Vorläufige Fassung
BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)
11. Dezember 2023(* )
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Richtlinie 2011/7/EU – Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr – Art. 2 Nr. 1 – Begriff ‚Geschäftsverkehr‘ – Art. 3 Abs. 1 Buchst. a – Anspruch auf Verzugszinsen – Versicherungsvertrag zwischen Unternehmen“
In der Rechtssache C‑303/23
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Rejonowy dla Wrocławia-Fabrycznej we Wrocławiu (Rayongericht Wrocław-Fabryczna, Wrocław [Breslau], Polen) mit Entscheidung vom 28. April 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Mai 2023, in dem Verfahren
Powszechny Zakład Ubezpieczeń S.A.
gegen
Volvia sp. z o.o.
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Piçarra (Berichterstatter) sowie der Richter N. Jääskinen und M. Gavalec,
Generalanwalt: A. Rantos,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,
folgenden
Beschluss
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Nr. 1 und Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/7/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr (ABl. 2011, L 48, S. 1).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Powszechny Zakład Ubezpieczeń S.A. (im Folgenden: PZU) und der Volvia sp. z o.o. über die Zahlung von Zinsen durch Letztere infolge der verspäteten Zahlung von Prämien, die in Erfüllung zweier Versicherungsverträge über Kraftfahrzeuge geschuldet waren, und über die pauschale Entschädigung von PZU für die Beitreibungskosten.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 In den Erwägungsgründen 3, 8, 9 und 17 der Richtlinie 2011/7 heißt es:
„(3) Viele Zahlungen im Geschäftsverkehr zwischen Wirtschaftsteilnehmern einerseits und zwischen Wirtschaftsteilnehmern und öffentlichen Stellen andererseits werden später als zum vertraglich vereinbarten oder in den allgemeinen Geschäftsbedingungen festgelegten Zeitpunkt getätigt. Trotz Lieferung der Waren oder Erbringung der Leistungen werden viele Rechnungen erst lange nach Ablauf der Zahlungsfrist beglichen. Ein derartiger Zahlungsverzug wirkt sich negativ auf die Liquidität aus und erschwert die Finanzbuchhaltung von Unternehmen. Es beeinträchtigt außerdem die Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit von Unternehmen, wenn der Gläubiger aufgrund eines Zahlungsverzugs Fremdfinanzierung in Anspruch nehmen muss. …
…
(8) Der Anwendungsbereich dieser Richtlinie sollte auf die als Entgelt für Handelsgeschäfte geleisteten Zahlungen beschränkt sein. Diese Richtlinie sollte weder Geschäfte mit Verbrauchern noch die Zahlung von Zinsen im Zusammenhang mit anderen Zahlungen, z. B. unter das Scheck- und Wechselrecht fallende Zahlungen oder Schadensersatzzahlungen einschließlich Zahlungen von Versicherungsgesellschaften, umfassen. Außerdem sollten die Mitgliedstaaten befugt sein, Schulden auszuschließen, die Gegenstand eines Insolvenzverfahrens, einschließlich eines Verfahrens zur Umschuldung, sind.
(9) Diese Richtlinie sollte den gesamten Geschäftsverkehr unabhängig davon regeln, ob er zwischen privaten oder öffentlichen Unternehmen oder zwischen Unternehmen und öffentlichen Stellen erfolgt …
…
(17) Die Zahlung eines Schuldners sollte als verspätet in dem Sinne betrachtet werden, dass ein Anspruch auf Verzugszinsen entsteht, wenn der Gläubiger zum Zeitpunkt der Fälligkeit nicht über den geschuldeten Betrag verfügt, vorausgesetzt, er hat seine gesetzlichen und vertraglichen Verpflichtungen erfüllt.“
4 Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) der Richtlinie sieht in den Abs. 1 und 2 vor:
„(1) Diese Richtlinie dient der Bekämpfung des Zahlungsverzugs im Geschäftsverkehr, um sicherzustellen, dass der Binnenmarkt reibungslos funktioniert, und dadurch die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und insbesondere von [kleinen und mittleren Unternehmen (KMU)] zu fördern.
(2) Diese Richtlinie ist auf alle Zahlungen, die als Entgelt im Geschäftsverkehr zu leisten sind, anzuwenden.“
5 Art. 2 der Richtlinie sieht vor:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
1. ‚Geschäftsverkehr‘ Geschäftsvorgänge zwischen Unternehmen oder zwischen Unternehmen und öffentlichen Stellen, die zu einer Lieferung von Waren oder Erbringung von Dienstleistungen gegen Entgelt führen;
…
3. ‚Unternehmen‘ jede im Rahmen ihrer unabhängigen wirtschaftlichen oder beruflichen Tätigkeit handelnde Organisation, ausgenommen öffentliche Stellen, auch wenn die Tätigkeit von einer einzelnen Person ausgeübt wird;
4. ‚Zahlungsverzug‘ eine Zahlung, die nicht innerhalb der vertraglich oder gesetzlich vorgesehenen Zahlungsfrist erfolgt ist, sofern zugleich die Voraussetzungen des Artikels 3 Absatz 1 … erfüllt sind;
5. ‚Verzugszinsen‘ den gesetzlichen Zins bei Zahlungsverzug oder den zwischen Unternehmen vereinbarten Zins, vorbehaltlich des Artikels 7;
…“
6 Art. 3 („Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen“) Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen der Gläubiger Anspruch auf Verzugszinsen hat, ohne dass es einer Mahnung bedarf, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:
a) Der Gläubiger hat seine vertraglichen und gesetzlichen Verpflichtungen erfüllt, und
b) der Gläubiger hat den fälligen Betrag nicht rechtzeitig erhalten, es sei denn, dass der Schuldner für den Zahlungsverzug nicht verantwortlich ist.“
Polnisches Recht
Gesetz zur Bekämpfung übermäßigen Verzugs im Geschäftsverkehr
7 Art. 4 der Ustawa o przeciwdziałaniu nadmiernym opóźnieniom w transakcjach handlowych (Gesetz zur Bekämpfung übermäßigen Verzugs im Geschäftsverkehr) vom 8. März 2013 (Dz. U. 2013, Pos. 403) definiert in Nr. 1 „Geschäftsvorgang“ als „einen Vertrag, der die entgeltliche Lieferung einer Ware oder die entgeltliche Erbringung einer Dienstleistung zum Gegenstand hat, wenn die in Art. 2 genannten Parteien diesen Vertrag im Zusammenhang mit der ausgeübten Tätigkeit abschließen“, und in Nr. 1a „Geldleistung“ als „eine Vergütung für die Lieferung einer Ware oder die Erbringung einer Dienstleistung im Rahmen eines Geschäftsvorgangs“.
8 Art. 7 Abs. 1 des Gesetzes sieht vor:
„Bei Geschäftsvorgängen – mit Ausnahme von Vorgängen, bei denen der Schuldner eine öffentliche Einrichtung ist – hat der Gläubiger ohne Mahnung Anspruch auf die gesetzlichen Verzugszinsen im Geschäftsverkehr, es sei denn, die Parteien haben höhere Zinsen vereinbart, für den Zeitraum vom Tag der Fälligkeit der Geldleistung bis zum Tag der Zahlung, wenn folgende Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind:
1) Der Gläubiger hat seine Leistung erbracht;
2) der Gläubiger hat die Zahlung nicht innerhalb der vertraglich festgelegten Frist erhalten.“
Zivilgesetzbuch
9 Nach Art. 487 § 2 der Ustawa – Kodeks cywilny (Gesetz über das Zivilgesetzbuch) vom 23. April 1964 (Dz. U. 1964, Nr. 16, Pos. 93) gilt: „Ein Vertrag ist gegenseitig, wenn beide Parteien sich in der Weise verpflichten, dass die Leistung der einen die Gegenleistung zur Leistung der anderen sein soll.“
10 Art. 805 §§ 1 und 2 des Gesetzes über das Zivilgesetzbuch lautet wie folgt:
„§ 1. Durch den Versicherungsvertrag verpflichtet sich der Versicherer, im Rahmen der Tätigkeit seines Unternehmens, im Fall des Eintritts eines im Vertrag vorgesehenen Ereignisses eine bestimmte Leistung zu erbringen, und der Versicherungsnehmer verpflichtet sich zur Zahlung einer Prämie.
§ 2. Die Leistung des Versicherers besteht insbesondere in der Zahlung
1) bei einer Vermögensversicherung – einer bestimmten Entschädigung für den Schaden, der durch den Eintritt des im Vertrag vorgesehenen Ereignisses entstanden ist;
2) bei einer Personenversicherung – einer vereinbarten Geldsumme, einer Rente oder einer anderen Leistung im Fall des Eintritts eines im Vertrag vorgesehenen Unfalls des Versicherten.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
11 Volvia, eine polnische Autovermietungsgesellschaft, schloss mit der Versicherungsgesellschaft PZU zwei Kfz-Versicherungsverträge ab. Der erste Vertrag betrifft die obligatorische Kfz-Haftpflichtversicherung und eine Zusatzversicherung für die Organisation und Kostenübernahme der Pannenhilfe. Der zweite Vertrag hat eine andere freiwillige Versicherung zum Gegenstand, nämlich die sogenannte Autokaskoversicherung, die den Verlust, die Zerstörung und die Beschädigung des jeweiligen Fahrzeugs abdeckt.
12 PZU erhob beim Sąd Rejonowy dla Wrocławia-Fabrycznej we Wrocławiu (Rayongericht Wrocław-Fabryczna, Wrocław, Polen), dem vorlegenden Gericht, Klage auf Verurteilung von Volvia zur Zahlung von Versicherungsprämien in Höhe von 7 619,89 Zloty (ca. 1 700 Euro) zuzüglich Verzugszinsen aus den beiden in der vorstehenden Randnummer genannten Versicherungsverträgen sowie einer pauschalen Entschädigung für die entstandenen Beitreibungskosten.
13 Volvia legte gegen den vom vorlegenden Gericht erlassenen Mahnbescheid Widerspruch ein. Der Mahnbescheid verlor daraufhin seine rechtliche Wirkung, und der Fall wurde zur Behandlung im ordentlichen Verfahren bei diesem Gericht genommen.
14 Vor diesem Hintergrund fragt sich das vorlegende Gericht, ob ein zwischen Unternehmen geschlossener Versicherungsvertrag als „Geschäftsvorgang“ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2011/7 eingestuft werden kann und ob ein solcher Vertrag folglich in den sachlichen Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt. Es weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Frage nach der Natur eines Versicherungsvertrags und insbesondere die Frage, ob die vom Versicherungsnehmer gezahlte Prämie die Gegenleistung für eine vom Versicherer erbrachte Leistung darstellt oder nicht, die polnische Rechtsprechung und Lehre spaltet.
15 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist ein Versicherungsvertrag kein synallagmatischer Vertrag, da die vom Versicherungsnehmer gezahlte Prämie nicht das Entgelt für die Leistung des Versicherers ist, die darin besteht, die vorgesehene Entschädigung für Schäden zu zahlen, die sich aus einem durch den Vertrag gedeckten Ereignis ergeben. Das vorlegende Gericht hält es für nötig, sich zu vergewissern, dass eine solche Auslegung des polnischen Rechts, wie sie vom Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) vorgenommen wurde, nicht gegen die Richtlinie 2011/7 in der Auslegung durch den Gerichtshof, insbesondere im Urteil vom 9. Juli 2020, RL (Richtlinie zur Bekämpfung von Zahlungsverzug) (C‑199/19, EU:C:2020:548), verstößt.
16 Unter diesen Umständen hat der Sąd Rejonowy dla Wrocławia-Fabrycznej we Wrocławiu (Rayongericht Wrocław-Fabryczna, Wrocław) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2011/7 dahin auszulegen, dass ein Versicherungsvertrag, in dessen Rahmen sich der Versicherer gegenüber einem Unternehmer verpflichtet, im Fall des Eintritts eines im Vertrag vorgesehenen Ereignisses eine bestimme Leistung zu erbringen, einen Geschäftsvorgang im Sinne dieser Bestimmung darstellt, so dass dieser Vertrag in den sachlichen Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt?
Und falls ja:
2. Ist Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/7 dahin auszulegen, dass der Versicherer durch die bloße Gewährung des Versicherungsschutzes im Rahmen des Versicherungsvertrags seine vertragliche und gesetzliche Verpflichtung im Sinne dieser Bestimmung erfüllt?
Zu den Vorlagefragen
17 Nach Art. 99 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof u. a. dann, wenn die Antwort auf eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann, auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden.
18 Diese Bestimmung ist in der vorliegenden Rechtssache anzuwenden.
Erste Frage
19 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2011/7 dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Geschäftsverkehr“ einen Versicherungsvertrag erfasst, durch den sich der Versicherer gegenüber einem Unternehmen verpflichtet, im Fall des Eintritts eines in dem Vertrag vorgesehenen Ereignisses eine bestimmte Leistung zu erbringen, und sich das Unternehmen gegenüber dem Versicherer zur Zahlung der Versicherungsprämie verpflichtet.
20 Nach Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2011/7 bezeichnet der Ausdruck „Geschäftsverkehr“ „Geschäftsvorgänge zwischen Unternehmen oder zwischen Unternehmen und öffentlichen Stellen, die zu einer Lieferung von Waren oder Erbringung von Dienstleistungen gegen Entgelt führen“. Diese Bestimmung ist im Licht der Erwägungsgründe 8 und 9 der Richtlinie und in Verbindung mit ihrem Art. 1 Abs. 2 zu lesen, wonach sie auf alle Zahlungen anzuwenden ist, die als Entgelt im Geschäftsverkehr zu leisten sind.
21 Aus diesen Bestimmungen ergibt sich, dass die Richtlinie 2011/7 auf alle als Entgelt für Handelsgeschäfte geleisteten Zahlungen, auch zwischen privaten Unternehmen, mit Ausnahme von insbesondere Geschäften mit Verbrauchern anwendbar sein soll. Daher ist der Anwendungsbereich dieser Richtlinie weit definiert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. November 2019, KROL, C‑722/18, EU:C:2019:1028, Rn. 31 und 32).
22 In Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2011/7 werden zwei Voraussetzungen genannt, damit ein Vorgang unter den Ausdruck „Geschäftsverkehr“ im Sinne dieser Bestimmung fällt. Er muss erstens entweder zwischen Unternehmen oder zwischen Unternehmen und öffentlichen Stellen erfolgen und zweitens zu einer Lieferung von Waren oder Erbringung von Dienstleistungen gegen Entgelt führen.
23 Was die erste Voraussetzung betrifft, so steht im Ausgangsverfahren fest, dass es sich bei Volvia und PZU um „Unternehmen“ im Sinne von Art. 2 Nr. 3 der Richtlinie handelt, der diesen Begriff wie folgt definiert: „jede im Rahmen ihrer unabhängigen wirtschaftlichen oder beruflichen Tätigkeit handelnde Organisation, ausgenommen öffentliche Stellen, auch wenn die Tätigkeit von einer einzelnen Person ausgeübt wird“.
24 Hinsichtlich der zweiten in Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2011/7 genannten Voraussetzung hat der Gerichtshof in Rn. 27 des Urteils vom 9. Juli 2020, RL (Richtlinie zur Bekämpfung von Zahlungsverzug) (C‑199/19, EU:C:2020:548), entschieden, dass die in dieser Bestimmung vorgesehenen Begriffe „Lieferung von Waren“ und „Erbringung von Dienstleistungen“ autonome Begriffe des Unionsrechts darstellen, deren Bedeutung nicht anhand von im Recht der Mitgliedstaaten bekannten Begriffen oder auf nationaler Ebene vorgenommenen Einstufungen ermittelt werden kann. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass der AEU-Vertrag in Art. 57 eine weite Definition des Begriffs „Dienstleistungen“ enthält, die jede in der Regel gegen Entgelt erbrachte Leistung umfasst, die nicht von den übrigen Grundfreiheiten erfasst wird, um zu verhindern, dass eine wirtschaftliche Tätigkeit aus dem Geltungsbereich der Grundfreiheiten herausfällt (Urteil vom 9. Juli 2020, RL [Richtlinie zur Bekämpfung von Zahlungsverzug], C‑199/19, EU:C:2020:548, Rn. 30 bis 32).
25 Der Gerichtshof hat auch die Zielsetzung der Richtlinie 2011/7 berücksichtigt, die nach ihrem Art. 1 Abs. 1 im Licht ihres dritten Erwägungsgrundes in der Bekämpfung des Zahlungsverzugs im Geschäftsverkehr besteht, um sicherzustellen, dass der Binnenmarkt reibungslos funktioniert, und dadurch die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen zu fördern, da sich ein Zahlungsverzug negativ auf die Liquidität von Unternehmen auswirkt, ihre Finanzbuchhaltung erschwert und ihre Wirtschaftlichkeit beeinträchtigt, wenn sie aufgrund dieses Zahlungsverzugs Fremdfinanzierung in Anspruch nehmen müssen (Urteil vom 9. Juli 2020, RL [Richtlinie zur Bekämpfung von Zahlungsverzug], C‑199/19, EU:C:2020:548, Rn. 35).
26 Ein Versicherungsvertrag wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende, durch den sich der Versicherer gegenüber der anderen Partei verpflichtet, bei Eintritt eines in diesem Vertrag vorgesehenen Ereignisses eine bestimmte Leistung zu erbringen, und die andere Partei sich gegenüber dem Versicherer verpflichtet, die Versicherungsprämien zu zahlen, stellt somit einen Geschäftsvorgang dar, der zu einer Dienstleistung im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2011/7 führt, sofern dieses Geschäft zwischen Unternehmen oder zwischen Unternehmen und öffentlichen Stellen getätigt wird. Denn die von einem Gewerbetreibenden wie einer Versicherungsgesellschaft ausgeübte Versicherungstätigkeit ist eine wirtschaftliche Tätigkeit, d. h. eine Tätigkeit, die darin besteht, Güter oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt anzubieten (Urteil vom 27. Juni 2017, Congregación de Escuelas Pías Provincia Betania, C‑74/16, EU:C:2017:496, Rn. 45). Unter der Voraussetzung, dass sie vergütet wird, beinhaltet die Versicherungstätigkeit somit eine „Dienstleistung“ im Sinne von Art. 57 AEUV und folglich eine „Erbringung von Dienstleistungen“ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2011/7.
27 Die Zweifel des vorlegenden Gerichts betreffen im Wesentlichen die Frage, ob ein Versicherungsvertrag gegenseitige Verpflichtungen für die Parteien begründet, und insbesondere, ob die Leistung des Versicherers, die darin besteht, den Versicherten im Schadensfall zu entschädigen, im Hinblick auf Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2011/7 als gegen Zahlung der Versicherungsprämie als Entgelt erbracht angesehen werden kann. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass nach der polnischen Rechtsprechung und Lehre, der es folgen will, ein Versicherungsvertrag kein synallagmatischer Vertrag ist, in dessen Erfüllung eine Dienstleistung als Gegenleistung für die vom Versicherungsnehmer gezahlte Prämie erbracht wird.
28 Im Hinblick auf den Begriff „Geschäftsverkehr“ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2011/7 in der Auslegung durch den Gerichtshof ist die Verpflichtung des Versicherungsnehmers zur Prämienzahlung jedoch wirtschaftlich nur durch die Zusicherung der Entschädigung gerechtfertigt, die er als Gegenleistung vom Versicherer erhält, wenn ein Schadensfall eintritt. Unter diesen Umständen stellt die vom Versicherten gezahlte Prämie, auch wenn die Entschädigung angesichts der Ungewissheit des Eintritts dieses Schadensfalls weder sofort noch sicher sein sollte, die „wirtschaftliche Gegenleistung“ für die vom Versicherer erbrachte Leistung dar, die darin besteht, dem Versicherten während der Laufzeit des Versicherungsvertrags im Schadensfall eine Entschädigung zu garantieren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Juni 2017, Congregación de Escuelas Pías Provincia Betania, C‑74/16, EU:C:2017:496, Rn. 47).
29 Eine solche Auslegung kann nicht durch den achten Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/7 entkräftet werden, der Schadensersatzzahlungen einschließlich Zahlungen von Versicherungsgesellschaften vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausnimmt, ohne jedoch Versicherungsverträge zu erfassen (vgl. entsprechend Urteil vom 9. Juli 2020, RL [Richtlinie zur Bekämpfung von Zahlungsverzug], C‑199/19, EU:C:2020:548, Rn. 36 und 40). Diese Verträge fallen folglich in den Anwendungsbereich der Richtlinie.
30 Schließlich hat der Gerichtshof im Urteil vom 13. September 2018, Česká pojišťovna (C‑287/17, EU:C:2018:707), dem ein Vorabentscheidungsersuchen in einem Rechtsstreit über einen Antrag auf Ersatz von Beitreibungskosten aufgrund Zahlungsverzugs bei in Erfüllung eines zwischen zwei Unternehmen geschlossenen Versicherungsvertrags geschuldeten Versicherungsprämien zugrunde lag, durch die Beantwortung der vorgelegten Fragen indirekt bestätigt, dass zwischen zwei Unternehmen geschlossene Versicherungsverträge einen „Geschäftsvorgang“ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2011/7 implizieren und dass diese Verträge daher in den sachlichen Anwendungsbereich der Richtlinie fallen.
31 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2011/7 dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Geschäftsverkehr“ einen Versicherungsvertrag erfasst, durch den sich der Versicherer gegenüber einem Unternehmen verpflichtet, im Fall des Eintritts eines in dem Vertrag vorgesehenen Ereignisses eine bestimmte Leistung zu erbringen, und sich das Unternehmen gegenüber dem Versicherer zur Zahlung der Versicherungsprämie verpflichtet.
Zweite Frage
32 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/7 dahin auszulegen ist, dass der Versicherer im Rahmen eines Versicherungsvertrags bereits dann seine vertraglichen und gesetzlichen Verpflichtungen erfüllt, wenn er der anderen Partei Versicherungsschutz gewährt, unabhängig davon, ob er ihr im Fall des Eintritts des durch den Vertrag gedeckten Ereignisses eine Entschädigung zahlt.
33 Gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/7 in Verbindung mit ihrem 17. Erwägungsgrund muss im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen der Gläubiger Anspruch auf Verzugszinsen haben, ohne dass es einer Mahnung bedarf, wenn er „seine vertraglichen und gesetzlichen Verpflichtungen erfüllt“ hat.
34 Sowohl aus dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/7 als auch aus der Antwort auf die erste Frage ergibt sich, dass das bloße Bestehen eines Versicherungsschutzes ausreicht, um die vertraglichen und gesetzlichen Pflichten des Versicherers im Sinne dieser Bestimmung als erfüllt anzusehen.
35 Somit ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/7 dahin auszulegen ist, dass der Versicherer im Rahmen eines Versicherungsvertrags bereits dann seine vertraglichen und gesetzlichen Verpflichtungen im Sinne dieser Bestimmung erfüllt, wenn er der anderen Partei Versicherungsschutz gewährt, unabhängig davon, ob er ihr im Fall des Eintritts des durch den Vertrag gedeckten Ereignisses eine Entschädigung zahlt.
Kosten
36 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2011/7/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr
ist dahin auszulegen, dass
der Begriff „Geschäftsverkehr“ einen Versicherungsvertrag erfasst, durch den sich der Versicherer gegenüber einem Unternehmen verpflichtet, im Fall des Eintritts eines in dem Vertrag vorgesehenen Ereignisses eine bestimmte Leistung zu erbringen, und sich das Unternehmen gegenüber dem Versicherer zur Zahlung der Versicherungsprämie verpflichtet.
2. Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/7
ist dahin auszulegen, dass
der Versicherer im Rahmen eines Versicherungsvertrags bereits dann seine vertraglichen und gesetzlichen Verpflichtungen im Sinne dieser Bestimmung erfüllt, wenn er der anderen Partei Versicherungsschutz gewährt, unabhängig davon, ob er ihr im Fall des Eintritts des durch den Vertrag gedeckten Ereignisses eine Entschädigung zahlt.
Unterschriften