutz durch andere Gerichte als das des Mitgliedstaats seines gewöhnlichen Aufenthalts gewährleistet wird.

V.      Ergebnis

85.      Aufgrund der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, dem Landesgericht Korneuburg, wie folgt zu antworten:

1.      Art. 15 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000

ist dahin auszulegen, dass

das Gericht eines Mitgliedstaats, dessen Zuständigkeit für Entscheidungen über das Sorgerecht für ein Kind auf Art. 10 dieser Verordnung in seiner Eigenschaft als Gericht des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, beruht, berechtigt ist, ausnahmsweise das Gericht des Mitgliedstaats, in den das Kind von einem Elternteil widerrechtlich verbracht worden ist und in dem es sich mit diesem Elternteil aufhält, gemäß Art. 15 Abs. 1 Buchst. b der genannten Verordnung zu ersuchen, sich für zuständig zu erklären, sofern sich das zuständige Gericht anhand der konkreten Umstände des Falls ordnungsgemäß versichert hat, dass die Verweisung die drei kumulativen Voraussetzungen in Art. 15 Abs. 1 dieser Verordnung erfüllt, wobei die wichtigste Voraussetzung darin besteht, dass die Verweisung dem Wohl des Kindes dient.

2.      Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003

ist dahin auszulegen, dass

zum einen die in dieser Bestimmung vorgesehenen Voraussetzungen abschließenden Charakter haben, und zum anderen das Vorliegen eines Antrags auf Rückgabe eines Kindes nach Art. 8 Abs. 1 und Abs. 3 Buchst. f des am 25. Oktober 1980 geschlossenen Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführungen, über den noch keine abschließende Entscheidung ergangen ist, der Anwendbarkeit von Art. 15 dieser Verordnung nicht entgegensteht. Das Vorliegen eines solchen Antrags ist jedoch ein tatsächlicher Umstand, der von dem zuständigen Gericht bei der Prüfung der in Art. 15 Abs. 1 der genannten Verordnung vorgesehenen Voraussetzungen der Existenz eines Gerichts, das den Fall besser beurteilen kann, und des Kindeswohls im Fall der Verweisung an das Gericht eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung hat, berücksichtigt werden kann.










































































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