C-70/22 – Viagogo

C-70/22 – Viagogo

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2023:350

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

27. April 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Elektronischer Geschäftsverkehr – Richtlinie 2000/31/EG – Art. 1 – Anwendungsbereich – Art. 2 Buchst. c – Begriff ‚niedergelassener Diensteanbieter‘ – Art. 3 Abs. 1 – Erbringung von Diensten der Informationsgesellschaft durch einen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ansässigen Diensteanbieter – Im Hoheitsgebiet der Schweizerischen Eidgenossenschaft ansässige Gesellschaft – Unanwendbarkeit ratione personae – Art. 56 AEUV – Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit – Anwendungsbereich – Verbot der Einschränkung der Erbringung von Dienstleistungen, die eine Dauer von 90 Tagen pro Kalenderjahr nicht überschreitet – Erbringung von Dienstleistungen mit einer Dauer von über 90 Tagen in Italien – Unanwendbarkeit ratione personae – Art. 102 AEUV – Fehlen jeglicher Angaben in der Vorlageentscheidung, aus denen sich eine Verbindung zwischen dem Ausgangsrechtsstreit und einem etwaigen Missbrauch einer beherrschenden Stellung herleiten ließe – Unzulässigkeit“

In der Rechtssache C‑70/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) mit Entscheidung vom 27. Januar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 1. Februar 2022, in dem Verfahren

Viagogo AG

gegen

Autorità per le Garanzie nelle Comunicazioni (AGCOM),

Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato (AGCM),

Beteiligte:

Ticketone SpA,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter N. Wahl (Berichterstatter) und J. Passer,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Viagogo AG, vertreten durch E. Apa, E. Foco, M. V. La Rosa, E. Marasà, M. Montinari und I. Picciano, Avvocati,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von R. Guizzi und F. Varrone, Avvocati dello Stato,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Angeli, S. Kalėda, U. Małecka und L. Malferrari als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung zum einen der Art. 3, 14 und 15 der Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“) (ABl. 2000, L 178, S. 1) in Verbindung mit Art. 56 AEUV sowie zum anderen der Art. 102 und 106 AEUV.

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Viagogo AG, einer Gesellschaft mit Sitz in Genf (Schweiz), auf der einen sowie der Autorità per le Garanzie nelle Comunicazioni (AGCOM, Aufsichtsbehörde für das Kommunikationswesen, Italien) und der Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato (AGCM, Wettbewerbs- und Marktaufsichtsbehörde, Italien) auf der anderen Seite wegen einer von der AGCOM gegen Viagogo verhängten Geldbuße in Höhe von 3 700 000 Euro.

 Rechtlicher Rahmen

 Abkommen EG–Schweiz

3        Die Europäische Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten einerseits und die Schweizerische Eidgenossenschaft andererseits unterzeichneten am 21. Juni 1999 in Luxemburg (Luxemburg) sieben Abkommen, darunter das Abkommen über die Freizügigkeit (ABl. 2002, L 114, S. 6, im Folgenden: Abkommen EG‑Schweiz). Diese Abkommen wurden mit dem Beschluss des Rates und – bezüglich des Abkommens über die wissenschaftliche und technische Zusammenarbeit – der Kommission vom 4. April 2002 über den Abschluss von sieben Abkommen mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft (2002/309/EG, Euratom) (ABl. 2002, L 114, S. 1) im Namen der Gemeinschaft gebilligt. Sie traten am 1. Juni 2002 in Kraft.

4        Art. 1 („Ziel“) des Abkommens EG‑Schweiz sieht vor:

„Ziel dieses Abkommens zugunsten der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und der Schweiz ist folgendes:

b)      Erleichterung der Erbringung von Dienstleistungen im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien, insbesondere Liberalisierung kurzzeitiger Dienstleistungen …“

5        In Art. 5 („Dienstleistungserbringer“) des Abkommens EG‑Schweiz heißt es:

„1.      Unbeschadet besonderer Abkommen über die Erbringung von Dienstleistungen zwischen den Vertragsparteien … wird einem Dienstleistungserbringer einschließlich Gesellschaften gemäß Anhang I das Recht eingeräumt, Dienstleistungen im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei zu erbringen, deren tatsächliche Dauer 90 Arbeitstage pro Kalenderjahr nicht überschreitet.

…“

6        Gemäß Art. 15 („Anhänge und Protokolle“) des Abkommens EG‑Schweiz sind die Anhänge und Protokolle Bestandteile des Abkommens.

7        Anhang I Art. 17 („Dienstleistungserbringer“) des Abkommens EG‑Schweiz sieht vor:

„Hinsichtlich der Erbringung von Dienstleistungen gemäß Artikel 5 dieses Abkommens ist folgendes untersagt:

a)      Beschränkung grenzüberschreitender Dienstleistungen im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei, deren Dauer 90 tatsächliche Arbeitstage pro Kalenderjahr nicht überschreitet;

…“

8        Gemäß Art. 18 dieses Anhangs gilt Art. 17 für die Gesellschaften, die nach dem Recht eines Mitgliedstaats der Europäischen Gemeinschaft oder nach schweizerischem Recht gegründet wurden und ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung im Gebiet einer Vertragspartei haben.

9        Anhang I Art. 21 bestimmt:

„1.      Die Gesamtdauer einer Dienstleistung nach Artikel 17 Buchstabe a dieses Anhangs, unabhängig davon, ob es sich um eine ununterbrochene Dienstleistung oder um aufeinanderfolgende Dienstleistungen handelt, darf 90 tatsächliche Arbeitstage pro Kalenderjahr nicht überschreiten.

…“

 Unionsrecht

10      Im 19. Erwägungsgrund der Richtlinie 2000/31 heißt es:

„Die Bestimmung des Ortes der Niederlassung des Anbieters hat gemäß den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelten Kriterien zu erfolgen, nach denen der Niederlassungsbegriff die tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung auf unbestimmte Zeit umfasst. … Erbringt ein Unternehmen Dienstleistungen über eine Web-Site des Internets, so ist es weder dort niedergelassen, wo sich die technischen Mittel befinden, die diese Web-Site beherbergen, noch dort, wo die Web-Site zugänglich ist, sondern an dem Ort, an dem es seine Wirtschaftstätigkeit ausübt. …“

11      Art. 1 („Zielsetzung und Anwendungsbereich“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)      Diese Richtlinie soll einen Beitrag zum einwandfreien Funktionieren des Binnenmarktes leisten, indem sie den freien Verkehr von Diensten der Informationsgesellschaft zwischen den Mitgliedstaaten sicherstellt.

(4)      Diese Richtlinie schafft weder zusätzliche Regeln im Bereich des internationalen Privatrechts, noch befasst sie sich mit der Zuständigkeit der Gerichte.“

12      Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie sieht vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

a)      ‚Dienste der Informationsgesellschaft‘ Dienste im Sinne von Artikel 1 Nummer 2 der Richtlinie 98/34/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 1998 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften (ABl. 1998, L 204, S. 37)] in der Fassung der Richtlinie 98/48/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juli 1998 (ABl. 1998, L 217, S. 18)];

b)      ‚Diensteanbieter‘ jede natürliche oder juristische Person, die einen Dienst der Informationsgesellschaft anbietet;

c)      ‚niedergelassener Diensteanbieter‘ ein Anbieter, der mittels einer festen Einrichtung auf unbestimmte Zeit eine Wirtschaftstätigkeit tatsächlich ausübt; Vorhandensein und Nutzung technischer Mittel und Technologien, die zum Anbieten des Dienstes erforderlich sind, begründen allein keine Niederlassung des Anbieters;

…“

13      In Art. 3 („Binnenmarkt“) der Richtlinie heißt es:

„(1)      „Jeder Mitgliedstaat trägt dafür Sorge, dass die Dienste der Informationsgesellschaft, die von einem in seinem Hoheitsgebiet niedergelassenen Diensteanbieter erbracht werden, den in diesem Mitgliedstaat geltenden innerstaatlichen Vorschriften entsprechen, die in den koordinierten Bereich fallen.

(2)      Die Mitgliedstaaten dürfen den freien Verkehr von Diensten der Informationsgesellschaft aus einem anderen Mitgliedstaat nicht aus Gründen einschränken, die in den koordinierten Bereich fallen.

…“

 Italienisches Recht

14      In Art. 1 der Legge n. 232 – Bilancio di previsione dello Stato per l’anno finanziario 2017 e bilancio pluriennale per il triennio 2017–2019 (Gesetz Nr. 232 – Haushaltsplan des Staates für das Finanzjahr 2017 und mehrjähriger Haushaltsplan für den Dreijahreszeitraum 2017–2019) vom 11. Dezember 2016 (GURI Nr. 297 vom 21. Dezember 2016, Supplemento ordinario zur GURI Nr. 57) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz von 2016) sieht Abs. 545 Folgendes vor:

„Zur Bekämpfung von Steuerumgehung und ‑hinterziehung sowie zur Gewährleistung des Verbraucherschutzes und der öffentlichen Ordnung wird der Verkauf oder jede andere Form der Vermittlung von Eintrittskarten für Vorstellungen durch eine andere Person als den Inhabern der Ausgabesysteme, selbst auf der Grundlage eines entsprechenden Vertrags oder einer entsprechenden Vereinbarung, mit Geldbußen zwischen 5 000 und 180 000 Euro geahndet, es sei denn, die Handlung stellt keine Zuwiderhandlung dar; wurde die Handlung über elektronische Kommunikationsnetze begangen, wird sie außerdem nach dem in Abs. 546 festgelegten Verfahren mit der Entfernung der Inhalte oder, in besonders schweren Fällen, mit der Schließung der für die Zuwiderhandlung benutzten Website geahndet, unbeschadet von Schadensersatzklagen. Die [AGCOM] und die anderen zuständigen Behörden führen die erforderlichen Untersuchungen und Maßnahmen von Amts wegen oder aufgrund von Hinweisen Betroffener durch. Nicht bestraft wird jedoch der gelegentliche Verkauf von Eintrittskarten für Veranstaltungen durch eine natürliche Person zu einem Preis, der dem Nennwert entspricht oder darunter liegt, sofern er nicht zu gewerblichen Zwecken erfolgt.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

15      Viagogo, die ihren Sitz in Genf hat und dort auch steuerlich ansässig ist, betreibt Websites, die darauf angelegt sind, zwischen Verbrauchern den Weiterverkauf von Eintrittskarten zu Veranstaltungen und Sportereignissen zu vermitteln. Es kommt mitunter vor, dass manche Personen nach dem Kauf bei offiziellen Ausstellern wie den Organisatoren der betreffenden Aufführung oder Veranstaltung bzw. bei zugelassenen Verkaufsstellen („Primärmarkt“) ihre Tickets weiterverkaufen möchten. Viagogo wurde gegründet, um Angebot und Nachfrage auf dem Markt für den Verkauf von Tickets aus zweiter Hand („Sekundärmarkt“) zusammenzubringen.

16      In Anbetracht der Geschwindigkeit, mit der auf dem Primärmarkt verfügbare Tickets, u. a. aufgrund der Verwendung automatisierter Einkaufssoftware durch bestimmte Nutzer, ausverkauft sind, ist die Zahl von Personen auf der Suche nach Tickets – insbesondere bei renommierten Aufführungen oder Veranstaltungen – stetig gestiegen. Dem betreffenden Sekundärmarkt gewidmete Websites haben sich daher zu einem echten Erfolg entwickelt.

17      Viagogo nimmt in diesem Zusammenhang auf den von ihr über eine in den Vereinigten Staaten gehostete Plattform betriebenen Websites eine Vorauswahl für eine bestimmte Anzahl von Aufführungen oder Veranstaltungen vor. Ticketinhaber können ihre Eintrittskarten auf diesen Websites zum Verkauf anbieten, indem sie die entsprechende Aufführung oder Veranstaltung auswählen. Viagogo stellt den Kontakt zwischen den Verkäufern und potenziellen Käufern her und bietet Zusatzdienstleistungen an, wie etwa Beratung per Telefon oder E‑Mail, softwaregestützte Preisvorschläge und ein automatisiertes System zur Bewerbung von Tickets für bestimmte Aufführungen oder Veranstaltungen.

18      Da das in Rn. 16 des vorliegenden Urteils beschriebene Phänomen in Italien u. a. deshalb, weil es über den Betrieb derartiger Websites leicht möglich ist, aus illegalen Aktivitäten stammendes Geld zu waschen, ein beunruhigendes Ausmaß angenommen hatte und der Verkaufspreis für Tickets auf dem Sekundärmarkt überhaupt keinen Bezug mehr zu dem Preis hatte, zu dem diese auf dem Primärmarkt angeboten werden, verfolgte der italienische Gesetzgeber u. a. über den Erlass von Art. 1 Abs. 545 des Gesetzes von 2016 eine auf Eindämmung dieses Phänomens gerichtete Politik.

19      Nach mehreren Beschwerden von Gesellschaften, die im Bereich der Organisation von Musikveranstaltungen tätig sind, von Gesellschaften, die Tickets für Musikveranstaltungen auf dem Primärmarkt verkaufen, und von Berufsverbänden prüfte die AGCOM die von Viagogo betriebene Website www.viagogo.it.

20      Im Anschluss an diese Prüfung verhängte die AGCOM mit der Entscheidung Nr. 104/20/CONS vom 16. März 2020 eine Verwaltungsgeldbuße von 3 700 000 Euro gegen Viagogo. Dieser wurde vorgeworfen, zwischen März und Mai 2019 über die Website und einen darauf verweisenden Link in einem sozialen Netzwerk 37 Verstöße begangen zu haben, nämlich Konzert- und Veranstaltungstickets zu höheren als den auf autorisierten Verkaufs-Websites angegebenen Nominalpreisen zum Verkauf angeboten zu haben, ohne dass Viagogo Inhaberin der Ausgabesysteme dieser Tickets gewesen wäre.

21      Viagogo erhob beim Tribunale amministrativo regionale per il Lazio (Regionales Verwaltungsgericht Latium, Italien) eine Klage auf Aufhebung der Entscheidung, welche von diesem Gericht abgewiesen wurde. Gegen das erstinstanzliche Urteil legte sie beim Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien), dem vorlegenden Gericht, ein Rechtsmittel ein.

22      Unter diesen Umständen hat der Consiglio di Stato (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Stehen die Richtlinie 2000/31 und insbesondere ihre Art. 3, 14 und 15 in Verbindung mit Art. 56 AEUV der Anwendung der Regelung eines Mitgliedstaats über den Verkauf von Eintrittskarten für Veranstaltungen auf dem Sekundärmarkt entgegen, die zur Folge hat, dass ein in der Europäischen Union tätiger Betreiber einer Hosting-Plattform – wie die Rechtsmittelführerin in der vorliegenden Rechtssache – daran gehindert ist, für Drittnutzer Anzeigendienste für den Verkauf von Eintrittskarten für Veranstaltungen auf dem Sekundärmarkt zu erbringen, indem sie diese Tätigkeit ausschließlich Verkäufern, Veranstaltern oder anderen Personen vorbehält, die eine behördliche Zulassung für den Verkauf von Eintrittskarten auf dem Primärmarkt im Rahmen zertifizierter Systeme haben?

2.      Steht Art. 102 AEUV in Verbindung mit Art. 106 AEUV der Anwendung der Regelung eines Mitgliedstaats über den Verkauf von Eintrittskarten für Veranstaltungen entgegen, die alle Dienstleistungen im Zusammenhang mit dem Sekundärmarkt für Eintrittskarten (insbesondere die Vermittlung) ausschließlich Verkäufern, Veranstaltern oder anderen Personen vorbehält, die eine behördliche Zulassung für den Verkauf von Eintrittskarten auf dem Primärmarkt im Rahmen zertifizierter Systeme haben, und diese Tätigkeit Anbietern von Diensten der Informationsgesellschaft vorenthält, die als Hosting-Provider im Sinne der Art. 14 und 15 der Richtlinie 2000/31 tätig werden wollen, insbesondere wenn, wie im vorliegenden Fall, ein solcher Vorbehalt dazu führt, dass ein Anbieter, der für den Vertrieb von Eintrittskarten auf dem Primärmarkt eine beherrschende Stellung einnimmt, diese auf Vermittlungsdienste auf dem Sekundärmarkt ausdehnen kann?

3.      Kann der Begriff „passiver Hosting-Anbieter“ im Sinne der europäischen Regelung und insbesondere der Richtlinie 2000/31 nur dann verwendet werden, wenn keine Tätigkeit des Filterns, der Auswahl, der Indexierung, der Organisation, der Katalogisierung, der Zusammenstellung, der Bewertung, der Nutzung, der Änderung, der Entnahme oder der Förderung der von Nutzern veröffentlichten Inhalte ausgeführt wird, wobei diese Indikatoren nur beispielhaft sind und nicht alle vorliegen müssen, da jeder für sich als Indiz für eine unternehmerische Verwaltung des Dienstes und/oder die Anwendung einer Technik zur Bewertung des Nutzerverhaltens mit dem Ziel einer höheren Nutzerbindung anzusehen ist, oder ist es dem vorlegenden Gericht überlassen, die Erheblichkeit dieser Umstände zu beurteilen, so dass auch bei Vorliegen eines oder mehrerer dieser Umstände der Dienst als überwiegend neutral und der Hosting-Anbieter somit als passiv eingestuft werden kann?

 Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

23      Erstens ist darauf hinzuweisen, dass ein Vorabentscheidungsersuchen nur dann zulässig ist, wenn es für die Entscheidung des beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits erforderlich ist (Urteil vom 6. Oktober 2021, Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi, C‑561/19, EU:C:2021:799, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dies setzt voraus, dass die Bestimmungen des Unionsrechts, auf die sich das Ersuchen bezieht, auf diesen Rechtsstreit Anwendung finden.

24      Hierzu ist als Erstes festzustellen, dass sich die drei Fragen des vorlegenden Gerichts auf die Auslegung der Richtlinie 2000/31 beziehen. Deren persönlicher Anwendungsbereich ist im Ausgangsrechtsstreit aber nicht eröffnet.

25      Die Richtlinie 2000/31 soll gemäß ihrem Art. 1 nämlich einen Beitrag zum einwandfreien Funktionieren des Binnenmarkts leisten, indem sie den freien Verkehr von Diensten der Informationsgesellschaft „zwischen den Mitgliedstaaten“ sicherstellt. Dies setzt daher für eine Eröffnung des persönlichen Anwendungsbereichs der Richtlinie voraus, dass – wie in deren Art. 3 Abs. 1 ausgeführt – die Dienstleistungen, um die es geht, von Diensteanbietern erbracht werden, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats niedergelassen sind.

26      In Art. 2 Buchst. c der Richtlinie wird ein „niedergelassener Diensteanbieter“ insoweit als ein Anbieter definiert, der mittels einer festen Einrichtung auf unbestimmte Zeit eine Wirtschaftstätigkeit tatsächlich ausübt, wobei in der Bestimmung klargestellt wird, dass Vorhandensein und Nutzung technischer Mittel und Technologien, die zum Anbieten des Dienstes erforderlich sind, allein keine Niederlassung des Anbieters begründen.

27      Aus der Rechtsprechung ergibt sich hierzu, dass dem vorlegenden Gericht, da Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2000/31 nur dann anwendbar ist, wenn der Mitgliedstaat feststeht, in dessen Gebiet der betreffende Anbieter des betreffenden Dienstes der Informationsgesellschaft tatsächlich niedergelassen ist, die Prüfung obliegt, ob der Diensteanbieter tatsächlich im Gebiet eines Mitgliedstaats niedergelassen ist. Ohne eine solche Niederlassung findet die Regelung von Art. 3 Abs. 2 dieser Richtlinie keine Anwendung (Urteil vom 15. März 2012, G, C‑292/10, EU:C:2012:142, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28      Desgleichen bezieht sich das Verbot, den freien Verkehr der von der Richtlinie 2000/31 behandelten Dienste aus Gründen einzuschränken, die in den koordinierten Bereich fallen, nach dem klaren Wortlaut von Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie ausschließlich auf solche Dienste „aus einem anderen Mitgliedstaat“.

29      Der Gemeinsame Ausschuss des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) hat zwar in Anwendung des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 (ABl. 1994, L 1, S. 3) mit dem Beschluss Nr. 91/2000 vom 27. Oktober 2000 zur Änderung des Anhangs XI (Telekommunikationsdienste) des EWR‑Abkommens (ABl. 2001, L 7, S. 13) den Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/31 auf den EWR erstreckt, so dass diese Richtlinie auch die Vertragsstaaten des Abkommens erfasst. Die Schweizerische Eidgenossenschaft gehört allerdings nicht zu Letzteren. Es wurde im Übrigen auch von dem in Anwendung des Abkommens EG‑Schweiz eingerichteten Gemeinsamen Ausschuss EU‑Schweiz keinerlei Entscheidung über eine Erstreckung der Anwendung der Richtlinie auf die Schweiz erlassen.

30      Viagogo ist aber unstreitig in Genf ansässig, hat dort ihren Sitz und dort – unabhängig von dem Umstand, dass sie ihre Websites in Versionen bereitstellt, die in verschiedenen Mitgliedstaaten der Union, u. a. in Italien, zugänglich sind – den Schwerpunkt ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit. Die Dienstleistungen, um die es geht, werden somit von einem Drittstaat aus durch eine Gesellschaft erbracht, die dem Recht dieses Drittstaats unterliegt.

31      Folglich kann sich die Rechtsmittelführerin des Ausgangsverfahrens entgegen der Annahme des vorlegenden Gerichts nicht auf die Richtlinie 2000/31 berufen. Da sich dessen sämtliche Fragen auf diese Richtlinie beziehen, leidet das Vorabentscheidungsersuchen insgesamt an einem Zulässigkeitsmangel.

32      Als Zweites ist darüber hinaus zur ersten Frage klarzustellen, dass sich Viagogo auch nicht auf Art. 56 AEUV berufen kann.

33      Soweit es nicht in einem völkerrechtlichen Vertrag oder Abkommen vorgesehen ist, ist dieser Artikel nämlich nicht auf ein Unternehmen anwendbar, das in einem Drittstaat außerhalb der Union ansässig ist, und zwar auch dann, wenn das Unternehmen Dienstleistungen erbringt, die von Angehörigen bestimmter Mitgliedstaaten oder dort ansässigen Unternehmen in Anspruch genommen werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Mai 2015, Wagner-Raith, C‑560/13, EU:C:2015:347, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34      Im vorliegenden Fall lässt es der Anwendungsbereich des Abkommens EG‑Schweiz nicht zu, dass sich Viagogo auf die Anwendung von Art. 56 AEUV beruft, da die Besonderheit dieses Abkommens darin besteht, dass für die Gleichstellung von in der Schweiz ansässigen Dienstleistungserbringern mit im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ansässigen eine zeitliche Beschränkung auf 90 Tage pro Kalenderjahr vorgesehen ist.

35      So sieht Art. 1 des Abkommens EG‑Schweiz insbesondere die „Liberalisierung kurzzeitiger Dienstleistungen“ vor, wobei in dessen Art. 5 Abs. 1 schweizerischen Dienstleistungserbringern das Recht eingeräumt wird, „Dienstleistungen im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei zu erbringen, deren tatsächliche Dauer 90 Arbeitstage pro Kalenderjahr nicht überschreitet“. In Anhang I des Abkommens, der gemäß dessen Art. 15 Bestandteil des Abkommens ist, verbietet Art. 17 eine „Beschränkung grenzüberschreitender Dienstleistungen im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei, deren Dauer 90 tatsächliche Arbeitstage pro Kalenderjahr nicht überschreitet“. Art. 18 dieses Anhangs bestimmt zudem, dass dessen Art. 17 für die Gesellschaften gilt, die nach dem Recht eines Mitgliedstaats der Gemeinschaft oder nach schweizerischem Recht gegründet wurden und ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung im Gebiet einer Vertragspartei haben. In Anhang I Art. 21 wird schließlich klargestellt, dass die 90 Tage der Gesamtdauer einer Dienstleistung entsprechen, unabhängig davon, ob es sich um eine ununterbrochene Dienstleistung oder um aufeinanderfolgende Dienstleistungen handelt.

36      Im vorliegenden Fall lässt sich der dem Gerichtshof vorliegenden Akte entnehmen, dass Viagogo Dienstleistungen erbringt, deren Dauer über die im Abkommen EG‑Schweiz vorgesehene Dauer hinausgeht.

37      Zunächst ist eine Tätigkeit, die ein Dienstleistungserbringer ausschließlich über Websites ausübt, naturgemäß quasi ununterbrochen oder sogar dauerhaft. Insbesondere können sich potenzielle Käufer bei einem Angebot, das sich auf die Anzeige des Verkaufs von Tickets für eine bestimmte Darbietung oder Veranstaltung bezieht, jederzeit über die betreffende Website ihr Interesse bekunden. Hierzu ist den Angaben des vorlegenden Gerichts nicht zu entnehmen, dass der Betrieb der von der Rechtsmittelführerin des Ausgangsverfahrens unterhaltenen Website seit ihrer Erstellung zu irgendeinem Zeitpunkt eingestellt worden wäre. Dies wird von der italienischen Regierung bestätigt, die angegeben hat, dass „die Vermittlungsdienstleistung auf dem Sekundärmarkt [durch Viagogo] fortlaufend während des gesamten Kalenderjahrs erbracht wird“.

38      Weiterhin lässt sich dem Vorbringen in erster Instanz des Ausgangsverfahrens entnehmen, dass Viagogo bereits 2016 von der AGCOM mit einer Sanktion belegt wurde und dass ihre Tätigkeit offensichtlich nicht zeitlich begrenzt war.

39      Schließlich betrifft die Entscheidung der AGCOM vom 16. März 2020, die sich speziell auf die Monate März bis Mai 2019 – mithin 92 Tage – bezieht, einen Zeitraum, der über die im Abkommen EG‑Schweiz vorgesehene Höchstdauer von 90 Tagen hinausgeht. Zudem lässt sich dem erstinstanzlichen Urteil des Ausgangsverfahrens entnehmen, dass der letzte Verkauf, der Gegenstand der Prüfung durch die AGCOM war, am 7. September 2019 stattgefunden hatte, also in jedem Fall lange nach dem im Abkommen EG‑Schweiz vorgesehenen Zeitraum von 90 Tagen.

40      Viagogo fällt damit nicht in den persönlichen Anwendungsbereich von Art. 56 AEUV und kann sich folglich im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits nicht auf einen Verstoß gegen diesen Artikel berufen. Daher ist die erste Frage auch insoweit unzulässig als sie sich auf dessen Auslegung bezieht.

41      Zweitens geben die Fragen 2 und 3 dem Gerichtshof Anlass, der Vollständigkeit halber auf seine Rechtsprechung hinzuweisen, nach der die Vorlagefrage eines nationalen Gerichts unzulässig ist, wenn das nationale Gericht dem Gerichtshof nicht die erforderlichen tatsächlichen und rechtlichen Angaben macht, um diesem eine zweckdienliche Antwort zu ermöglichen (Urteil vom 2. Juli 2015, Gullotta und Farmacia di Gullotta Davide & C., C‑497/12, EU:C:2015:436, Rn. 26).

42      So gibt das vorlegende Gericht im Vorabentscheidungsersuchen bezogen auf die zweite Frage entgegen den in Art. 94 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs festgelegten Anforderungen nirgends die Gründe an, aus denen es an der Auslegung der Art. 102 und 106 AEUV Zweifel hegt, und ebenso wenig, welche Verbindung es zwischen diesen Artikeln und dem Gesetz von 2016 herstellt.

43      Insbesondere was die Art. 102 ff. AEUV und im Einzelnen das Vorliegen eines etwaigen Missbrauchs einer beherrschenden Stellung betrifft, lässt das vorlegende Gericht im Zusammenhang mit den Ausgangsverfahren jede Bezugnahme auf die Tatbestandsmerkmale einer beherrschenden Stellung im Sinne von Art. 102 AEUV vermissen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Dezember 2013, Ragn-Sells, C‑292/12, EU:C:2013:820, Rn. 41). Es wird nichts dazu ausgeführt, worin dieser Missbrauch einer beherrschenden Stellung liegen soll, oder inwieweit das Gesetz von 2016 zu einem solchen verleiten könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Juli 2015, Gullotta und Farmacia di Gullotta Davide & C., C‑497/12, EU:C:2015:436, Rn. 25).

44      Was die dritte Frage betrifft, deren hypothetischer Charakter auf der Hand liegt, ist darauf zu verweisen, dass die Rechtfertigung der Vorlage zur Vorabentscheidung nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen liegt, sondern darin, dass die Vorlage für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreits erforderlich ist (vgl. u. a. Urteile vom 16. Dezember 1981, Foglia, C‑244/80, EU:C:1981:302, Rn. 18, und vom 20. Januar 2005, García Blanco, C‑225/02, EU:C:2005:34, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

45      In Anbetracht aller vorstehenden Erwägungen ist das Vorabentscheidungsersuchen folglich unzulässig.

 Kosten

46      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

Das vom Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) mit Entscheidung vom 27. Januar 2022 eingereichte Vorabentscheidungsersuchen ist unzulässig.

Unterschriften



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