C-49/22 – Austrian Airlines (Vol de rapatriement)

C-49/22 – Austrian Airlines (Vol de rapatriement)

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2023:154

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NICHOLAS EMILIOU

vom 2. März 2023(1)

Rechtssache C49/22

Austrian Airlines AG

gegen

TW

(Vorabentscheidungsersuchen des Landesgerichts Korneuburg [Österreich])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Luftverkehr – Fluggastrechte – Verordnung (EG) Nr. 261/2004 – Art. 5 Abs. 1 Buchst. a – Art. 8 Abs. 1 – Art. 9 – Annullierung eines Flugs – Covid‑19-Pandemie –Von dem Mitgliedstaat organisierter Repatriierungsflug – Konsularische Aufgaben – Flug, der von derselben Fluggesellschaft und zur selben Zeit wie der annullierte Flug durchgeführt wird – Verpflichtung des Fluggastes, sich an den Kosten des Repatriierungsflugs zu beteiligen – Begriff ‚anderweitige Beförderung unter vergleichbaren Reisebedingungen‘ – Anspruch auf Erstattung – Fürsorgepflicht – Richtlinie (EU) 2015/2302 – Pauschalreise – Art. 14 Abs. 1 – Preisminderung“

I.      Einleitung

1.        Die Auswirkungen, die die Covid‑19-Pandemie auf den Alltag des Einzelnen und von Unternehmen gehabt hat, und in gewisser Weise immer noch hat, sind kaum zu überschätzen. Die Pandemie hat wohl u. a. eine der größten weltweiten Rezessionen seit der Großen Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren ausgelöst, und in ihrem Verlauf sind Millionen Menschen verarmt und Millionen Unternehmen in Konkurs gegangen(2). Zu den am stärksten betroffenen Branchen zählen der Tourismus und die Luftfahrt(3). Was die Luftfahrtbranche betrifft, so hatten der plötzliche und beispiellose Rückgang der Passagiernachfrage, Luftraumschließungen und Flugverbote(4) – zusammen mit den von mehreren Ländern ergriffenen Ausgangsbeschränkungen – einen vollständigen oder teilweisen Stillstand des Flugbetriebs der meisten Fluggesellschaften verursacht mit der Folge, dass ganze Fliegerflotten am Boden blieben oder nur in einem engen Rotationsbetrieb mit geringem Personal betrieben wurden(5).

2.        Unsere Gesetze sind jedoch selten darauf ausgelegt, derart außergewöhnliche und kaum vorstellbare Umstände zu regeln. Daher kann es sowohl für Richter als auch für Anwälte schwierig sein, die ungewöhnlichen Situationen, die sich aus diesen außergewöhnlichen Umständen ergeben können, in die in unseren Rechtsvorschriften vorgesehenen ganz normalen Tatbestände „einzupassen“. Auf den ersten Blick geht es im vorliegenden Verfahren um einen solchen Fall: Das vorlegende Gericht möchte vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen, ob ein Repatriierungsflug, der vom Staat in Ausübung seiner hoheitlichen Tätigkeiten durchgeführt wird, als eine „anderweitige Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen“ anzusehen ist, die das Luftfahrtunternehmen im Fall der Annullierung eines Fluges im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Fluggastrechteverordnung (Verordnung [EG] Nr. 261/2004)(6) anbieten muss.

3.        Die Antwort auf diese Frage ist meines Erachtens ganz einfach: Nein, ein Repatriierungsflug kann nicht als eine anderweitige Beförderung im Sinne der Verordnung Nr. 261/2004 angesehen werden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die im Ausgangsverfahren betroffenen Personen, die sich auf Mauritius im Urlaub befanden, als ihr Rückflug wegen des Ausbruchs von Covid‑19 gestrichen wurde, und sie daher einen vom Herkunftsmitgliedstaat organisierten Repatriierungsflug nehmen mussten, für den sie einen Unkostenbeitrag zu entrichten hatten, in Bezug auf ihre Ansprüche ungeschützt bleiben.

4.        Es ist gibt nämlich andere Vorschriften des Unionsrechts (und gegebenenfalls des nationalen Rechts), die ungeachtet der ungewöhnlichen Umstände auf den Sachverhalt im Ausgangsverfahren angewendet werden können und zu einem gerechten und ausgewogenen Ergebnis führen, ohne dass eine neuartige Auslegung der Bestimmungen notwendig wäre.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

5.        Die Erwägungsgründe 1, 5, 12, 13, 16 und 20 der Verordnung Nr. 261/2004 lauten:

„(1) Die Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich des Luftverkehrs sollten unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Ferner sollte den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden.

(5) Da die Unterscheidung zwischen Linienflugverkehr und Bedarfsflugverkehr an Deutlichkeit verliert, sollte der Schutz sich nicht auf Fluggäste im Linienflugverkehr beschränken, sondern sich auch auf Fluggäste im Bedarfsflugverkehr, einschließlich Flügen im Rahmen von Pauschalreisen, erstrecken.

(12) Das Ärgernis und die Unannehmlichkeiten, die den Fluggästen durch die Annullierung von Flügen entstehen, sollten ebenfalls verringert werden. Dies sollte dadurch erreicht werden, dass die Luftfahrtunternehmen veranlasst werden, die Fluggäste vor der planmäßigen Abflugzeit über Annullierungen zu unterrichten und ihnen darüber hinaus eine zumutbare anderweitige Beförderung anzubieten, so dass die Fluggäste umdisponieren können. Andernfalls sollten die Luftfahrtunternehmen den Fluggästen einen Ausgleich leisten und auch eine angemessene Betreuung anbieten, es sei denn, die Annullierung geht auf außergewöhnliche Umstände zurück, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.

(13) Fluggästen, deren Flüge annulliert werden, sollten entweder eine Erstattung des Flugpreises oder eine anderweitige Beförderung unter zufrieden stellenden Bedingungen erhalten können, und sie sollten angemessen betreut werden, während sie auf einen späteren Flug warten.

(16) Für Fälle, in denen eine Pauschalreise aus anderen Gründen als der Annullierung des Fluges annulliert wird, sollte diese Verordnung nicht gelten.

(20) Die Fluggäste sollten umfassend über ihre Rechte im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen informiert werden, damit sie diese Rechte wirksam wahrnehmen können.“

6.        Art. 5 („Annullierung“) der Verordnung Nr. 261/2004 bestimmt:

„(1) Bei Annullierung eines Fluges werden den betroffenen Fluggästen

a) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 8 angeboten,

b) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe a) und Absatz 2 angeboten und im Fall einer anderweitigen Beförderung, wenn die nach vernünftigem Ermessen zu erwartende Abflugzeit des neuen Fluges erst am Tag nach der planmäßigen Abflugzeit des annullierten Fluges liegt, Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstaben b) und c) angeboten und

c) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt, es sei denn

(2) Wenn die Fluggäste über die Annullierung unterrichtet werden, erhalten sie Angaben zu einer möglichen anderweitigen Beförderung.

(3) Ein ausführendes Luftfahrtunternehmen ist nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen gemäß Artikel 7 zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.

…“

7.        Art. 8 („Anspruch auf Erstattung oder anderweitige Beförderung“) der Verordnung Nr. 261/2004 lautet:

„(1) Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so können Fluggäste wählen zwischen

a) – der binnen sieben Tagen zu leistenden vollständigen Erstattung der Flugscheinkosten nach den in Artikel 7 Absatz 3 genannten Modalitäten zu dem Preis, zu dem der Flugschein erworben wurde, für nicht zurückgelegte Reiseabschnitte … gegebenenfalls in Verbindung mit

– einem Rückflug zum ersten Abflugort zum frühestmöglichen Zeitpunkt,

b) anderweitiger Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zum frühestmöglichen Zeitpunkt oder

c) anderweitiger Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zu einem späteren Zeitpunkt nach Wunsch des Fluggastes, vorbehaltlich verfügbarer Plätze.

(2) Absatz 1 Buchstabe a) gilt auch für Fluggäste, deren Flüge Bestandteil einer Pauschalreise sind, mit Ausnahme des Anspruchs auf Erstattung, sofern dieser sich aus der Richtlinie 90/314/EWG [des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen (ABl. 1990, L 185, S. 59)] ergibt.

…“.

8.        Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/314/EWG des Rates(7) bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass der Reisende Anspruch auf eine angemessene Preisminderung für jeden Zeitraum hat, in dem eine Vertragswidrigkeit vorlag, es sei denn, der Reiseveranstalter belegt, dass die Vertragswidrigkeit dem Reisenden zuzurechnen ist.“

B.      Österreichisches Recht

9.        § 3 Abs. 2 des Bundesgesetzes über die Wahrnehmung konsularischer Aufgaben (Konsulargesetz)(8):

„Konsularischer Schutz ist jener Teil der konsularischen Aufgaben, der die Hilfeleistung in Rechtsschutz- und Notsituationen umfasst. Darunter fällt unter anderem die Hilfeleistung:

5. bei der Unterstützung und Rückführung in Notfällen.“

III. Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

10.      TW – der Kläger des Ausgangsverfahrens – und seine Ehefrau hatten jeweils eine bestätigte Buchung für den Flug OS17 am 7. März 2020 von Wien (Österreich) nach Mauritius sowie für den Flug OS18 am 20. März 2020 von Mauritius nach Wien. Diese beiden Flüge sollten von Austrian Airlines durchgeführt werden und waren Teil einer Pauschalreise.

11.      Während der erste Flug planmäßig durchgeführt wurde, annullierte Austrian Airlines den Rückflug aufgrund der Gesundheitssituation und der von der österreichischen Bundesregierung in Bezug hierauf getroffenen Maßnahmen. Obwohl Austrian Airlines über die Kontaktdaten der Fluggäste verfügte, setzte sie sich nicht mit ihnen in Verbindung, um sie über die Annullierung des Rückflugs und ihre Rechte gemäß der Verordnung Nr. 261/2004 zu unterrichten.

12.      Am 19. März 2020 rief der Reiseveranstalter die Fluggäste an und informierte sie über die Annullierung des Rückflugs und darüber, dass ein für den folgenden Tag geplanter Repatriierungsflugs durch das österreichische Außenministerium (im Folgenden: Ministerium) organisiert worden sei. Der Repatriierungsflug wurde von Austrian Airlines im Rahmen einer vertraglichen Vereinbarung mit dem Ministerium unter der Flugnummer OS1024 zu derselben Flugzeit, für die der ursprünglich gebuchte Flug geplant gewesen war, durchgeführt. Der Kläger und seine Ehefrau leisteten einen verpflichtenden Unkostenbeitrag von jeweils 500 Euro. Austrian Airlines erhielt vom Ministerium einen gewissen Ausgleich für den Flug.

13.      Der Kläger erhob beim Bezirksgericht Schwechat (Österreich) Klage gegen Austrian Airlines und begehrte für sich und seine Ehefrau eine Entschädigung in Höhe von insgesamt 1 000 Euro. Er begründete die Klage im Wesentlichen damit, dass die Beklagte gegen die Bestimmungen der Verordnung Nr. 261/2004 verstoßen habe, indem sie keine Ersatzbeförderung angeboten habe. Er war der Ansicht, dass die Austrian Airlines ihm die Kosten für den Repatriierungsflug hätte erstatten müssen. Mit Urteil vom 13. April 2021 entschied das Bezirksgericht Schwechat zugunsten des Klägers.

14.      Austrian Airlines legte gegen dieses Urteil Berufung beim Landesgericht Korneuburg (Österreich) ein und machte geltend, der Repatriierungsflug sei nicht als eine anderweitige Beförderung im Sinne der Verordnung Nr. 261/2004 anzusehen. Es sei nicht möglich gewesen, den Kläger auf diesen Flug umzubuchen, da die Entscheidung, wer auf diesem Flug befördert werde, allein dem Ministerium vorbehalten gewesen sei, das auch über den von den Passagieren zu zahlenden Betrag entschieden habe.

15.      Wegen Unklarheiten über die Auslegung der einschlägigen Bestimmungen der Verordnung Nr. 261/2004 hat das Landesgericht Korneuburg beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Sind Art. 5 Abs. 1 Buchst. a und Art. 8 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass als anderweitige Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen, die das ausführende Luftfahrtunternehmen im Falle einer Annullierung anzubieten hat, auch ein im Rahmen der hoheitlichen Tätigkeit eines Staates durchgeführter Repatriierungsflug anzusehen ist, wenn das ausführende Luftfahrtunternehmen zwar keinen Rechtsanspruch auf Beförderung des Fluggastes begründen kann, aber den Fluggast dafür anmelden sowie die Kosten übernehmen könnte und den Flug aufgrund einer vertraglichen Vereinbarung mit dem Staat letztlich mit demselben Flugzeug und zu denselben Flugzeiten durchführt, die für den ursprünglich annullierten Flug vorgesehen gewesen wären?

2. Ist Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass ein Fluggast, der sich selbst für einen in Frage 1 beschriebenen Repatriierungsflug anmeldet und dafür einen verpflichtenden Unkostenbeitrag an den Staat leistet, einen sich unmittelbar aus der genannten Verordnung ergebenden Anspruch auf Ersatz dieser Ausgaben gegen das Luftfahrtunternehmen hat, auch wenn die Kosten nicht ausschließlich in den reinen Flugkosten besteht?

16.      Im vorliegenden Verfahren haben TW, Austrian Airlines, die deutsche und die österreichische Regierung sowie die Europäische Kommission schriftliche Erklärungen eingereicht.

IV.    Würdigung

17.      Das Ausgangsverfahren betrifft ein österreichisches Ehepaar (TW und seine Ehefrau), das als Touristen im Rahmen einer Pauschalreise nach Mauritius reiste, die auch den Flug einschloss. Während ihres Aufenthalts auf Mauritius wurde der Rückflug jedoch aufgrund der von den österreichischen Behörden getroffenen Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid‑19-Pandemie gestrichen. Das Ehepaar trat daher einen vom Ministerium organisierten Repatriierungsflug an, der von derselben Fluggesellschaft (Austrian Airlines) durchgeführt wurde und am selben Tag und zur selben Uhrzeit wie der ursprüngliche Flieger abflog. Für den Repatriierungsflug musste jeder Fluggast einen Unkostenbeitrag von 500 Euro an das Ministerium entrichten. Auf der Grundlage, dass es sich bei dem Repatriierungsflug um eine „anderweitige Beförderung“ im Sinne der Verordnung Nr. 261/2004 handele, macht TW geltend, dass Austrian Airlines einen solchen Flug unentgeltlich hätte anbieten müssen.

18.      Mit den beiden Vorlagefragen möchte das vorlegende Gericht also im Wesentlichen wissen, ob TW den von ihm und seiner Ehefrau gezahlten Betrag von Austrian Airlines einfordern kann, weil diese Fluggesellschaft den Repatriierungsflug unter Verstoß gegen ihre Verpflichtungen aus der Verordnung Nr. 261/2004 nicht „angeboten“ habe.

19.      Bevor ich auf diese Fragen eingehe, möchte ich sagen, dass mir deren Wortlaut und Tragweite etwas Kopfzerbrechen bereitet. Diese Fragen konzentrieren sich nämlich auf nur zwei (sicherlich wichtige, aber recht enge) Fragen, die sich aus der Auslegung von Art. 5 Abs. 1 Buchst. a und Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 ergeben. Der vorliegende Fall dürfte jedoch meines Erachtens auch durch andere Bestimmungen des Unionsrechts geregelt sein, die dem vorlegenden Gericht in Anbetracht der besonderen Umstände einen recht klaren und tragfähigen Rahmen für die Lösung des Rechtsstreits bieten könnten.

20.      Um dem vorlegenden Gericht in vollem Umfang hilfreich zu sein, werde ich daher die zweite Vorlagefrage umformulieren und erweitern und am Ende dieser Schlussanträge einige abschließende Bemerkungen hinzufügen.

A.      Erste Frage: Begriff „anderweitige Beförderung“

21.      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, was der Begriff „anderweitige Beförderung“ im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 bedeutet. Das Gericht möchte insbesondere wissen, ob sich dieser Begriff auf einen Repatriierungsflug erstreckt, der von einem Mitgliedstaat in Ausübung seiner hoheitlichen Tätigkeiten organisiert wird.

22.      Wie bereits erwähnt, bin ich der Ansicht, dass dies zu verneinen ist. Mehrere Gründe veranlassen mich zu dieser Auffassung.

23.      Erstens kann der Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 261/2004 meines Erachtens nicht dahin ausgelegt werden, dass er sich auf nicht-gewerbliche Flüge wie die von Unionsmitgliedstaaten organisierten Repatriierungsflüge bezieht. Dies ergibt sich aus mehreren Textstellen in der Präambel und in den Bestimmungen der Verordnung. Insbesondere ist nicht zu übersehen, dass (i) Repatriierungsflüge nicht „im Markt“ angeboten werden(9), (ii) der von den Passagieren an die öffentlichen Behörden gezahlte verpflichtende Beitrag kein Tarif ist, der „für die Öffentlichkeit“ verfügbar ist(10), (iii) die Beförderungsleistung nicht von einem Luftfahrtunternehmen erbracht wird, das „[einen Flug]       im Rahmen eines Vertrags mit einem Fluggast oder im Namen einer anderen … Person, die mit dem betreffenden Fluggast in einer Vertragsbeziehung steht … durchführt oder durchzuführen beabsichtigt“(11), und (iv) Passagiere von Repatriierungsflügen, jedenfalls in diesem Kontext, keine „Verbraucher“ sind(12), weil sie es nicht mit einem „Unternehmer“ oder einem „Wirtschaftsteilnehmer“ zu tun haben(13) und sie keine besonderen (gesetzlichen oder vertraglichen) „Rechte“ in Bezug auf diese Flüge gegenüber dem Veranstalter haben(14).

24.      Zweitens stützt sich die Verordnung Nr. 261/2004 auf (den jetzigen) Art. 100 Abs. 2 AEUV, der es dem Unionsgesetzgeber ermöglicht, „geeignete Vorschriften für … die Seeschifffahrt und die Luftfahrt“(15) im Rahmen der Gemeinsamen Verkehrspolitik zu erlassen. Insoweit ist es zwar richtig, dass die Verträge dem Unionsgesetzgeber ein weites Ermessen in Bezug auf die Ziele und Mittel der gemeinsamen Verkehrspolitik lassen(16). Richtig ist aber auch, dass die Maßnahmen, die der Unionsgesetzgeber nach Art. 91 AEUV zur Durchführung der gemeinsamen Verkehrspolitik zu erlassen hat, mit Repatriierungsflügen augenscheinlich nichts zu tun haben(17).

25.      Repatriierungsflüge, die von den Mitgliedstaaten durchgeführt werden, um ihre in einem Drittland gestrandeten Staatsbürger in einer Gefahrensituation schnellstmöglich zurückzubringen, dienen nicht der Verfolgung eines „gemeinsamen“ Interesses der Union. Sofern sie nicht im Rahmen einer Maßnahme gemäß den Bestimmungen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union stattfinden, erfolgen diese Flüge im Rahmen der diplomatischen und konsularischen Tätigkeiten der Mitgliedstaaten.

26.      Tatsächlich wurde der betreffende Repatriierungsflug vom Ministerium auf der Grundlage des Bundesgesetzes über die Wahrnehmung konsularischer Aufgaben (Konsulargesetz) organisiert. Die konsularischen Aufgaben umfassen nach diesem Gesetz den konsularischen Schutz und Beistand, zu dem insbesondere Maßnahmen der „Unterstützung und Rückführung in Notfällen“ gehören.

27.      Die betreffenden nationalen Vorschriften stehen offenbar in vollem Einklang mit Art. 5 Buchst. e des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen, wonach die konsularischen Aufgaben u. a. darin bestehen, „den Angehörigen des Entsendestaats, und zwar sowohl natürlichen als auch juristischen Personen, Hilfe und Beistand zu leisten“(18). Dies wird allgemein als eine der wichtigsten Aufgaben der Konsularbehörden angesehen und einige Staaten sind der Auffassung, dass ihre Staatsangehörigen einen Anspruch auf diesen Beistand haben(19).

28.      Insoweit ist festzustellen, dass die diplomatischen und konsularischen Tätigkeiten der Mitgliedstaaten nicht zu den Zuständigkeiten gehören, die der Europäischen Union durch die Verträge übertragen wurden. Lediglich ein spezieller Aspekt des diplomatischen und konsularischen Schutzes und Beistands für Personen, die die Unionsbürgerschaft besitzen(20), ist in den Verträgen geregelt, nämlich die Anwendung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit in diesem Zusammenhang(21). Ansonsten enthalten die Verträge nur einige Verpflichtungen zur Koordinierung und gegenseitigen Unterstützung zwischen den Stellen, die faktisch den diplomatischen und konsularischen Dienst der Europäischen Union (Europäischer Auswärtiger Dienst) und seine Vertretungen (Delegationen) darstellen, und den diplomatischen und konsularischen Diensten und Vertretungen der Mitgliedstaaten(22). Wie Generalanwalt Bot in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Sólyom ausgeführt hat, ist es insgesamt so, dass „der Bereich der diplomatischen Beziehungen in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten verbleibt“(23) und somit im Wesentlichen den Grundsätzen und Regeln des Völkerrechts unterliegt(24).

29.      Auch können Repatriierungsflüge nicht als „Beförderungsleistungen“ im Sinne der Vertragsbestimmungen über den Binnenmarkt angesehen werden(25). Der Gerichtshof hat nämlich in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass der Begriff „Dienstleistungen“ im Sinne dieser Bestimmung im Licht der in Art. 56 AEUV verankerten Dienstleistungsfreiheit auszulegen ist, deren Geltungsbereich auf wirtschaftliche Tätigkeiten beschränkt ist(26).

30.      Drittens bestätigt eine textliche und systematische Auslegung von Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004, dass der Begriff der „anderweitigen Beförderung“ nicht auf Repatriierungsflüge ausgedehnt werden kann. Es ist auf den ersten Blick richtig, dass dieser Begriff in der Verordnung nirgends definiert ist. Dieser Begriff kann jedoch nicht ohne Berücksichtigung des Anwendungsbereichs und des Gegenstands der Verordnung Nr. 261/2004 ausgelegt oder einfach aus dem Wortlaut von Art. 8 Abs. 1 der Verordnung abgeleitet werden.

31.      Der Begriff „Repatriierungsflug“ ist weit genug, um sowohl direkte als auch indirekte Flüge mit derselben oder einer anderen Reiseroute, die von demselben oder einem anderen Luftfahrtunternehmen (unabhängig davon, ob es derselben Fluggesellschaftsallianz angehört oder nicht(27)) durchgeführt werden, sowie möglicherweise auch andere Beförderungsarten zu umfassen(28). Dessen ungeachtet kann der Begriff der „anderweitigen Beförderung“ aus den bereits erörterten Gründen nicht so weit ausgedehnt werden, dass er auch nicht-gewerbliche Flüge umfasst, die im Rahmen der diplomatischen Tätigkeiten eines Mitgliedstaats durchgeführt werden.

32.      Bei der von der Verordnung Nr. 261/2004 erfassten Situation geht es im Wesentlichen darum, dass ein Luftfahrtunternehmen, das – aus welchen Gründen auch immer – einen Flug annullieren muss und dadurch nicht mehr in der Lage ist, seine vertraglichen Verpflichtungen gegenüber seinen Fluggästen zu erfüllen, sich dazu entschließen kann, die Vertragserfüllung an ein anderes Luftfahrtunternehmen zu „delegieren“, das diese Aufgabe im Namen des ursprünglichen Luftfahrtunternehmens (und auf dessen Kosten) übernimmt. Es ist meines Erachtens undenkbar, dass ein Staat, der sicherheitsrelevante Transporte durchführt, als „stellvertretend“ für ein Luftfahrtunternehmen bei der Erfüllung von dessen Vertragspflichten anzusehen ist.

33.      Diese Auslegung des Begriffs „anderweitige Beförderung“ wird durch den Wortlaut von Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 selbst bestätigt: Die Buchst. b und c dieser Bestimmung beziehen sich auf „anderweitiger Beförderung … unter vergleichbaren Reisebedingungen“(29). Die Bezugnahme auf „vergleichbare Reisebedingungen“ ist offensichtlich von Bedeutung, um zu verstehen, welche Beförderungsmittel und ‑bedingungen als anderweitige Beförderung im Sinne der Verordnung Nr. 261/2004 anzusehen sind(30).

34.      Es bedarf in diesem Zusammenhang wohl kaum eines Hinweises darauf, dass sich gewerbliche Flüge und Repatriierungsflüge nur schwer miteinander vergleichen lassen. Die letztgenannten Flüge werden – wie bereits hervorgehoben – von nationalen Behörden (Außenministerium, Botschaften, Konsulate usw.) organisiert, die insbesondere darüber entscheiden, wann, wie und zu wessen Gunsten sie durchgeführt werden und wie (gegebenenfalls) Reservierungen vorzunehmen sind. Die Durchführung dieser Flüge kann gewerblichen Luftfahrtunternehmen übertragen werden, sie kann aber auch mit staatlichen Flugzeugen, einschließlich Militärflugzeugen oder anderen nicht für die zivile Personenbeförderung bestimmten Flugzeugen, erfolgen. Sie können von/zu zivilen Flughäfen, aber auch von/zu militärischen Flughäfen fliegen und sie erfordern unter Umständen eine Besatzung mit spezieller Ausbildung und/oder besonderen Qualifikationen.

35.      Aus der Sicht der Passagiere können die vor, während und nach dem Flug erbrachten Dienstleistungen sehr unterschiedlich sein. Sie können nicht erwarten, dass Repatriierungsflüge in Bezug auf Ein- und Ausstiegshilfe, Gepäck, Sitzplatzzuweisung, Klassen und Upgrades, Mahlzeiten und Erfrischungen, Bonusmeilen, Flugunterhaltung usw. dieselben Dienstleistungen bieten, wie sie für gewerbliche Flüge typisch sind.

36.      Da ich während meiner Laufbahn als Diplomat vor meiner Tätigkeit beim Gerichtshof an der Organisation solcher Flüge beteiligt war, kann ich bestätigen, dass diese Flüge unter Bedingungen durchgeführt werden, die sich von normalen gewerblichen Flügen unterscheiden.

37.      Viertens würde eine andere Auslegung von Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 zu abwegigen Ergebnissen führen. Die Argumentation von TW scheint auf der Annahme zu beruhen, dass alle Fluggäste, die auf dem ursprünglichen Flug gebucht waren, von der Fluggesellschaft automatisch auf den neuen Flug hätten umgebucht werden können und auch umgebucht werden müssen. Er meint, dass Repatriierungsflüge als für eine anderweitige Beförderung in Betracht kommende Flüge angesehen werden müssten, mit der Folge, dass sie zu den Flügen gehörten, die die Luftfahrtunternehmen Fluggästen anbieten, denen die Beförderung verweigert wird(31) oder die von der Annullierung von Flügen betroffen sind(32).

38.      Es ist jedoch unbestreitbar, dass es nicht im Belieben der Luftfahrtunternehmen steht, ihren Kunden solche Flüge „anzubieten“(33). Auch wenn sie sie zufälliger Weise selbst durchführen, liegt die endgültige Entscheidung über die Personen, die befördert werden, bei den öffentlichen Behörden. Die Behörden können dabei auf der Grundlage verschiedener Kriterien, wie z. B. des Gesundheitszustands, des Alters, der Schutzbedürftigkeit und/oder letztlich auch der Staatsangehörigkeit der Fluggäste, entscheiden(34).

39.      Nebenbei bemerkt ist es keineswegs offensichtlich, dass alle Fluggäste, die auf den ursprünglichen Flug gebucht waren, tatsächlich auf den neuen Flug umgebucht werden konnten. Bei Repatriierungsflügen können nämlich durchaus strengere sicherheitsrelevante und medizinische Maßnahmen zum Schutz der Besatzung und der Fluggäste ergriffen werden, was zu einer Verringerung der verfügbaren Plätze führen kann(35).

40.      Die von TW vertretene Auslegung von Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 würde daher dem bekannten Rechtsgrundsatz ad impossibilia nemo tenetur (zu Unmöglichem kann keiner verpflichtet werden) zuwiderlaufen(36).

41.      Es ist verständlich, dass es aus der Sicht von TW keinen großen Unterschied zwischen dem ursprünglich gebuchten Flug und dem Repatriierungsflug, den er und seine Ehefrau schließlich nahmen, zu geben scheint: Beide wurden von demselben Luftfahrtunternehmen (Austrian Airlines) durchgeführt, starteten zur selben Zeit und benutzten dasselbe Flugzeug. Was TW als „geringfügige Formalitäten“ ansehen mag, macht jedoch in rechtlicher Hinsicht einen großen Unterschied: Der ursprüngliche Flug war ein ziviler Flug, der von Austrian Airlines im Rahmen ihrer gewerblichen Tätigkeit unabhängig durchgeführt wurde und bei dem Fluggäste mit einem Flugschein befördert wurden, der „von dem Luftfahrtunternehmen oder dessen zugelassenem Vermittler ausgegeben oder genehmigt wurde“(37), während der tatsächlich angetretene Flug ein Repatriierungsflug war, dessen Besonderheiten ich bereits dargelegt habe. Die Tatsache, dass dem Repatriierungsflug ein anderer Kennzeichnungscode zugewiesen wurde, ist daher keine bloße „Kosmetik“, sondern ein klarer Hinweis darauf, dass das Flugzeug, mit dem TW und seine Ehefrau flogen, einen anderen rechtlichen Status hatte als das ursprünglich gebuchte.

42.      Fünftens spielt es keine Rolle, dass die von TW vorgeschlagene Auslegung zum Schutz der Verbraucher, eines der mit der Verordnung Nr. 261/2004 verfolgten Ziele, beitragen würde. So lobenswert dieses Ziel auch sein mag, kann es nicht dazu dienen, die Bestimmungen dieser Verordnung in einer Weise auszulegen, die ihre Tragweite über die vom Unionsgesetzgeber beabsichtigte und möglicherweise über das nach den geltenden Vertragsvorschriften Zulässige hinaus ausdehnen würde.

43.      Der Unionsgesetzgeber hat bei der Festlegung des Gegenstands und des sachlichen Anwendungsbereichs der Verordnung Nr. 261/2004 einen Interessenausgleich hergestellt zwischen (i) der Notwendigkeit, die Verbraucher zu schützen, weil sie die schwache Partei im Geschäftsverkehr darstellen, (ii) den legitimen finanziellen und wirtschaftlichen Interessen der Luftfahrtunternehmen, nur für Ereignisse haftbar gemacht zu werden, die sie vorhersehen oder auf die sie in irgendeiner Form Einfluss nehmen können, und (iii) dem Interesse der Mitgliedstaaten, ihre diplomatischen Aufgaben auszuüben, ohne dass dies durch den Binnenmarkt der Union und die gemeinsamen Vorschriften für den Verkehrssektor beeinträchtigt wird. Es ist nicht Sache des Gerichtshofs, dieses Gleichgewicht durch eine kreative Auslegung der einschlägigen Vorschriften zu ändern.

44.      Der Spruch „Drastische Zeiten erfordern drastische Maßnahmen“ mag in der Medizin gelten(38), ist aber nach meiner Erfahrung im Bereich des Rechts nicht unbedingt entsprechend anwendbar.

45.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die erste Vorlagefrage dahin zu beantworten, dass ein Repatriierungsflug, der in Ausübung hoheitlicher Tätigkeiten eines Mitgliedstaats durchgeführt wird, nicht als „anderweitige Beförderung … unter vergleichbaren Reisebedingungen“ im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Buchst. a und Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 anzusehen ist.

B.      Zweite Frage: Pflichten der Luftfahrtunternehmen bei Annullierung eines Fluges

46.      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass ein Fluggast, der sich für einen Repatriierungsflug anmeldet und für diesen Flug einen verpflichtenden Unkostenbeitrag an den Staat leistet, einen Anspruch auf Erstattung dieser Kosten gegen das Luftfahrtunternehmen hat, der sich unmittelbar aus den Bestimmungen dieser Verordnung ergibt, auch wenn die Kosten über die rein flugbezogenen Kosten hinausgehen.

47.      Meines Erachtens ergibt sich die Antwort auf diese Frage ganz logisch aus dem, was ich oben erläutert habe: Da es sich bei einem von nationalen Behörden organisierten Repatriierungsflug nicht um eine „anderweitige Beförderung“ handelt, sind die Kosten dafür nicht von dem Luftfahrtunternehmen zu tragen. Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 bietet somit keine Grundlage für die Annahme, dass TW von Austrian Airlines die Erstattung des an das Ministerium gezahlten verpflichtenden Unkostenbeitrags für den Repatriierungsflug verlangen kann.

48.      Um dem vorlegenden Gericht in vollem Umfang gerecht zu werden, betrachte ich die zweite Frage jedoch, wie bereits oben in Nr. 20 erwähnt, als eine allgemeinere Frage nach den Verpflichtungen, die sich für Luftfahrtunternehmen aus den Art. 5 und 7 bis 9 der Verordnung Nr. 261/2004 ergeben, wenn ein Rückflug aus Gründen, die mit einer Pandemie wie Covid‑19 zusammenhängen, annulliert werden und der Fluggast sich für einen Repatriierungsflug anmelden muss.

49.      Insoweit erlegen die Art. 5 und 7 bis 9 der Verordnung Nr. 261/2004 den Luftfahrtunternehmen bei Annullierung von Flügen grundsätzlich eine dreifache Verpflichtung auf: (i) dem Fluggast die Wahl zwischen der Erstattung des Flugscheins und einer anderweitigen Beförderung zu lassen, (ii) Unterstützung zu leisten und (iii) eine Ausgleichszahlung zu leisten.

50.      Ich werde nun diese Verpflichtungen kurz nacheinander prüfen.

1.      Ausgleichszahlung

51.      Nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 haben Fluggäste im Fall der Annullierung eines Fluges, von Ausnahmen abgesehen, Anspruch auf eine Ausgleichsleistung in Form eines festen Betrags, dessen Höhe von einer Reihe von Variablen abhängt.

52.      Nach Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 ist jedoch „[e]in ausführendes Luftfahrtunternehmen … nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen … zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären“(39).

53.      Im vorliegenden Fall dürfte die Annullierung als durch außergewöhnliche Umstände verursacht anzusehen sein, die eine Ausgleichszahlung ausschließen. Wie Generalanwältin Medina in der Rechtssache UFC – Que choisir und CLCV ausgeführt hat: Eine Pandemie wie Covid‑19 „erfüllt im Allgemeinen die Tatbestandsmerkmale der Definition der ‚unvermeidbaren und außergewöhnlichen Umstände‘“(40).

54.      Dies ist wohl auch der Grund dafür, dass das Vorabentscheidungsersuchen die Frage eines möglichen Ausgleichsanspruchs von TW gegen das Luftfahrtunternehmen nach Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 nicht anspricht. Hierüber wäre auf jeden Fall vom vorlegenden Gericht zu entscheiden.

2.      Unterstützung (und Betreuung)

55.      Nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. b und Art. 9 der Verordnung Nr. 261/2004 müssen den Fluggästen im Fall einer Flugannullierung Mahlzeiten und Erfrischungen, eine Hotelunterbringung, die Beförderung zwischen Flughafen und Unterkunft sowie „unentgeltlich zwei Telefongespräche zu führen oder zwei Telexe oder Telefaxe oder E‑Mails“ angeboten werden. Aus diesen Bestimmungen ergibt sich jedoch eindeutig, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der die Annullierung des Rückflugs nicht zu einer Verspätung des Abflugs des betreffenden Fluggastes führt, nur die letztgenannte Art der Unterstützung geleistet werden muss(41).

56.      Es gibt jedoch eine weitere Form der Unterstützung, die die Luftfahrtunternehmen im Fall der Annullierung von Flügen leisten müssen, auch wenn sie in Art. 9 der Verordnung Nr. 261/2004 nicht ausdrücklich als solche aufgeführt ist, nämlich die Pflicht, den Fluggast über die Annullierung des Fluges und seine Rechte zu informieren. Sie ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 5 Abs. 1 Buchst. c, Abs. 2 und 4 der Verordnung Nr. 261/2004 im Licht des zwölften und des 20. Erwägungsgrundes, dass die Luftfahrtunternehmen den Fluggast über die Flugannullierung unterrichten müssen. Diese Verpflichtung bedeutet, dass das Luftfahrtunternehmen die Fluggäste nach der Annullierung des Fluges unverzüglich in Kenntnis setzen muss, damit sie andere Vorkehrungen treffen und ihre Rechte wirksam wahrnehmen können(42). Diese Verpflichtung kann beispielsweise die Notwendigkeit umfassen, die Fluggäste darauf hinzuweisen, dass ein oder mehrere Repatriierungsflüge organisiert werden (selbst wenn das Luftfahrtunternehmen nicht in der Lage ist, den Fluggästen Plätze auf diesen Flügen anzubieten).

57.      Wie der Gerichtshof im Urteil McDonagh bekräftigt hat, sind Luftfahrtunternehmen bei außergewöhnlichen Umständen nicht von der Erfüllung ihrer Verpflichtungen in Bezug auf die Unterstützung und Betreuung von Fluggästen freigestellt(43). Gerade in solchen Situationen dürften die Fluggäste am stärksten darauf angewiesen sein, dass die Luftfahrtunternehmen ihren Unterstützungs- und Betreuungspflichten nachkommen.

58.      Soweit ersichtlich, wurden TW und seine Ehefrau nicht von Austrian Airlines über die Annullierung des Fluges informiert, sondern von dem Reiseveranstalter. Es wird jedoch nicht angegeben, ob die Mitteilung des Reiseveranstalters in angemessener Zeit nach der Annullierung des Fluges oder mit einer Verzögerung erfolgte, die TW daran gehindert haben könnte, alternative Vorkehrungen zu treffen.

59.      Es ist – wiederum – Sache des vorlegenden Gerichts, geeignete Feststellungen zu diesem Punkt zu treffen. Ganz allgemein hat dieses Gericht zu prüfen, ob TW nachgewiesen hat, dadurch einen Schaden erlitten zu haben, dass Austrian Airlines ihn nicht über die Flugannullierung informiert hat, und gegebenenfalls die Höhe des geschuldeten Ausgleichs zu bestimmen(44). Wie Generalanwältin Sharpston in der Rechtssache Sousa Rodríguez u. a. festgestellt hat: „Auch wenn dieser Ersatz nicht ausdrücklich vorgesehen ist, ist klar, dass die Verpflichtung zu Betreuung und Unterstützung wirkungslos wäre, wenn sie nicht durchgesetzt werden könnte.“(45)

60.      In diesem Zusammenhang möchte ich – im Licht der Formulierung der zweiten Frage durch das vorlegende Gericht – nur am Rande hinzufügen, dass die von TW und seiner Ehefrau an das Ministerium für den Rückführungsflug geleistete Zahlung meines Erachtens nicht als durch die unzureichende Betreuung durch das Luftfahrtunternehmen verursacht angesehen werden kann.

3.      Anspruch auf Erstattung oder anderweitige Beförderung

61.      Nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. a und Art. 9 der Verordnung Nr. 261/2004 muss den Fluggästen bei Annullierung eines Fluges grundsätzlich die Wahl zwischen der Erstattung des vollen Flugpreises für den nicht durchgeführten Teil der Reise und einer anderweitigen Beförderung „unter vergleichbaren Reisebedingungen“ zum frühestmöglichen Zeitpunkt oder nach Wunsch des Fluggastes angeboten werden.

62.      Dem Vorabentscheidungsersuchen entnehme ich, dass es aufgrund der zum maßgeblichen Zeitpunkt getroffenen öffentlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie zumindest in absehbarer Zeit keine Alternativen gab, TW und seine Ehefrau „unter vergleichbaren Reisebedingungen“ anderweitig zu befördern. Die Option der anderweitigen Beförderung war daher entweder unmöglich oder innerhalb eines angemessenen Zeitraums sehr unwahrscheinlich(46). Die Verpflichtung, eine anderweitige Beförderung anzubieten, entfällt in jedem Fall, wenn sich ein Fluggast für einen Repatriierungsflug entschieden hat(47).

63.      Die Verpflichtung des Luftfahrtunternehmens, den Fluggästen die vollen Kosten der annullierten Reise „zu dem Preis, zu dem der Flugschein erworben wurde“, zu erstatten, besteht jedoch weiter. Diese Verpflichtung unterliegt nicht nur keiner Bedingung (im Gegensatz zur Verpflichtung, bestimmte Formen der Unterstützung zu leisten) und keiner Ausnahme (im Gegensatz zur Verpflichtung, Ausgleichsleistungen zu erbringen), sondern gilt auch – wie in Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 261/2004 ausdrücklich festgestellt – „für Fluggäste, deren Flüge Bestandteil einer Pauschalreise sind, mit Ausnahme des Anspruchs auf Erstattung“ gemäß der jetzigen Richtlinie 2015/2302.

64.      Das scheint, wenn ich es richtig sehe, bei TW und seiner Ehefrau der Fall zu sein.

65.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die zweite Frage dahin zu beantworten, dass die Art. 5 und 7 bis 9 der Verordnung Nr. 261/2004 das Luftfahrtunternehmen verpflichten, wenn ein Rückflug aus Gründen, die mit einer Pandemie wie Covid‑19 zusammenhängen, annulliert werden und der Fluggast sich für einen Repatriierungsflug anmelden musste: (i) Ausgleich für den Schaden zu leisten, der dem Fluggast dadurch entstanden ist, dass das Luftfahrtunternehmen ihn nicht über die Annullierung des Fluges und seine Rechte informiert hat, und (ii) dem Fluggast den vollen Preis des Flugscheins für den nicht zurückgelegten Reiseabschnitt zu erstatten.

C.      Schlussbemerkungen

66.      Abschließend möchte ich noch einige Schlussbemerkungen anfügen, die dem vorlegenden Gericht bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits möglicherweise hilfreich sein können. Um eine Form der Entschädigung für den im Zusammenhang mit seinem Rückflug zu viel gezahlten Betrag zu erreichen, gibt es meines Erachtens für TW einen anderen Lösungsweg als den oben dargestellten(48).

67.      Wie bereits erwähnt haben TW und seine Ehefrau den Flugschein offenbar im Rahmen einer Pauschalreise erworben. Dies hat zur Folge, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2015/2302 Anwendung finden. Wie der Gerichtshof jüngst im Urteil FTI Touristik (Pauschalreise auf die Kanarischen Inseln)(49) festgestellt hat, berechtigt Art. 14 Abs. 1 dieser Richtlinie die Reisenden zu einer Preisminderung wegen Vertragswidrigkeit bei der Erfüllung des Pauschalreisevertrags(50) und zwar auch dann, wenn die Vertragswidrigkeit durch Einschränkungen bedingt ist, die zur Verhinderung der Ausbreitung einer ansteckenden Krankheit wie Covid‑19 angeordnet wurden. Das Recht auf Preisminderung ist nämlich nur an die Bedingung geknüpft, dass eine Vertragswidrigkeit vorliegt, die nicht dem Reisenden zuzurechnen ist. Das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände, die die Vertragswidrigkeit herbeigeführt haben könnten, führt insoweit nicht zu einer Entlastung des Reiseveranstalters.

68.      Nach meiner Auffassung muss die Preisminderung, auf die TW und seine Ehefrau Anspruch haben, grundsätzlich den Kosten für den annullierten Rückflug entsprechen.

69.      Abschließend, und nur am Rande, möchte ich darauf hinweisen, dass nach Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 diese Verordnung „unbeschadet eines weiter gehenden Schadensersatzanspruchs des Fluggastes“ gilt und dass die „nach dieser Verordnung gewährte Ausgleichsleistung auf einen solchen Schadensersatzanspruch angerechnet werden [kann]“. Wie der Gerichtshof in seinem Urteil Sousa Rodríguez u. a. festgestellt hat, ist der in dieser Bestimmung verwendete Begriff „weiter gehender Schadensersatz“ dahin auszulegen, „dass er es dem nationalen Gericht ermöglicht, unter den Voraussetzungen des Übereinkommens von Montreal oder des nationalen Rechts Ersatz für den wegen der Nichterfüllung des Luftbeförderungsvertrags entstandenen Schaden, einschließlich des immateriellen Schadens, zu gewähren.“ Allerdings hat der Gerichtshof auch klargestellt, dass Art. 12 dieser Verordnung „nicht als Rechtsgrundlage dafür dienen [kann], ein Luftfahrtunternehmen zu verurteilen, den Fluggästen, deren Flug verspätet war oder annulliert wurde, die Kosten zu erstatten, die ihnen durch die Verletzung der diesem Unternehmen nach den Art. 8 und 9 der Verordnung [Nr. 261/2004] obliegenden Unterstützungs- und Betreuungspflichten entstanden sind“(51).

70.      Mit anderen Worten: Sollten TW und seine Ehefrau zusätzlich zu dem Schaden, der ihnen dadurch entstanden ist, dass Austrian Airlines den in der Verordnung Nr. 261/2004 festgelegten Verpflichtungen nicht nachgekommen ist, einen Schaden erlitten haben, der anderer Natur ist, kämen weitere Schadensersatzansprüche nach nationalem Recht in Betracht.

71.      Insgesamt dürfte TW mit gutem Grund behaupten können, dass er den Rückflug für sich und seine Ehefrau – schlicht und einfach – zweimal bezahlt habe: einmal an das Luftfahrtunternehmen und einmal an das Ministerium. Ich sehe jedoch in den Bestimmungen der Verordnung Nr. 261/2004 keine Grundlage dafür, dass TW von dem Luftfahrtunternehmen die Erstattung des für den Repatriierungsflug an das Ministerium gezahlten verpflichtenden Unkostenbeitrags verlangen kann. Umgekehrt hat er nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. a und Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 einen Anspruch auf Erstattung des vollständigen Flugpreises für den Rückflug. Alternativ kann er vom Reiseveranstalter gemäß Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2015/2302 eine Preisminderung für die nicht vertragsgemäße Erfüllung des Pauschalreisevertrags aufgrund der Nichtverfügbarkeit des Rückflugs verlangen.

V.      Ergebnis

72.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Landesgericht Korneuburg (Österreich) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

–        Ein Repatriierungsflug, der in Ausübung der hoheitlichen Tätigkeiten eines Mitgliedstaats durchgeführt wird, kann nicht als „anderweitige Beförderung unter vergleichbaren Reisebedingungen“ im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Buchst. a und Art. 8 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 angesehen werden;

und

–        die Art. 5 und 7 bis 9 der Verordnung Nr. 261/2004 verpflichten das Luftfahrtunternehmen, wenn ein Rückflug aus Gründen einer Pandemie wie Covid‑19 annulliert werden und der Fluggast sich für einen Repatriierungsflug anmelden musste, i) Ausgleich für den Schaden zu leisten, der dem Fluggast dadurch entstanden ist, dass das Luftfahrtunternehmen ihn nicht über die Annullierung des Fluges und seine Rechte informiert hat, und (ii) dem Fluggast den vollen Preis des Flugscheins für den nicht zurückgelegten Reiseabschnitt zu erstatten.





















































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