C-765/22 – Luis Carlos u. a.

C-765/22 – Luis Carlos u. a.

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2024:331

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

18. April 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Verordnung (EU) 2015/848 – Insolvenzverfahren – Hauptinsolvenzverfahren in Deutschland und Sekundärinsolvenzverfahren in Spanien – Anfechtung des Inventars und des Gläubigerverzeichnisses, die der Verwalter im Sekundärinsolvenzverfahren vorgelegt hat – Einstufung der Forderungen der Arbeitnehmer – Zu berücksichtigender Zeitpunkt – Verbringen von in Spanien belegenen, zur Masse gehörenden Gegenständen nach Deutschland – Zusammensetzung des Vermögens eines Sekundärinsolvenzverfahrens – Zu berücksichtigende zeitliche Parameter“

In den verbundenen Rechtssachen C‑765/22 und C‑772/22

betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Juzgado de lo Mercantil n° 1 de Palma de Mallorca (Handelsgericht Nr. 1 Palma de Mallorca, Spanien) mit Entscheidungen vom 24. November 2022 (C‑765/22) und vom 25. November 2022 (C‑772/22), beim Gerichtshof eingegangen am 16. Dezember 2022 bzw. am 19. Dezember 2022, in den Verfahren

Luis Carlos,

Severino,

Isidora,

Angélica,

Paula,

Luis Francisco,

Delfina

gegen

Air Berlin Luftverkehrs KG, Sucursal en España (C‑765/22)

und

Victoriano,

Bernabé,

Jacinta,

Sandra,

Patricia,

Juan Antonio,

Verónica

gegen

Air Berlin Luftverkehrs KG, Sucursal en España,

Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG (C‑772/22)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin), des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Dritten Kammer sowie der Richter N. Piçarra, N. Jääskinen und M. Gavalec,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Luis Carlos, Severino, Isidora, Angélica, Paula, Luis Francisco, Delfina, Victoriano, Bernabé, Jacinta, Sandra, Patricia, Juan Antonio und Verónica, vertreten durch A. Martínez Domingo, Abogado, und M. I. Muñoz García, Procuradora,

–        der Air Berlin Luftverkehrs KG, Sucursal en España, vertreten durch L. A. Martín Bernardo, Administrador concursal,

–        der spanischen Regierung, vertreten durch A. Ballesteros Panizo als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Pardo Quintillán und W. Wils als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen zum einen die Auslegung von Art. 7 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. g und h sowie von Art. 35 der Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren (ABl. 2015, L 141, S. 19) in Verbindung mit dem 72. Erwägungsgrund dieser Verordnung und zum anderen von Art. 3 Abs. 2, Art. 21 Abs. 1 und 2 sowie von Art. 34 dieser Verordnung.

2        Sie ergehen im Rahmen von zwei Rechtsstreitigkeiten, nämlich in der ersten zwischen Luis Carlos, Severino, Isidora, Angélica, Paula, Luis Francisco und Delfina auf der einen und der Air Berlin Luftverkehrs KG, Sucursal en España (im Folgenden: Air Berlin Spanien), auf der anderen Seite über die Anfechtung des Inventars und des vom Verwalter erstellten Gläubigerverzeichnisses im Rahmen eines gegen Air Berlin Spanien auf spanischem Hoheitsgebiet eröffneten Sekundärinsolvenzverfahrens (Rechtssache C‑765/22) und in der zweiten zwischen Victoriano, Bernabé, Jacinta, Sandra, Patricia, Juan Antonio und Verónica auf der einen Seite und Air Berlin Spanien und der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG (im Folgenden: Air Berlin) auf der anderen Seite über die Anfechtung einer Handlung, mit der zur Masse gehörende Vermögensgegenstände aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats entfernt wurden (Rechtssache C‑772/22).

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        In den Erwägungsgründen 3, 22, 23, 40, 46, 48, 66 bis 68 und 72 der Verordnung 2015/848 heißt es:

„(3)      Für ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarktes sind effiziente und wirksame grenzüberschreitende Insolvenzverfahren erforderlich. Die Annahme dieser Verordnung ist zur Verwirklichung dieses Ziels erforderlich, das in den Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen im Sinne des Artikels 81 des Vertrags fällt.

(22)      Diese Verordnung erkennt die Tatsache an, dass aufgrund der großen Unterschiede im materiellen Recht ein einziges Insolvenzverfahren mit universaler Geltung für die [Europäische] Union nicht realisierbar ist. Die ausnahmslose Anwendung des Rechts des Staates der Verfahrenseröffnung würde vor diesem Hintergrund häufig zu Schwierigkeiten führen. Dies gilt etwa für die in den Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich ausgeprägten nationalen Regelungen zu den Sicherungsrechten. Aber auch die Vorrechte einzelner Gläubiger im Insolvenzverfahren sind teilweise vollkommen anders ausgestaltet. Bei der nächsten Überprüfung dieser Verordnung wird es erforderlich sein, weitere Maßnahmen zu ermitteln, um die Vorrechte der Arbeitnehmer auf europäischer Ebene zu verbessern. Diese Verordnung sollte solchen unterschiedlichen nationalen Rechten auf zweierlei Weise Rechnung tragen. Zum einen sollten Sonderanknüpfungen für besonders bedeutsame Rechte und Rechtsverhältnisse vorgesehen werden (z. B. dingliche Rechte und Arbeitsverträge). Zum anderen sollten neben einem Hauptinsolvenzverfahren mit universaler Geltung auch innerstaatliche Verfahren zugelassen werden, die lediglich das im Eröffnungsstaat befindliche Vermögen erfassen.

(23)      Diese Verordnung gestattet die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens in dem Mitgliedstaat, in dem der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Dieses Verfahren hat universale Geltung sowie das Ziel, das gesamte Vermögen des Schuldners zu erfassen. Zum Schutz der unterschiedlichen Interessen gestattet diese Verordnung die Eröffnung von Sekundärinsolvenzverfahren parallel zum Hauptinsolvenzverfahren. Ein Sekundärinsolvenzverfahren kann in dem Mitgliedstaat eröffnet werden, in dem der Schuldner eine Niederlassung hat. Seine Wirkungen sind auf das in dem betreffenden Mitgliedstaat belegene Vermögen des Schuldners beschränkt. Zwingende Vorschriften für die Koordinierung mit dem Hauptinsolvenzverfahren tragen dem Gebot der Einheitlichkeit in der Union Rechnung.

(40)      Ein Sekundärinsolvenzverfahren kann neben dem Schutz der inländischen Interessen auch anderen Zwecken dienen. Dies kann der Fall sein, wenn die Insolvenzmasse des Schuldners zu verschachtelt ist, um als Ganzes verwaltet zu werden, oder weil die Unterschiede in den betroffenen Rechtssystemen so groß sind, dass sich Schwierigkeiten ergeben können, wenn das Recht des Staates der Verfahrenseröffnung seine Wirkung in den anderen Staaten, in denen Vermögensgegenstände belegen sind, entfaltet. Aus diesem Grund kann der Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens beantragen, wenn dies für die effiziente Verwaltung der Masse erforderlich ist.

(46)      Im Interesse eines wirksamen Schutzes lokaler Interessen sollte es dem Verwalter im Hauptinsolvenzverfahren nicht möglich sein, das in dem Mitgliedstaat der Niederlassung befindliche Vermögen missbräuchlich zu verwerten oder missbräuchlich an einen anderen Ort zu bringen, insbesondere wenn dies in der Absicht geschieht, die wirksame Befriedigung dieser Interessen für den Fall, dass im Anschluss ein Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet wird, zu vereiteln.

(48)      … Um die dominierende Rolle des Hauptinsolvenzverfahrens sicherzustellen, sollten dem Verwalter dieses Verfahrens mehrere Einwirkungsmöglichkeiten auf gleichzeitig anhängige Sekundärinsolvenzverfahren gegeben werden. …

(66)      Diese Verordnung sollte für den Insolvenzbereich einheitliche Kollisionsnormen formulieren, die die nationalen Vorschriften des internationalen Privatrechts ersetzen. Soweit nichts anderes bestimmt ist, sollte das Recht des Staates der Verfahrenseröffnung (lex concursus) Anwendung finden. Diese Kollisionsnorm sollte für Hauptinsolvenzverfahren und Partikularverfahren gleichermaßen gelten. Die lex concursus regelt sowohl die verfahrensrechtlichen als auch die materiellen Wirkungen des Insolvenzverfahrens auf die davon betroffenen Personen und Rechtsverhältnisse. Nach ihr bestimmen sich alle Voraussetzungen für die Eröffnung, Abwicklung und Beendigung des Insolvenzverfahrens.

(67)      Die automatische Anerkennung eines Insolvenzverfahrens, auf das regelmäßig das Recht des Staats der Verfahrenseröffnung Anwendung findet, kann mit den Vorschriften anderer Mitgliedstaaten für die Vornahme von Rechtshandlungen kollidieren. Um in den anderen Mitgliedstaaten als dem Staat der Verfahrenseröffnung Vertrauensschutz und Rechtssicherheit zu gewährleisten, sollte eine Reihe von Ausnahmen von der allgemeinen Vorschrift vorgesehen werden.

(68)      Ein besonderes Bedürfnis für eine vom Recht des Eröffnungsstaats abweichende Sonderanknüpfung besteht bei dinglichen Rechten, da solche Rechte für die Gewährung von Krediten von erheblicher Bedeutung sind. Die Begründung, Gültigkeit und Tragweite von dinglichen Rechten sollten sich deshalb regelmäßig nach dem Recht des Belegenheitsorts bestimmen und von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht berührt werden. Der Inhaber des dinglichen Rechts sollte somit sein Recht zur Aus- bzw. Absonderung an dem Sicherungsgegenstand weiter geltend machen können. Falls an Vermögensgegenständen in einem Mitgliedstaat dingliche Rechte nach dem Recht des Belegenheitsstaats bestehen, das Hauptinsolvenzverfahren aber in einem anderen Mitgliedstaat stattfindet, sollte der Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens in dem Zuständigkeitsgebiet, in dem die dinglichen Rechte bestehen, beantragen können, sofern der Schuldner dort eine Niederlassung hat. Wird kein Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet, so sollte ein etwaiger überschießender Erlös aus der Veräußerung der Vermögensgegenstände, an denen dingliche Rechte bestanden, an den Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens abzuführen sein.

(72)      Zum Schutz der Arbeitnehmer und der Arbeitsverhältnisse sollten die Wirkungen der Insolvenzverfahren auf die Fortsetzung oder Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie auf die Rechte und Pflichten aller an einem solchen Arbeitsverhältnis beteiligten Parteien durch das gemäß den allgemeinen Kollisionsnormen für den jeweiligen Arbeitsvertrag maßgebliche Recht bestimmt werden. Zudem sollte in Fällen, in denen zur Beendigung von Arbeitsverträgen die Zustimmung eines Gerichts oder einer Verwaltungsbehörde erforderlich ist, die Zuständigkeit zur Erteilung dieser Zustimmung bei dem Mitgliedstaat verbleiben, in dem sich eine Niederlassung des Schuldners befindet, selbst wenn in diesem Mitgliedstaat kein Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Für sonstige insolvenzrechtliche Fragen, wie etwa, ob die Forderungen der Arbeitnehmer durch ein Vorrecht geschützt sind und welchen Rang dieses Vorrecht gegebenenfalls erhalten soll, sollte das Recht des Mitgliedstaats maßgeblich sein, in dem das Insolvenzverfahren (Haupt- oder Sekundärverfahren) eröffnet wurde, es sei denn, im Einklang mit dieser Verordnung wurde eine Zusicherung gegeben, um ein Sekundärinsolvenzverfahren zu vermeiden.“

4        Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Verordnung sieht vor:

„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

5.      ‚Verwalter‘ jede Person oder Stelle, deren Aufgabe es ist, auch vorläufig

i)      die in Insolvenzverfahren angemeldeten Forderungen zu prüfen und zuzulassen;

ii)      die Gesamtinteressen der Gläubiger zu vertreten;

iii)      die Insolvenzmasse entweder vollständig oder teilweise zu verwalten;

iv)      die Insolvenzmasse im Sinne der Ziffer iii zu verwerten oder

v)      die Geschäftstätigkeit des Schuldners zu überwachen.

7.      ‚Entscheidung zur Eröffnung eines Insolvenzverfahrens‘

i)      die Entscheidung eines Gerichts zur Eröffnung eines Insolvenzverfahrens oder zur Bestätigung der Eröffnung eines solchen Verfahrens und

ii)      die Entscheidung eines Gerichts zur Bestellung eines Verwalters;

8.      ‚Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung‘ den Zeitpunkt, zu dem die Entscheidung zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens wirksam wird, unabhängig davon, ob die Entscheidung endgültig ist oder nicht;

11.      ‚lokaler Gläubiger‘ den Gläubiger, dessen Forderungen gegen den Schuldner aus oder in Zusammenhang mit dem Betrieb einer Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat als dem Mitgliedstaat entstanden sind, in dem sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners befindet;

…“

5        Art. 3 („Internationale Zuständigkeit“) Abs. 1 bis 3 der Verordnung bestimmt:

„(1)      Für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Hoheitsgebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat (im Folgenden ‚Hauptinsolvenzverfahren‘). Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen ist der Ort, an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht und der für Dritte feststellbar ist.

(2)      Hat der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen im Gebiet eines Mitgliedstaats, so sind die Gerichte eines anderen Mitgliedstaats nur dann zur Eröffnung eines Insolvenzverfahrens befugt, wenn der Schuldner eine Niederlassung im Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats hat. Die Wirkungen dieses Verfahrens sind auf das im Hoheitsgebiet dieses letzteren Mitgliedstaats befindliche Vermögen des Schuldners beschränkt.

(3)      Wird ein Insolvenzverfahren nach Absatz 1 eröffnet, so ist jedes zu einem späteren Zeitpunkt nach Absatz 2 eröffnete Insolvenzverfahren ein Sekundärinsolvenzverfahren.“

6        Art. 6 („Zuständigkeit für Klagen, die unmittelbar aus dem Insolvenzverfahren hervorgehen und in engem Zusammenhang damit stehen“) Abs. 1 der Verordnung sieht vor:

„Die Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet das Insolvenzverfahren nach Artikel 3 eröffnet worden ist, sind zuständig für alle Klagen, die unmittelbar aus dem Insolvenzverfahren hervorgehen und in engem Zusammenhang damit stehen, wie beispielsweise Anfechtungsklagen.“

7        In Art. 7 („Anwendbares Recht“) der Verordnung 2015/848 heißt es:

„(1)      Soweit diese Verordnung nichts anderes bestimmt, gilt für das Insolvenzverfahren und seine Wirkungen das Insolvenzrecht des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet das Verfahren eröffnet wird (im Folgenden ‚Staat der Verfahrenseröffnung‘).

(2)      Das Recht des Staates der Verfahrenseröffnung regelt, unter welchen Voraussetzungen das Insolvenzverfahren eröffnet wird und wie es durchzuführen und zu beenden ist. Es regelt insbesondere:

g)      welche Forderungen als Insolvenzforderungen anzumelden sind und wie Forderungen zu behandeln sind, die nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstehen;

h)      die Anmeldung, die Prüfung und die Feststellung der Forderungen;

m)      welche Rechtshandlungen nichtig, anfechtbar oder relativ unwirksam sind, weil sie die Gesamtheit der Gläubiger benachteiligen.“

8        Art. 8 („Dingliche Rechte Dritter“) der Verordnung sieht vor:

„(1)      Das dingliche Recht eines Gläubigers oder eines Dritten an körperlichen oder unkörperlichen, beweglichen oder unbeweglichen Gegenständen des Schuldners – sowohl an bestimmten Gegenständen als auch an einer Mehrheit von nicht bestimmten Gegenständen mit wechselnder Zusammensetzung –, die sich zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats befinden, wird von der Eröffnung des Verfahrens nicht berührt.

(4)      Absatz 1 steht der Nichtigkeit, Anfechtbarkeit oder relativen Unwirksamkeit einer Rechtshandlung nach Artikel 7 Absatz 2 Buchstabe m nicht entgegen.“

9        Art. 10 („Eigentumsvorbehalt“) der Verordnung sieht vor:

„(1)      Die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gegen den Käufer einer Sache lässt die Rechte der Verkäufer aus einem Eigentumsvorbehalt unberührt, wenn sich diese Sache zum Zeitpunkt der Eröffnung des Verfahrens im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als dem der Verfahrenseröffnung befindet.

(2)      Die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gegen den Verkäufer einer Sache nach deren Lieferung rechtfertigt nicht die Auflösung oder Beendigung des Kaufvertrags und steht dem Eigentumserwerb des Käufers nicht entgegen, wenn sich diese Sache zum Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als dem der Verfahrenseröffnung befindet.

(3)      Die Absätze 1 und 2 stehen der Nichtigkeit, Anfechtbarkeit oder relativen Unwirksamkeit einer Rechtshandlung nach Artikel 7 Absatz 2 Buchstabe m nicht entgegen.“

10      Art. 13 („Arbeitsvertrag“) der Verordnung bestimmt:

„(1)      Für die Wirkungen des Insolvenzverfahrens auf einen Arbeitsvertrag und auf das Arbeitsverhältnis gilt ausschließlich das Recht des Mitgliedstaats, das auf den Arbeitsvertrag anzuwenden ist.

(2)      Die Zuständigkeit für die Zustimmung zu einer Beendigung oder Änderung von Verträgen nach diesem Artikel verbleibt bei den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem ein Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet werden kann, auch wenn in dem betreffenden Mitgliedstaat kein Insolvenzverfahren eröffnet worden ist.

Unterabsatz 1 gilt auch für eine Behörde, die nach nationalem Recht für die Zustimmung zu einer Beendigung oder Änderung von Verträgen nach diesem Artikel zuständig ist.“

11      Art. 21 („Befugnisse des Verwalters“) der Verordnung 2015/848 sieht in den Abs. 1 und 2 vor:

„(1)      Der Verwalter, der durch ein nach Artikel 3 Absatz 1 zuständiges Gericht bestellt worden ist, darf im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats alle Befugnisse ausüben, die ihm nach dem Recht des Staates der Verfahrenseröffnung zustehen, solange in dem anderen Staat nicht ein weiteres Insolvenzverfahren eröffnet ist oder eine gegenteilige Sicherungsmaßnahme auf einen Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens hin ergriffen worden ist. Er darf insbesondere vorbehaltlich der Artikel 8 und 10 die zur Masse gehörenden Gegenstände aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats entfernen, in dem diese sich befinden.

(2)      Der Verwalter, der durch ein nach Artikel 3 Absatz 2 zuständiges Gericht bestellt worden ist, darf in jedem anderen Mitgliedstaat gerichtlich und außergerichtlich geltend machen, dass ein beweglicher Gegenstand nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens aus dem Hoheitsgebiet des Staates der Verfahrenseröffnung in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats verbracht worden ist. Des Weiteren kann der Verwalter eine den Interessen der Gläubiger dienende Anfechtungsklage erheben.“

12      Kapitel III („Sekundärinsolvenzverfahren“) enthält u. a. die Art. 34 bis 36 der Verordnung.

13      Art. 34 („Verfahrenseröffnung“) der Verordnung bestimmt:

„Ist durch ein Gericht eines Mitgliedstaats ein Hauptinsolvenzverfahren eröffnet worden, das in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt worden ist, kann ein nach Artikel 3 Absatz 2 zuständiges Gericht dieses anderen Mitgliedstaats nach Maßgabe der Vorschriften dieses Kapitels ein Sekundärinsolvenzverfahren eröffnen. War es für das Hauptinsolvenzverfahren erforderlich, dass der Schuldner insolvent ist, so wird die Insolvenz des Schuldners in dem Mitgliedstaat, in dem ein Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet werden kann, nicht erneut geprüft. Die Wirkungen des Sekundärinsolvenzverfahrens sind auf das Vermögen des Schuldners beschränkt, das im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats belegen ist, in dem dieses Verfahren eröffnet wurde.“

14      In Art. 35 („Anwendbares Recht“) der Verordnung heißt es:

„Soweit diese Verordnung nichts anderes bestimmt, finden auf das Sekundärinsolvenzverfahren die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats Anwendung, in dessen Hoheitsgebiet das Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet worden ist.“

15      Art. 36 („Recht, zur Vermeidung eines Sekundärinsolvenzverfahrens eine Zusicherung zu geben“) der Verordnung 2015/848 sieht vor:

„(1)      Um die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens zu vermeiden, kann der Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens in Bezug auf das Vermögen, das in dem Mitgliedstaat, in dem ein Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet werden könnte, belegen ist, eine einseitige Zusicherung (im Folgenden ‚Zusicherung‘) des Inhalts geben, dass er bei der Verteilung dieses Vermögens oder des bei seiner Verwertung erzielten Erlöses die Verteilungs- und Vorzugsrechte nach nationalem Recht wahrt, die Gläubiger hätten, wenn ein Sekundärinsolvenzverfahren in diesem Mitgliedstaat eröffnet worden wäre. Die Zusicherung nennt die ihr zugrunde liegenden tatsächlichen Annahmen, insbesondere in Bezug auf den Wert der in dem betreffenden Mitgliedstaat belegenen Gegenstände der Masse und die Möglichkeiten ihrer Verwertung.

(2)      Wurde eine Zusicherung im Einklang mit diesem Artikel gegeben, so gilt für die Verteilung des Erlöses aus der Verwertung von Gegenständen der Masse nach Absatz 1, für den Rang der Forderungen und für die Rechte der Gläubiger in Bezug auf Gegenstände der Masse nach Absatz 1 das Recht des Mitgliedstaats, in dem das Sekundärinsolvenzverfahren hätte eröffnet werden können. Maßgebender Zeitpunkt für die Feststellung, welche Gegenstände nach Absatz 1 betroffen sind, ist der Zeitpunkt der Abgabe der Zusicherung.

(5)      Die Zusicherung muss von den bekannten lokalen Gläubigern gebilligt werden. … Der Verwalter unterrichtet die bekannten lokalen Gläubiger über die Zusicherung, die Regeln und Verfahren für deren Billigung sowie die Billigung oder deren Ablehnung.

(6)      Eine gemäß diesem Artikel gegebene und gebilligte Zusicherung ist für die Insolvenzmasse verbindlich. Wird ein Sekundärinsolvenzverfahren gemäß den Artikeln 37 und 38 eröffnet, so gibt der Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens Gegenstände der Masse, die er nach Abgabe der Zusicherung aus dem Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats entfernt hat, oder – falls diese bereits verwertet wurden – ihren Erlös an den Verwalter des Sekundärinsolvenzverfahrens heraus.

…“

16      Art. 45 („Ausübung von Gläubigerrechten“) der Verordnung bestimmt in Abs. 1, dass „[j]eder Gläubiger … seine Forderung im Hauptinsolvenzverfahren und in jedem Sekundärinsolvenzverfahren anmelden [kann]“.

 Spanisches Recht

17      Nach den Art. 231, 232 und 238 der Ley Concursal (Konkursgesetz) in der Fassung des Real Decreto Legislativo 1/2020 por el que se aprueba el texto refundido de la Ley Concursal (Real Decreto Legislativo 1/2020 über die Annahme der Neufassung des Konkursgesetzes) vom 5. Mai 2020 (BOE Nr. 127 vom 7. Mai 2020) wird die Klagebefugnis in erster Linie dem Verwalter zugewiesen. Jedoch kann diese Befugnis subsidiär auch den Gläubigern zugewiesen werden, wenn sie den Verwalter schriftlich aufgefordert haben, die Klage zu erheben, und dieser die Klage nicht innerhalb von zwei Monaten nach der Aufforderung, tätig zu werden, erhoben hat.

18      In Art. 242 des Konkursgesetzes heißt es:

„Forderungen gegen die Masse sind:

8.      Forderungen, die durch die Ausübung der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit des Insolvenzschuldners nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden sind. Unter diese Regelung fallen die auf diesen Zeitraum entfallenden Forderungen aus Arbeitsverhältnissen einschließlich der Entschädigungen wegen einer Kündigung oder Beendigung des Arbeitsvertrags nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens …

…“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

19      Mit Beschluss vom 1. November 2017 eröffnete das Amtsgericht Charlottenburg (Deutschland) ein Hauptinsolvenzverfahren gegen Air Berlin. Diese Gesellschaft stellte ihre Tätigkeit nach der Eröffnung dieses Verfahrens ein. In der Folge wurde mit Beschluss vom 6. November 2020 ein Sekundärinsolvenzverfahren über das Vermögen dieser Gesellschaft in Spanien eröffnet, da diese dort mit Air Berlin Spanien über eine Niederlassung verfügte.

20      Den Klägern des Ausgangsverfahrens, Beschäftigte von Air Berlin Spanien, wurde infolge der Einstellung der Tätigkeit von Air Berlin gekündigt.

 Rechtssache C765/22

21      Die Kläger des Ausgangsverfahrens klagten vor den spanischen Gerichten und bestritten die Rechtmäßigkeit ihrer Kündigungen.

22      Mit Urteil vom 30. April 2018 erklärte die Sala de lo Social de la Audiencia Nacional (Nationaler Gerichtshof, Kammer für Arbeits- und Sozialsachen, Spanien) die Kündigungen mit Wirkung zum 24. November 2017 für unwirksam, da nicht nachgewiesen worden sei, dass der Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens ein Insolvenzverfahren in Spanien eröffnet habe, um die richterliche Genehmigung des Insolvenzgerichts einzuholen, und da er den gesetzlichen Arbeitnehmervertretern nicht die vorgeschriebenen Dokumente zur Verfügung gestellt habe.

23      Da Air Berlin nicht in der Lage war, die Kläger des Ausgangsverfahrens an ihrem Arbeitsplatz weiter zu beschäftigen, wurde die Gesellschaft verurteilt, ihnen einen bestimmten Betrag als Schadensersatz und Arbeitsentgelt für die Dauer des Kündigungsschutzverfahrens zu zahlen.

24      Die Kläger des Ausgangsverfahrens, damals lokale Gläubiger im Sinne von Art. 2 Nr. 11 der Verordnung 2015/848, meldeten ihre Forderungen gemäß Art. 45 Abs. 1 der Verordnung 2015/848 in dem in Deutschland eröffneten Hauptinsolvenzverfahren und in dem in Spanien eröffneten Sekundärinsolvenzverfahren an.

25      Im Rahmen des Hauptinsolvenzverfahrens wurden diese Forderungen als vorrangig anerkannt, da sie nach deutschem Recht als Masseverbindlichkeiten angesehen wurden. Demgegenüber war der im Rahmen des Sekundärinsolvenzverfahrens bestellte Verwalter der Ansicht, dass es sich bei den Forderungen der Kläger des Ausgangsverfahrens um „Insolvenzforderungen“ handle, weshalb sie als allgemeine und nicht vorrangige Forderungen eingestuft würden. Die Bezugnahme in Art. 242 Nr. 8 des spanischen Konkursgesetzes auf Forderungen aus Arbeitsverhältnissen, die durch eine gerichtliche Entscheidung nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet oder festgestellt würden, beziehe sich auf diejenigen, die nach der Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens begründet oder festgestellt würden, und nicht auf diejenigen, die nach der Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens begründet oder festgestellt würden.

26      Die Kläger des Ausgangsverfahrens erhoben beim Juzgado de lo Mercantil n° 1 de Palma de Mallorca (Handelsgericht Nr. 1 Palma de Mallorca, Spanien), dem vorlegenden Gericht, eine insolvenzrechtliche Zwischenklage, um das so erstellte Gläubigerverzeichnis im Hinblick auf die Anerkennung und den Rang ihrer Forderungen anzufechten. Sie machten geltend, dass die „Eröffnung des Insolvenzverfahrens“ im Sinne von Art. 242 Nr. 8 des Konkursgesetzes notwendigerweise auf das Hauptinsolvenzverfahren verweise, so dass in Anwendung dieser Bestimmung ihre Ansprüche auf Arbeitsentgelt, die nach der Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens entstanden seien, als Forderungen gegen die Masse einzustufen seien.

27      Das vorlegende Gericht führt zunächst aus, das Konkursgesetz scheine, wie sich aus Art. 7 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. g und h sowie aus Art. 35 der Verordnung 2015/848 ergebe, für die Bestimmung der als Insolvenzforderungen anzumeldenden Forderungen und für die Behandlung der nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstandenen Forderungen maßgeblich zu sein.

28      Außerdem hat es Zweifel hinsichtlich des Zeitpunkts der Eröffnung des Insolvenzverfahrens, der bei der Einstufung der Forderungen im Ausgangsverfahren zu berücksichtigen ist. Da die Entscheidungen der spanischen Arbeitsgerichte nach der Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens, aber vor der Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens ergangen seien, handle es sich bei den Forderungen im Ausgangsverfahren entweder um „Masseverbindlichkeiten“ oder um „Insolvenzforderungen“, je nachdem, welches Insolvenzverfahren nach Art. 242 Nr. 8 des Konkursgesetzes zugrunde zu legen sei.

29      Das vorlegende Gericht stellt fest, dass die vom Verwalter im Rahmen des Sekundärinsolvenzverfahrens vorgenommene Auslegung mit einer wörtlichen Auslegung von Art. 242 Nr. 8 des Konkursgesetzes im Einklang stehe. Diese Auslegung könne jedoch im Widerspruch zu einer systematischen Auslegung nach Art. 7 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. g und h sowie Art. 35 der Verordnung 2015/848 in Verbindung mit ihrem 72. Erwägungsgrund im Rahmen des durch die Verordnung geschaffenen eingeschränkten universalen Verfahrens stehen.

30      Dies gelte umso mehr, wenn man berücksichtige, dass nach den Erwägungsgründen 23 und 40 der Verordnung einer der Gründe, die die Möglichkeit rechtfertigten, Sekundärinsolvenzverfahren zu eröffnen, gerade der Schutz der inländischen Interessen sei. In diesem Zusammenhang sei es inkohärent, dass die Verordnung 2015/848 im Interesse des Schutzes der inländischen Interessen vorsehe, dass sich die Vorrechte an Forderungen oder die Rangfolge der Forderungen der Arbeitnehmer nach den Rechtsvorschriften über das Insolvenzverfahren des Staats der Verfahrenseröffnung richteten, die Anwendung dieser Rechtsvorschriften aber zu einem Ergebnis führe, das den Interessen, die geschützt werden sollten, abträglich sei.

31      Unter diesen Umständen hat der Juzgado de lo Mercantil n° 1 de Palma de Mallorca (Handelsgericht Nr. 1 von Palma de Mallorca) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind nach der Gestaltung des mit der Verordnung 2015/848 eingeführten eingeschränkten universalen Verfahrens, das die Eröffnung von Sekundärverfahren gestattet, die lediglich das im Eröffnungsstaat befindliche Vermögen erfassen, Art. 35 und Art. 7 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. g und h in Verbindung mit dem 72. Erwägungsgrund der Verordnung dahin auszulegen, dass die Anwendung der Rechtsvorschriften des Staates der Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens auf die Frage, „wie Forderungen zu behandeln sind, die nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstehen“, sich auf Forderungen bezieht, die nach der Eröffnung des Haupt- und nicht des Sekundärinsolvenzverfahrens entstehen?

 Rechtssache C772/22

32      Zum Zeitpunkt der Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens am 1. November 2017 besaß Air Berlin Vermögensgegenstände und Rechte im spanischen Hoheitsgebiet. Hierunter befand sich eine Forderung, für die im Grundbuchamt Nr. 2 von Ciudad Real (Spanien) eine dingliche Sicherheit an im Eigentum von CR Aeropuertos SL stehenden Grundstücken bestellt war. Über das Vermögen von CR Aeropuertos SL hatte der Juzgado de Primera Instancia n° 4 de Ciudad Real (Gericht erster Instanz Nr. 4 Ciudad Real, Spanien) ein Insolvenzverfahren eröffnet und für Air Berlin eine Forderung mit besonderem Rang eingetragen.

33      Nachdem der Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens die Ansprüche von Air Berlin geltend gemacht hatte, ordnete der Juzgado de Primera Instancia n° 4 de Ciudad Real (Gericht erster Instanz Nr. 4 Ciudad Real) am 10. Mai 2019 an, die Forderung mit besonderem Rang durch die Überweisung von 1 061 291,86 Euro auf das Treuhandkonto des Verwalters zu begleichen.

34      Vor dieser Überweisung hatte der Richter des Juzgado de Primera Instancia n° 4 de Ciudad Real (Gericht erster Instanz Nr. 4 Ciudad Real) von dem mit dem Hauptinsolvenzverfahren befassten deutschen Gericht eine Genehmigung verlangt und erhalten. Der Richter wurde hingegen nicht darauf hingewiesen, dass der Juzgado de lo Social n° 5 de Palma de Mallorca (Arbeits- und Sozialgericht Nr. 5 Palma de Mallorca, Spanien) am 24. Januar 2018 zur Sicherung einer Forderung aus dem Arbeitsverhältnis eines der Kläger des Ausgangsverfahrens Vermögensgegenstände und Rechte im Zusammenhang mit Air Berlin Spanien in Höhe von 245 996,93 Euro beschlagnahmt hatte.

35      Die Kläger des Ausgangsverfahrens erhoben beim Juzgado de lo Mercantil n° 1 de Palma de Mallorca (Handelsgericht Nr. 1 Palma de Mallorca), dem vorlegenden Gericht, Klage auf Aufhebung der Verfügungshandlung, mit der das Vermögen aus dem spanischen Hoheitsgebiet entfernt worden war. Im Rahmen dieser Klage werfen sie dem Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens vor, das Vermögen, das sich in dem Mitgliedstaat befand, in dem wegen des Bestehens einer Niederlassung ein Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet werden konnte, missbräuchlich an einen anderen Ort gebracht zu haben. Folglich liege ein Verstoß gegen die Art. 34 und 36 der Verordnung 2015/848 sowie gegen deren 46. Erwägungsgrund vor. Die lokalen Gläubiger seien benachteiligt worden, da diese Handlung sie daran hindere, die Erfüllung ihrer Forderung zu erwirken.

36      Zudem seien sie gegenüber den anderen Arbeitnehmern im Hauptinsolvenzverfahren in Bezug auf Air Berlin diskriminiert worden, da ihnen, anders als diesen, nichts ausgezahlt worden sei.

37      Das vorlegende Gericht hält es für erforderlich, Erläuterungen zur Auslegung dieser Verordnung zu erhalten.

38      Erstens möchte es wissen, wie sich die Masse eines Sekundärinsolvenzverfahrens zusammensetzt, und insbesondere, welcher zeitliche Parameter bei der Bestimmung der Vermögensgegenstände und der Rechte, die zur Masse gehören, zu berücksichtigen ist.

39      Zweitens möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Entfernen von zur Masse gehörenden Gegenständen aus dem Gebiet, in dem sich die Niederlassung befindet, möglicherweise rechtswidrig und missbräuchlich ist.

40      Es weist darauf hin, dass Art. 21 Abs. 1 der Verordnung 2015/848 dem Verwalter die Befugnis verleihe, die zur Masse gehörenden Gegenstände aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zu entfernen, in dem diese sich befänden.

41      Im vorliegenden Fall stellt sich die Frage, ob der Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens auf der Grundlage dieser Befugnis die zur Masse gehörenden Gegenstände aus dem Gebiet des Mitgliedstaats entfernen kann, wenn er weiß, dass die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens wahrscheinlich ist, und obwohl es eine gerichtliche Entscheidung gibt, mit der die Sicherstellungsbeschlagnahme von Vermögensgegenständen angeordnet wurde.

42      Drittens fragt das vorlegende Gericht nach dem Recht der Gläubiger, Anfechtungsklagen gegen Handlungen des Verwalters des Hauptinsolvenzverfahrens zu erheben.

43      Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass Art. 6 Abs. 1 der Verordnung 2015/848 ausdrücklich vorsehe, dass die Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet das Insolvenzverfahren nach Art. 3 eröffnet worden sei, für Anfechtungsklagen zuständig seien.

44      Das vorlegende Gericht hat jedoch Zweifel, ob es sich bei der von den Klägern des Ausgangsverfahrens erhobenen Klage um eine Anfechtungsklage im Sinne von Art. 21 Abs. 2 dieser Verordnung handelt, da sich ihre Klage auf eine Handlung beziehe, die vom Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens und nicht vom Schuldner vorgenommen worden sei.

45      Selbst wenn dieser Verwalter im Namen und für Rechnung des Schuldners handle, werde diese Handlung nicht vom Schuldner, sondern von dem Verwalter in Ausübung der ihm durch Art. 21 Abs. 1 der Verordnung 2015/848 verliehenen Befugnis vorgenommen, die zur Masse gehörenden Gegenstände aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zu entfernen, in dem diese sich befänden.

46      Das vorlegende Gericht ist daher der Ansicht, dass die Auslegung von Art. 21 Abs. 2 der Verordnung 2015/848 erforderlich sei, um zu bestimmen, ob der Verwalter des Sekundärinsolvenzverfahrens gegen eine solche Handlung des Verwalters des Hauptinsolvenzverfahrens eine Anfechtungsklage erheben könne.

47      Durch die Beantwortung dieser Frage würde es nämlich in die Lage versetzt, zu ermitteln, ob nach der Regelung der subsidiären Klagebefugnis von Gläubigern in den Art. 232 und 238 des Konkursgesetzes die örtlichen Gläubiger zur Erhebung der Klage im Ausgangsverfahren berechtigt seien.

48      Daher hat der Juzgado de lo Mercantil n° 1 de Palma de Mallorca (Handelsgericht Nr. 1 Palma de Mallorca) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Können Art. 3 Abs. 2 und Art. 34 der Verordnung 2015/848 dahin ausgelegt werden, dass die Vermögensgegenstände, die sich in dem Staat befinden, in dem das Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet wird, und auf die sich die Wirkungen des Verfahrens beschränken, nur die zum Zeitpunkt der Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens und nicht die zum Zeitpunkt der Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens vorhandenen Vermögensgegenstände sind?

2.      Kann Art. 21 Abs. 1 der Verordnung 2015/848 dahin ausgelegt werden, dass die Entscheidung des Verwalters des Hauptinsolvenzverfahrens, zur Masse gehörende Gegenstände zu entfernen, ohne die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens zu beantragen oder es durch Abgabe einer einseitigen Zusicherung gemäß den Art. 36 und 37 der Verordnung zu vermeiden, mit der Befugnis vereinbar ist, zur Masse gehörende Gegenstände aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in dem sie sich befinden, zu entfernen, wenn ihm bekannt ist, dass es lokale Gläubiger gibt, die durch Urteil festgestellte Ansprüche aus Arbeitsverhältnissen haben, und ein Arbeits- und Sozialgericht dieses Mitgliedstaats eine Sicherstellungsbeschlagnahme angeordnet hat?

3.      Kann Art. 21 Abs. 2 der Verordnung 2015/848 dahin ausgelegt werden, dass die Befugnis des Verwalters des Sekundärinsolvenzverfahrens zur Erhebung von Anfechtungsklagen im Interesse der Gläubiger in Fällen wie dem vorliegenden, in dem eine Handlung des Verwalters des Hauptinsolvenzverfahrens angefochten werden soll, Anwendung findet?

 Zu den Vorlagefragen

49      Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass, da die Verordnung 2015/848 die Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (ABl. 2000, L 160, S. 1) aufgehoben und ersetzt hat, die vom Gerichtshof vorgenommene Auslegung der Bestimmungen der letztgenannten Verordnung auch für die Bestimmungen der Verordnung 2015/848 gilt, soweit diese Bestimmungen als gleichwertig angesehen werden können.

 Zur Vorlagefrage in der Rechtssache C765/22

50      Mit seiner einzigen Frage in der Rechtssache C‑765/22 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 7 und 35 der Verordnung 2015/848 in Verbindung mit ihrem 72. Erwägungsgrund dahin auszulegen sind, dass sie die Anwendung der Rechtsvorschriften des Staates der Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens nur für Forderungen vorschreiben, die nach der Eröffnung dieses Verfahrens entstanden sind, und nicht für Forderungen, die zwischen der Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens und der Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens entstanden sind.

51      Insoweit ist, was als Erstes den Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen betrifft, erstens festzustellen, dass sowohl Art. 7 Abs. 1 der Verordnung 2015/848, der für Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahren gilt, als auch Art. 35 dieser Verordnung, der nur Sekundärinsolvenzverfahren betrifft, auf die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats verweisen, in dem das Verfahren eröffnet worden ist.

52      Nach Art. 2 Nr. 8 der Verordnung bezeichnet der Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung den Zeitpunkt, zu dem die Entscheidung zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens wirksam wird, unabhängig davon, ob die Entscheidung endgültig ist oder nicht.

53      Zweitens bestimmt Art. 7 Abs. 2 Buchst. g dieser Verordnung, dass das Recht des Mitgliedstaats der Verfahrenseröffnung insbesondere regelt, wie Forderungen zu behandeln sind, die nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstehen.

54      Aus diesen Ausführungen ergibt sich, dass Art. 7 Abs. 1 der Verordnung 2015/848 eine Kollisionsnorm ist, was im Übrigen durch den 66. Erwägungsgrund der Verordnung bestätigt wird, in dem es heißt, dass die in der Verordnung vorgesehenen einheitlichen Kollisionsnormen die nationalen Vorschriften des internationalen Privatrechts ersetzen (vgl. entsprechend Urteil vom 22. November 2012, Bank Handlowy und Adamiak, C‑116/11, EU:C:2012:739, Rn. 47).

55      Zwar geht aus dem 72. Erwägungsgrund der Verordnung hervor, dass die Wirkungen der Insolvenzverfahren auf die Fortsetzung oder Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie auf die Rechte und Pflichten aller an einem solchen Arbeitsverhältnis beteiligten Parteien durch das für den jeweiligen Arbeitsvertrag maßgebliche Recht bestimmt werden sollten und nicht nach dem Recht des Staates, in dem das Insolvenzverfahren eröffnet wurde, jedoch wird in diesem Erwägungsgrund ausdrücklich klargestellt, dass diese Ausnahme nicht für die Frage gilt, ob die Forderungen der Arbeitnehmer durch ein Vorrecht geschützt sind und welchen Rang dieses Vorrecht gegebenenfalls erhalten soll.

56      Da die Begriffe in einer Bestimmung, die eine Ausnahme von einem allgemeinen Grundsatz darstellt, eng auszulegen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Januar 2001, Kommission/Spanien, C‑83/99, EU:C:2001:31, Rn. 19, und vom 10. März 2005, EasyCar, C‑336/03, EU:C:2005:150, Rn. 21), muss diese Regel notwendigerweise für Art. 13 der Verordnung 2015/848 gelten, der eine Ausnahme von dem im 66. Erwägungsgrund dieser Verordnung genannten Grundsatz der lex concursus darstellt.

57      Daraus folgt, dass die Frage, wie Forderungen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die nach der Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens entstehen, zu behandeln sind, und nach deren Anerkennung und Rang in den Anwendungsbereich von Art. 7 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung 2015/848 fällt, der ausdrücklich auf das Recht des Staates der Verfahrenseröffnung verweist. Diese Frage ist daher nach der auf dieser Grundlage anwendbaren lex concursus zu entscheiden (vgl. entsprechend Urteil vom 22. November 2012, Bank Handlowy und Adamiak, C‑116/11, EU:C:2012:739, Rn. 50).

58      Als Zweites wird diese Auslegung der Art. 7 und 35 der Verordnung 2015/848, wonach das Recht des Mitgliedstaats, in dem das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, bestimmt, wie die nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstandenen Forderungen zu behandeln sind, durch eine systematische Auslegung dieser Verordnung bestätigt.

59      Wie sich nämlich erstens aus Art. 3 Abs. 2 und Art. 34 der Verordnung 2015/848 ergibt, beschränken sich die Wirkungen des Sekundärinsolvenzverfahrens auf das zum Zeitpunkt der Eröffnung dieses Verfahrens im Gebiet des Mitgliedstaats, in dem dieses Verfahren eröffnet wurde, belegene Vermögen des Schuldners (vgl. entsprechend Urteile vom 11. Juni 2015, Comité d’entreprise de Nortel Networks u. a., C‑649/13, EU:C:2015:384, Rn. 48, sowie vom 14. November 2018, Wiemer & Trachte, C‑296/17, EU:C:2018:902, Rn. 40).

60      Zweitens ermöglicht die Anwendbarkeit des Grundsatzes der lex concursus zum Zeitpunkt der Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens, das anwendbare Recht ohne Weiteres zu bestimmen, wobei die Möglichkeit, die Art. 45 dieser Verordnung den Gläubigern einräumt, ihre Forderungen nicht nur im Rahmen des Hauptinsolvenzverfahrens, sondern auch im Rahmen jedes Sekundärinsolvenzverfahrens anzumelden, gewahrt wird.

61      Drittens steht eine solche Auslegung angesichts des kollisionsrechtlichen Charakters von Art. 7 der Verordnung 2015/848 auch im Einklang mit dem Ziel dieser Verordnung, das nicht darin besteht, ein einheitliches Insolvenzverfahren einzuführen, sondern, wie sich aus ihrem dritten Erwägungsgrund ergibt, darin, sicherzustellen, dass grenzüberschreitende Insolvenzverfahren wirksam funktionieren. Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, legt diese Verordnung zu diesem Zweck Bestimmungen über den Gerichtsstand, die Anerkennung und das anwendbare Recht in diesem Bereich fest (vgl. entsprechend Urteil vom 22. November 2012, Bank Handlowy und Adamiak, C‑116/11, EU:C:2012:739, Rn. 45). Wie Forderungen zu behandeln sind, die nach der Eröffnung des in diesem Art. 7 vorgesehenen Insolvenzverfahrens entstanden sind, ist daher nach der anwendbaren lex concursus zu entscheiden.

62      Nach alledem sind die Art. 7 und 35 der Verordnung 2015/848 in Verbindung mit ihrem 72. Erwägungsgrund dahin auszulegen, dass die Rechtsvorschriften des Staates der Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens nur für Forderungen gelten, die nach der Eröffnung dieses Verfahrens entstanden sind, und nicht für Forderungen, die zwischen der Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens und der Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens entstanden sind.

 Zu den Vorlagefragen in der Rechtssache C772/22

 Zur ersten Frage

63      Mit der ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 2 und Art. 34 der Verordnung 2015/848 dahin auszulegen sind, dass die Vermögensmasse, die in dem Staat belegen ist, in dem das Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet wird, nur aus dem zum Zeitpunkt der Eröffnung dieses Verfahrens im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats belegenen Vermögen besteht oder ob sie auch das Vermögen einschließt, das zum Zeitpunkt der Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats belegen war und in der Zwischenzeit vom Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens entfernt wurde.

64      Wie sich zunächst aus der in Rn. 59 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, ist dem Wortlaut dieser Bestimmungen zu entnehmen, dass sich die Wirkungen eines Sekundärinsolvenzverfahrens auf das zum Zeitpunkt der Eröffnung dieses Verfahrens im Gebiet des Mitgliedstaats, in dem dieses Verfahren eröffnet wurde, belegene Vermögen des Schuldners beschränken.

65      Diese Auslegung wird sodann durch eine systematische Auslegung der Verordnung 2015/848 bestätigt.

66      Denn erstens geht zwar aus dem Wortlaut von Art. 21 Abs. 2 dieser Verordnung hervor, dass der Verwalter des Sekundärinsolvenzverfahrens geltend machen darf, dass ein beweglicher Gegenstand aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats dieses Verfahrens in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats verbracht worden ist, doch ist diese Möglichkeit ausdrücklich auf solche Vorgänge beschränkt, die nach der Eröffnung dieses Verfahrens erfolgen.

67      Zweitens sieht Art. 36 Abs. 1 der Verordnung 2015/848 auch vor, dass der Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens in Bezug auf das Vermögen, das in dem Mitgliedstaat belegen ist, in dem ein Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet werden könnte, eine einseitige Zusicherung geben kann, um ein solches Verfahren zu vermeiden. Für den Fall, dass eine solche Zusicherung gegeben worden ist, stellt Art. 36 Abs. 6 der Verordnung klar, dass, wenn ein Sekundärinsolvenzverfahren trotz der Abgabe der Zusicherung des Verwalters des Hauptinsolvenzverfahrens eröffnet worden ist, dieser Verwalter die Gegenstände der Masse, die er nach Abgabe der Zusicherung aus dem Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats entfernt hat, herauszugeben hat.

68      Diese Bestimmung verdeutlicht den Willen des Unionsgesetzgebers, die Folgen der Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens für die Handlungen des Verwalters des Hauptinsolvenzverfahrens zu begrenzen.

69      Schließlich ist eine Auslegung von Art. 3 Abs. 2 und Art. 34 der Verordnung 2015/848, die die Vermögensmasse, die in dem Staat der Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens belegen ist, auf das Vermögen beschränkt, das zum Zeitpunkt der Eröffnung dieses Verfahrens im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats belegen ist, geeignet, die verschiedenen mit dieser Verordnung verfolgten Ziele, wie sie u. a. in ihren Erwägungsgründen 23 und 40 genannt werden, miteinander in Einklang zu bringen.

70      Zwar besteht der Hauptzweck von Sekundärinsolvenzverfahren im Schutz der inländischen Interessen, doch entfaltet das Hauptinsolvenzverfahren insoweit universale Wirkungen, als es Vermögen des Schuldners in allen Mitgliedstaaten erfasst (vgl. entsprechend Urteil vom 22. November 2012, Bank Handlowy und Adamiak, C‑116/11, EU:C:2012:739, Rn. 40). So kommt in diesem System, wie im 48. Erwägungsgrund der Verordnung ausgeführt wird, dem Hauptinsolvenzverfahren gegenüber dem Sekundärinsolvenzverfahren eine dominierende Rolle zu (vgl. entsprechend Urteil vom 22. November 2012, Bank Handlowy und Adamiak, C‑116/11, EU:C:2012:739, Rn. 60). Die Verordnung 2015/848 setzt nämlich das Ziel der Schaffung effizienter und wirksamer grenzüberschreitender Insolvenzverfahren durch die Koordinierung von Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahren unter Wahrung des Vorrangs des Hauptinsolvenzverfahrens um (vgl. entsprechend Urteil vom 22. November 2012, Bank Handlowy und Adamiak, C‑116/11, EU:C:2012:739, Rn. 72).

71      Aus den vorstehenden Gründen ergibt sich, dass Art. 3 Abs. 2 und Art. 34 der Verordnung 2015/848 dahin auszulegen sind, dass die Vermögensmasse, die in dem Staat belegen ist, in dem das Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet wird, nur aus dem zum Zeitpunkt der Eröffnung dieses Verfahrens im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats belegenen Vermögen besteht.

 Zur zweiten Frage

72      Mit der zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 21 Abs. 1 der Verordnung 2015/848 dahin auszulegen ist, dass der Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens die zur Masse gehörenden Gegenstände aus dem Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als dem des Hauptinsolvenzverfahrens entfernen darf, obwohl ihm bekannt ist, dass es zum einen lokale Gläubiger im Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats gibt, die durch Urteil festgestellte Ansprüche aus Arbeitsverhältnissen haben, und dass zum anderen ein Arbeits- und Sozialgericht dieses Mitgliedstaats eine Sicherstellungsbeschlagnahme angeordnet hat.

73      Was den Wortlaut von Art. 21 Abs. 1 der Verordnung 2015/848 betrifft, heißt es in dieser Bestimmung, dass der Verwalter im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats „alle Befugnisse“ ausüben darf, „die ihm nach dem Recht des [Mitglied]staates der … [E]röffnung“ des Hauptinsolvenzverfahrens zustehen und dies, „solange in dem anderen Staat nicht ein weiteres Insolvenzverfahren eröffnet ist oder eine gegenteilige Sicherungsmaßnahme auf einen Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens hin ergriffen worden ist“. Diese Bestimmung stellt ausdrücklich klar, dass diese Befugnisse auch die Befugnis einschließen, die zur Masse gehörenden Gegenstände aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zu entfernen, in dem diese sich befinden, vorbehaltlich nur der Anwendbarkeit der Art. 8 und 10 dieser Verordnung, die das Bestehen eines dinglichen Rechts eines Gläubigers oder eines Dritten bzw. den Fall eines Eigentumsvorbehalts betreffen.

74      Wie in den Erwägungsgründen 67 und 68 der Verordnung ausgeführt ist, sind diese Ausnahmen, die zum Ziel haben, in den anderen Mitgliedstaaten als dem Staat der Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens Vertrauensschutz und Rechtssicherheit zu gewährleisten, eng auszulegen, und ihre Tragweite darf nicht über das hinausgehen, was erforderlich ist, um dieses Ziel zu erreichen (vgl. entsprechend Urteile vom 16. April 2015, Lutz, C‑557/13, EU:C:2015:227, Rn. 34, und vom 22. April 2021, Oeltrans Befrachtungsgesellschaft, C‑73/20, EU:C:2021:315, Rn. 24).

75      Ansprüche lokaler Gläubiger aus Arbeitsverhältnissen und die Anordnung einer Sicherstellungsbeschlagnahme von zur Masse gehörenden Gegenständen wie im Ausgangsverfahren können jedoch das Entfernen von zur Masse gehörenden Gegenständen aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats der Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens durch den Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens nicht verhindern, es sei denn, diese Ansprüche oder diese Anordnung der Sicherstellungsbeschlagnahme betreffen nach dem gemäß Art. 8 der Verordnung anwendbaren Recht dingliche Rechte.

76      Dieses Ergebnis wird durch den Kontext bestätigt, in dem Art. 21 Abs. 1 der Verordnung 2015/848 steht.

77      Erstens bestimmt Art. 21 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung, dass der Verwalter des Sekundärinsolvenzverfahrens geltend machen darf, dass ein beweglicher Gegenstand „nach der Eröffnung [dieses] Insolvenzverfahrens“ aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats der Verfahrenseröffnung in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats verbracht worden ist. Im zweiten Satz dieser Bestimmung wird ergänzt, dass es dem Verwalter auch freisteht, eine den Interessen der Gläubiger dienende Anfechtungsklage zu erheben. Diese letztgenannte Klarstellung hat jedoch nur dann praktische Wirksamkeit, wenn sie andere als die in Satz 1 der Bestimmung genannten Gegenstände betrifft, so dass es sich bei diesen Gegenständen notwendigerweise um diejenigen handelt, die vor der Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats entfernt worden sind.

78      Art. 21 Abs. 1 und 2 der Verordnung 2015/848 garantiert somit ein Zusammenspiel der Befugnisse des Verwalters mit den Mechanismen zum Schutz der Interessen lokaler Gläubiger im Einklang mit dem Willen des Unionsgesetzgebers, wie er im 46. Erwägungsgrund der Verordnung zum Ausdruck kommt. Nach diesem soll es nämlich dem Verwalter im Hauptinsolvenzverfahren nicht möglich sein, das in dem Mitgliedstaat der Niederlassung befindliche Vermögen missbräuchlich zu verwerten oder missbräuchlich an einen anderen Ort zu bringen, insbesondere wenn dies in der Absicht geschieht, die wirksame Befriedigung dieser Interessen für den Fall, dass im Anschluss ein Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet wird, zu vereiteln.

79      Zweitens wird eine solche Auslegung von Art. 21 Abs. 1 der Verordnung 2015/848, wonach der Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens die zur Masse gehörenden Gegenstände aus dem Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als dem des Hauptinsolvenzverfahrens entfernen darf, durch Art. 36 Abs. 6 der Verordnung gestützt.

80      Wird nämlich ein Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet, obwohl der Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens zuvor eine einseitige Zusicherung im Sinne von Art. 36 Abs. 1 der Verordnung 2015/848 gegeben hat, verpflichtet Art. 36 Abs. 6 der Verordnung den Verwalter nur dazu, die Gegenstände der Masse herauszugeben, die er „nach Abgabe der Zusicherung“ entfernt hat, was bedeutet, dass der Verwalter befugt ist, diese Gegenstände zu entfernen. Da die einseitige Zusicherung des Verwalters jedoch nur eine Möglichkeit ist, wie die Verwendung des Verbs „können“ in Art. 36 Abs. 1 der Verordnung zeigt, kann der Umfang seiner Befugnisse, insbesondere die Möglichkeit, Gegenstände zu entfernen, erst recht nicht eingeschränkt werden, wenn er keine Zusicherung im Sinne dieser Bestimmung gegeben hat.

81      Aus den vorstehenden Gründen folgt, dass Art. 21 Abs. 1 der Verordnung 2015/848 dahin auszulegen ist, dass der Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens die zur Masse gehörenden Gegenstände aus dem Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als dem des Hauptinsolvenzverfahrens entfernen darf, obwohl ihm bekannt ist, dass es zum einen lokale Gläubiger im Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats gibt, die durch Urteil festgestellte Ansprüche aus Arbeitsverhältnissen haben, und dass zum anderen ein Arbeits- und Sozialgericht dieses Mitgliedstaats eine Sicherstellungsbeschlagnahme angeordnet hat.

 Zur dritten Frage

82      Mit der dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 21 Abs. 2 der Verordnung 2015/848 dahin auszulegen ist, dass der Verwalter des Sekundärinsolvenzverfahrens eine Anfechtungsklage gegen eine Handlung des Verwalters des Hauptinsolvenzverfahrens erheben kann.

83      Nach dieser Bestimmung kann der Verwalter des Sekundärinsolvenzverfahrens eine den Interessen der Gläubiger dienende Anfechtungsklage erheben. Wie die Kläger des Ausgangsverfahrens und die Europäische Kommission in ihren Erklärungen ausgeführt haben, ist der Kreis der Personen, gegen die eine solche Klage erhoben werden kann, somit in keiner Weise beschränkt.

84      Daraus folgt, dass der Wortlaut dieser Bestimmung keinen Anhaltspunkt für eine Auslegung dieser Bestimmung enthält, die den Verwalter des Sekundärinsolvenzverfahrens daran hindern würde, eine Anfechtungsklage gegen eine Handlung des Verwalters des Hauptinsolvenzverfahrens zu erheben, wenn er der Ansicht ist, dass sie den Interessen der Gläubiger dient.

85      Diese Auslegung steht im Übrigen im Einklang mit einem der wesentlichen Ziele der Verordnung 2015/848, das dank der Möglichkeit, ein Sekundärinsolvenzverfahren zu eröffnen, wie sich aus den Erwägungsgründen 40 und 46 dieser Verordnung ergibt, dem Schutz inländischer bzw. lokaler Interessen dient (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. September 2014, Burgo Group, C‑327/13, EU:C:2014:2158, Rn. 36).

86      Aus den vorstehenden Gründen folgt, dass Art. 21 Abs. 2 der Verordnung 2015/848 dahin auszulegen ist, dass der Verwalter des Sekundärinsolvenzverfahrens eine Anfechtungsklage gegen eine Handlung des Verwalters des Hauptinsolvenzverfahrens erheben kann.

 Kosten

87      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Die Art. 7 und 35 der Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren in Verbindung mit ihrem 72. Erwägungsgrund

sind dahin auszulegen, dass

die Rechtsvorschriften des Staates der Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens nur für Forderungen gelten, die nach der Eröffnung dieses Verfahrens entstanden sind, und nicht für Forderungen, die zwischen der Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens und der Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens entstanden sind.

2.      Art. 3 Abs. 2 und Art. 34 der Verordnung 2015/848

sind dahin auszulegen, dass

die Vermögensmasse, die in dem Staat belegen ist, in dem das Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet wird, nur aus dem zum Zeitpunkt der Eröffnung dieses Verfahrens im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats belegenen Vermögen besteht.

3.      Art. 21 Abs. 1 der Verordnung 2015/848

ist dahin auszulegen, dass

der Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens die zur Masse gehörenden Gegenstände aus dem Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als dem des Hauptinsolvenzverfahrens entfernen darf, obwohl ihm bekannt ist, dass es zum einen lokale Gläubiger im Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats gibt, die durch Urteil festgestellte Ansprüche aus Arbeitsverhältnissen haben, und dass zum anderen ein Arbeits- und Sozialgericht dieses Mitgliedstaats eine Sicherstellungsbeschlagnahme angeordnet hat.

4.      Art. 21 Abs. 2 der Verordnung 2015/848

ist dahin auszulegen, dass

der Verwalter des Sekundärinsolvenzverfahrens eine Anfechtungsklage gegen eine Handlung des Verwalters des Hauptinsolvenzverfahrens erheben kann.

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