C-607/21 – Belgischer Staat (Preuve du lien de dépendance)

C-607/21 – Belgischer Staat (Preuve du lien de dépendance)

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2024:770

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

TAMARA ĆAPETA

vom 19. September 2024(1)

Rechtssache C607/21

XXX

gegen

État belge

(Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d’État [Staatsrat, Belgien])

„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Freizügigkeit – Richtlinie 2004/38/EG – Kreis der Begünstigten – Art. 2 Nr. 2 Buchst. d – Verwandter in gerader aufsteigender Linie – Begriff der Abhängigkeit – Ort, an dem Abhängigkeit vorzuliegen hat – Aufenthaltsrecht des Verwandten in gerader aufsteigender Linie, dem Unterhalt gewährt wird – Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte im Aufnahmemitgliedstaat mehrere Jahre nach dem Umzug aus dem Herkunftsland – Rechtsmäßigkeit des Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat – Nachweis der Abhängigkeit “

I.      Einleitung

1.        Die belgischen Behörden lehnten es ab, Frau XXX, einer Drittstaatsangehörigen, die zu ihrem Sohn und seiner Lebenspartnerin, einer mobilen Unionsbürgerin, nach Belgien gezogen war, eine Aufenthaltskarte auszustellen. Diese Ablehnung führte zur vorliegenden Rechtssache.

2.        Auf der Grundlage der Unionsbürgerrichtlinie(2) haben die Mitgliedstaaten einem drittstaatsangehörigen Verwandten in gerader aufsteigender Linie, dem Unterhalt gewährt wird und der aufgrund dieser Abhängigkeit ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht erlangt hat, eine Aufenthaltskarte auszustellen.

3.        In der vorliegenden Rechtssache wird der Gerichtshof ersucht, die geografische Dimension des in der Unionsbürgerrichtlinie enthaltenen Begriffs der Abhängigkeit zu erläutern, indem er die Frage beantwortet, ob es für diesen Begriff entscheidend ist, dass ein Verwandter in aufsteigender Linie in seinem Herkunftsland Unterstützung benötigt hat.

II.    Ausgangsrechtsstreit, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

4.        Frau XXX ist eine marokkanische Staatsangehörige und die Mutter von AL, einem belgischen Staatsangehörigen, der in Belgien lebt. Die Lebenspartnerin von AL, Frau N. E. K., ist eine niederländische Staatsangehörige, die nach Belgien zog, wo sie seit 2005 mit AL zusammenlebt(3).

5.        Frau XXX reiste am 25. Juli 2011 mit einem Touristenvisum in das belgische Hoheitsgebiet ein.

6.        Am 21. September 2011 stellte sie einen Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte, den sie darauf stützte, dass ihr Sohn ihr Unterhalt gewähre. Wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, wurden die einschlägigen belgischen Rechtsvorschriften jedoch kurz vor der Antragstellung durch Frau XXX dahin geändert, dass sie belgischen Staatsbürgern kein Recht auf Familienzusammenführung mit ihren Verwandten in aufsteigender Linie mehr gewähren(4). Dementsprechend wurde der erste Antrag von Frau XXX am 21. Oktober 2011 abgelehnt.

7.        Am 26. Juni 2015 stellte Frau XXX, die offenbar weiterhin bei ihrem Sohn und seiner Lebenspartnerin in Belgien wohnte, ihren zweiten Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte. Diesmal stellte sie den Antrag als Familienangehörige der Lebenspartnerin ihres Sohnes, Frau N. E. K., die ihr Unterhalt gewährte und bei der es sich um eine mobile Unionsbürgerin handelt, die vom Anwendungsbereich der Unionsbürgerrichtlinie erfasst ist.

8.        Die nationalen Behörden lehnten diesen Antrag am 28. September 2015 aus zwei Gründen ab: Erstens seien die Haushaltsmittel ihres Sohnes und seiner Lebenspartnerin nicht ausreichend dokumentiert und zweitens die Dokumente zum Nachweis der Abhängigkeit von Frau XXX veraltet. Diese Entscheidung beinhaltete auch eine Anweisung, das belgische Hoheitsgebiet zu verlassen.

9.        Frau XXX focht diese abschlägige Entscheidung an, doch ihre Klage wurde am 14. April 2016 vom Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien) abgewiesen. Die abweisende Entscheidung ging nur auf den ersten Grund, die unzureichenden schriftlichen Nachweise über die den Zusammenführenden zur Verfügung stehenden Mittel, ein, prüfte jedoch nicht das Argument, dass die Dokumente zum Nachweis der Abhängigkeit von Frau XXX veraltet seien.

10.      Ihren dritten Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte stellte Frau XXX am 9. November 2017, und zwar wiederum als Familienangehörige der Lebenspartnerin ihres Sohnes, Frau N. E. K., einer mobilen Unionsbürgerin.

11.      Am 2. Mai 2018 wurde auch dieser Antrag abgelehnt. Einer der hierfür aufgeführten Gründe war, dass die zum Nachweis ihrer Bedürftigkeit vorgelegten Dokumente (u. a. das Auskunftsblatt des marokkanischen Steuerprüfers und die marokkanische Bedürftigkeitsbescheinigung, beide aus dem Jahr 2011) sowie der Nachweis der finanziellen Unterstützung durch die häusliche Gemeinschaft, zu der sie nachziehen wolle (Nachweise über Geldsendungen aus den Jahren 2010 und 2011), veraltet seien.

12.      Frau XXX focht die Gültigkeit dieser letzten ablehnenden Entscheidung an. Mit Urteil vom 30. August 2019 wies der Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) ihre Klage mit der Begründung ab, dass für eine Abhängigkeit zwei kumulative Voraussetzungen erfüllt sein müssten. Erstens habe der Zustand der Abhängigkeit im Herkunftsland, d. h. vor der Einreise des Familienangehörigen nach Belgien, eingetreten sein müssen. Dies ergebe sich aus dem Urteil in der Rechtssache Jia(5). Zweitens reiche es zum Nachweis eines solchen Zustands der Abhängigkeit nicht aus, dass der zusammenführende Familienangehörige über ausreichende Mittel verfüge oder mit dem Antragsteller zusammenlebe. Letzterer habe auch darzulegen, dass für ihn die materielle Unterstützung dieses zusammenführenden Familienangehörigen zum Zeitpunkt der Antragstellung erforderlich gewesen sei.

13.      Am 3. Oktober 2019 hat Frau XXX beim Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) Kassationsbeschwerde gegen diese Entscheidung eingelegt. Dieser Rechtsbehelf führte zum vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen.

14.      Der Conseil d’État (Staatsrat) führt aus, ein erheblicher Unterschied zwischen der vorliegenden Rechtssache und den bisher vom Gerichtshof entschiedenen Fällen liege darin, dass die Familienangehörige, die mit ihrer Familie zusammengeführt werden möchte, bereits seit sechs Jahren im Hoheitsgebiet des Staates aufhältig gewesen sei, in den sie der Unionsbürgerin nachziehen möchte. Es seien daher weitere Erläuterungen des einschlägigen Unionsrechts erforderlich.

15.      Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist im Rahmen der Prüfung des Begriffs der Person, der Unterhalt gewährt wird, im Sinne von Art. 2 Nr. 2 Buchst. d der Unionsbürgerrichtlinie die Situation eines Antragstellers zu berücksichtigen, der sich bereits in dem Hoheitsgebiet des Staates aufhält, in dem der Zusammenführende ansässig ist?

2.      Falls die erste Frage bejaht wird: Sind ein Antragsteller, der sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet dieses Staates aufhält, und ein Antragsteller, der sich dort unrechtmäßig aufhält, unterschiedlich zu behandeln?

3.      Ist Art. 2 Nr. 2 Buchst. d der Unionsbürgerrichtlinie dahin auszulegen, dass sich ein Verwandter in gerader aufsteigender Linie, um als Person, der Unterhalt gewährt wird, zu gelten und somit unter die in dieser Bestimmung genannte Definition des „Familienangehörigen“ zu fallen, auf eine Situation der tatsächlichen materiellen Abhängigkeit im Herkunftsland berufen kann, die durch Dokumente nachgewiesen wird, die allerdings schon mehrere Jahre vor dem Zeitpunkt ausgefertigt wurden, zu dem der Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte als Familienangehöriger eines Unionsbürgers gestellt wird, wenn dies damit begründet wird, dass die Ausreise aus dem Herkunftsland und die Stellung des Antrags auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte im Aufnahmemitgliedstaat nicht zeitlich zusammenfallen?

4.      Falls die dritte Frage verneint wird: Nach welchen Kriterien kann die Situation der materiellen Abhängigkeit eines Antragstellers beurteilt werden, der den Antrag, als Verwandter in aufsteigender Linie zu einem Unionsbürger oder dessen Partner nachzuziehen, stellt, ohne dass er auf der Grundlage eines unmittelbar nach seiner Ausreise aus seinem Herkunftsland gestellten Antrags einen Aufenthaltsschein hatte erhalten können?

16.      Frau XXX, die belgische, die tschechische, die dänische und die deutsche Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht.

17.      Mit Entscheidung vom 28. Oktober 2022 hat der Präsident des Gerichtshofs das Verfahren in der vorliegenden Rechtssache nach Art. 55 Abs. 1 Buchst. b der Verfahrensordnung des Gerichtshofs bis zur Verkündung des Urteils in der Rechtssache C‑488/21, Chief Appeals Officer u. a., ausgesetzt.

18.      Nach Verkündung dieses Urteils am 21. Dezember 2023(6) hat der Gerichtshof beim vorlegenden Gericht in der vorliegenden Rechtssache angefragt, ob es seine zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen aufrechterhalten möchte.

19.      Mit Schreiben vom 19. Januar 2024 hat das vorlegende Gericht geantwortet, dass es all seine Vorlagefragen aufrechterhalten wolle, da es der Ansicht sei, dass dieses Urteil keine Antworten darauf gebe.

20.      Das Verfahren in der vorliegenden Rechtssache ist daher am 24. Januar 2024 fortgesetzt worden.

21.      Am 13. Juni 2024 hat eine Sitzung stattgefunden, in der Frau XXX, die belgische, die dänische und die deutsche Regierung sowie die Kommission mündliche Erklärungen abgegeben haben.

III. Würdigung

A.      Einleitung

1.      Struktur der vorliegenden Schlussanträge

22.      Nach der Unionsbürgerrichtlinie haben Familienangehörige eines mobilen Unionsbürgers das Recht, diesem in den Staat nachzuziehen, in den sich dieser begeben hat (im Folgenden: Aufnahmemitgliedstaat). Zu diesem Zweck räumt Art. 7 Abs. 1 Buchst. d dieser Richtlinie Familienangehörigen das Recht auf Aufenthalt in einem Aufnahmemitgliedstaat ein.

23.      Ob jemand als Familienangehöriger eines mobilen Unionsbürgers angesehen werden kann, unterliegt nicht dessen Entscheidung, sondern hängt von der Definition dieses Begriffs in Art. 2 Nr. 2 der Unionsbürgerrichtlinie ab. Neben dem Ehegatten, dem anerkannten Lebenspartner und den minderjährigen Kindern eines Unionsbürgers gewährt diese Richtlinie auch den Verwandten in gerader absteigender Linie, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben und denen Unterhalt gewährt wird (Art. 2 Nr. 2 Buchst. c der Richtlinie) sowie Verwandten in gerader aufsteigender Linie, denen Unterhalt gewährt wird (Art. 2 Nr. 2 Buchst. d der Richtlinie), ein Aufenthaltsrecht.

24.      Um in den Genuss des Aufenthaltsrechts nach der Unionsbürgerrichtlinie zu kommen, muss Frau XXX daher von einem mobilen Unionsbürger Unterhalt gewährt werden.

25.      Aus dem Wortlaut von Art. 2 Nr. 2 Buchst. d der Unionsbürgerrichtlinie und der Rechtsprechung folgt, dass einem Verwandten in aufsteigender (oder absteigender) Linie, um in den Anwendungsbereich der Unionsbürgerrichtlinie zu fallen, nicht unbedingt von seinem Verwandten in gerader Linie (vorliegend der Sohn AL von Frau XXX) Unterhalt gewährt werden muss, sondern auch vom Ehegatten oder Lebenspartner (vorliegend Frau N. E. K.) dieses Verwandten in gerader Linie gewährt werden kann(7). Bilden der Verwandte in gerader Linie und sein Lebenspartner, bei dem es sich um einen mobilen Unionsbürger handelt, eine häusliche Gemeinschaft, reicht es aus, wenn die Unterstützung für den Verwandten in gerader Linie von einer dieser häuslichen Gemeinschaft zugehörigen Person geleistet wird(8).

26.      Die Beteiligten im Verfahren vor dem Gerichtshof haben dieser Auslegung zugestimmt. Es besteht daher Einigkeit darüber, dass Frau XXX ihr Aufenthaltsrecht auf der Grundlage der Unionsbürgerrichtlinie geltend machen könnte, wenn ihr von der häuslichen Gemeinschaft, die aus ihrem Sohn, der kein mobiler Unionsbürger ist, und seine Lebenspartnerin, bei der es sich sehr wohl um eine solche handelt, besteht, Unterhalt gewährt wird.

27.      Als Drittstaatsangehörige ist Frau XXX nach Art. 9 der Unionsbürgerrichtlinie verpflichtet, eine Aufenthaltskarte zu beantragen, die der Aufnahmemitgliedstaat auszustellen hat, wenn es sich bei ihr um eine Familienangehörige handelt, der Unterhalt gewährt wird(9).

28.      Eine Reihe der vom Gerichtshof behandelten Fälle haben sich aus der Weigerung eines Mitgliedstaats ergeben, eine Aufenthaltskarte auszustellen(10) oder ein anderes Recht zuzuerkennen, dass die Unionsbürgerrichtlinie Verwandten, denen Unterhalt gewährt wird, einräumt, wie etwa das Recht auf Gleichbehandlung beim Zugang zu Sozialleistungen(11). In diesen Rechtssachen wurde der in der Unionsbürgerrichtlinie enthaltene Begriff der Abhängigkeit bis zu einem gewissen Grad präzisiert.

29.      Das Novum in der vorliegenden Rechtssache besteht in der Zeitspanne (mehr als sechs Jahre) zwischen dem Umzug von Frau XXX nach Belgien und ihrem Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte(12). Damit rückt der geografische Aspekt in den Mittelpunkt: Es geht um die Frage, ob die Situation von Frau XXX in ihrem Herkunftsland für die Beurteilung ihrer Abhängigkeit von Bedeutung ist.

30.      In den einschlägigen früheren Rechtssachen waren die Antragsteller zum Zeitpunkt der Beantragung der Ausstellung einer Aufenthaltskarte entweder erst kürzlich in einen Aufnahmemitgliedstaat umgezogen oder hatten einen solchen Antrag von ihrem Herkunftsland aus gestellt. In der Rechtssache Jia beantragte eine Familienangehörige in aufsteigender Linie drei Monate nach ihrem Umzug nach Schweden die Ausstellung ihrer Aufenthaltskarte. In der Rechtssache Reyes stellte eine Verwandte in absteigender Linie 26 Tage nach ihrer Einreise nach Schweden einen Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte. In der Rechtssache Rahman beantragten sonstige Familienangehörige (solche, die unter Art. 3 Abs. 2 und nicht unter Art. 2 Nr. 2 der Unionsbürgerrichtlinie fallen) die Ausstellung der Aufenthaltskarte, bevor sie aus ihrem Herkunftsland in das Vereinigte Königreich zogen. Der Ort, an dem die Abhängigkeit zum Zeitpunkt der Beantragung der Ausstellung der Aufenthaltskarten in diesen Rechtssachen beurteilt wurde, konnte daher nur das Herkunftsland sein, in dem diese Familienangehörigen lebten, bevor sie beschlossen, dem jeweiligen Unionsbürger nachzuziehen.

31.      Frau XXX erhielt jedoch bereits seit geraumer Zeit Unterstützung in Belgien. Sollte für die Feststellung, ob sie eine abhängige Person ist, die Situation in ihrem Herkunftsland beurteilt werden, wie sie sich sechs Jahre zuvor (im Jahr 2011) darstellte oder wie sie sich im Jahr 2017 dargestellt hätte, wäre sie nicht umgezogen?

32.      Diese Frage nach dem „geografischen Aspekt der Abhängigkeit“ stellt die übergreifende Problemstellung dar, auf die alle in der vorliegenden Rechtssache vorgelegten Fragen gründen.

33.      Bevor ich zur Beantwortung der Fragen des vorlegenden Gerichts schreite, möchte ich einige für die vorliegende Rechtssache relevante Gesichtspunkte hervorheben, die bereits durch die Rechtsprechung geklärt wurden.

2.      Bereits geklärte Gesichtspunkte in Bezug auf den Begriff der Abhängigkeit

34.      Mehrere Aspekte, die für die vorliegende Rechtssache von Bedeutung sind, erachte ich für in der Rechtsprechung des Gerichtshofs geklärt.

35.      Erstens folgt aus den Urteilen in den Rechtssachen Lebon(13) und Jia(14), dass sich Abhängigkeit aus einer tatsächlichen Situation ergibt, in der einem Familienangehörigen von einem mobilen Unionsbürger Unterstützung gewährt wird(15).

36.      Zweitens muss der Unterstützungsbedarf tatsächlich bestehen. So hat der Gerichtshof in der Rechtssache Jia ausgeführt, dass Familienangehörige, die sich auf die Unionsbürgerrichtlinie berufen möchten, um ein Aufenthaltsrecht zu erhalten, prüfen müssen, ob sie sich unter Berücksichtigung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage in einer Situation wiederfinden, in der sie ihre Grundbedürfnisse nicht selbst decken können(16).

37.      Drittens ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass Abhängigkeit zumindest den Bedarf materieller Unterstützung einschließt(17). So sah sich der Gerichtshof in der Rechtssache Jia mit der finanziellen Abhängigkeit einer drittstaatsangehörigen Verwandten in gerader aufsteigender Linie (einer Mutter) von ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter konfrontiert(18). In der Rechtssache Reyes bestand die fragliche Unterstützung in Geldüberweisungen eines Stiefvaters an seine drittstaatsangehörige Tochter(19). Um eine ähnliche Art von Unterstützung geht es in der vorliegenden Rechtssache, da dem Nachweis der Abhängigkeit der Antragstellerin u. a. auf der Grundlage von Finanzunterlagen, die als veraltet angesehen wurden, die Anerkennung versagt wurde.

38.      Viertens entsteht das Aufenthaltsrecht automatisch, wenn die Tatbestandsmerkmale der Abhängigkeit auftreten, nämlich (i) ein tatsächlicher Unterstützungsbedarf des Verwandten in gerader aufsteigender (oder absteigender) Linie und (ii) die Bereitschaft des mobilen Unionsbürgers, eine solche Unterstützung zu gewähren. Weder eine Aufenthaltskarte noch eine Anmeldebescheinigung sind Tatbestandsmerkmale des Aufenthaltsrechts, da solche Dokumente lediglich deklaratorischen Charakters sind(20).

39.      Ungeachtet ihres deklaratorischen Charakters besteht, wie bereits ausgeführt wurde (siehe Nr. 27 der vorliegenden Schlussanträge), eine Verpflichtung für drittstaatsangehörige Verwandte, denen Unterhalt gewährt wird, einen Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte zu stellen(21). Eine solche Aufenthaltskarte ist von Bedeutung für die Gewährleistung von Rechtssicherheit über das Bestehen des Aufenthaltsrechts und erleichtert dadurch die Ausübung dieses Rechts sowie die Integration eines Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat(22). Ferner erleichtert bei einem drittstaatsangehörigen Familienangehörigen – wie in der vorliegenden Rechtssache – eine Aufenthaltskarte die Ausübung der Freizügigkeit dieser Person innerhalb der Europäischen Union sowie ihre Rückkehr in den Aufnahmemitgliedstaat ohne unnötige administrative Hindernisse(23). Die Nichteinhaltung der Verpflichtung, einen Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte zu stellen, führt jedoch nicht zum Verlust des Aufenthaltsrechts, da die Ausstellung einer solchen Karte kein Tatbestandsmerkmal des Aufenthaltsrechts ist(24).

40.      Zusammengefasst ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass die Unionsbürgerrichtlinie einem Verwandten eines mobilen Unionsbürgers in gerader aufsteigender Linie, der sich in einer tatsächlichen Situation befindet, in der er die Unterstützung dieses mobilen Unionsbürgers (oder dessen Ehegatten oder Lebenspartners) tatsächlich benötigt, ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat einräumt.

41.      Vor diesem Hintergrund werde ich nun auf die Vorlagefragen eingehen.

B.      Erste Frage – geografischer Aspekt der Abhängigkeit

42.      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die nationalen Behörden im Rahmen der nach Art. 2 Nr. 2 Buchst. d der Unionsbürgerrichtlinie vorzunehmenden Prüfung der Abhängigkeit die Situation eines Verwandten eines mobilen Unionsbürgers in gerader aufsteigender Linie zu berücksichtigen haben, der sich bereits im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält.

43.      Diese Frage lässt sich auf zweierlei Weise verstehen: (i) Erstens kann sie dahin verstanden werden, dass danach gefragt wird, ob der Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte einer solchen Person überhaupt geprüft werden sollte, oder (ii) dahin, ob bei der Prüfung des Antrags nur auf die Situation eingegangen werden muss, die vor dem Umzug des Antragstellers in den Aufnahmemitgliedstaat bestand. In jedem Fall wirft diese Frage einen geografischen Aspekt auf – Kommt es für die Beurteilung der Abhängigkeit auf die Situation des Antragstellers in seinem Herkunftsland an?

44.      Mit anderen Worten: Ist es für den Nachweis der Abhängigkeit von Frau XXX und somit für die Anerkennung, dass ihr ein Aufenthaltsrecht auf der Grundlage der Unionsbürgerrichtlinie zukommt, erforderlich, dass sie von der häuslichen Gemeinschaft von AL und Frau N. E. K. abhängig war, als sie noch in ihrem Herkunftsland lebte?

1.      Vorbringen der Beteiligten des Verfahrens vor dem Gerichtshof

45.      Die Beteiligten des vorliegenden Verfahrens haben im Hinblick auf die bei der Entscheidung über die Ausstellung einer Aufenthaltskarte von den zuständigen Behörden zu berücksichtigenden Faktoren vier verschiedene Vorschläge unterbreitet.

46.      Nach Ansicht von Frau XXX und der deutschen Regierung reicht es aus, das Bestehen eines Unterstützungsbedarfs in Belgien (dem Aufnahmemitgliedstaat) zum Zeitpunkt der Beantragung der Ausstellung einer Aufenthaltskarte nachzuweisen, wobei ein solcher Antrag im vorliegenden Fall im Jahr 2017 gestellt wurde.

47.      Der Standpunkt der belgischen Regierung ist etwas verwirrend. Demnach habe Frau XXX nachzuweisen gehabt, dass ihr zum Zeitpunkt der Beantragung der Aufenthaltskarte, im vorliegenden Fall im Jahr 2017, Unterhalt gewährt worden sei, aber es ist nicht klar, ob sie nachweisen musste, dass ihr in Belgien oder in ihrem Herkunftsland Unterhalt gewährt wurde. In der Sitzung stellte diese Regierung klar, dass es den belgischen Behörden mitnichten um die Situation in Belgien gehe, sondern nur um die Situation von Frau XXX in ihrem Herkunftsland. Sie hat jedoch auch vorgetragen, dass Frau XXX keinen urkundlichen Nachweis habe vorlegen müssen, wonach ihr in ihrem Herkunftsland im Jahr 2017 Unterhalt gewährt worden wäre, wäre sie dorthin zurückgekehrt, um dort zu leben.

48.      Die Kommission und die dänische Regierung sind der Auffassung, dass die Abhängigkeit im Herkunftsland zu dem Zeitpunkt bestehen müsse, zu dem der Verwandte in gerader Linie den Nachzug zu dem Unionsbürger beantrage und zu diesem Zweck erstmals in die Union einreise. Infolge des Urteils des Gerichtshofs in der Rechtssache Chief Appeals Officer vertreten sie die Ansicht, dass die Abhängigkeit auch zu dem Zeitpunkt vorzuliegen habe, zu dem die Ausstellung der Aufenthaltskarte beantragt werde, wenn dies lange nach dem Zeitpunkt des Umzugs in den Aufnahmemitgliedstaat erfolge. Ferner hat die Kommission ausgeführt, dass dies erforderlich sei, um die Ausstellung einer Karte zu vermeiden, die nicht mehr gerechtfertigt sei(25).

49.      Für diese letztere Beurteilung müssten die Behörden nach Auffassung der Kommission und der niederländischen Regierung prüfen, ob der Verwandten im Aufnahmemitgliedstaat Unterhalt gewährt werde, und nicht, ob ihr ein solcher in ihrem Herkunftsland gewährt würde. Die dänische Regierung führt aus, die dänischen Behörden würden in einer Situation wie der in Rede stehenden daher zwei Arten von Dokumenten verlangen, und zwar (i) ältere Dokumente aus den Jahren 2008, 2009 und 2010, d. h. aus der Zeit vor der Einreise, die zeigen würden, dass der Person in ihrem Herkunftsland Unterhalt gewährt worden sei, und (ii) neuere Dokumente, die nachweisen würden, dass der Zustand der Abhängigkeit im Aufnahmemitgliedstaat zum Zeitpunkt der Antragstellung fortbestehe.

50.      Schließlich könnte die Voraussetzung der Abhängigkeit nach Auffassung der tschechischen Regierung entweder im Herkunftsstaat oder im Aufnahmemitgliedstaat erfüllt werden.

2.      Würdigung

51.      Meines Erachtens ist ein Unterstützungsbedarf im Herkunftsland keine Voraussetzung dafür, dass in Bezug auf eine Person anzunehmen ist, dass sie im Sinne von Art. 2 Nr. 2 Buchst. d der Unionsbürgerrichtlinie auf die Gewährung von Unterhalt angewiesen ist.

52.      Weder der Wortlaut, der Kontext oder der Zweck der Unionsbürgerrichtlinie noch die Rechtsprechung zu dieser Richtlinie verlangen, dass der Familienangehörige eines mobilen Unionsbürgers in seinem Herkunftsland darauf angewiesen ist, dass ihm Unterhalt gewährt wird, bevor er diesem nachzieht, oder dass ihm Unterhalt gewährt würde, wäre er dorthin zurückgekehrt.

53.      Für das Bestehen eines auf einer Abhängigkeit beruhenden Aufenthaltsrechts und damit für die Ausstellung einer Aufenthaltskarte reicht es aus, dass dem Verwandten in gerader aufsteigender Linie zum Zeitpunkt der Beantragung der Ausstellung dieser Karte von einem mobilen Unionsbürger Unterhalt gewährt wird. Der Ort, an dem eine solche Abhängigkeit eintritt, ist unerheblich.

a)      Die Unionsbürgerrichtlinie knüpft das Bestehen eines Aufenthaltsrechts nicht an geografische Bedingungen

54.      Was das Erfordernis einer Abhängigkeit im Herkunftsland anbelangt, bin ich geneigt, Frau XXX zuzustimmen, dass die Unionsbürgerrichtlinie kein solches Erfordernis enthält.

1)      Wortlaut, Kontext und Entstehungsgeschichte

55.      Was zunächst den Wortlaut der Unionsbürgerrichtlinie anbelangt, bezieht sich ihr Art. 2 Nr. 2 Buchst. d – anders als ihr Art. 3 Abs. 2 Buchst. a(26) – nicht auf das Herkunftsland eines Familienangehörigen. Diese Bestimmung verlangt lediglich das Bestehen einer Abhängigkeit, ohne Bezugnahme auf den Ort, an dem diese vorzuliegen hat.

56.      Wird Art. 2 Nr. 2 Buchst. d im weiteren Kontext der Unionsbürgerrichtlinie betrachtet, verlangt ihr Art. 10 Abs. 2 Buchst. d, der die Ausstellung der Aufenthaltskarte betrifft, ganz allgemein, dass der Verwandte in gerader aufsteigender Linie einen urkundlichen Nachweis vorlegt, der belegt, dass die in Art. 2 Nr. 2 Buchst. d genannten Voraussetzungen vorliegen. Es wird darin nicht verlangt, dass diese Nachweise aus dem Herkunftsland des Verwandten in aufsteigender Linie stammen müssten(27).

57.      Auch die Entstehungsgeschichte kann dahin verstanden werden, dass ein geografisches Erfordernis nicht vorgesehen ist. Zwar verlangte die Richtlinie 68/360/EWG(28) einen urkundlichen Nachweis aus dem Herkunftsland, doch wurde sie aufgehoben und durch die Unionsbürgerrichtlinie ersetzt, die ein solches Erfordernis in Bezug auf Verwandte in gerader aufsteigender Linie nicht mehr vorsieht.

2)      Rechtsprechung

58.      Das Vorbringen der Verfahrensbeteiligten in Bezug auf den Ort, an dem die Abhängigkeit bestehen muss, dreht sich außerdem um eine Randnummer des Urteils in der Rechtssache Jia, die sie verschieden deuten. In Rn. 37 dieses Urteils hat der Gerichtshof ausgeführt: „Der Unterhaltsbedarf muss im Herkunftsland dieser Verwandten in dem Zeitpunkt bestehen, in dem sie beantragen, dem Gemeinschaftsangehörigen zu folgen.“ In den Urteilen in den Rechtssachen Rahman(29) und Reyes(30) ist der Gerichtshof zu ähnlichen Ergebnissen gelangt.

59.      Dieser Befund kann dahin verstanden werden, dass eine Abhängigkeit im Herkunftsland bestehen muss. Alternativ könnte damit auch gemeint sein, dass die Abhängigkeit zum Zeitpunkt der Antragstellung geprüft wird, was im Kontext der Urteile in den Rechtssachen Jia, Reyes und Rahman (beinahe) mit der Situation der dort in Rede stehenden Verwandten in aufsteigender Linie in ihren Herkunftsländern zusammenfiel.

60.      Alle Verfahrensbeteiligten außer Frau XXX und der deutschen Regierung haben Rn. 37 des Urteils in der Rechtssache Jia dahin ausgelegt, dass eine Abhängigkeit bereits im Herkunftsland bestehen müsse, bevor ein Familienangehöriger dem mobilen Unionsbürger nachziehe.

61.      Demgegenüber hat Frau XXX geltend gemacht, dass der Befund im Urteil in der Rechtssache Jia und in anderen, ähnlich lautenden Urteilen bei einer Betrachtung vor dem Hintergrund der Umstände dieser Fälle die vorstehende Schlussfolgerung nicht stütze.

62.      Ich teile die letztgenannte Auslegung, wonach Rn. 37 des Urteils in der Rechtssache Jia nicht die Schlussfolgerung stützt, Art. 2 Nr. 2 Buchst. d und Art. 7 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie würden verlangen, dass ein Unterstützungsbedarf im Herkunftsland bestanden hätte.

63.      Der in den Urteilen in den Rechtssachen Rahman und Reyes wiederholte Befund im Urteil in der Rechtssache Jia – siehe Nr. 58 der vorliegenden Schlussanträge – muss in der Tat im Kontext dieser Fälle sowie der Fragen betrachtet werden, auf die der Gerichtshof die betreffenden Antworten gegeben hat. In den Rechtssachen Jia und Reyes stellten Familienangehörige kurz nach der Einreise in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats Anträge auf Ausstellung von Aufenthaltskarten (siehe Nr. 59 der vorliegenden Schlussanträge). In der Rechtssache Rahman beantragten Familienangehörige die Ausstellung von Aufenthaltskarten bereits vor ihrem Umzug von ihrem Herkunftsland in das Vereinigte Königreich. Der Verweis auf das Herkunftsland in diesen Rechtssachen rührt also daher, dass die über die Ausstellung einer Aufenthaltskarte entscheidenden Behörden für die Beurteilung, ob den dort in Rede stehenden Personen Unterhalt von einem mobilen Unionsbürger gewährt wurde, nur den Zeitraum vor ihrem Umzug in den Aufnahmemitgliedstaat berücksichtigen konnten. In der vorliegenden Rechtssache liegen jedoch sechs Jahre zwischen dem Zeitpunkt der Einreise nach Belgien und dem Zeitpunkt, zu dem der Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte geprüft wurde. Der Befund im Urteil in der Rechtssache Jia kann daher nicht automatisch auf die Umstände des vorliegenden Falles übertragen werden.

64.      Darüber hinaus ist, worauf auch Frau XXX hingewiesen hat, Rn. 37 des Urteils in der Rechtssache Jia im Zusammenhang mit der konkreten Frage zu verstehen, die der Gerichtshof in jenem Vorabentscheidungsverfahren beantwortet hat. Das in jener Rechtssache vorlegende Gericht fragte danach, ob der Begriff der Abhängigkeit bedeutet, dass der Familienangehörige noch nicht einmal einen annehmbaren Mindestlebensstandard in seinem Herkunftsland erreichen kann(31). Der Gerichtshof wurde daher zum Grad des Unterstützungsbedarfs befragt, der das Bestehen einer Abhängigkeit auslöst, und nicht dazu, wo der Unterstützungsbedarf vorzuliegen hat.

65.      Im Urteil in der Rechtssache Chief Appeals Officer hat der Gerichtshof bereits bestätigt, dass der Befund in den Urteilen in den Rechtssachen Jia und Reyes im jeweiligen Kontext zu verstehen ist und sich nicht automatisch übertragen lässt, um die dort aufgeworfene Frage zu beantworten. Der Gerichtshof hat in jenem Urteil ausgeführt, dass er in der Rechtssache Reyes über die Voraussetzungen zu befinden hatte, die zu dem Zeitpunkt erfüllt sein müssen, zu dem der Betroffene ein abgeleitetes Recht auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat beantragt, und nicht über jene, die der Betroffene erfüllen muss, um dieses Recht zu behalten(32).

66.      Auch in der vorliegenden Rechtssache wird der Gerichtshof um Klärung einer anderen Frage als denjenigen ersucht, die in früheren Fällen aufgeworfen wurden. In der vorliegenden Rechtssache stellt sich die Frage, ob die Situation einer abhängigen Person im Herkunftsland für die Beurteilung der Abhängigkeit von Bedeutung ist, wenn, anders als in den Situationen, die zu den Urteilen in den Rechtssachen Jia und Reyes führten, zwischen dem Umzug aus dem Herkunftsland und der Beantragung einer Aufenthaltskarte geraume Zeit vergangen ist.

67.      Aus den bisher entschiedenen Fällen geht keine Antwort auf diese Frage hervor, weswegen diese nicht automatisch zur Lösung der in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehenden Problemstellung herangezogen werden können.

3)      Bedeutung des Urteils in der Rechtssache Chief Appeals Officer

68.      Die von einigen der Beteiligten des vorliegenden Verfahrens vorgetragene Auslegung des Urteils in der Rechtssache Chief Appeals Officer legt nahe, dass der Begriff der Abhängigkeit neben einem geografischen auch einen zeitlichen Aspekt aufweist. Nach dieser Auslegung müsse die Abhängigkeit zwar im Herkunftsland eintreten, aber in der Folge auch im Aufnahmemitgliedstaat bestehen bleiben. Wenn zwischen dem Zeitpunkt des Umzugs und dem Zeitpunkt der Beantragung der Ausstellung der Aufenthaltskarte eine beträchtliche Zeitspanne liege, seien daher zwei Orte für die Beurteilung der Abhängigkeit von Bedeutung – das Herkunftsland (für die Vergangenheit) und der Aufnahmemitgliedstaat (für die Gegenwart).

69.      Dies entspricht nicht meinem Verständnis des Befunds des Gerichtshofs im Urteil in der Rechtssache Chief Appeals Officer.

70.      In Beantwortung einer der Fragen in dieser Rechtssache hat der Gerichtshof entschieden, dass nach der Unionsbürgerrichtlinie ein Verwandter in gerader aufsteigender Linie sein Aufenthaltsrecht behält, solange ihm Unterhalt gewährt wird, und dieses Recht verloren gehen kann, wenn keine Abhängigkeit mehr besteht(33). Er hat nicht zu verstehen gegeben, dass die Abhängigkeit eintreten muss, wenn der Familienangehörige sich noch in seinem Herkunftsland befindet. In jener Rechtssache hatte der Gerichtshof nicht darüber zu befinden, wo die Abhängigkeit einzutreten hat. Von zentraler Bedeutung war vielmehr, dass die Abhängigkeit zu dem Zeitpunkt zu bestehen hatte, zu dem der Verwandte in aufsteigender Linie den Antrag auf eine Sozialhilfeleistung stellt. Der Gerichtshof hat sich nicht dazu geäußert, wo die Abhängigkeit eintreten muss, sondern lediglich erläutert, dass eine Abhängigkeit nicht bloß deshalb bejaht werden kann, weil sie zuvor bestanden hatte.

71.      Der Gerichtshof hat in der Rechtssache Chief Appeals Officer nicht befunden, dass die Abhängigkeit im Herkunftsland eintreten muss, sondern lediglich bestätigt, dass sie zu dem Zeitpunkt zu bestehen hat, zu dem der Familienangehörige, dem Unterhalt gewährt wird, auf der Grundlage seines Aufenthaltsrechts im Aufnahmemitgliedstaat die Gewährung eines bestimmten Recht beantragt.

4)      Zweck der Unionsbürgerrichtlinie

72.      Die einleitenden Erwägungsgründe der Unionsbürgerrichtlinie legen nahe, dass es bei dem durch diese Richtlinie ermöglichten Recht auf Familienzusammenführung um den Schutz von Unionsbürgern und nicht von Drittstaatsangehörigen geht.

73.      Das durch diese Richtlinie geschützte Recht aller Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sollte nach ihrem fünften Erwägungsgrund unter objektiven Bedingungen in Freiheit und Würde ausgeübt werden können.

74.      Der Gerichtshof hat anerkannt(34), dass die durch Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (im Folgenden: EMRK) garantierte Achtung des Rechts auf Familienleben eine der Voraussetzungen darstellt, die den Genuss von Bürgerrechten in Würde ermöglichen.

75.      Um das Recht auf Familienleben zu gewährleisten, wird Familienangehörigen in aufsteigender Linie(35) das – wenngleich nur abgeleitete – Recht auf Einreise und Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Europäischen Union gewährt, soweit dies erforderlich ist, um Hindernisse für die Freizügigkeit von Unionsbürgern zu vermeiden.

76.      Rechtsvorschriften verfolgen selten nur ein einziges Ziel. Die Unionsbürgerrichtlinie stellt diesbezüglich keine Ausnahme dar. Sie soll nicht nur Rechte gewähren, sondern diese auch beschränken, indem sie gewisse Bedingungen für ihre Ausübung festlegt(36).

77.      Wie die dänische Regierung hervorhebt, ist die Unionsbürgerrichtlinie das Ergebnis einer Abwägung des Erfordernisses, Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen die Ausübung ihres Aufenthaltsrechts zu ermöglichen, und des berechtigten Interesses der Aufnahmemitgliedstaaten, sicherzustellen, dass diese Personen keine unnötige (finanzielle) Belastung darstellen.

78.      Wird durch die vorgeschlagene Auslegung, wonach das Aufenthaltsrecht eines Verwandten in gerader aufsteigender Linie nicht von der Voraussetzung abhängt, dass der Unterstützungsbedarf vor dem Umzug in den Aufnahmemitgliedstaat im Herkunftsland eingetreten ist, dieses im Gesetzgebungsprozess der Union erzielte Gleichgewicht gestört?

79.      Meines Erachtens ist dies nicht der Fall.

80.      Es trifft zu, dass der ursprüngliche Vorschlag der Kommission für diese Richtlinie keine Einschränkungen im Hinblick auf diejenigen Verwandten in gerader aufsteigender Linie enthielt, die einem Unionsbürger nachziehen konnten. Die Bedingung, dass einer solchen Person Unterhalt gewährt werden muss, wurde im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens hinzugefügt(37). Auch wenn, wie ich an anderer Stelle erläutert habe(38), die Gründe für diese Änderung der Gesetzgebung nicht ausdrücklich genannt werden, ist die Absicht offensichtlich, die Zahl der Verwandten in aufsteigender Linie, die einem Unionsbürger nachziehen können, zu begrenzen.

81.      Diese Absicht wird durch das Erfordernis ausgedrückt, dass einem Verwandten in aufsteigender Linie von einem Unionsbürger Unterhalt gewährt wird. Angesichts des mobilen Unionsbürgern garantierten Rechts auf Familienleben ist es nicht gerechtfertigt, dieses Recht weiter zu beschränken, indem verlangt wird, dass die Abhängigkeit im Herkunftsland vorzuliegen hat.

82.      Unter Berücksichtigung des Zwecks der Unionsbürgerrichtlinie und wie es die deutsche Regierung zum Ausdruck gebracht hat, ist bloß der Nachweis erforderlich, dass ein Unterstützungsbedarf sowie eine Bereitschaft, diese Unterstützung zu gewähren, bestehen. Wird dies nachgewiesen, entsteht ungeachtet des Orts, an dem der Familienangehörige die Unterstützung des mobilen Unionsbürgers benötigt, automatisch ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht auf der Grundlage der Unionsbürgerrichtlinie.

b)      Die Unionsbürgerrichtlinie verknüpft das Bestehen eines Aufenthaltsrechts nicht mit dem Zeitpunkt der Einreise in den Aufnahmemitgliedstaat

83.      Meines Erachtens setzt die Unionsbürgerrichtlinie für das abgeleitete Aufenthaltsrecht eines abhängigen Verwandten in gerader aufsteigender Linie nicht voraus, dass dieser mit der Absicht in das Aufnahmeland eingereist ist, einem mobilen Unionsbürger als von ihm abhängige Person nachzuziehen(39).

84.      Das Recht auf Einreise und das Aufenthaltsrecht sind in verschiedenen Bestimmungen der Unionsbürgerrichtlinie geregelt, nämlich in den Art. 5 und 7.

85.      Art. 7 Abs. 1 Buchst. d der Unionsbürgerrichtlinie räumt Familienangehörigen das Recht auf Aufenthalt in einem Aufnahmemitgliedstaat ein. Dieser Artikel enthält jedoch keinen Bezug auf Art. 5, der das Recht auf Einreise regelt. Für den Erwerb des Aufenthaltsrechts ist es daher nicht erforderlich, ein besonderes Einreiserecht zu dem Zweck zu erhalten, einem mobilen Unionsbürger nachzuziehen. Die einzige Voraussetzung, um in den Genuss des Aufenthaltsrechtsrechts nach Art. 7 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie zu kommen, ist, dass es sich bei der betreffenden Person um einen Familienangehörigen im Sinne von Art. 2 Nr. 2 dieser Richtlinie handelt – ein Begriff, der Verwandte in aufsteigender Linie einschließt, denen von einem mobilen Unionsbürger im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. a bis c der Richtlinie Unterhalt gewährt wird. Die Richtlinie enthält jedoch nicht die Anforderung, dass eine solche Person sich bei der Einreise in das Hoheitsgebiet der Union darauf gestützt haben muss, dass ihr von einem mobilen Unionsbürger Unterhalt gewährt wird.

86.      Zusammengefasst ist festzustellen, dass die Abhängigkeit des Familienangehörigen von dem mobilen Unionsbürger sowie das damit verbundene Aufenthaltsrecht lediglich voraussetzen, dass diese Person die Unterstützung des mobilen Unionsbürgers ungeachtet des Ortes benötigt, an dem ein solcher Unterstützungsbedarf besteht. Eine Abhängigkeit ist nicht in dem Sinne an einen bestimmten Ort gebunden, dass der Unterstützungsbedarf vor dem Umzug in den Aufnahmemitgliedstaat im Herkunftsland hätte eintreten müssen. Ebenso wenig verlangt die Unionsbürgerrichtlinie für den Erwerb eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts, dass der Familienangehörige mit der Absicht in den Aufnahmemitgliedstaat einreisen muss, dem mobilen Unionsbürger nachzuziehen, der ihn unterstützt. Das Aufenthaltsrecht hängt ausschließlich vom Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses ab, und die Unionsbürgerrichtlinie stellt daran keine zusätzlichen Anforderungen.

87.      Aus diesem Grund schlage ich dem Gerichtshof vor, die erste Frage wie folgt zu beantworten: Im Rahmen der Prüfung des Begriffs der Abhängigkeit im Sinne von Art. 2 Nr. 2 Buchst. d der Unionsbürgerrichtlinie ist die Situation eines Familienangehörigen eines mobilen Unionsbürgers in gerader aufsteigender Linie zu berücksichtigen, der sich bereits in dem Hoheitsgebiet des Staates aufhält, in dem der Zusammenführende ansässig ist.

C.      Zweite Frage – Problem des unrechtmäßigen Aufenthalts

88.      Für den Fall, dass die Situation eines Antragstellers, der sich bereits im Aufnahmemitgliedstaat aufhält, zu berücksichtigen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es von Bedeutung ist, ob sich dieser Antragsteller rechtmäßig im Hoheitsgebiet dieses Staates aufhält.

89.      Aus der Rechtsprechung ergibt sich, dass das Aufenthaltsrecht eines Verwandten in gerader aufsteigender (oder absteigender) Linie als automatische Folge eines Abhängigkeitsverhältnisses besteht. Besteht für den Verwandten in aufsteigender Linie also ein tatsächlicher Bedarf an Unterstützung durch den mobilen Unionsbürger, besteht für diesen Verwandten auch automatisch ein Aufenthaltsrecht.

90.      Der Aufenthalt eines Verwandten in aufsteigender Linie, dem Unterhalt gewährt wird, kann daher nicht unrechtmäßig sein, da die Unionsbürgerrichtlinie für solche Situationen ein Aufenthaltsrecht vorsieht.

91.      Neben dem tatsächlichen Unterstützungsbedarf gibt es keine zusätzlichen Anforderungen – wie etwa die Rechtmäßigkeit des vorherigen Aufenthalts –, von denen das Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. d oder Art. 7 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie abhängig wäre(40).

92.      An dieser Stelle möchte ich zudem darauf hinweisen, dass Frau XXX offensichtlich seit ihrer Einreise nach Belgien und, vorbehaltlich der Überprüfung durch das nationale Gericht, auch bereits davor, in ihrem Herkunftsland, die Unterstützung der häuslichen Gemeinschaft ihres Sohnes und seiner Lebenspartnerin benötigte. Dass ihr im Jahr 2011 auf der Grundlage des nationalen Rechts die Ausstellung eines Aufenthaltsscheins versagt wurde, ändert nichts daran, dass sie sich nach der Unionsbürgerrichtlinie auf ihre Abhängigkeit von dieser häuslichen Gemeinschaft berufen konnte.

93.      Da das Aufenthaltsrecht auf der Grundlage der Unionsbürgerrichtlinie automatisch entsteht, wenn ein entsprechendes Abhängigkeitsverhältnis besteht, und da es nicht von der Ausstellung einer Aufenthaltskarte abhängig ist, ist außerdem nicht von Bedeutung, dass die Behörden die Ausstellung einer solchen Karte im Jahr 2015 versagten und Frau XXX die Anweisung erteilten, Belgien zu verlassen. Da es sich bei der Abhängigkeit um eine Tatsachenfrage handelt, hatte Frau XXX offenbar seit ihrer Einreise nach Belgien ein Aufenthaltsrecht.

94.      Ferner gibt es offenbar keinen Grund für die Annahme, dass diese Abhängigkeit zu irgendeinem Zeitpunkt bis heute weggefallen ist, was zu der Schlussfolgerung führt, dass sie sich auf der Grundlage der Unionsbürgerrichtlinie mehr als fünf Jahre rechtmäßig in Belgien aufgehalten und daher auch das Recht auf Daueraufenthalt erworben hat(41). Dies bedeutet auch, dass die Entscheidungen, mit denen ihr die Ausstellung einer Aufenthaltskarte versagt wurde und ihre Ausweisung aus Belgien angeordnet wurde, unrechtmäßig sind. Diese Tatsachen sind jedoch vom nationalen Gericht zu überprüfen.

95.      Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, die zweite Frage wie folgt zu beantworten: Ein Verwandter in gerader aufsteigender Linie, dem von einem mobilen Unionsbürger im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Unionsbürgerrichtlinie Unterhalt gewährt wird, hält sich ungeachtet nach nationalem Recht ergangener, anderslautender Entscheidungen rechtmäßig im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats auf. Wenn sich ein Antragsteller nach nationalem Recht unrechtmäßig im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufgehalten hat, bevor er abhängig geworden ist, hat dies später keine Auswirkungen auf seine Rechte nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. d und Art. 7 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie.

D.      Dritte und vierte Frage – Nachweis der Abhängigkeit

96.      Mit seiner dritten und seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, auf welche Weise ein Verwandter eines mobilen Unionsbürgers in gerader aufsteigender Linie seine Abhängigkeit nachzuweisen hat, um eine Aufenthaltskarte zu erhalten.

97.      Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob ein Verwandter eines Unionsbürgers in gerader aufsteigender Linie, der einen Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte stellt, seine Abhängigkeit durch einen urkundlichen Nachweis aus der Zeit vor seinem Umzug in den Aufnahmemitgliedstaat belegen kann, obwohl seitdem geraume Zeit vergangen ist. Falls einem solchen urkundlichen Nachweis keine Bedeutung zukommt oder ein solcher nicht ausreichend ist, möchte das vorlegende Gericht mit seiner vierten Frage wissen, auf welche Weise ein Antragsteller seine Abhängigkeit belegen kann.

98.      Die Frage, wie eine Abhängigkeit nachgewiesen werden kann, hängt davon ab, warum diese überhaupt nachzuweisen ist.

99.      In der vorliegenden Rechtssache hat Frau XXX ihre Abhängigkeit nachzuweisen, um eine Aufenthaltskarte ausgestellt zu bekommen.

100. Der Zweck der Aufenthaltskarte liegt in der Bestätigung, dass einem Familienangehörigen ab dem Zeitpunkt ihrer Ausstellung das Aufenthaltsrecht auf der Grundlage von Art. 7 der Unionsbürgerrichtlinie zukommt. Diesbezüglich erscheint mir allein die Frage von Bedeutung zu sein, ob an dem Ort und zu dem Zeitpunkt, zu dem die Ausstellung der Karte beantragt wird, eine Abhängigkeit besteht.

101. Anders verhielte es sich, wenn einem Aufenthaltsschein ein anderer Zweck zukäme, wie etwa die Bestätigung, dass die Abhängigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt eingetreten ist und zum Zeitpunkt der Ausstellung dieses Scheins weiterhin besteht. Dies könnte für die Geltendmachung der Rechtsstellung eines Daueraufenthaltsberechtigten bedeutsam sein, da diese von einem ununterbrochenen rechtmäßigen Aufenthalt während eines Zeitraums von fünf Jahren abhängt. In einer solchen Situation sind sowohl der Zeitpunkt, zu dem die Abhängigkeit eingetreten ist und der in der Vergangenheit liegen mag, als auch der gegenwärtige Zeitpunkt von Bedeutung.

102. Aus der Vorlageentscheidung geht jedoch hervor, dass Frau XXX die Aufenthaltskarte tatsächlich bloß für den ab der (dritten) Einreichung eines solchen Antrags beginnenden Zeitraum beantragte.

103. Wenn die Aufenthaltskarte in der vorliegenden Rechtssache also tatsächlich bloß als Bestätigung benötigt wird, dass das Aufenthaltsrecht zum Zeitpunkt einer solchen Antragstellung besteht und für die Zukunft bestehen bleiben wird, sofern es nicht widerrufen wird, ist es nicht gerechtfertigt, einen Nachweis der Abhängigkeit von Frau XXX im Herkunftsland zu verlangen. Es reicht aus, wenn sie nachweist, dass sie zum Zeitpunkt der Einreichung des Antrags auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte Unterstützung benötigt, die die Lebenspartnerin ihres Sohnes in Belgien gewähren will.

104. Dafür kann Frau XXX sich nicht auf die Nachweise aus dem Jahr 2011 stützen, sondern hat ihre Abhängigkeit mit aktuelleren Nachweisen zu belegen, aus denen ihr Unterstützungsbedarf im Jahr 2017 hervorgeht.

105. Der Nachweis einer Abhängigkeit zum Zeitpunkt der Einreichung des Antrags auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte kann je nach der individuellen Situation des betreffenden Familienangehörigen mit jedem geeigneten Mittel erbracht werden(42). Wird die Ausstellung einer Aufenthaltskarte kurz nach der Einreise eines Familienangehörigen in den Aufnahmemitgliedstaat beantragt, könnte einer Bescheinigung, dass diese Person bereits im Herkunftsland Zahlungen von dem mobilen Unionsbürger erhalten hat, Bedeutung zukommen, doch ist sie nicht vorgeschrieben. Hält sich der Familienangehörige jedoch bereits im Aufnahmemitgliedstaat auf, könnten Belege, aus denen hervorgeht, dass dieser mit dem mobilen Unionsbürger zusammenlebt oder Letzterer im Aufnahmemitgliedstaat für seine Unterkunft, Verpflegung oder andere Grundbedürfnisse aufkommt, für den Nachweis einer Abhängigkeit von Bedeutung sein. Es könnte in der Tat erforderlich sein, schriftliche Belege (z. B. Nachweise, dass der Familienangehörige über keine anderen Einkunftsquellen aus früherer Erwerbstätigkeit oder aus Eigentum verfügt) aus dem Herkunftsland zu verlangen, sofern es nicht unmöglich ist, solche Nachweise zu beschaffen. Dies dient jedoch dem Nachweis, dass der Familienangehörige zu dem Zeitpunkt, zu dem er den Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte stellt, und an dem Ort, von dem aus dieser Antrag gestellt wird, nicht in der Lage ist, seine Grundbedürfnisse selbst zu decken, und nicht, dass dies in seinem Herkunftsland der Fall gewesen ist oder wäre.

106. Wenn ein abhängiger Familienangehöriger eine Entscheidung benötigt, die seine fortdauernde Abhängigkeit bestätigt, wie es bei der Beantragung des Daueraufenthalts erforderlich sein könnte, müsste möglicherweise nachgewiesen werden, dass in der Vergangenheit, einschließlich im Herkunftsland, eine Abhängigkeit bestanden hat. In einem solchen Fall kann der Nachweis der Abhängigkeit im Herkunftsland, d. h. vor der Einreise in den Aufnahmemitgliedstaat, auf die früheren schriftlichen Belege gestützt werden. Es ist nicht gerechtfertigt, neue Belege zu verlangen, aus denen hervorgeht, dass Frau XXX bereits in ihrem Herkunftsland abhängig war, bevor sie ihrer Familie nach Belgien nachzog, wenn der entscheidenden Behörde solche Belege bereits vorgelegt wurden.

107. Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, die dritte Frage wie folgt zu beantworten: Ein Verwandter eines mobilen Unionsbürgers in gerader aufsteigender Linie kann sich zum Nachweis seiner Abhängigkeit von diesem Unionsbürger nicht auf Dokumente berufen, die mehrere Jahre vor der Einreichung des Antrags auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte ausgefertigt wurden. Ein solcher Verwandter in aufsteigender Linie hat seine Abhängigkeit im Aufnahmemitgliedstaat zum Zeitpunkt der Einreichung des Antrags auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte nachzuweisen.

108. Was die vierte Frage angeht, schlage ich dem Gerichtshof vor, diese dahin zu beantworten, dass dieser Nachweis mit jedem geeigneten Mittel geführt werden kann, das belegt, dass der betreffende Verwandte in gerader aufsteigender Linie zum Zeitpunkt der Einreichung des Antrags auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte die Unterstützung des mobilen Unionsbürgers im Aufnahmemitgliedstaat tatsächlich benötigt. Dieser Nachweis kann neue Dokumente aus dem Herkunftsland erforderlich machen, die das Fehlen oder die Unzulänglichkeit von Eigenmitteln aus früheren Arbeitsverhältnissen oder Eigentum belegen. Solche Dokumente dienen dem Nachweis des Unterstützungsbedarfs im Aufnahmemitgliedstaat zum Zeitpunkt der Antragstellung und nicht des Unterstützungsbedarfs im Herkunftsland.

IV.    Ergebnis

109. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

1.      Bei der Prüfung des Vorliegens einer Abhängigkeit im Sinne von Art. 2 Nr. 2 Buchst. d der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, haben die nationalen Behörden die Situation eines Familienangehörigen eines mobilen Unionsbürgers in gerader aufsteigender Linie zu berücksichtigen, der sich bereits im Hoheitsgebiet des Staates aufhält, in dem der Zusammenführende ansässig ist.

2.      Ein Verwandter in gerader aufsteigender Linie, dem von einem mobilen Unionsbürger im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2004/38 Unterhalt gewährt wird, hält sich ungeachtet nach nationalem Recht ergangener, anderslautender Entscheidungen rechtmäßig im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats auf. Wenn sich ein Antragsteller nach nationalem Recht unrechtmäßig im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufgehalten hat, bevor er abhängig geworden ist, hat dies später keine Auswirkungen auf seine Rechte nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. d und Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38.

3.      Ein Verwandter eines mobilen Unionsbürgers in gerader aufsteigender Linie kann sich zum Nachweis seiner Abhängigkeit von diesem Unionsbürger nicht auf Dokumente berufen, die mehrere Jahre vor der Einreichung des Antrags auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte ausgefertigt wurden. Ein solcher Verwandter in aufsteigender Linie hat seine Abhängigkeit im Aufnahmemitgliedstaat zum Zeitpunkt der Einreichung des Antrags auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte nachzuweisen.

4.      Der Nachweis der Abhängigkeit kann mit jedem geeigneten Mittel geführt werden, das belegt, dass der betreffende Verwandte in gerader aufsteigender Linie zum Zeitpunkt der Einreichung des Antrags auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte die Unterstützung des mobilen Unionsbürgers im Aufnahmemitgliedstaat tatsächlich benötigt. Dieser Nachweis kann neue Dokumente aus dem Herkunftsland erforderlich machen, die das Fehlen oder die Unzulänglichkeit von Eigenmitteln aus früheren Arbeitsverhältnissen oder Eigentum belegen. Solche Dokumente dienen dem Nachweis des Unterstützungsbedarfs im Aufnahmemitgliedstaat zum Zeitpunkt der Antragstellung und nicht des Unterstützungsbedarfs im Herkunftsland.












































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