Vorläufige Fassung
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
RIMVYDAS NORKUS
vom 4. September 2025(1 )
Rechtssache C ‑629/24
MH,
Costa Crociere SpA
gegen
Costa Crociere SpA,
Axyme Selàrl,
Generali IARD SA,
Hiscox Insurance Company Ltd,
Caisse primaire d’assurance maladie (CPAM) de Paris,
DI,
DM,
WT,
Croisière Club SAS,
Hiscox SA,
Caisse primaire d’assurance maladie (CPAM) du Puy-De-Dôme
(Vorabentscheidungsersuchen der Cour de cassation [Kassationsgerichtshof, Frankreich])
„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EG) Nr. 392/2009 – Haftung von Beförderern von Reisenden auf See – Art. 2 – Anwendungsbereich – Art. 3 Abs. 1 – Haftung der Beförderer im Sinne des Athener Übereinkommens – Art. 7 Abs. 1 – Informationen für Reisende – Richtlinie 90/314/EWG – Pauschalreisen – Art. 5 – Haftung des Veranstalters – Kreuzfahrt – Unfall – Körperverletzung eines Reisenden “
I. Einleitung
1. Das Vorabentscheidungsersuchen der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) gemäß Art. 267 AEUV betrifft die Auslegung von Art. 2, Art. 3 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 392/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 über die Unfallhaftung von Beförderern von Reisenden auf See(2 ) in Fällen, in denen ein Beförderer auf See eine Kreuzfahrt durchführt, die eine „Pauschalreise“ im Sinne der Richtlinie 90/314/EWG des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen(3 ) darstellt.
2. Das Ersuchen wurde im Zusammenhang mit zwei Klagen aus gesamtschuldnerischer Haftung gestellt, die Reisende gegen Reisebüros, einen Beförderer auf See und Versicherungsgesellschaften erhoben hatten, nachdem sie auf Kreuzfahrten, die von diesem Beförderer durchgeführt und ihnen von diesen Reisebüros als Pauschalreise verkauft worden waren, Körperverletzungen erlitten hatten. Die wichtigste Rechtsfrage, die sich in beiden Fällen stellt, ist, auf welchen der oben genannten Unionsrechtsakte sich die Kläger zur Begründung ihrer Schadensersatzansprüche berufen können. Je nach ihren jeweiligen Interessen stützt sich jede Partei des Verfahrens auf einen der Rechtsakte und verneint die Anwendbarkeit des anderen. Es muss daher geprüft werden, in welchem Verhältnis die oben genannten Rechtsakte zueinander stehen und ob sie in Fällen, in denen eine Hochseekreuzfahrt die Merkmale einer Pauschalreise aufweist, gleichzeitig anwendbar sind.
3. Dies wirft komplexe Fragen hinsichtlich der Abgrenzung der Anwendungsbereiche der beiden Rechtsakte auf, die bisher von den nationalen Gerichten unterschiedlich beurteilt wurden und daher einer Klärung durch den Gerichtshof bedürfen. Diese Rechtsfrage ist von erheblicher praktischer Bedeutung, da die durch die beiden fraglichen Unionsrechtsakte geschaffenen Haftungsregeln unterschiedliche Ziele verfolgen, Ansprüche von der Erfüllung unterschiedlicher Voraussetzungen abhängig machen, teilweise unterschiedliche Arten von Schäden abdecken und sich somit letztlich im Umfang des Schutzes, den sie bieten, unterscheiden. Die Auslegung dieser Unionsrechtsakte erfordert besondere Aufmerksamkeit, um einen umfassenden Verbraucherschutz sowie Kohärenz und Einheit innerhalb der Unionsrechtsordnung zu gewährleisten.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
4. Im Zusammenhang mit den vorliegenden Rechtssachen sind die Art. 1, 2 und 5 der Richtlinie 90/314, die Art. 1, 2, 3 und 7 der Verordnung Nr. 392/2009, die Art. 1, 3, 7 und 14 des Anhangs I dieser Verordnung, Art. 3 der Verordnung Nr. 1177/2010(4 ) sowie die Art. 3 und 14 der Richtlinie 2015/2302/EU(5 ) anwendbar.
B. Französisches Recht
5. Die Richtlinie 90/314 wurde durch die Loi n° 92‑645 du 13 juillet 1992 (Gesetz Nr. 92‑645 vom 13. Juli 1992)(6 ) in nationales Recht umgesetzt, dessen Bestimmungen anschließend im Code du tourisme (Reiseverkehrsgesetzbuch) kodifiziert wurden. Die Fassung der einschlägigen Artikel dieses Gesetzbuchs ergibt sich aus der Loi n° 2009‑888 du 22 juillet 2009 (Gesetz Nr. 2009‑888 vom 22. Juli 2009)(7 ). Die Artikel bestimmen:
– Art. L. 211‑1:
„I. – Dieses Kapitel gilt für natürliche oder juristische Personen, die an der Organisation oder dem Verkauf folgender Dienstleistungen beteiligt sind oder dazu ihren Beitrag leisten, unabhängig von der Art ihrer Vergütung:
a) Reisen oder Aufenthalte für Einzelpersonen oder Gruppen;
b) Dienstleistungen, die im Zusammenhang mit Reisen oder Aufenthalten erbracht werden können, insbesondere die Ausstellung von Beförderungsscheinen, die Reservierung von Zimmern in Hotels oder touristischen Unterkünften sowie die Ausstellung von Unterkunfts- oder Verpflegungsgutscheinen;
…“
– Art. L. 211‑2:
„Eine Pauschalreise bezeichnet eine Leistung:
1. die sich aus der im Voraus festgelegten Verbindung von mindestens zwei Leistungen ergibt, die Beförderung, Unterbringung bzw. andere touristische Dienstleistungen betreffen, die nicht Nebenleistungen zur Beförderung oder zur Unterbringung sind und die einen beträchtlichen Teil der Pauschalreise ausmachen;
2. die länger als 24 Stunden dauert oder eine Übernachtung einschließt;
3. zu einem Gesamtpreis verkauft oder zum Verkauf angeboten wird.“
– Art. L. 211‑16:
„Jede natürliche oder juristische Person, die die in Art. L. 211‑1 genannten Leistungen erbringt, haftet gegenüber dem Käufer von Gesetzes wegen für die ordnungsgemäße Erfüllung der vertraglichen Verpflichtungen unabhängig davon, ob der Vertrag im Fernabsatz geschlossen wurde und ob diese Verpflichtungen von ihr selbst oder von anderen Dienstleistungsträgern zu erfüllen sind, unbeschadet ihres Rechts auf Rückgriff gegen diese und im Rahmen der in internationalen Übereinkommen vorgesehenen Entschädigungen.
Sie kann sich jedoch von ihrer Haftung ganz oder teilweise befreien, wenn sie den Nachweis erbringt, dass die Nichterfüllung oder die mangelhafte Erfüllung des Vertrags entweder dem Käufer zuzurechnen ist oder unvorhersehbare oder nicht abwendbare Versäumnisse einem Dritten, der an der Bewirkung der vertraglich vereinbarten Leistungen nicht beteiligt ist, zuzurechnen oder auf höhere Gewalt zurückzuführen sind.“
III. Dem Ausgangsrechtsstreit zugrunde liegender Sachverhalt und Vorlagefragen
6. Am 11. Februar 2016 erwarb DM für sich und seine Frau DI bei dem Reisebüro Croisière Club SAS eine Pauschalreise zum Preis von 1 782 Euro. Die Pauschalreise umfasst eine für den Zeitraum vom 30. März bis zum 11. April 2016 geplante Kreuzfahrt auf einem Schiff der Costa Crociere SpA ab Marseille (Frankreich) bis zu den griechischen Inseln mit fünf Zwischenhalten.
7. Am 30. März 2016 stürzte DI und brach sich den linken Oberarmkopf, nachdem sie von einer unbekannten Person gestoßen worden war, als sie sich am Buffet an Bord des Schiffes, das noch im Hafen von Marseille vor Anker lag, bedienen wollte. Infolgedessen nahmen DI und DM nicht an der Kreuzfahrt teil und verklagten Costa Crociere und Croisière Club auf Schadensersatz. Die Hiscox Insurance Company Ltd (im Folgenden: Hiscox), der Versicherer von Croisière Club, trat dem Rechtsstreit freiwillig bei.
8. Am 22. Oktober 2020 befand das Tribunal judiciaire de Nanterre (Gericht erster Instanz Nanterre, Frankreich), dass sowohl Costa Crociere als auch Croisière Club für den entstandenen Schaden haftbar seien, und verurteilte diese Unternehmen gemeinsam mit Hiscox zur Zahlung verschiedener Entschädigungsbeträge an DI und DM. Costa Crociere, Croisière Club und Hiscox legten gegen diese Entscheidung Berufung ein.
9. Mit Urteil vom 14. Februar 2023 verurteilte die Cour d’appel de Versailles (Berufungsgericht Versailles, Frankreich) Costa Crociere und Croisière Club gemäß den Art. L. 211‑1 ff. des die Richtlinie 90/314 umsetzenden Reiseverkehrsgesetzbuchs zur Entschädigung von DI und DM für den von ihnen erlittenen Schaden. Auf derselben Grundlage verurteilte dieses Gericht Hiscox, Croisière Club von den gegen sie ausgesprochenen Verurteilungen freizustellen und in deren Haftung einzutreten, und Costa Crociere, sowohl Croisière Club als auch Hiscox von den gegen sie ausgesprochenen Verurteilungen freizustellen und in deren Haftung einzutreten.
10. Mit ihrer Kassationsbeschwerde vor der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) machte Costa Crociere geltend, dass die Cour d’appel de Versailles (Berufungsgericht Versailles) einen Fehler begangen habe, indem dieses Gericht die Anwendung der Verordnung Nr. 392/2009 und des Athener Übereinkommens(8 ) abgelehnt und entschieden habe, dass sie gemäß den Art. L. 211‑1 ff. des Reiseverkehrsgesetzbuchs für den Schaden hafte, den DI und DM erlitten hätten.
11. Am 18. Januar 2017 buchte MH über das Reisebüro Blue Passion eine Kreuzfahrt an Bord eines von Costa Crociere betriebenen Schiffes zum Preis von 12 038 Euro, die vom 15. Februar bis 17. März 2017 von Valparaiso (Chile) nach Melbourne (Australien) führen sollte. In der Nacht vom 17. auf den 18. Februar 2017 stand sie, ohne das Licht einzuschalten, aus dem Bett auf, stürzte und brach sich den Oberarmkopf. Anschließend wurde sie zur medizinischen Behandlung nach Frankreich zurückgebracht.
12. Im Juli 2017 verklagte MH Blue Passion und Costa Crociere auf Schadensersatz. Hiscox, der Versicherer dieser Unternehmen, trat dem Rechtsstreit freiwillig bei.
13. Mit Urteil vom 24. Oktober 2019 befand das Tribunal de grande instance de Paris (Großinstanzgericht Paris, Frankreich), dass Blue Passion und Costa Crociere zu 20 % für den Schaden haftbar seien, den MH infolge ihres Sturzes erlitten habe. Das Gericht befand MH für teilweise verantwortlich, da sie das Licht nicht eingeschaltet habe. Es verurteilte Blue Passion und Costa Crociere gemeinsam mit Hiscox gemäß den Art. L. 211‑2 ff. des Reiseverkehrsgesetzbuchs, an MH Schadensersatz in Höhe von 2 041,53 Euro zu zahlen.
14. Am 22. September 2020 wurde über Blue Passion das gerichtliche Liquidationsverfahren eröffnet.
15. In der Berufungsinstanz befand die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris, Frankreich) in ihrem Urteil vom 17. November 2022, dass MH aufgrund ihres Versäumnisses, das Licht einzuschalten, allein für ihren Unfall verantwortlich sei. Daher könne Blue Passion nicht für die nicht ordnungsgemäße Erfüllung des Vertrags gemäß den Art. L. 211‑1 ff. des Reiseverkehrsgesetzbuchs haftbar gemacht werden. Darüber hinaus entschied dieses Gericht, dass Costa Crociere gemäß der Verordnung Nr. 392/2009 und dem Athener Übereinkommen nicht für den Unfall haftbar gemacht werden könne, da es keine Hinweise auf Bewegungen des Schiffes oder sonstiges Fehlverhalten seitens Costa Crociere gebe, die den Sturz hätten verursachen können. Daher erklärte die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) die Ansprüche von MH und alle Ansprüche Dritter gegen Blue Passion in Liquidation für unzulässig, hob das Urteil auf, mit dem Costa Crociere und Blue Passion für haftbar erklärt worden waren, und wies die Ansprüche von MH gegen Costa Crociere und Hiscox zurück.
16. MH legte bei der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) Kassationsbeschwerde ein und machte geltend, dass die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) einen Fehler begangen habe, indem dieses Gericht es abgelehnt habe, Art. L. 211‑2 und Art. L. 211‑16 des die Richtlinie 90/314 umsetzenden Reiseverkehrsgesetzbuchs anzuwenden, und stattdessen die Verordnung Nr. 392/2009 und das Athener Übereinkommen angewendet habe.
17. Bei der Behandlung der beiden Kassationsbeschwerden stellte das vorlegende Gericht, die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof), fest, dass in der Frage, ob die Verordnung Nr. 392/2009 für Anbieter von Hochseekreuzfahrten, die als Pauschalreisen im Sinne der Richtlinie 90/314 einzustufen seien, gelte, sowohl die beiden Berufungsgerichte als auch Rechtsgelehrte geteilter Meinung seien.
18. Auf der einen Seite werde argumentiert, dass die Haftung der Veranstalter von als Pauschalreisen verkauften Hochseekreuzfahrten unter die Haftungsregeln der Richtlinie 90/314 falle. Tatsächlich sehe die Verordnung Nr. 392/2009 keine Ausnahme von der in dieser Richtlinie festgelegten verschuldensunabhängigen Haftung des Veranstalters oder Vermittlers vor, wodurch ein besserer Verbraucherschutz gewährleistet werde. Zudem gelte die Verordnung Nr. 392/2009 nur für Verträge, die sich ausschließlich auf die Beförderung von Reisenden auf See bezögen, und der Verweis auf die Richtlinie 90/314 in Art. 7 dieser Verordnung beschränke sich auf die Informationspflichten des Veranstalters gegenüber den Reisenden und betreffe nicht die sich aus dieser Richtlinie ergebenden Haftungsregeln.
19. Auf der anderen Seite wird laut dem vorlegenden Gericht argumentiert, dass die Haftung der Veranstalter von Kreuzfahrten, die als Pauschalreisen verkauft würden, unter die Haftungsregeln der Verordnung Nr. 392/2009 falle, da gemäß Art. 14 des Athener Übereinkommens, auf das Art. 3 dieser Verordnung verweise, Ansprüche wegen Tod oder Körperverletzung eines Reisenden oder wegen Verlust oder Beschädigung von Reisegepäck gegen den Beförderer oder ausführenden Beförderer nur nach diesem Übereinkommen geltend gemacht werden könnten. Außerdem schließe keine Bestimmung der Verordnung Kreuzfahrten von ihrem Anwendungsbereich aus. Außerdem verweise Art. 7 der Verordnung auf die Richtlinie 90/314.
20. Das vorlegende Gericht führt weiter aus, einige Autoren schlügen vor, zu unterscheiden, ob der Unfall des Reisenden während einer Kreuzfahrt mit der Beförderung selbst zusammenhänge – in diesem Fall falle die Haftung des Beförderers unter das Athener Übereinkommen – oder mit einer in Verbindung mit dieser Beförderung erbrachten touristischen Dienstleistung – in diesem Fall finde die Richtlinie 90/314 Anwendung.
21. Angesichts dieser Erwägungen hat die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Sind Art. 2, Art. 3 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 392/2009 sowie ihr Anhang I dahin auszulegen, dass sie die Haftung eines Beförderers auf See regeln, der Veranstalter einer Kreuzfahrt ist, die die Merkmale einer Pauschalreise im Sinne der Richtlinie 90/314 aufweist?
2 Falls die erste Frage bejaht wird: Regeln diese Bestimmungen der Verordnung die Haftung dieses Unternehmers nur für den Fall, dass der Personenschaden mit der Beförderung auf See zusammenhängt?
IV. Verfahren vor dem Gerichtshof
22. Das Vorabentscheidungsersuchen vom 15. Mai 2024 ist bei der Kanzlei des Gerichtshofs am 25. September 2024 eingegangen.
23. DM und WT in ihrer Eigenschaft als Erben von DI, MH, Costa Crociere, Croisière Club und der Versicherer von Croisière Club, Hiscox, Hiscox in ihrer Eigenschaft als Versicherer von Blue Passion in gerichtlicher Liquidation, die französische Regierung und die Europäische Kommission haben innerhalb der in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs vorgesehenen Frist schriftliche Erklärungen abgegeben.
24. Gemäß Art. 76 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs hat der Gerichtshof beschlossen, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden.
V. Würdigung
A. Vorbemerkungen
25. Kreuzfahrten sind beliebt, weil sie ein bequemes All‑inclusive-Urlaubserlebnis bieten, das Reise, Unterkunft, Verpflegung und Unterhaltung umfasst. Reisende können mehrere Reiseziele besuchen, ohne mehrmals ihre Koffer auspacken zu müssen, sie können eine Vielzahl von Aktivitäten an Bord genießen und erhalten oft ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis. Sie sprechen aufgrund ihrer entspannten Atmosphäre, der vielen sozialen Kontakte, die sie bieten, und der einfachen Organisation eine Vielzahl von Menschen an. Aus rechtlicher Sicht weisen Kreuzfahrtverträge die Besonderheit auf, dass sie neben dem Beförderungselement auch Elemente anderer Dienstleistungen, wie z. B. Freizeitaktivitäten, enthalten.
26. Das Unionsrecht erkennt diese Tatsache in der Definition einer „Kreuzfahrt“ gemäß Art. 3 der Verordnung Nr. 1177/2010 als „einen Verkehrsdienst auf See oder Binnenwasserstraßen, der ausschließlich Vergnügungs- oder Freizeitzwecken dient, Unterbringung und andere Zusatzleistungen umfasst und einen Aufenthalt von mehr als zwei Übernachtungen an Bord beinhaltet“ an. Infolgedessen können einige Aspekte des vom Reisenden abgeschlossenen Vertrags in den Anwendungsbereich mehrerer verschiedener Rechtsakte des Unionsrechts fallen. Bei Nichterfüllung oder mangelhafter Erfüllung der vereinbarten Dienstleistung können sich komplexe Fragen hinsichtlich der Abgrenzung des Anwendungsbereichs dieser Rechtsakte stellen.
27. In den vorliegenden Fällen, die Körperverletzungen betreffen, die zwei Reisende während Kreuzfahrten in den Jahren 2016 und 2017 erlitten, stellt sich die Frage, wie die Anwendungsbereiche der beiden relevanten Unionsrechtsakte, nämlich der Richtlinie 90/314 und der Verordnung Nr. 392/2009, abzugrenzen sind. Jeder dieser Rechtsakte sieht eigene Haftungsregeln vor – im ersten Fall die des Veranstalters und im zweiten Fall die des Beförderers –, wie ich im Folgenden näher erläutern werde. Da die Verordnung Nr. 392/2009 das Athener Übereinkommen vollständig in die Rechtsordnung der Union übernimmt, sind die Ursprünge und der Zweck dieses Übereinkommens für diese Untersuchung von erheblicher Bedeutung. Ebenfalls relevant ist das Londoner Protokoll(9 ), mit dem das Athener Übereinkommen geändert wurde und dem die Europäische Union beigetreten ist. Es ist jedoch zu beachten, dass die Richtlinie 2015/2302, die inzwischen die Richtlinie 90/314 ersetzt hat, auf die vorliegenden Fälle zeitlich nicht anwendbar ist, da sie erst am 1. Juli 2018 in Kraft getreten ist.
28. Nachdem ich den Gegenstand beider Vorlagefragen zusammengefasst habe, ist es eindeutig angebracht, sie gemeinsam zu behandeln. Das zentrale Ziel der Prüfung besteht darin, Kriterien für die Abgrenzung des Anwendungsbereichs der beiden Haftungsregelungen zu ermitteln und damit die Rechtsklarheit hinsichtlich ihres jeweiligen Geltungsbereichs zu verbessern. Zu diesem Zweck werde ich beide Regelungen vergleichen und ihre wesentlichen Merkmale hervorheben(10 ). Anhand einer Auslegung werde ich feststellen, inwieweit die betreffenden Unionsakte Aspekte der Beförderung und anderer Dienstleistungen erfassen. Dabei werde ich prüfen, ob es notwendig sein könnte, zwischen verschiedenen Arten von Dienstleistungen zu unterscheiden, da einige der auf einer Kreuzfahrt erbrachten Dienstleistungen möglicherweise nur wenig oder gar keinen Bezug zum Bereich der Beförderung haben. Abschließend werde ich bestimmte Auslegungskriterien vorschlagen, die dem vorlegenden Gericht dabei helfen sollen, die im konkreten Fall anwendbaren Haftungsregeln zu ermitteln(11 ).
B. Darstellung der für die Beförderung von Reisenden auf See geltenden Haftungsregeln und ihrer wechselseitigen Beeinflussung
1. Überblick über die wesentlichen Merkmale beider Haftungsregelungen
29. Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 392/2009 sieht vor, dass die Haftungsregeln für Beförderer auf See für Schäden, die Reisenden eines Schiffes entstehen, sich nach den Art. 1 und 1bis , Art. 2 Abs. 2, den Art. 3 bis 16 sowie den Art. 18, 20 und 21 des Athener Übereinkommens richten. Wie bereits erwähnt, ist dieses Übereinkommen durch den Erlass der Verordnung integraler Bestandteil der Rechtsordnung der Union geworden(12 ).
30. Die im Athener Übereinkommen festgelegten Haftungsregeln sehen vor, dass bei Schäden, die durch den Tod oder die Körperverletzung eines Reisenden entstehen und nicht aufgrund eines Schifffahrtsereignisses entstanden sind, der Beförderer haftet, wenn das den Schaden verursachende Ereignis auf ein Verschulden oder eine Fahrlässigkeit des Beförderers zurückzuführen ist, wobei die Beweislast für das Verschulden oder die Fahrlässigkeit beim Kläger liegt(13 ).
31. Art. 14 des Athener Übereinkommens stellt klar, dass eine Klage unter den oben genannten Umständen nur auf der Grundlage dieses Übereinkommens erhoben werden kann. Daraus lässt sich ableiten, dass die Verordnung Nr. 392/2009 eine spezifische Rechtsgrundlage für Klagen gegen den Beförderer bei Tod oder Körperverletzung im Seeverkehr darstellt.
32. In diesem Zusammenhang ist auf den 19. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 392/2009 zu hinzuweisen, wonach das Ziel dieser Verordnung darin besteht, auf Unionsebene einheitliche Regeln („a single set of rules“)(14 ) für die Rechte von Beförderern von Reisenden auf See und diesen Reisenden bei Unfällen zu schaffen, da dies auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden kann. Dieser Hinweis bestärkt mich in meiner Auffassung, dass die Verordnung Nr. 392/2009 einen Rechtsrahmen für einen klar definierten Gegenstand bildet, wodurch alle potenziell widersprüchlichen Vorschriften im Bereich der Beförderung von Reisenden auf See ausgeschlossen sind(15 ).
33. Was insbesondere den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 392/2009 betrifft, so ist in Art. 3 Abs. 6 des dieser Verordnung beigefügten Athener Übereinkommens festgelegt, dass die Haftung des Beförderers sich nur auf Schäden bezieht, die „während der Beförderung“ entstanden sind. Mit anderen Worten, diese Bestimmung definiert einen Zeitraum oder einen Vorgang, während dessen der Beförderer haftet, wobei die konkreten Auswirkungen durch andere Bestimmungen dieser Verordnung festgelegt werden.
34. In diesem Zusammenhang gilt die Verordnung Nr. 392/2009 gemäß deren Art. 2 für jede „internationale Beförderung“ im Sinne von Art. 1 Nr. 9 des Athener Übereinkommens. In diesem ist dieser Begriff definiert als „jede Beförderung, bei der nach dem Beförderungsvertrag der Abgangsort und der Bestimmungsort in zwei verschiedenen Staaten liegen oder in nur einem Staat liegen, wenn nach dem Beförderungsvertrag oder der vorgesehenen Reiseroute in einem anderen Staat ein Zwischenhafen angelaufen werden soll“.
35. Darüber hinaus legt Art. 1 Nr. 8 Buchst. a des Athener Übereinkommens fest, dass „Beförderung“ den Zeitraum umfasst, während dessen sich der Reisende und/oder sein Kabinengepäck an Bord des Schiffes befinden oder ein- oder ausgeschifft werden, und den Zeitraum, während dessen der Reisende und sein Kabinengepäck auf dem Wasserweg vom Land auf das Schiff oder umgekehrt befördert werden, wenn die Kosten dieser Beförderung im Beförderungspreis inbegriffen sind oder wenn das für diese zusätzliche Beförderung benutzte Wasserfahrzeug dem Reisenden vom Beförderer zur Verfügung gestellt worden ist. Der Begriff „Beförderung“ umfasst jedoch nicht den Zeitraum, während dessen sich der Reisende in einer Hafenstation, auf einem Kai oder auf einer anderen Hafenanlage befindet.
36. Angesichts der vorstehenden Erwägungen und der Tatsache, dass eine Kreuzfahrt in erster Linie – wenn auch nicht ausschließlich – die Beförderung von Reisenden auf See umfasst, ist es angebracht, davon auszugehen, dass alle Körperverletzungen, die Reisende infolge von Unfällen während ihrer Beförderung an Bord erleiden, in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 392/2009 fallen können. Dagegen fallen Körperverletzungen, die sich ereignen, wenn sich der Reisende nicht an Bord des Schiffes befindet, nicht unter diese Verordnung.
37. Es stellt sich dann die Frage, ob unter diesen Umständen auch die Richtlinie 90/314 Anwendung finden könnte. Wenn dies der Fall wäre, würde dies bedeuten, dass sich in bestimmten Fällen die Anwendungsbereiche der beiden Rechtsakte überschneiden würden. Art. 7 der Verordnung Nr. 392/2009 enthält einige Hinweise zur Beantwortung dieser Frage. Nach dieser Bestimmung muss der Beförderer und/oder der ausführende Beförderer unbeschadet der Verpflichtungen von Reiseveranstaltern gemäß der Richtlinie 90/314 dafür sorgen, dass die Reisenden bei der Abfahrt geeignete und verständliche Informationen über ihre Rechte nach dieser Verordnung erhalten.
38. Diese Bestimmung zeigt, dass der Unionsgesetzgeber die Verordnung Nr. 392/2009 in vollem Bewusstsein der Möglichkeit erlassen hat, dass der Seeverkehr in eine Pauschalreise im Sinne der Richtlinie 90/314 einbezogen werden könnte. Sie belegt auch, dass die durch die Verordnung Nr. 392/2009 gewährten Rechte, insbesondere im Rahmen der durch die Verordnung festgelegten Haftungsregeln für Beförderer auf See gegenüber Reisenden, diesen mitgeteilt werden müssen und dass diese Rechte daher auch im Zusammenhang mit Pauschalreisen gelten können.
39. Die Pflicht der Beförderer auf See, Reisende über ihre Rechte gemäß der Verordnung Nr. 392/2009 zu informieren, gilt „unbeschadet“ der Rechte, die Reisende gemäß der Richtlinie 90/314 gegenüber Reiseveranstaltern haben können. Es ist jedoch anzumerken, dass der Begriff „unbeschadet“ nicht darauf abzielt, die Anwendung der Verordnung Nr. 392/2009 auf die Haftungsregeln des Beförderers auf See im Falle des Todes oder Personenschadens eines Reisenden auszuschließen oder einzuschränken. Vielmehr ist es offensichtlich, dass die Haftungsregeln im Falle des Todes oder Personenschadens eines Reisenden während des Seeverkehrs weiterhin ausdrücklich gelten, und zwar gemäß der Bestimmung eines internationalen Übereinkommens, das integraler Bestandteil des Unionsrechts ist.
40. Die Haftungsregeln der Richtlinie 90/314 betreffen ihrerseits die Haftung des Veranstalters für die Verletzung seiner vertraglichen Verpflichtungen gegenüber dem Verbraucher. Genauer gesagt haftet der Veranstalter gemäß Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie gegenüber dem Verbraucher für die ordnungsgemäße Erfüllung der sich aus dem Pauschalreisevertrag ergebenden Verpflichtungen, unabhängig davon, ob diese Verpflichtungen vom Veranstalter selbst oder von anderen Dienstleistungsträgern – wie im Falle einer Kreuzfahrt vom Beförderer – zu erfüllen sind(16 ). Insbesondere sieht die Richtlinie auch eine Entschädigung für Körperschäden vor, die sich aus der Nichterfüllung oder Schlechterfüllung der vertraglich vereinbarten Dienstleistungen ergeben, wie aus Art. 5 Abs. 2 hervorgeht(17 ).
41. Für die Zwecke dieser Untersuchung kann daher festgestellt werden, dass sich die beiden Haftungsregelungen sowohl hinsichtlich ihrer regulatorischen Ziele als auch hinsichtlich ihrer Rechtsgrundlagen unterscheiden. Folglich können sie bei Unfällen mit Reisenden an Bord eines Kreuzfahrtschiffes gleichzeitig Anwendung finden. Aus dieser Perspektive kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich die Anwendungsbereiche der Verordnung Nr. 392/2009 und der Richtlinie 90/314 unter bestimmten Umständen überschneiden. Allerdings ist zu betonen, dass diese Rechtsakte nicht in gleicher Weise gelten. Sie verfolgen nämlich unterschiedliche Ziele und regeln unterschiedliche Aspekte derselben Reisesituation(18 ).
42. Aus diesem Grund richten sich etwaige Ansprüche eines Reisenden gegen verschiedene Parteien, nämlich den Beförderer und/oder den Veranstalter. Diese Parteien können dieselben oder unterschiedliche Wirtschaftsteilnehmer sein. Angesichts der unterschiedlichen Funktionen, die diese Parteien bei der Durchführung einer Kreuzfahrt erfüllen, ist davon auszugehen, dass jede Partei nur für Verstöße gegen ihre eigenen Verpflichtungen gegenüber dem Reisenden haftbar gemacht werden kann.
43. Dementsprechend haftet der Beförderer in der Regel für Körperschäden, die an Bord des Schiffes erlitten wurden, wobei die Voraussetzungen für die Begründung dieser Haftung davon abhängen, ob der betreffende Schaden aus einem „Schifffahrtsereignis“ im Sinne des Athener Übereinkommens resultiert. Der Veranstalter hingegen ist für die ordnungsgemäße Erfüllung des Pauschalreisevertrags verantwortlich und haftet daher auch für Mängel, die auf das Verhalten des Beförderers zurückzuführen sind. Darüber hinaus gilt gemäß der Definition des Begriffs „Pauschalreise“ in Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 90/314 die „Beförderung“ im Allgemeinen als einer ihrer wesentlichen Bestandteile.
44. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass Art. 4 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 90/314 dem Veranstalter konkrete Verpflichtungen auferlegt, dem Verbraucher vor Reiseantritt bestimmte Informationen zur Verfügung zu stellen – darunter die Uhrzeiten und Orte von Zwischenstationen und Anschlussverbindungen sowie Einzelheiten zur Unterkunft, die der Reisende beziehen wird, wie beispielsweise eine Kabine oder eine Schlafkoje auf einem Schiff. Mit anderen Worten: Der Anwendungsbereich der Richtlinie 90/314 umfasst in gewissem Umfang auch die Beförderung von Reisenden auf See.
45. Folglich hat der Reisende grundsätzlich die Wahl zwischen zwei unterschiedlichen Rechtsbehelfen . Es ist jedoch zu betonen, dass ihn dies nicht von der Verpflichtung entbindet, in jedem Einzelfall sorgfältig zu prüfen, ob die Voraussetzungen der Verordnung Nr. 392/2009 und der Richtlinie 90/314 unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls erfüllt sind(19 ).
46. Wenn beide Haftungsregelungen nebeneinander gelten sollen, stellt sich die Frage, wie sich die rechtliche Kohärenz gewährleisten lässt. Eine Auslegung der Richtlinie 90/314 zeigt, dass der Unionsgesetzgeber die mögliche Anwendbarkeit des Athener Übereinkommens bereits zu einem Zeitpunkt berücksichtigt hatte, als dieses noch nicht in die Verordnung Nr. 392/2009 aufgenommen worden und noch nicht Teil der Rechtsordnung der Union geworden war. So sieht Art. 5 Abs. 2 Unterabs. 3 der Richtlinie 90/314 vor, dass „die Mitgliedstaaten bei Schäden, die auf der Nichterfüllung oder einer mangelhaften Erfüllung der nach dem Vertrag geschuldeten Leistungen beruhen, … zulassen [können], dass die Entschädigung vertraglich eingeschränkt wird“. Der 19. Erwägungsgrund der Richtlinie 90/314 verweist in diesem Zusammenhang insbesondere auf das „Athener Übereinkommen von 1974 über den Seeverkehr“.
47. Obwohl sie für die vorliegenden Fälle zeitlich nicht anwendbar ist, sollte die Richtlinie 2015/2302, die die Richtlinie 90/314 ersetzt hat, bei der hier in Rede stehenden Auslegung ebenfalls berücksichtigt werden. Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie 2015/2302 klärt das Verhältnis zwischen den für Pauschalreisen geltenden Vorschriften und den für Reiseleistungen geltenden internationalen Übereinkommen, insbesondere den Vorschriften des Athener Übereinkommens. Gemäß dieser Bestimmung gelten, „soweit der Umfang des Schadensersatzes oder die Bedingungen, unter denen ein Erbringer einer Reiseleistung, die Bestandteil einer Pauschalreise ist, Schadensersatz zu leisten hat, durch für die Union verbindliche völkerrechtliche Übereinkünfte eingeschränkt werden, … diese Einschränkungen auch für den Reiseveranstalter“. Das Regelungsziel dieser Bestimmung besteht darin, Fairness und rechtliche Kohärenz zu gewährleisten, damit Veranstalter nicht nach internationalem Recht einem höheren Standard unterliegen als der Dienstleister selbst.
48. Darüber hinaus ist auf Art. 14 Abs. 5 der Richtlinie 2015/2302 zu verweisen, der vorsieht, dass das Recht auf Schadensersatz nach Maßgabe dieser Richtlinie die Rechte von Reisenden nach der Verordnung Nr. 392/2009 unberührt lässt, allerdings mit der Einschränkung, dass die nach dieser Richtlinie gewährte Schadensersatzzahlung von der nach Maßgabe dieser Verordnung gewährten Schadensersatzzahlung abgezogen wird und umgekehrt, um eine Überkompensation zu verhindern. Diese Bestimmung stützt meine Feststellung, dass beide Haftungsregelungen miteinander verbunden sind. Sie sind so konzipiert, dass sie nebeneinander bestehen und Reisenden grundsätzlich gleichzeitig zur Verfügung stehen, wodurch ein umfassender Schutz von Reisenden gewährleistet wird, ohne dass diese auf einen einzigen Rechtsbehelf beschränkt wären. Diese gleichzeitige Anwendbarkeit wird jedoch vom Unionsgesetzgeber ausdrücklich eingeschränkt, um zu verhindern, dass ein Reisender für denselben Vorfall von mehreren haftenden Parteien eine Überkompensation erhält.
2. Parallelen zum Bereich de r Beförderung von Fluggästen
49. Ich werde diesen allgemeinen Überblick nun durch einen kurzen Exkurs zu den Haftungsregeln für die Beförderung von Fluggästen ergänzen, aus dem sich für die vorliegende Prüfung relevante rechtliche Schlussfolgerungen ziehen lassen, da sowohl der Unionsgesetzgeber als auch der Gerichtshof einige Klarstellungen zum materiellen Geltungsbereich der anwendbaren Vorschriften vorgenommen haben.
50. So hat der Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache Irish Ferries (20 ) die Grundlage für eine analoge Auslegung der Bestimmungen über die Beförderung von Reisenden auf See zu den Bestimmungen für die Beförderung von Fluggästen geschaffen. Die vom Gerichtshof entwickelte Analogie betraf den möglichen finanziellen Druck auf Beförderer auf See aufgrund der in Art. 19 der Verordnung Nr. 1177/2010 vorgesehenen Entschädigungsmaßnahmen. Dabei wies er darauf hin, dass er bereits im Bereich der Beförderung von Fluggästen entschieden habe, dass solche Folgen gemessen an dem Ziel eines hohen Schutzniveaus für die Reisenden nicht als unverhältnismäßig angesehen werden könnten.
51. In seinem Urteil in der Rechtssache Primera Air Scandinavia (21 ) hat der Gerichtshof die Wechselwirkung zwischen den Vorschriften über die Beförderung von Fluggästen und den Vorschriften über Pauschalreisen geprüft und festgestellt, dass der in Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004(22 ) vorgesehene Ausgleichsanspruch anwendbar ist, wenn der von einem Fluggast erworbene Flug Bestandteil einer Pauschalreise ist, ohne dass dies Auswirkungen auf etwaige sich aus der Richtlinie 90/314 ergebende Ansprüche hätte.
52. In seinem Urteil in der Rechtssache Hembesler und Condor Flugdienst (23 ) bestätigte der Gerichtshof die Möglichkeit einer kombinierten Anwendung der Vorschriften der Richtlinie 2015/2302 und der Verordnung Nr. 261/2004 auf Fluggäste im Zusammenhang mit einer Pauschalreise. Nach Ansicht des Gerichtshofs konnte der Rechtsschutz der Fluggäste nicht ausschließlich durch die Richtlinie gewährleistet werden. Nach einer Auslegung von Art. 3 Abs. 6 der Verordnung Nr. 261/2004 und Art. 14 Abs. 5 der Richtlinie 2015/2302 kam der Gerichtshof zu dem Schluss, dass sich die jeweiligen Anwendungsbereiche dieser beiden Sekundärrechtsakte überschneiden könnten. Der Gerichtshof stellte jedoch auch fest, dass diese Bestimmungen ihrer kombinierten Anwendung dort eine Grenze setzen, wo der dem Fluggast entstandene Schaden überkompensiert wird.
53. Die vorgenannten Urteile zeigen, dass im Bereich der Beförderung von Fluggästen die parallele Anwendung zweier unterschiedlicher Haftungsregelungen zulässig ist, soweit dies dem umfassenden Schutz der Reisenden dient. Da diese Regelungen jedoch auf unterschiedlichen Rechtsmechanismen beruhen und sich an unterschiedliche Kategorien von Haftenden richten, enthalten die einschlägigen Instrumente des Unionsrechts spezifische Bestimmungen, die ihren jeweiligen Anwendungsbereich abgrenzen(24 ). Das Fehlen detaillierter Bestimmungen über die Beförderung von Reisenden auf See – um die es in den vorliegenden Fällen geht – in Verbindung mit der Tatsache, dass der Gerichtshof sich noch nicht mit der Abgrenzung des sachlichen Anwendungsbereichs dieser Vorschriften im Verhältnis zu den Vorschriften über Pauschalreisen befasst hat, erfordert eine Klärung im Wege der Auslegung. Auf diese Aufgabe werde ich im folgenden Abschnitt eingehen.
C. Notwendigkeit einer kohärenten und interessenorientierten Auslegung der Vorschriften über die Beförderung von Reisenden auf See
54. Die Tatsache, dass beide Haftungsregelungen parallel gelten können, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Beförderungsanteil in Kreuzfahrtverträgen nur einen relativ geringen Teil des vom Veranstalter angebotenen Gesamtpakets ausmacht, während andere Dienstleistungen – wie Unterhaltung, Unterkunft und Verpflegung – eindeutig überwiegen. Dies spiegelt auch die Nachfrage der Verbraucher wider: Kreuzfahrtpassagiere möchten in der Regel unterhalten werden, während sie neue Regionen der Welt erkunden. Wenn hingegen das Hauptinteresse auf der Beförderung liegen würde, gäbe es sicherlich schnellere und kostengünstigere Alternativen zu Kreuzfahrten. Dementsprechend ist der Anwendungsbereich der Richtlinie 90/314 in der Praxis deutlich weiter als der der Verordnung Nr. 392/2009, die sich auf Haftungsfragen im Zusammenhang mit der Verletzung oder dem Tod von Reisenden während ihrer Beförderung beschränkt.
55. Darüber hinaus sollte nicht übersehen werden, dass der Unionsgesetzgeber das Verbraucherschutzrecht und insbesondere das Pauschalreiserecht schrittweise modernisiert hat, um der wachsenden Nachfrage von Reisenden nach Kreuzfahrten gerecht zu werden. Während Kreuzfahrten in der Richtlinie 90/314 nicht ausdrücklich erwähnt wurden, werden sie nun im 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 2015/2302 explizit genannt und im Wesentlichen als eine Kombination mehrerer Dienstleistungen charakterisiert, bei denen die Beförderungskomponente eine untergeordnete Rolle spielt.
56. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs scheint die zunehmende Bedeutung des Pauschalreiserechts bei der Gewährleistung des Schutzes von Reisenden widerzuspiegeln. In seinem Urteil in der Rechtssache Pammer und Hotel Alpenhof (25 ) befand der Gerichtshof, dass die Voraussetzungen für die Einstufung einer Frachtschiffsreise als „Pauschalreise“ im Sinne von Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 90/314 erfüllt waren, obwohl die betreffende Reise unter wesentlich einfacheren Bedingungen als eine herkömmliche Kreuzfahrt stattfand. Der Beförderungsaspekt wurde nur insoweit berücksichtigt, als er einen notwendigen Bestandteil der Pauschalreise darstellte. Damit hat der Gerichtshof diese Kategorie der Beförderung von Reisenden auf See wirksam in den Anwendungsbereich des Verbraucherschutzrechts einbezogen. Erst recht sollte diese Erwägung auch für komplexere oder anspruchsvollere Formen von Kreuzfahrten gelten.
57. Meiner Ansicht nach sollten diese Aspekte bei der Entscheidung darüber berücksichtigt werden, welches Instrument des Unionsrechts tatsächlich Anwendung findet. Fragen der Abgrenzung zwischen dem Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 392/2009 und der Richtlinie 90/314 dürften insbesondere dann auftreten, wenn Pflichtverletzungen zu Körperschäden des Reisenden führen – unabhängig davon, ob diese Schäden im Zusammenhang mit der Beförderung selbst oder mit anderen Dienstleistungen eintreten. Bei der Festlegung der Grenzen der jeweiligen Anwendungsbereiche dieser Unionsrechtsakte sollte einerseits berücksichtigt werden, dass die Richtlinie 90/314 Bestimmungen enthält, die für den Verbraucher sehr günstig sind(26 ). Daher sollten die Bestimmungen der Richtlinie 90/314 im Interesse des Verbrauchers so umfassend wie möglich angewendet werden. Andererseits darf die Verordnung Nr. 392/2009 nicht ihres beabsichtigten Zwecks beraubt werden. Sie sollte vielmehr im Einklang mit ihrem ursprünglichen Ziel angewendet werden, nämlich die Entschädigung für Körperverletzungen sicherzustellen, die in engem Zusammenhang mit dem Beförderungsvorgang stehen (27 ).
58. Entgegen dem Vorbringen einiger Beteiligter teile ich nicht die Auffassung, dass die Verordnung Nr. 392/2009 die Bestimmungen der Richtlinie 90/314 unter allen Umständen vollständig ersetzt. Dieses Vorbringen beruht auf der Annahme, dass Art. 14 des Athener Übereinkommens die ausschließliche Anwendung der Bestimmungen des Übereinkommens vorsieht. Diese Auslegung verkennt jedoch, dass das vorrangige Ziel dieser Bestimmung darin besteht, die Anwendung widersprüchlicher nationaler Rechtsvorschriften im Bereich des Verkehrsrechts auszuschließen. Die Unterzeichnerstaaten des Athener Übereinkommens haben sich auf einen internationalen Vertrag geeinigt, der auf die Festlegung einheitlicher Haftungsregeln abzielt(28 ). Dieses Ziel kommt sowohl im Übereinkommen selbst als auch in der Verordnung Nr. 392/2009 eindeutig zum Ausdruck. Insbesondere wird in dem zuvor erwähnten 19. Erwägungsgrund der Verordnung auf die Schaffung „einheitlicher Regeln“ Bezug genommen, während in Anhang II des Übereinkommens das „Ziel der Gewährleistung der Einheitlichkeit“ bei seiner Anwendung hervorgehoben wird.
59. In jedem Fall ist zu berücksichtigen, dass Art. 14 des Übereinkommens vor der Richtlinie 90/314 entstanden ist und aus einer Zeit stammt, in der von Reiseveranstaltern organisierte Kreuzfahrten noch nicht weit verbreitet waren. Folglich wurden diese Rechtsbeziehungen zwischen Reiseveranstaltern und Verbrauchern damals nicht berücksichtigt. Das Augenmerk des Gesetzgebers richtete sich im Kontext des Seeverkehrs in erster Linie auf das Rechtsverhältnis zwischen Beförderern und Reisenden. Die Entwicklung des Reiserechts und die zunehmende Beliebtheit des Kreuzfahrttourismus sind jedoch Entwicklungen, die sich in der Auslegung des geltenden Rechtsrahmens widerspiegeln sollten.
60. Ebenso wenig schließe ich mich dem Argument derjenigen Beteiligten an, die sich für die ausschließliche Anwendung der Richtlinie 90/314 unter vollständigem Ausschluss der Bestimmungen der Verordnung Nr. 392/2009 aussprechen. Meiner Ansicht nach berücksichtigt diese Auslegung nicht, dass der Unionsgesetzgeber, wie aus einer systematischen Auslegung hervorgeht, eindeutig beabsichtigte, dass die Verordnung Nr. 392/2009 unabhängig von der Entwicklung des Verbraucherschutzrechts in vollem Umfang anwendbar bleiben soll. Dieses Rechtsinstrument behält daher seine Relevanz, insbesondere in Bezug auf die Haftung des Beförderers für Körperverletzungen, die auf die Beförderung zurückzuführen sind.
61. Diese Auslegung dient auch den Interessen des Verbrauchers, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass bestimmte Umstände eintreten, die nicht ohne Weiteres als Vertragsverletzungen des Reiseveranstalters eingestuft werden können, sondern vielmehr auf Bedingungen im Zusammenhang mit dem Betrieb des Schiffes zurückzuführen sind und daher in den Verantwortungsbereich des Beförderers fallen. Folglich kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich ein Verbraucher unter solchen Umständen in der schwierigen Lage befinden könnte, nachweisen zu müssen, dass die Voraussetzungen für eine Haftung des Reiseveranstalters erfüllt sind. Im Gegensatz dazu wäre es für einen Reisenden wahrscheinlich wesentlich einfacher, einen Anspruch gegen den Beförderer im Rahmen der Verordnung Nr. 392/2009 geltend zu machen.
62. Daher sollten die Verordnung Nr. 392/2009 und die Richtlinie 90/314 als nebeneinander bestehend und parallel anwendbar angesehen werden, sofern dies angemessen und systematisch gerechtfertigt ist . Meiner Ansicht nach ist diese Auslegung geeignet, dem Reisenden den größtmöglichen und umfassendsten Rechtsschutz zu gewährleisten.
63. Allerdings erfordern die Rechtssicherheit – und insbesondere die Vorhersehbarkeit in Geschäftsbeziehungen – sowie der Schutz aller Verbraucher, die Kreuzfahrtdienstleistungen in Anspruch nehmen, die Entwicklung zuverlässiger und leicht anwendbarer Kriterien für die Bestimmung der anwendbaren Regelung.(29 ). Der folgende Abschnitt befasst sich mit diesem Aspekt.
D. Kriterien für die Abgrenzung der jeweiligen Anwendungsbereiche der Verordnung Nr. 392/2009 und der Richtlinie 90/314
64. Auf der Grundlage der vorstehenden Überlegungen lassen sich bestimmte Kriterien identifizieren, die eine Abgrenzung der jeweiligen Anwendungsbereiche der Verordnung Nr. 392/2009 und der Richtlinie 90/314 ermöglichen. Um diese Kriterien besser zu veranschaulichen, werde ich, soweit möglich, auf Beispiele aus einschlägigen Fällen zurückgreifen.
1. Kriterien für die Anwendung der Verordnung Nr. 392/2009
65. Zu den Kriterien, deren Erfüllung die Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 392/2009 begründet, ist anzumerken, dass, wie bereits festgestellt, alle Körperverletzungen, die Reisende infolge von Unfällen während der Beförderung an Bord erleiden, in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fallen. Umgekehrt fallen Schäden, die ein Reisender in einem Hafenterminal, auf einem Kai oder auf einer anderen Hafenanlage erleidet, nicht unter diese Verordnung(30 ). Daraus folgt logischerweise, dass der Reisende keine Haftungsansprüche nach der Verordnung geltend machen kann, wenn er beispielsweise während eines Landausflugs Körperschäden erleidet(31 ).
66. Darüber hinaus ist zu beachten, dass gemäß Art. 3 Abs. 1 des Athener Übereinkommens der Beförderer für Schäden haftet, die durch Personenschäden eines Reisenden aufgrund eines „Schifffahrtsereignisses“ entstanden sind. Nach der Legaldefinition in Art. 3 Abs. 5 des Übereinkommens bedeutet dieser Begriff Schiffbruch, Kentern, Zusammenstoß oder Strandung des Schiffes, Explosion oder Feuer im Schiff oder einen Mangel des Schiffes. Die Haftung greift, es sei denn, der Beförderer weist nach, dass das Ereignis infolge einer Kriegshandlung, von Feindseligkeiten, eines Bürgerkriegs, eines Aufstands oder eines außergewöhnlichen, unvermeidlichen und unabwendbaren Naturereignisses eingetreten ist oder ausschließlich durch eine Handlung oder Unterlassung verursacht wurde, die von einem Dritten in der Absicht, das Ereignis zu verursachen, begangen wurde. Da die Umstände, die zu einem Haftungsanspruch führen, im Übereinkommen selbst klar definiert sind, dürfte es in der Regel wenig Schwierigkeiten machen, festzustellen, ob der Reisende einen Anspruch gegen den Beförderer hat.
67. Die Klärung dieser Frage wird jedoch komplexer, wenn der Körperschaden nicht auf eines der oben genannten „Schifffahrtsereignisse“ zurückzuführen ist. In einem solchen Fall sieht Art. 3 des Athener Übereinkommens vor, dass der Beförderer haftet, wenn das den Schaden verursachende Ereignis auf ein Verschulden des Beförderers zurückzuführen ist. Die Beweislast für ein solches Verschulden liegt beim Kläger.
68. Vor diesem Hintergrund ist der Schluss angebracht, dass es sich bei den fraglichen Vorfällen um Ereignisse handeln muss, bei denen ein typischerweise mit der Beförderung von Reisenden auf See verbundenes Risiko eingetreten ist – Risiken, über die der Beförderer aufgrund seiner Stellung als Betreiber des Schiffes normalerweise die Kontrolle ausübt und in Bezug auf die er daher gesetzlich verpflichtet ist, alle ihm zur Verfügung stehenden Maßnahmen zu ergreifen, um ihr Eintreten zu verhindern.
69. Um diese Überlegungen besser zu veranschaulichen, kann es hilfreich sein, einige Beispiele für Vorfälle im Zusammenhang mit der Beförderung von Reisenden auf See anzuführen, die zu Körperschäden führen können. Zu solchen Vorfällen gehören: Ausrutschen, Stolpern und Stürzen an Bord (aufgrund nasser oder unebener Flächen an Deck, schlecht beleuchteter Treppenaufgänge oder unsicherer Bodenbeläge); Unfälle durch herabfallende Gegenstände (z. B. unsicher verstautes Gepäck oder Ausrüstung, das/die in Kabinen oder öffentlichen Bereichen herunterfällt); Unfälle beim Ein- oder Aussteigen (z. B. Unfälle auf Gangways, Treppen oder in Boarding-Bereichen); Unfälle aufgrund von fehlerhaft funktionierenden oder schlecht gewarteten Einrichtungen (z. B. defekte Aufzüge oder Türen); Unfälle aufgrund unzureichend gewarteter Wasserrettungsausrüstung (z. B. Rettungsboote, Rettungswesten, Rettungsnetze und Einstiegsleitern) und Unfälle aufgrund von Fahrlässigkeit der Besatzung (wenn der Beförderer keine angemessene Sicherheit oder Aufsicht gewährleistet hat)(32 ).
2. Kriterien für die Anwendung der Richtlinie 90/314
70. Wie bereits festgestellt, fallen Freizeitaktivitäten, die nicht an Bord eines Schiffes stattfinden, wie beispielsweise Landausflüge, eindeutig nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 392/2009(33 ). Solche Aktivitäten können jedoch in den Anwendungsbereich der Richtlinie 90/314 fallen, wenn sie Teil der vereinbarten Pauschalreise sind. Dementsprechend kann der Reisende gegebenenfalls eine Pflichtverletzung durch den Veranstalter der Kreuzfahrt geltend machen.
71. Die Feststellung, welcher Unionsrechtsakt im Zusammenhang mit Vorfällen im Rahmen anderer Aktivitäten an Bord eines Kreuzfahrtschiffes gilt, ist für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens von besonderer Bedeutung. Wie ich bereits unter Bezugnahme auf das Unionsrecht erläutert habe, ist eine Kreuzfahrt durch die Erbringung einer Vielzahl von Dienstleistungen gekennzeichnet, wie z. B. Unterkunft und Verpflegung sowie Aktivitäten zur Unterhaltung der Reisenden(34 ). Meiner Ansicht nach muss die Frage, welches Rechtsinstrument für solche Vorfälle gelten soll, unter Berücksichtigung einer Reihe von Erwägungen beurteilt werden, die ich im Folgenden darlegen werde.
72. In diesem Zusammenhang ist klar, dass die Unionsvorschriften mit der Absicht erlassen wurden, Personen zu schützen, die an Kreuzfahrten teilnehmen. Der Unionsgesetzgeber hat eine Vielzahl von Rechtsvorschriften im Bereich des Verbraucherschutzrechts erlassen, die verbraucherfreundliche Bestimmungen enthalten und speziell auf die Besonderheiten von Reiseleistungen zugeschnitten sind. Daher erscheint es grundsätzlich angemessen, Schäden, die Reisenden im Rahmen der Erbringung anderer Dienstleistungen als solcher entstehen, die nicht untrennbar mit dem Bereich der Beförderung verbunden sind, unter dem Gesichtspunkt der im Bereich des Verbraucherschutzes festgelegten Vorschriften zu bewerten.
73. Dieser Ansatz basiert auf einer Auslegung des Unionsrechts, die die eindeutige Absicht des Gesetzgebers widerspiegelt, dass zusammengesetzte Reiseleistungen unter die Vorschriften für Pauschalreisen fallen sollen. Wie im 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 2015/2302 dargelegt, sind Kreuzfahrten („anders als im Fall einer Kreuzfahrt“) von anderen herkömmlichen Formen der Beförderung von Reisenden, wie etwa auf dem Straßen‑, Schienen‑, Wasser- oder Luftweg, zu unterscheiden, bei denen die Unterbringungskomponente als der Beförderungskomponente untergeordnet angesehen wird („wenn die Beförderung eindeutig den Hauptbestandteil darstellt“). Diese vom Gesetzgeber vorgenommene Unterscheidung ist von besonderer Bedeutung für die Auslegung, da sie impliziert, dass eine Kreuzfahrt im Wesentlichen mit einer Hotelunterkunft gleichgesetzt werden kann. Diese Feststellung deckt sich in gewisser Weise mit der weit verbreiteten Auffassung, dass Kreuzfahrtschiffe „schwimmende Hotels“ seien(35 ).
74. Die rechtliche Konsequenz daraus ist, dass ein wesentlicher Teil der typischerweise in einer Kreuzfahrt enthaltenen Dienstleistungen, einschließlich der Unterbringung und der Nutzung von Freizeiteinrichtungen (z. B. Schwimmbäder, Saunen, Spa-Bereiche oder Fitnessstudios), nicht unter die Vorschriften für die Beförderung von Reisenden auf See fällt, sondern stattdessen der für Reiseleistungen geltenden Regelung unterliegt. Darüber hinaus ist anzumerken, dass der oben genannte 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 2015/2302 klarstellt, dass Dienstleistungen, die untrennbar mit einer anderen Reiseleistung verbunden sind (wie die Bereitstellung von Mahlzeiten, Getränken sowie das Reinigen im Rahmen der Unterbringung), nicht als eigenständige Reiseleistungen anzusehen sind.
75. Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass es aus rechtlicher Sicht keinen Unterschied macht, ob ein Reisender einen Körperschaden erleidet, während er sich in seiner Kabine ausruht oder während er im Restaurant des Schiffes speist, da gemäß den Gründen, die der Unionsregelung zugrunde liegen, beide Vorfälle während der „Unterbringung“ des Reisenden stattfanden. Aufgrund der besonderen Merkmale von Kreuzfahrten tritt das Beförderungselement fast vollständig in den Hintergrund, so dass sich die Frage der möglichen Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 392/2009 im Wesentlichen nicht mehr stellt. Daher kann ein verletzter Reisender in der Regel Ansprüche auf der Grundlage der Bestimmungen über Pauschalreisen geltend machen, es sei denn, die betreffende Verletzung wurde durch ein Ereignis verursacht, das eindeutig mit der Beförderung von Reisenden auf See in Zusammenhang steht.
76. Die Tatsache, dass auf die vorliegenden Fälle nur die Richtlinie 90/314 – und nicht ihre Nachfolgerin, die Richtlinie 2015/2302 – anwendbar ist, steht der hier vorgeschlagenen Auslegung nicht entgegen, da die neuere Richtlinie lediglich interpretative Leitlinien dazu enthält, wie der Unionsgesetzgeber den Rechtsschutz von Kreuzfahrtpassagieren innerhalb des Rechtssystems der Union gestalten wollte. Anstatt den Anwendungsbereich der Bestimmungen über Pauschalreisen zu erweitern, hat der Gesetzgeber beschlossen, die Bedingungen für ihre Anwendung genauer zu definieren, um Auslegungsunsicherheiten zu beseitigen und die Verbraucher vor rechtlichen Grauzonen zu schützen.
77. Daher bleiben die in Art. 2 der Richtlinie 90/314 festgelegten grundlegenden Tatbestandsmerkmale unverändert. Art. 3 der Richtlinie 2015/2302 behält die Kerndefinition der „Pauschalreise“ bei und bietet gleichzeitig mehr Klarheit hinsichtlich seines Anwendungsbereichs. Er legt spezifische Kriterien fest, nach denen verschiedene Reiseleistungen, auch wenn sie Gegenstand separater Verträge sind, als „Pauschalreise“ angesehen werden können. Darüber hinaus wird in dieser Bestimmung eine klare Abgrenzung zwischen „Pauschalreisen“ und „verbundenen Reiseleistungen“ vorgenommen, wodurch der Rechtsrahmen für zusammengesetzte Reiseleistungen präzisiert wird. Aus den oben genannten Gründen bin ich der Ansicht, dass die Überlegungen zu den Kriterien für die Anwendung der Vorschriften über Pauschalreisen ebenfalls auf die Richtlinie 90/314 angewendet werden können.
78. Wenn sich an Bord eines Kreuzfahrtschiffes während der Erbringung einer Dienstleistung, die Teil einer Pauschalreise ist, Vorfälle ereignen, die zu Körperschäden führen, kann die gleichzeitige Anwendung der Verordnung Nr. 392/2009 und der Richtlinie 90/314 nicht ausgeschlossen werden. Meiner Meinung nach sollten im Zweifelsfall hinsichtlich der anzuwendenden Vorschriften die Entschädigungsbestimmungen der Richtlinie 90/314 Vorrang vor den Bestimmungen der Verordnung Nr. 392/2009 haben, es sei denn, die Voraussetzungen für eine Entschädigung nach der Verordnung sind eindeutig erfüllt.
79. Diese Grundsätze könnten in der Praxis so umgesetzt werden, dass bei einer Pauschalreise davon ausgegangen wird, dass der Unfall nicht auf den Seeverkehr zurückzuführen ist und somit unter die Haftungsregelung der Richtlinie 90/314 fällt, wobei die Beweislast für das Gegenteil beim Veranstalter liegt.
E. Auslegungshinweise für das vorlegende Gericht
80. Was die Umstände des Ausgangsverfahrens angeht, ist zu berücksichtigen, dass Art. 267 AEUV dem Gerichtshof nicht die Befugnis gibt, die Normen des Unionsrechts auf einen Einzelfall anzuwenden, sondern nur die, sich zur Auslegung der Verträge und der Rechtsakte der Unionsorgane zu äußern. Der Gerichtshof kann aber das Unionsrecht im Rahmen der durch diesen Artikel begründeten Zusammenarbeit der Gerichte unter Berücksichtigung der Akten auslegen, soweit dies dem nationalen Gericht bei der Beurteilung der Wirkungen dieser Bestimmung zweckdienlich sein kann(36 ). Mit anderen Worten: Der Gerichtshof ist befugt, dem vorlegenden Gericht die erforderlichen Auslegungshinweise zu geben, damit dieses – vorbehaltlich einer Würdigung aller relevanten Tatsachen – entscheiden kann, ob die Verordnung Nr. 392/2009 oder die Richtlinie 90/314 auf den vorliegenden Fall anwendbar ist.
81. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass MH und DI an Bord eines Schiffes und nicht während eines Landausflugs Körperschäden erlitten haben. Diese Verletzungen sind nicht auf ein „Schifffahrtsereignis“ im Sinne von Art. 3 Abs. 5 des Athener Übereinkommens zurückzuführen, und es gibt auch keinen Hinweis darauf, dass ein typischerweise mit der Beförderung von Reisenden auf See verbundenes Risiko eingetreten ist(37 ). Daher ist die Anwendung der Verordnung Nr. 392/2009 grundsätzlich auszuschließen.
82. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts stand MH, ohne das Licht einzuschalten, aus dem Bett auf, stürzte und verletzte sich. Da sich der Vorfall ereignete, während sich die Reisende in ihrer Kabine befand, in der sie die Nacht verbrachte, ist die Situation so zu beurteilen, als hätte sie in einem Hotel übernachtet, da in diesem Fall die Unterbringungskomponente eindeutig bedeutsamer ist als die Beförderungskomponente. Da die Unterbringung gemäß Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 90/314 als eine der in einer Pauschalreise enthaltenen Leistungen gilt, finden die Haftungsbestimmungen der Richtlinie in einer solchen Situation Anwendung.
83. Was DI betrifft, so erlitt sie an Bord des Kreuzfahrtschiffes Verletzungen, als sie sich am Buffet bediente. Wie bereits erwähnt, stellt die Bereitstellung von Mahlzeiten eine Dienstleistung dar, die in engem Zusammenhang mit der Unterbringung von Reisenden an Bord eines Kreuzfahrtschiffes steht. Somit sollte die Bereitstellung von Mahlzeiten nicht als eigenständige Dienstleistung betrachtet werden, sondern als integraler Bestandteil der vom Reiseveranstalter im Rahmen eines Pauschalreisevertrags zugesagten Unterbringungsdienstleistung. Folglich sollten grundsätzlich auch in einem solchen Fall die Haftungsbestimmungen der Richtlinie 90/314 gelten.
84. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass die gegebenen Auslegungshinweise keine Entscheidung darüber darstellen, ob die Voraussetzungen für die Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs in den konkreten Fällen erfüllt sind. Die rechtliche Beurteilung dieser Voraussetzungen liegt ausschließlich in der Zuständigkeit der nationalen Gerichte, die die Angelegenheit unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls zu beurteilen haben.
F. Zwischenergebnis
85. In der vorstehenden Prüfung wurde das Verhältnis zwischen den in der Verordnung Nr. 392/2009 und der Richtlinie 90/314 festgelegten Haftungsregeln durch Rechtsauslegung geklärt, so dass ihre jeweiligen Anwendungsbereiche voneinander abgegrenzt werden können. Besonderes Augenmerk wurde dabei auf die Wahrung der Einheit und Kohärenz der Unionsrechtsordnung gelegt, auch wenn diese in den letzten Jahrzehnten Entwicklungen erfahren hat(38 ). Der Gerichtshof hat die Aufgabe, eine kohärente und harmonische Auslegung des Unionsrechts zu gewährleisten, die den Grundsatz der Rechtssicherheit wahrt und den Verbraucherschutz wirksam sicherstellt(39 ).
86. Auf der Grundlage dieser Prüfung sind die Vorlagefragen meines Erachtens dahin zu beantworten, dass Art. 2, Art. 3 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 392/2009 und Anhang I dieser Verordnung dahin auszulegen sind, dass sie die Haftung eines Beförderers auf See, der Veranstalter einer Kreuzfahrt ist, die die Merkmale einer Pauschalreise im Sinne der Richtlinie 90/314 aufweist, nur insoweit regeln, als sie Personenschäden betreffen, die ein Reisender aufgrund der Beförderung auf See erlitten hat. Umgekehrt fallen Personenschäden, die mit Dienstleistungen zusammenhängen, die typischerweise in einem Kreuzfahrtpaket enthalten sind – wie Unterkunft und Verpflegung – in den sachlichen Anwendungsbereich der Richtlinie 90/314.
VI. Ergebnis
87. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die von der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:
Art. 2, Art. 3 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 392/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 über die Haftung von Beförderern von Reisenden auf See bei Unfällen und Anhang I dieser Verordnung
sind dahin auszulegen, dass
sie die Haftung eines Beförderers auf See, der eine Kreuzfahrt durchführt, die die Merkmale einer Pauschalreise im Sinne der Richtlinie 90/314/EWG des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen aufweist, nur insoweit regeln, als sie Personenschäden betreffen, die ein Reisender aufgrund der Beförderung auf See erlitten hat. Umgekehrt fallen Personenschäden, die mit Dienstleistungen zusammenhängen, die typischerweise in einem Kreuzfahrtpaket enthalten sind – wie Unterkunft und Verpflegung – in den sachlichen Anwendungsbereich der Richtlinie 90/314.