Vorläufige Fassung
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
NICHOLAS EMILIOU
vom 4. Mai (1)
Rechtssache C‑294/22
Office français de protection des réfugiés et apatrides (OFPRA)
gegen
SW
(Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d’État [Staatsrat, Frankreich])
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Asyl – Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutzstatus – Richtlinie 2011/95/EU – Voraussetzungen, die Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beantragen, erfüllen müssen – Staatenlose palästinensischer Herkunft, die den Beistand des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East, UNRWA) in Anspruch genommen haben – Art. 12 Abs. 1 Buchst. a – Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling – Wegfall des Schutzes oder Beistands des UNRWA – Voraussetzungen, um ipso facto den Schutz der Richtlinie 2011/95 zu genießen – Bedeutung der Wendung ‚[w]ird ein solcher Schutz oder Beistand aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt‘“
I. Einleitung
1. SW, der Kläger des Ausgangsverfahrens, ist ein im Libanon geborener Staatenloser palästinensischer Herkunft, der unter dem Schutz des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East, UNRWA) steht. Er hat den Libanon aufgrund seines kritischen Gesundheitszustands verlassen und beantragt in Frankreich Asyl mit der Begründung, dass ihm der Schutz oder Beistand des UNRWA „nicht länger gewährt“ werde, da es ihm im Libanon unmöglich sei, die für ihn lebensnotwendige medizinische Versorgung und Behandlung zu erhalten(2).
2. In diesem Zusammenhang ist der Gerichtshof aufgerufen, Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95/EU(3) erneut auszulegen(4). Insbesondere bietet sich ihm die Gelegenheit, zu klären, ob und gegebenenfalls unter welchen Umständen davon auszugehen ist, dass einem Staatenlosen palästinensischer Herkunft, der sich im Einsatzgebiet des UNRWA in einer Lage befindet, in der er die benötigte medizinische Versorgung nicht erhalten kann, der Schutz oder Beistand des UNRWA im Sinne dieser Bestimmung „nicht länger gewährt“ wird, so dass er als Flüchtling ipso facto den Schutz der Richtlinie genießt.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Völkerrecht
1. Genfer Konvention
3. Art. 1 Abschnitt D der Genfer Konvention(5) bestimmt:
„Dieses Abkommen findet keine Anwendung auf Personen, die zurzeit den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge genießen.
Ist dieser Schutz oder diese Unterstützung aus irgendeinem Grunde weggefallen, ohne dass das Schicksal dieser Personen endgültig gemäß den hierauf bezüglichen Entschließungen der Generalversammlung der Vereinten Nationen geregelt worden ist, so fallen diese Personen ipso facto unter die Bestimmungen dieses Abkommens.“
2. Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen zum UNRWA
4. Das UNRWA wurde mit der Resolution Nr. 302 (IV) der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 8. Dezember 1949 errichtet. Sein Mandat wurde regelmäßig verlängert; sein gegenwärtiges Mandat endet am 30. Juni 2023. Das Einsatzgebiet des UNRWA umfasst den Libanon, Syrien, Jordanien, das Westjordanland (einschließlich Ostjerusalem) und den Gazastreifen.
5. In Anbetracht der Natur seiner Tätigkeit ist das UNRWA als „Organisation oder … Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge“ im Sinne von Art. 1 Abschnitt D der Genfer Konvention anzusehen.
6. Gemäß der Resolution Nr. 74/83 der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2019 muss das UNRWA bei seinen Tätigkeiten „das Wohlergehen, den Schutz und die menschliche Entwicklung der palästinensischen Flüchtlinge“ berücksichtigen. Darüber hinaus leistet es „Hilfe zur Deckung der Grundbedürfnisse in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Wohnen“.
B. Recht der Europäischen Union
7. Der 15. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 lautet:
„Diejenigen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, die in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten verbleiben dürfen, nicht weil sie internationalen Schutz benötigen, sondern aus familiären oder humanitären Ermessensgründen, fallen nicht unter diese Richtlinie.“
8. Art. 12 („Ausschluss“) der Richtlinie sieht vor:
„(1) Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser ist von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen, wenn er
a) den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge gemäß Artikel 1 Abschnitt D der Genfer [Konvention] genießt. Wird ein solcher Schutz oder Beistand aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist, genießt er ipso facto den Schutz dieser Richtlinie;
…“
C. Nationales Recht
9. Die Richtlinie 2011/95 wurde durch die Loi no 2015-925 du 29 juillet 2015 relative à la réforme du droit d’asile (Gesetz Nr. 2015-925 vom 29. Juli 2015 über die Reform des Asylrechts) (JORF Nr. 0174 vom 30. Juli 2015) und das Décret no 2015-1166 du 21 septembre 2015 pris pour l’application de la loi no 2015-925 du 29 juillet 2015 relative à la réforme du droit d’asile (Dekret Nr. 2015-1166 vom 21. September 2015 zur Durchführung des Gesetzes Nr. 2015-925 vom 29. Juli 2015 über die Reform des Asylrechts) (JORF Nr. 0219 vom 22. September 2015) in französisches Recht umgesetzt.
10. Mit dem Gesetz Nr. 2015-925 vom 29. Juli 2015 über die Reform des Asylrechts wurde Art. L711‑3 in den Code de l’entrée et du séjour des étrangers et du droit d’asile (Gesetz über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und über das Asylrecht) eingefügt. In Abs. 1 dieses Artikels in der auf den Rechtsstreit anwendbaren Fassung heißt es:
„Einer Person, die unter eine der Ausschlussklauseln in Artikel 1 Abschnitt D, E oder F der … Genfer Konvention vom 28. Juli 1951 fällt, wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt.“
III. Sachverhalt, nationales Verfahren und Vorlagefragen
11. SW ist ein Staatenloser palästinensischer Herkunft. Er wurde 1976 im Libanon geboren und lebte bis Februar 2019 in diesem Land, das zu den Einsatzgebieten des UNRWA gehört. Er ist beim UNRWA registriert und hat somit Anspruch auf Schutz und Beistand durch dieses Hilfswerk. Er verließ den Libanon im Februar 2019 und reiste im August 2019 in Frankreich ein, wo er Asyl beantragte.
12. Der Asylantrag von SW wurde mit Bescheid des Office Français de Protection des Réfugiés et des Apatrides (Französisches Amt für den Schutz von Flüchtlingen und Staatenlosen, Frankreich, im Folgenden: OFPRA) vom 11. Oktober 2019 abgelehnt; darin wurde ihm die Zuerkennung sowohl der Flüchtlingseigenschaft als auch des subsidiären Schutzstatus verweigert.
13. SW erhob dagegen Klage bei der Cour nationale du droit d’asile (Nationales Gericht für Asylsachen, Frankreich, im Folgenden: CNDA). Die CNDA erachtete folgende Tatsachen für relevant:
– SW leidet schon sein ganzes Leben lang an einer schweren Form der Thalassämie, einer genetisch bedingten Störung der Hämoglobinproduktion, die u. a. regelmäßige Bluttransfusionen erfordert.
– Als Heranwachsender war SW aufgrund seines Gesundheitszustands zunehmend auf Bluttransfusionen angewiesen. Das UNRWA wies ihn in ein Krankenhaus des Palästinensischen Roten Kreuzes ein, wo er jedoch nach seinen Angaben keine angemessene medizinische Versorgung erhalten konnte. SW entschied daher, stattdessen auf Transfusionen von Blut seines Vaters zurückzugreifen.
– Im Jahr 2014 verstarb sein Vater, der ihn bis dahin mit Blut für die für ihn lebensnotwendigen Transfusionen versorgt hatte. Seitdem griff SW auf Transfusionen von Blut kompatibler, von ihm selbst angeworbener Spender zurück.
– Ein Arzt teilte ihm mit, dass er, um Komplikationen seiner Erkrankung für seine Leber und sein Herz zu vermeiden, ein bestimmtes Medikament einnehmen müsse, das er weder vom UNRWA – mangels ausreichender Mittel – noch von einer palästinensischen Hilfsorganisation – da er keiner palästinensischen politischen Partei angehörte – erhalten konnte.
– SW hatte nicht genügend Geld, um von einer anderen Stelle medizinische Hilfe zu erhalten, und war nicht in der Lage, sich dieses Medikament zu beschaffen.
14. Durch Entscheidung der CNDA vom 9. Dezember 2020 wurde SW die Flüchtlingseigenschaft mit der Begründung zuerkannt, dass das UNRWA ihm keinen ausreichenden Zugang zu der aufgrund seines Gesundheitszustands erforderlichen spezialisierten medizinischen Versorgung habe bieten können. Das UNRWA habe ihm zudem keine Lebensbedingungen zu gewährleisten vermocht, die mit der Aufgabe des Hilfswerks im Einklang gestanden hätten, und habe ihn in eine sehr unsichere persönliche Lage gebracht. Daher sei davon auszugehen, dass SW gezwungen gewesen sei, den Libanon zu verlassen.
15. Das OFPRA hat gegen diese Entscheidung ein Rechtsmittel beim Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) eingelegt und gerügt, erstens habe die CNDA nicht geprüft, ob SW den Libanon verlassen habe, weil er aufgrund von Bedrohungen seiner Sicherheit gezwungen gewesen sei, das Einsatzgebiet des UNRWA zu verlassen, zweitens habe sie einen Rechtsfehler begangen, indem sie aus der Tatsache, dass das UNRWA nicht in der Lage gewesen sei, die medizinische Versorgung von SW zu bezahlen oder anderweitig zu gewährleisten, geschlossen habe, dass der wirksame Schutz oder Beistand dieser Organisation nicht länger gewährt worden sei, und drittens habe sie einen weiteren Rechtsfehler begangen, indem sie die Übernahme der Kosten für die spezialisierte medizinische Versorgung(6) zu den Aufgaben des UNRWA gezählt habe. Ferner sei nicht erwiesen, dass SW im Libanon keine angemessene medizinische Versorgung habe erhalten können.
16. Der Conseil d’État (Staatsrat) hat darauf hingewiesen, dass nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 eine Person von der Flüchtlingseigenschaft ausgeschlossen sei, wenn sie unter Art. 1 Abschnitt D der Genfer Konvention falle – was auf einen Staatenlosen palästinensischer Herkunft, der den Schutz oder Beistand des UNRWA in Anspruch genommen habe, zutreffe, es sei denn, dieser werde „nicht länger gewährt“. Unter Berufung auf das Urteil Abed El Karem El Kott u. a. hat er ausgeführt, dies sei der Fall, wenn die Person gezwungen sei, das Einsatzgebiet des UNRWA zu verlassen, weil sie sich in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befinde und es dem UNRWA unmöglich sei, für sie Lebensbedingungen zu gewährleisten, die mit der ihm übertragenen Aufgabe im Einklang stünden.
17. Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 – unabhängig von den Bestimmungen des nationalen Rechts, die unter bestimmten Voraussetzungen den Aufenthalt eines Ausländers aufgrund seines Gesundheitszustands erlauben und ihn gegebenenfalls vor einer Abschiebung schützen – dahin auszulegen, dass im Fall eines kranken Staatenlosen palästinensischer Herkunft, der, nachdem er den Schutz oder Beistand des UNRWA tatsächlich in Anspruch genommen hat, den Staat oder das Gebiet, der oder das zum Einsatzgebiet dieser Organisation gehört und in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, mit der Begründung verlässt, dass er dort keinen ausreichenden Zugang zu der aufgrund seines Gesundheitszustands erforderlichen Versorgung und Behandlung hat und dass dieser Mangel eine tatsächliche Gefahr für sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit mit sich bringt, davon ausgegangen werden kann, dass seine persönliche Lage sehr unsicher ist und er sich in einer Situation befindet, in der es dem UNRWA unmöglich ist, für ihn Lebensbedingungen zu gewährleisten, die mit der dem UNRWA übertragenen Aufgabe im Einklang stehen?
2. Falls dies bejaht wird, anhand welcher Kriterien – z. B. in Bezug auf die Schwere der Erkrankung oder die Art der erforderlichen Versorgung – lässt sich eine solche Situation ermitteln?
18. Das Vorabentscheidungsersuchen vom 22. März 2022 ist am 3. Mai 2022 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen. SW, die belgische und die französische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. SW, die französische Regierung und die Kommission waren in der mündlichen Verhandlung vom 26. Januar 2023 vertreten.
IV. Analyse
19. Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95, mit dem der Inhalt von Art. 1 Abschnitt D der Genfer Konvention umgesetzt und in das Unionsrecht integriert wird(7), enthält sowohl eine Ausschlussklausel als auch eine Einschlussklausel(8).
20. Zum einen sieht diese Vorschrift vor, dass eine Person, die in den Anwendungsbereich von Art. 1 Abschnitt D der Genfer Konvention fällt – im konkreten Fall, weil es sich um einen Staatenlosen palästinensischer Herkunft handelt, der den Schutz oder Beistand des UNRWA genießt –, von der Anerkennung als „Flüchtling“ im Rahmen der Richtlinie 2011/95 ausgeschlossen ist, ebenso wie sie von der Anerkennung als „Flüchtling“ nach der Genfer Konvention ausgeschlossen ist(9).
21. Zum anderen genießt eine solche Person, wenn davon ausgegangen werden kann, dass dieser Schutz oder Beistand „nicht länger gewährt“ wird, „ipso facto den Schutz“ der Richtlinie (ebenso wie sie ipso facto den Schutz der Genfer Konvention genießt). Aus dieser lex specialis ergibt sich, dass die Ausschlussklausel von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 auf einen Staatenlosen palästinensischer Herkunft nur dann nicht mehr anwendbar ist, wenn davon ausgegangen werden kann, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA „nicht länger gewährt“ wird. Sofern dies der Fall ist, ist die betreffende Person als „Flüchtling“ im Sinne der Richtlinie anzusehen – und gelangt „von Rechts wegen“ in den Genuss ihrer für Flüchtlinge geltenden Regelung(10) –, ohne die für andere Asylbewerber geltenden Voraussetzungen erfüllen zu müssen(11). Wie Generalanwalt Mengozzi in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Alheto(12) ausgeführt hat, sind Personen, die unter Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 fallen, von der internationalen Gemeinschaft bereits als Flüchtlinge anerkannt. Der Grund für die Anwendbarkeit der Ausschlussklausel dieser Bestimmung auf sie besteht darin, dass sie bereits in den Genuss eines einer Einrichtung oder Organisation der Vereinten Nationen (konkret dem UNRWA) übertragenen besonderen Schutzprogramms kommen.
22. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Einschlussklausel von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 auf einen Staatenlosen palästinensischer Herkunft Anwendung finden kann, der unter dem Schutz oder Beistand des UNRWA stand und in dessen Einsatzgebiet keinen Zugang zu der aufgrund seines Gesundheitszustands erforderlichen medizinischen Behandlung erhalten konnte. Mit der zweiten Frage, deren Beantwortung von der Antwort des Gerichtshofs auf die erste Frage abhängt, wird um nähere Angaben zu den Kriterien ersucht, anhand deren die nationalen Gerichte ermitteln müssen, in welchen Situationen diese Klausel tatsächlich anwendbar ist.
23. Ich werde die beiden Fragen nacheinander behandeln.
A. Zur ersten Frage: Kommt die Anwendung der Einschlussklausel in Betracht?
24. Bevor ich das mit der ersten Frage aufgeworfene Problem analysiere, möchte ich einige Vorbemerkungen kontextueller Natur zur außergewöhnlichen rechtlichen Situation von Staatenlosen palästinensischer Herkunft machen, die den Schutz oder Beistand des UNRWA in Anspruch genommen haben.
1. Die außergewöhnliche rechtliche Situation von Staatenlosen palästinensischer Herkunft, die den Schutz oder Beistand des UNRWA in Anspruch genommen haben
25. Derzeit steht – obwohl Art. 1 Abschnitt D der Genfer Konvention weit gefasst ist(13) – fest, dass die Ausschlussklausel in dieser Bestimmung – deren Spiegelbild die Klausel in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 ist – nur für Personen unter dem Schutz oder Beistand des UNRWA gilt, d. h. für Staatenlose palästinensischer Herkunft, die sich in seinem Einsatzgebiet befinden und seinen Schutz oder Beistand tatsächlich in Anspruch genommen haben.
26. Für diese Personen gilt eine Sonderregelung, da sie als einzige Personengruppe durch die genannten Bestimmungen von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der Konvention und der Richtlinie ausgeschlossen werden.
27. Wie Generalanwältin Sharpston ausgeführt hat(14), entstand Art. 1 Abschnitt D der Genfer Konvention vor einem besonderen Hintergrund. Er wurde kurz nach dem israelisch-arabischen Konflikt von 1948 konzipiert, um u. a. einen Massenexodus aus dem geografischen Gebiet des früheren Palästina zu verhindern und eine Überschneidung der Befugnisse des UNHCR und des UNRWA zu vermeiden(15). Der Ausschluss von Staatenlosen palästinensischer Herkunft aus der Konvention wurde damit begründet, dass sie in den Genuss eines angemessenen und gleichwertigen Schutzes durch das UNRWA in dessen Einsatzgebiet kommen sollten und als solche im Prinzip keinen Grund hatten, den Schutz der Konvention in Anspruch zu nehmen(16).
28. Überdies war die besondere Behandlung von Staatenlosen palästinensischer Herkunft ursprünglich nur für begrenzte Zeit gedacht. Mit Art. 1 Abschnitt D der Genfer Konvention sollte sichergestellt werden, dass solche Staatenlosen so lange Schutz genießen, bis ihre Lage im Einklang mit den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt wurde(17). Eine Lösung dafür ist jedoch bislang nicht gefunden worden. Aus diesem Grund ist Art. 1 Abschnitt D der Genfer Konvention nach wie vor in Kraft und wird in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 inhaltlich übernommen.
29. Im Anschluss an diese Klarstellungen möchte ich darauf hinweisen, dass die Sonderregelung für Staatenlose palästinensischer Herkunft im Kontext der Anwendung der Richtlinie 2011/95 nur die Möglichkeit betrifft, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, nicht aber subsidiären Schutz(18).
30. Vor diesem Hintergrund weise ich darauf hin, dass nach der Genfer Konvention und der Richtlinie 2011/95 den Personen, denen durch sie die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, von ihrem Aufnahmestaat und/oder dem Mitgliedstaat eine Reihe von Rechten zu gewähren sind. Diese Rechte müssen denselben Umfang aufweisen wie die den eigenen Staatsangehörigen oder zumindest wie die den Ausländern in diesem Staat oder Mitgliedstaat gewährten Rechte(19). So sieht Art. 30 der Richtlinie 2011/95 in Bezug auf die medizinische Versorgung vor, dass „Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist“, d. h. sowohl „Flüchtlinge“ als auch „Personen, denen subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist“, im Sinne der Richtlinie, zu denselben Bedingungen wie Staatsangehörige der Mitgliedstaaten Zugang zu medizinischer Versorgung haben.
31. Staatenlose palästinensischer Herkunft, die den Schutz oder Beistand des UNRWA in Anspruch genommen haben, können sich aufgrund ihrer speziellen rechtlichen Situation so lange nicht auf diese Bestimmung berufen, bis feststeht, dass ihnen der Schutz oder Beistand des UNRWA im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie „nicht länger gewährt“ wird, oder bis ihnen subsidiärer Schutz gewährt wird.
2. Wann ist der Schutz oder Beistand des UNRWA als „nicht länger gewährt“ zu betrachten: Rechtsprechung des Gerichtshofs
32. Der Gerichtshof hat bereits mehrere Fragen zur Auslegung von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 geklärt. Insbesondere hat er ausgeführt, dass der „Schutz oder Beistand“ des UNRWA im Sinne dieser Bestimmung immer dann als „nicht länger gewährt“ zu betrachten ist, wenn es für das UNRWA unmöglich ist, seine Aufgabe zu erfüllen(20). Wie sich aus Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie selbst ergibt, reicht es insoweit aus, dass dies „aus irgendeinem Grund“ der Fall ist.
33. Zur Bedeutung dieses Ausdrucks („aus irgendeinem Grund“) hat der Gerichtshof ausgeführt, dass er nicht nur auf das UNRWA unmittelbar betreffende Ereignisse abstellt (z. B. dessen Auflösung). Der Grund, aus dem der Schutz oder Beistand nicht länger gewährt wird, kann darüber hinaus auch auf Umständen beruhen, die, da sie vom Willen des Betroffenen unabhängig sind, ihn dazu gezwungen haben, das Einsatzgebiet des UNRWA zu verlassen(21).
34. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof ferner darauf hingewiesen, dass eine Person gezwungen ist, das Einsatzgebiet des UNRWA zu verlassen, wenn eine Einzelfallprüfung aller relevanten Umstände(22) klar ergibt, dass sie sich in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet (erstes Kriterium), und wenn es dem UNRWA unmöglich ist, für sie in diesem Gebiet Lebensbedingungen zu gewährleisten, die mit der ihm übertragenen Aufgabe im Einklang stehen (zweites Kriterium)(23).
35. Alle Parteien des Ausgangsverfahrens und Beteiligten am vorliegenden Verfahren sind sich darin einig, dass die Situation im Ausgangsverfahren anhand dieser beiden Kriterien zu beurteilen ist, um festzustellen, ob SW der Schutz oder Beistand des UNRWA im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 „nicht länger gewährt“ wird und ob ihm daher die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Ich möchte darauf hinweisen, dass das vorlegende Gericht in seiner ersten Frage dieselben Kriterien als die dafür relevanten Maßstäbe nennt.
3. Anwendung der Einschlussklausel auf Fälle, in denen keine Möglichkeit des Zugangs zu medizinischer Behandlung im Einsatzgebiet des UNRWA besteht
a) Erstes Kriterium: sehr unsichere persönliche Lage
36. Meines Erachtens ist klar, dass das erste Kriterium, nämlich die Frage, ob sich eine Person in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet, in bestimmten Fällen, in denen es für sie unmöglich ist, im Einsatzgebiet des UNRWA Zugang zu medizinischer Behandlung zu erhalten, erfüllt sein kann.
37. In diesem Zusammenhang kann ich ohne Weiteres nachvollziehen, dass es bei der „Sicherheit der persönlichen Lage“ auf den ersten Blick eher um Situationen einer externen als einer inneren Bedrohung für eine Person geht. Der Gedanke an eine sehr unsichere persönliche Lage fällt leichter im Fall einer Naturkatastrophe (etwa einer Überschwemmung oder einem Erdbeben) oder in einer Situation wie der von der belgischen und der französischen Regierung angeführten, in der ein Schaden absichtlich von einer anderen Person, Organisation oder Macht zugefügt wird(24), als dann, wenn die Hauptursache für den Schaden einer Person eine natürlich auftretende Erkrankung ist. Meines Erachtens und nach Auffassung der Kommission können darunter jedoch auch innere Gegebenheiten fallen, also Situationen, in denen eine Person unter etwas leidet, das nicht absichtlich zugefügt oder von außen bewirkt wird, sondern natürlich auftritt und durch externe Faktoren (z. B. die Tatsache, dass das UNRWA nicht in der Lage ist, akzeptable materielle Bedingungen zu gewährleisten oder eine angemessene medizinische Versorgung bereitzustellen), nur verschlimmert wird(25).
38. Der Gerichtshof hat bereits darauf hingewiesen, dass die persönliche Lage als sehr unsicher betrachtet werden kann, wenn eine Person geltend macht, dass sie aufgrund einer angeborenen schweren Behinderung nicht in den Genuss einer ihren Bedürfnissen entsprechenden Ausbildung oder medizinischen Versorgung kommen kann(26). Auf die „Sicherheit der persönlichen Lage“ wurde daher bereits in Fällen abgestellt, in denen die primäre oder ursprüngliche Ursache für die Schädigung einer Person nicht von außen kommt, sondern mit einer angeborenen oder, allgemeiner formuliert, natürlich vorkommenden Behinderung oder Erkrankung zusammenhängt und dieser Person innewohnt(27), während nur die Ursache für die Verschlimmerung des Schadens – der fehlende Zugang zu medizinischer Versorgung oder Behandlung – mit Umständen zusammenhängt, die aus der Sicht des Betroffenen externer Natur sind(28).
39. Insofern ist klar, dass die primäre Ursache für den Schaden der Person nicht nur rein innerer Natur sein kann, sondern, allgemeiner formuliert, auch, dass der externe Grund für die Verschlimmerung des Schadens (d. h. der externe Grund, aus dem die Person im Einsatzgebiet des UNRWA keinen Zugang zu der erforderlichen medizinischen Versorgung oder Behandlung erhalten kann) unerheblich ist. Dieser Zugang kann absichtlich verwehrt worden sein, oder die erforderliche medizinische Versorgung oder Behandlung kann schlicht wegen fehlender materieller Ressourcen oder finanzieller Mittel des UNRWA oder aufgrund einer anderen Ursache nicht länger zur Verfügung stehen (wiederum mit Ausnahme derjenigen Ursachen, auf die der Betroffene Einfluss hat und die nicht von außen auf ihn einwirken). Entgegen dem Vorbringen der belgischen und der französischen Regierung bedarf es nicht des Nachweises, dass das UNRWA oder der Staat, in dessen Gebiet es tätig ist, dem Betroffenen mit Absicht, durch Tun oder Unterlassen, Schaden zugefügt hat, indem sie ihm die erforderliche medizinische Versorgung vorenthalten haben(29). Dies ist keine notwendige Voraussetzung(30).
40. Über das Vorliegen von Bedrohungen für die Sicherheit der persönlichen Lage hinaus müssen selbstverständlich zwei weitere Voraussetzungen erfüllt sein. Erstens müssen die Bedrohungen so beschaffen sein, dass von einer „sehr unsicheren“ persönlichen Lage ausgegangen werden kann, und zweitens muss der Schaden, den die Person erleiden würde, wenn sie im Einsatzgebiet des UNRWA bliebe, schwerwiegend sein (andernfalls kann nicht davon ausgegangen werden, dass solche Bedrohungen stark genug sind, um die „Sicherheit der persönlichen Lage“ zu beeinträchtigen). Bei der ersten dieser Voraussetzungen, dem Vorliegen einer „sehr unsicheren“ persönlichen Lage, scheint mir klar zu sein, dass sich der Begriff „sehr unsicher“ auf das tatsächliche Vorliegen der Gefahr dafür bezieht, dass die Bedrohungen für die Sicherheit der persönlichen Lage tatsächlich eintreten und die persönliche Sicherheit des Betroffenen beeinträchtigen werden, wenn er im Einsatzgebiet des UNRWA bleibt. Klarstellend sei hinzugefügt, dass ich dem Kläger des Ausgangsverfahrens zustimme, dass die Bedrohungen nicht nur hypothetisch sein dürfen. Sie müssen real genug sein, um eine sehr unsichere persönliche Lage der betreffenden Person herbeizuführen.
41. Was die zweite dieser Voraussetzungen betrifft, die darin besteht, ob der erlittene Schaden so schwerwiegend ist, dass davon ausgegangen werden kann, dass die Bedrohungen die „Sicherheit der persönlichen Lage“ beeinträchtigen, so werde ich die hierfür erforderliche Schwelle weiter unten in meiner Antwort auf die zweite Frage näher erläutern. An dieser Stelle will ich nur sagen, dass meines Erachtens zumindest einige den fehlenden Zugang zu erforderlicher medizinischer Behandlung betreffende Fälle, insbesondere solche, in denen sich der Betroffene ohne die Behandlung in einer lebensbedrohlichen Situation befindet, diese Schwelle des schwerwiegenden Schadens erreichen.
42. Insoweit weise ich darauf hin, dass die Kommission in der Situation von SW ein Beispiel für solche Fälle sieht. Wie ausgeführt, leidet SW an einer schweren genetischen Störung. Vorbehaltlich der Überprüfung durch die nationalen Gerichte ist davon auszugehen – und wird von den Parteien des Ausgangsverfahrens auch nicht bestritten –, dass sich seine Lebenserwartung und seine Überlebenschancen erheblich verringern, wenn er keinen Zugang zu der erforderlichen medizinischen Behandlung erhält. Unter solchen Umständen ist der erlittene Schaden mit Sicherheit als schwerwiegend anzusehen.
43. Nachdem ich diese Klarstellungen vorgenommen und erläutert habe, warum ich der Auffassung bin, dass sich eine Person in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befinden kann, wenn sie geltend macht, dass sie im Einsatzgebiet des UNRWA keinen Zugang zu der ihren Bedürfnissen entsprechenden medizinischen Unterstützung erhalten kann, möchte ich zwei weitere Bemerkungen machen.
44. Erstens bin ich – wiederum entgegen dem Vorbringen der belgischen und der französischen Regierung – der Ansicht, dass die Bejahung einer sehr unsicheren persönlichen Lage nicht die Prüfung erfordert, ob bei einer Person wie SW eine „begründete Furcht vor Verfolgung“ oder eine „tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden“, im Sinne von Art. 5 Abs. 1 und Art. 6 der Richtlinie 2011/95 vorliegt. Das Erfordernis einer sehr unsicheren persönlichen Lage hängt, wie die Kommission erläutert hat, nicht mit dem Vorliegen einer solchen begründeten Furcht vor Verfolgung oder einer tatsächlichen Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, im Sinne dieser Bestimmungen zusammen, die u. a. nur die Verfolgung oder ernsthafte Schädigung durch bestimmte Akteure betreffen.
45. Andernfalls könnte ein Staatenloser palästinensischer Herkunft wie SW nur dann unter die Einschlussklausel von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie fallen, wenn er nachweist, dass er dieselben Voraussetzungen erfüllt wie Personen, die nicht unter diese Bestimmung fallen. Dies würde die in ihr enthaltene lex specialis ihres Sinns berauben, wonach eine Person, die unter diese Bestimmung fällt, ipso facto in den Genuss des Status als „Flüchtling“ kommt, wenn sie nachweisen kann, dass ihr der Schutz oder Beistand des UNRWA „nicht länger gewährt“ wird, ohne dass sie die nur für andere Asylbewerber geltenden allgemeinen Voraussetzungen der Richtlinie erfüllen muss(31). Außerdem würden diese beiden völlig gesonderten Rechtsfragen im Wesentlichen miteinander verschmolzen.
46. Zweitens möchte ich klarstellen, dass für die Bejahung einer sehr unsicheren persönlichen Lage einer Person nicht systematisch geprüft zu werden braucht, ob eine solche Lage für sie in jedem der Einsatzgebiete des UNRWA besteht. Dies wäre völlig unangebracht. Vielmehr sind nur alle Operationsgebiete des Einsatzgebiets des UNRWA zu berücksichtigen, für die eine konkrete Möglichkeit des Betroffenen besteht, einzureisen und sich in Sicherheit aufzuhalten(32).
b) Zweites Kriterium: Ist es dem UNRWA unmöglich geworden, zu gewährleisten, dass die Lebensbedingungen der betreffenden Person in seinem Einsatzgebiet mit der ihm übertragenen Aufgabe im Einklang stehen?
47. Zum zweiten Kriterium, d. h. der Frage, ob es dem UNRWA unmöglich geworden ist, zu gewährleisten, dass die Lebensbedingungen der betreffenden Person in seinem Einsatzgebiet mit der ihm übertragenen Aufgabe im Einklang stehen, stelle ich fest, dass sich die zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens und den Beteiligten am vorliegenden Verfahren ausgetauschten Argumente auf die Frage konzentriert haben, was unter der „Aufgabe“ des UNRWA im Allgemeinen (1) und speziell in Bezug auf medizinische oder gesundheitliche Bedürfnisse (2) zu verstehen ist.
48. Die französische Regierung ist insoweit der Ansicht, dass die Aufgabe des UNRWA nur die primäre medizinische Grundversorgung umfasse, nicht aber spezialisierte und komplexere medizinische Behandlungen, wie SW sie benötige. Ihrer Ansicht nach kann nicht davon ausgegangen werden, dass das UNRWA seine Aufgabe im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 nicht länger erfüllt, wenn es einem Staatenlosen palästinensischer Herkunft unmöglich ist, Zugang zu medizinischen Behandlungen zu erlangen, die relativ selten und/oder komplex sind und über eine solche medizinische Grundversorgung hinausgehen.
49. Ich werde nachfolgend erläutern, warum ich anderer Auffassung bin.
1) Die Aufgabe des UNRWA im Allgemeinen
50. Zunächst möchte ich daran erinnern, dass das UNRWA hauptsächlich durch freiwillige Beiträge der UN-Mitgliedstaaten finanziert wird. Infolgedessen variiert seine operative Kapazität je nach den regelmäßigen Beschlüssen dieser Mitgliedstaaten, die sich abhängig von Haushaltszwängen und einer Vielzahl anderer Faktoren im Lauf der Zeit natürlich ändern können. Meiner Ansicht nach bedeutet dies jedoch nicht, dass sich mit dieser operativen Kapazität zugleich die Aufgabe des UNRWA als solche ändert. Beides unterscheidet sich erheblich voneinander: Die „operative Kapazität“ bezieht sich auf die zur Verfügung stehenden „Mittel“, während die „Aufgabe“ den „Hauptzweck“ (oder die Raison d’être) des UNRWA betrifft. Allgemein gesagt können sich zwar die für eine Tätigkeit verfügbaren Mittel oft ändern, aber der Hauptzweck sollte gewissermaßen beständig und von Dauer sein.
51. Meines Erachtens wollte der Gerichtshof auf diesen beständigen und dauerhaften Hauptzweck oder die Raison d’être des UNRWA abstellen, als er auf die „Aufgabe“ des UNRWA als relevanten Gesichtspunkt für die Klärung der Frage Bezug nahm, ob es dem UNRWA unmöglich geworden ist, zu gewährleisten, dass die Lebensbedingungen der betreffenden Person in seinem Einsatzgebiet mit der ihm übertragenen Aufgabe im Einklang stehen, und ob folglich die Einschlussklausel von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 zum Tragen kommt. Ob dem UNRWA ausreichende materielle Mittel zur Verfügung stehen und welche operative Kapazität es hat, hat nichts mit dem Umfang der Aufgabe als solcher zu tun, sondern damit, ob es dem Hilfswerk (un)möglich ist, diese Aufgabe zu erfüllen.
52. Vor diesem Hintergrund weise ich auf den von der Kommission angeführten Umstand hin, dass die Aufgabe des UNRWA (d. h. sein Hauptzweck) nicht in einem Statut festgelegt ist, sondern sich aus den einschlägigen Resolutionen der UN-Generalversammlung ergibt. Seine Aufgabe lässt sich daher nicht einer Quelle allein entnehmen. Überdies sind die verschiedenen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen insoweit recht weit gefasst. So soll gemäß der Resolution Nr. 74/83 der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2019 das UNRWA „für das Wohlergehen, den Schutz und die menschliche Entwicklung der palästinensischen Flüchtlinge“ im Allgemeinen tätig werden.
53. Auf diese Formulierung hat sich der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung gestützt, in der er ausgeführt hat, dass das UNRWA gegründet wurde, um die bei ihm registrierten Personen zu schützen und ihnen beizustehen, „damit ihrem Wohlergehen als Flüchtling[e] gedient ist“(33).
54. Der Gerichtshof hat hinzugefügt, dass nach mehreren Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen das der Sonderregelung für Staatenlose palästinensischer Herkunft zugrunde liegende Ziel darin besteht, die Fortdauer des Schutzes dieser Personengruppe mittels eines tatsächlichen Schutzes oder Beistands zu gewährleisten, und zwar nicht nur durch die Bestandssicherung einer mit der Gewährung dieses Beistands oder Schutzes betrauten Organisation oder Institution(34). Somit sieht der Gerichtshof die Aufgabe des UNRWA offenbar darin, den dort registrierten Personen tatsächlichen (und nicht nur abstrakten) Schutz oder Beistand zu gewähren, um ihr „Wohlergehen“ zu fördern.
55. Im Licht dieser Erwägungen werde ich nun speziell prüfen, was in Bezug auf die medizinischen oder gesundheitlichen Bedürfnisse dieser Personen zur „Aufgabe“ des UNRWA gehört.
2) Die Aufgabe des UNRWA speziell in Bezug auf medizinische oder gesundheitliche Bedürfnisse
56. Da die Aufgabe des UNRWA, den bei ihm registrierten Personen tatsächlichen Schutz oder Beistand zu gewähren, nicht genau definiert ist und nicht aus einer Quelle allein abgeleitet werden kann, hat der Gerichtshof die Parteien und die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung aufgefordert, nähere Angaben dazu zu machen, worin die Aufgabe des UNRWA in Bezug auf die medizinischen oder gesundheitlichen Bedürfnisse solcher Personen besteht.
57. Alle Parteien und Beteiligten haben in ihren Antworten auf die Resolution Nr. 74/83 der UN-Generalversammlung vom 13. Dezember 2019 verwiesen, der sie entnehmen, dass die Aufgabe des UNRWA in der tatsächlichen „Hilfe zur Deckung der Grundbedürfnisse [im Bereich der] Gesundheit“ bestehe. Sie waren jedoch unterschiedlicher Auffassung über die Bedeutung dieser Begriffe.
58. Zum einen hat der Kläger des Ausgangsverfahrens, dem die Kommission zustimmt, hervorgehoben, dass es nicht darauf ankomme, ob eine bestimmte Art von medizinischer Behandlung generell zur Aufgabe des UNRWA gehöre oder nicht. Es bedürfe eines zweckorientierten Ansatzes, bei dem stattdessen auf den Grad des den Staatenlosen palästinensischer Herkunft im Einsatzgebiet des UNRWA zu gewährenden Schutzes oder Beistands abzustellen und in jedem Einzelfall zu prüfen sei, ob den speziellen medizinischen oder gesundheitlichen Bedürfnissen der betreffenden Person nach diesen Maßstäben genügt werde. Die Art der medizinischen Behandlung sei unerheblich, sie könne auch hochspezialisiert sein.
59. Zum anderen hat die französische Regierung, wie bereits oben in Nr. 48 ausgeführt, geltend gemacht, dass die „Hilfe zur Deckung der Grundbedürfnisse [im Bereich der] Gesundheit“ nur die primäre medizinische Grundversorgung umfasse(35). Nach ihrer Ansicht ist das UNRWA nicht für die Bereitstellung komplexerer oder spezialisierterer medizinischer Behandlungen verantwortlich.
60. Ich teile diese Ansicht nicht. Ich habe den Eindruck, dass die französische Regierung die Aufgabe des UNRWA, tatsächliche Hilfe zur Deckung der Grundbedürfnisse in den Bereichen Medizin oder Gesundheit zu leisten (um auf der Grundlage eines ziel- und nicht mittelorientierten Ansatzes sicherzustellen, dass die medizinischen oder gesundheitlichen Grundbedürfnisse der beim UNRWA registrierten Personen, ungeachtet der dafür erforderlichen Mittel, erfüllt werden), mit der Pflicht zur Bereitstellung einer medizinischen Grundversorgung verwechselt, d. h. der Pflicht, diesen Personen einen bestimmten medizinischen Mindestbedarf zur Verfügung zu stellen (z. B. in Form von Erste-Hilfe-Kästen oder von Basismedikamenten, die weder komplex noch spezialisiert sind).
61. Insoweit bin ich der Auffassung, dass das UNRWA natürlich nicht den Zugang zu jeder verfügbaren Art von Arzneimittel oder medizinischer Behandlung gewährleisten kann. Aufgrund seiner Aufgabe, „Hilfe zur Deckung der Grundbedürfnisse [im Bereich der] Gesundheit“ zu leisten, muss das UNRWA jedoch den bei ihm registrierten Personen tatsächlich dabei helfen, Zugang zu der zur Deckung ihrer gesundheitlichen oder medizinischen Grundbedürfnisse erforderlichen medizinischen Versorgung oder Behandlung zu erhalten – insbesondere dann, wenn die Versorgung oder Behandlung für den Kampf gegen eine Erkrankung unerlässlich ist, die ohne sie leider zum Tod führen kann. Als Teil meiner Antwort auf die zweite Frage werde ich nachfolgend in Abschnitt B im Rahmen meiner Ausführungen zu den gesundheitlichen oder medizinischen Grundbedürfnissen näher darauf eingehen, welcher Grad von Ernsthaftigkeit oder Schwere insoweit erforderlich ist. Ich kann jedoch bereits jetzt Folgendes sagen: Wenn sich eine Person in einer Situation befindet, in der es, wie offenbar bei SW, um Leben und Tod geht(36), weil das UNRWA ihr bei der Erlangung des Zugangs zu der für ihre Krankheit oder ihren Zustand erforderlichen medizinischen Versorgung oder Behandlung tatsächlich nicht helfen kann oder hilft, ist davon auszugehen, dass das UNRWA nicht zu gewährleisten vermag, dass die gesundheitlichen oder medizinischen Grundbedürfnisse dieser Person erfüllt werden und dass ihre Lebensbedingungen im Einsatzgebiet des Hilfswerks mit der ihm übertragenen Aufgabe im Einklang stehen.
62. Mir ist durchaus klar, dass die medizinische Behandlung, zu der SW Zugang benötigt, recht komplex und/oder spezialisiert ist. Nach den in den Akten enthaltenen Angaben benötigt SW nicht nur Bluttransfusionen, sondern auch ein spezielles, nur zu einem bestimmten (für das UNRWA nach dessen Angaben untragbaren) Preis erhältliches Medikament. Meines Erachtens ist die Komplexität der Behandlung, ihre Kostspieligkeit oder ihr spezieller Charakter jedoch nicht für den Umfang der Aufgabe des UNRWA als solche relevant, sondern dafür, ob das Hilfswerk seine Aufgabe erfüllen kann oder nicht(37).
63. Ich erinnere insoweit daran, dass die zuständigen Verwaltungsbehörden und Gerichte, um zu klären, ob es dem UNRWA unmöglich geworden ist, zu gewährleisten, dass die Lebensbedingungen der betreffenden Person in seinem Einsatzgebiet mit der ihm übertragenen Aufgabe im Einklang stehen, prüfen müssen, ob die betreffende Person de facto imstande ist, diesen Schutz oder Beistand in Anspruch zu nehmen(38). Der Umstand, dass das UNRWA gar nicht in der Lage ist, den zur Erfüllung der medizinischen oder gesundheitlichen Grundbedürfnisse der betreffenden Person erforderlichen Schutz oder Beistand zu gewähren, oder dass es zwar dazu in der Lage ist, dies aber nicht wirksam tun kann (weil beispielsweise das Medikament oder die Behandlung nicht ohne Weiteres zugänglich ist oder weil dem UNRWA finanzielle Mittel oder ein Budget fehlen), ist für den Nachweis einer solchen Unmöglichkeit relevant, führt aber nicht dazu, dass die Situation aus dem Aufgabenbereich des UNRWA herausfällt(39).
4. Ergebnis zur ersten Frage
64. Im Licht der vorstehenden Erwägungen bin ich der Auffassung, dass die beiden oben in Nr. 34 aufgeführten Kriterien, anhand deren zu klären ist, ob der Schutz oder Beistand des UNRWA im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 „nicht länger gewährt“ wird, in einer Situation erfüllt sein können, in der es einem Staatenlosen palästinensischer Herkunft, der den Schutz oder Beistand des UNRWA in Anspruch genommen hat, unmöglich ist, im Einsatzgebiet dieser Organisation Zugang zu der medizinischen Behandlung zu erhalten, die sein Gesundheitszustand erfordert. Eine solche Situation kann somit in den Anwendungsbereich der Einschlussklausel in dieser Bestimmung fallen und ist nicht davon ausgenommen.
65. Praktische Erwägungen bestätigen meines Erachtens diese Auslegung. Würde der Gerichtshof anders entscheiden, wäre es nämlich einer Person in der Situation von SW nicht nur verwehrt, ipso facto (aufgrund der Einschlussklausel von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95) in den Genuss des Schutzes der Richtlinie zu kommen, sondern sie wäre auch daran gehindert, den Status eines „Flüchtlings“ nach irgendeiner Bestimmung der Richtlinie 2011/95 zu beanspruchen, da sie aufgrund der in der Richtlinie enthaltenen Ausschlussklausel aus ihrem gesamten Anwendungsbereich herausfiele. Mit anderen Worten befände sie sich somit in einer ungünstigeren Lage als andere Asylbewerber (für die Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 nicht gilt), da diese zumindest in der Lage wären, unter Berufung auf die allgemeinen Voraussetzungen die Anerkennung als Flüchtling zu beantragen, während ihr dies nicht möglich wäre. Eine solche Lösung liefe meines Erachtens eindeutig dem oben in Nr. 27 genannten Ziel von Art. 1 Abschnitt D der Genfer Konvention zuwider, das darin besteht, Staatenlosen palästinensischer Herkunft Schutz und Unterstützung zu gewähren.
66. Gleichwohl meine ich, dass eine Bejahung der ersten Frage nicht bedeutet, dass alle Staatenlosen palästinensischer Herkunft, die sich lediglich über die medizinische Versorgung beschweren, die sie im Einsatzgebiet des UNRWA erhalten (oder nicht erhalten), ipso facto Anspruch auf Anerkennung als Flüchtlinge nach der Richtlinie 2011/95 haben. Auf diese Frage werde ich nun, im Rahmen der zweiten Frage, näher eingehen.
B. Zur zweiten Frage: Wann gilt die Einschlussklausel in medizinischen Situationen?
67. Mit der zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, welche Kriterien die nationalen Gerichte anzuwenden haben, um zu klären, welche Situationen – unter den Fällen, in denen ein Staatenloser palästinensischer Herkunft, der den „Schutz oder Beistand“ des UNRWA in Anspruch genommen hat, geltend macht, dass es für ihn unmöglich sei, im Einsatzgebiet des UNRWA Zugang zu der medizinischen Versorgung oder Behandlung zu erhalten, die sein Gesundheitszustand erfordere – unter die Einschlussklausel in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 fallen.
68. Ich möchte drei wichtige Bemerkungen an den Anfang stellen.
69. Zunächst möchte ich einige kurze Ausführungen zu der von der französischen Regierung vorgeschlagenen Lösung machen. Nach ihrer Ansicht sollte ein Fall wie der des Ausgangsverfahrens nicht unter Heranziehung der Einschlussklausel in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 gelöst werden, sondern nur anhand der nationalen Rechtsvorschriften(40), die Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen unter bestimmten begrenzten Umständen, u. a. wegen ihres Gesundheitszustands, die Möglichkeit einräumen, im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu verbleiben.
70. Zur Stützung dieser Schlussfolgerung verweist die französische Regierung auf den 15. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95, wonach die Mitgliedstaaten solchen Personen aus familiären oder humanitären Ermessensgründen den Verbleib in ihrem Hoheitsgebiet gestatten können. Aus ihm geht ferner hervor, dass Personen, die in den Genuss dieser Möglichkeit kommen, nicht unter die Richtlinie fallen.
71. Meines Erachtens kann dieser Erwägungsgrund entgegen dem Vorbringen der französischen Regierung nicht so verstanden werden, dass eine Person vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2011/95 auszuschließen ist, wenn sie die Möglichkeit haben könnte, sich auf nationale Bestimmungen zu berufen, die ein Bleiberecht aus familiären oder humanitären Gründen gewähren. Er besagt vielmehr nur, dass eine Person, der tatsächlich ein solches Bleiberecht gewährt wurde, vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgeschlossen ist. Daraus folgt, dass die zuständigen Verwaltungsbehörden oder Gerichte, abgesehen von diesen speziellen Gegebenheiten, zunächst prüfen müssen, ob die betreffende Person Anspruch auf internationalen Schutz hat (oder ob ein Staatenloser palästinensischer Herkunft unter die Einschlussklausel in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 fällt), und nur wenn kein solcher Anspruch besteht, in Erwägung ziehen sollten, ob eine solche Person nach nationalem Recht Schutz aus familiären oder humanitären Gründen erhalten kann. Ich sehe daher keinen Grund, aus dem der letztgenannten Art des Schutzes, wie die französische Regierung geltend macht, Vorrang vor der erstgenannten Art des Schutzes zukommen sollte.
72. Zweitens ist zur Klärung der Frage, ob der Schutz oder Beistand des UNRWA im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 „nicht länger gewährt“ wird, sowohl eine tatsächliche als auch eine rechtliche Beurteilung vorzunehmen. Die tatsächliche Beurteilung ist, wie ich bereits oben in Nr. 34 dargelegt habe, einzelfallbezogen vorzunehmen, unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände, die mit der betreffenden Person in Zusammenhang stehen können (wie etwa ihr Gesundheitszustand, die von ihr benötigte Behandlung und – unter Zuhilfenahme von Sachverständigen – die tatsächlichen Folgen für sie, wenn sie diese Behandlung nicht erhält) oder die kontextueller Natur sind, darunter insbesondere die Frage, ob die erforderliche medizinische Versorgung oder Behandlung in den Mitgliedstaaten verfügbar wäre, sowie die besondere Situation des Staates oder der Staaten, in denen das UNRWA tätig ist(41). Letzteres ist meines Erachtens ein sehr wichtiger Punkt. In einer Situation wie der des vorliegenden Falles sind nämlich die Lebensbedingungen der Staatenlosen palästinensischer Herkunft im Libanon insgesamt ebenso wie die, mit denen SW individuell konfrontiert ist, für die Frage relevant, ob der Schutz oder Beistand des UNRWA „nicht länger gewährt“ wird.
73. Im konkreten Fall bedeutet dies, dass bei der Beurteilung der Frage, ob SW Anspruch auf die durch die Richtlinie 2011/95 gewährten Vorteile hat, die medizinische Behandlung berücksichtigt werden muss, die er sowohl unmittelbar vom UNRWA als auch mit dessen Unterstützung vom libanesischen Gesundheitssystem erhalten kann, da er beim UNRWA im Libanon registriert ist. Allgemeiner betrachtet ist es unmöglich, die Maßnahmen des UNRWA (oder deren Fehlen) von dem Kontext zu trennen, in dem diese Organisation tätig ist(42).
74. Drittens stimme ich, was die rechtliche Beurteilung anbelangt, mit der belgischen und der französischen Regierung darin überein, dass nicht alle Gesundheitsprobleme oder Erkrankungen, für die im Einsatzgebiet des UNRWA keine Behandlung zur Verfügung steht, zu dem Schluss führen können, dass der „Schutz oder Beistand“ dieser Organisation nicht länger gewährt wird. Es bedarf einer Erheblichkeitsschwelle, und nur in Ausnahmesituationen können meines Erachtens Ortsveränderungen von einem Schutzgebiet (dem Einsatzgebiet des UNRWA) in ein anderes (einen Mitgliedstaat) erlaubt sein. Wäre dies nicht der Fall, könnte es leicht zu einer Situation kommen, in der jede Person, die unter die Ausschlussklausel von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 fällt und der Ansicht ist, die medizinische Versorgung oder Behandlung, die sie im Einsatzgebiet des UNRWA erhalten hat (oder erhalten könnte), sei nicht ebenso wirksam wie die Versorgung oder Behandlung, die sie in einem Mitgliedstaat erhalten könnte, oder entspreche nicht den dortigen Standards, geltend machen könnte, dass ihr der „Schutz oder Beistand“ dieser Organisation „nicht länger gewährt“ werde und dass sie nach der Richtlinie 2011/95 als Flüchtling anzuerkennen sei.
75. Die Erheblichkeitsschwelle muss folglich hoch genug sein, um als einschränkender Faktor zu wirken und sowohl solche Fälle des „Rosinenpickens“ zu verhindern als auch einen „Dammbruch“ in Form einer Flut von Asylanträgen Staatenloser palästinensischer Herkunft. Gleichzeitig könnte eine „zu hohe“ Erheblichkeitsschwelle es einer Person nahezu unmöglich machen, sich auf die Einschlussklausel von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 zu berufen, und zwar auch dann, wenn ihre in der Charta verankerten Rechte, wie insbesondere ihre unveräußerlichen Rechte auf Menschenwürde, auf Leben und darauf, nicht der Folter oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen zu werden(43), verletzt werden(44). Es ist daher erforderlich, ein angemessenes Gleichgewicht zu finden.
76. Nach diesen Klarstellungen erinnere ich daran, dass, wie oben in Abschnitt A erläutert, zwei Kriterien erfüllt sein müssen, damit der „Schutz oder Beistand“ des UNRWA als „nicht länger gewährt“ angesehen werden kann: Die persönliche Lage des Antragstellers muss sehr unsicher sein (erstes Kriterium), und es muss dem UNRWA unmöglich sein, zu gewährleisten, dass die Lebensbedingungen in dem betreffenden Gebiet mit der ihm übertragenen Aufgabe im Einklang stehen (zweites Kriterium).
77. Während das zweite Kriterium in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens im Wesentlichen die Feststellung erfordert, ob es dem UNRWA unmöglich geworden ist, zu gewährleisten, dass bei einem Verbleib der betreffenden Person in seinem Einsatzgebiet ihre medizinischen und gesundheitlichen Grundbedürfnisse erfüllt werden, lässt sich das erste Kriterium meines Erachtens in drei Erfordernisse aufspalten. Erstens muss die Sicherheit der persönlichen Lage bedroht sein, wobei es sich in einer solchen Situation um eine natürlich auftretende Erkrankung dieser Person (eine innere Bedrohung) handelt, die durch externe Faktoren verschlimmert wird. Zweitens müssen die Bedrohungen so beschaffen sein, dass von einer „sehr unsicheren“ persönlichen Lage ausgegangen werden kann (d. h., sie dürfen nicht rein hypothetisch, sondern müssen hinreichend real sein). Drittens muss der Schaden, den die Person erleiden würde, wenn sie im Einsatzgebiet des UNRWA bliebe, schwerwiegend sein (andernfalls würden die Bedrohungen nicht ausreichen, um die „Sicherheit der persönlichen Lage“ zu beeinträchtigen).
78. In diesem Zusammenhang ist für mich klar, dass in Bezug auf dieses dritte Erfordernis eine bestimmte Schwelle festgelegt werden muss, die sich auf die Schwere des Schadens bezieht. Desgleichen macht das zweite Kriterium, wonach eine Abgrenzung von Situationen, in denen die medizinischen und gesundheitlichen Grundbedürfnisse einer Person als erfüllt angesehen werden können, und Situationen, in denen dies nicht der Fall ist, vorgenommen werden muss, es erforderlich, eine bestimmte Schwelle festzulegen. Meines Erachtens gehören zu den medizinischen und gesundheitlichen „Grundbedürfnissen“ nämlich nur bestimmte Kernbedürfnisse in diesen Bereichen, die erfüllt werden müssen, um den Tod oder schwerwiegende Schäden abzuwenden. Somit ist auch bei diesem Kriterium auf das Vorliegen schwerwiegender Schäden abzustellen.
79. In Bezug auf die Frage, was unter „schwerwiegenden Schäden“ zu verstehen ist, erinnere ich daran, dass im 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 auf die Bedeutung einer Achtung der in der Charta anerkannten Grundrechte nach ihrer Auslegung in der Rechtsprechung des Gerichtshofs und, gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta, in der entsprechende Rechte betreffenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) verwiesen wird(45). Es ist auch allgemein anerkannt, dass Art. 4 der Charta, der das Recht auf Leben und das Recht auf Freiheit von Folter oder erniedrigender Behandlung oder Strafe schützt, Art. 3 der EMRK entspricht(46).
80. Zur letztgenannten Bestimmung geht aus der Rechtsprechung des EGMR hervor, dass die durch eine natürlich auftretende physische oder psychische Krankheit verursachten Schmerzen hinreichend schwerwiegend(47) sind, sofern es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass die betreffende Person, auch wenn sie nicht in unmittelbarer Lebensgefahr schwebt, ohne angemessene Behandlung oder den Zugang zu einer solchen Behandlung mit der tatsächlichen Gefahr einer ernsten, raschen und irreversiblen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands konfrontiert wäre, die zu starken Schmerzen oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führen würde.
81. Meines Erachtens muss eben diese Schwelle im vorliegenden Fall herangezogen werden. Eine Person ist der ernsten Gefahr eines schwerwiegenden Schadens ausgesetzt, und ihre medizinischen oder gesundheitlichen Grundbedürfnisse werden nicht erfüllt, wenn sie (i) in unmittelbarer Lebensgefahr schwebt oder (ii) es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass sie, auch wenn sie nicht in unmittelbarer Lebensgefahr schwebt, ohne angemessene Behandlung oder den Zugang zu einer solchen Behandlung mit der tatsächlichen Gefahr einer ernsten, raschen und irreversiblen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands konfrontiert wäre, die zu starken Schmerzen oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führen würde.
82. Dies stellt eine recht hohe Schwelle dar. Wichtig ist, dass diese Schwelle, unabhängig von der Art der Erkrankung und ihrer Seltenheit oder Häufigkeit, nur auf dem Ausmaß des der betreffenden Person ernsthaft oder tatsächlich drohenden Schadens beruht.
83. Abschließend möchte ich hinzufügen, dass die von mir soeben vorgeschlagene Schwelle meines Erachtens eng mit der Wahrung der Menschenwürde verbunden ist. Ich erinnere daran, dass die Richtlinie 2011/95, wie in ihrem 16. Erwägungsgrund klargestellt wird, „insbesondere“ die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde sicherstellen soll. Im Übrigen hat der Gerichtshof bereits in seinem Urteil Bundesrepublik Deutschland (Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft) – in dem er ausgeführt hat, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass eine Person gezwungen war, das Einsatzgebiet des UNRWA zu verlassen, wenn sie sich dort in Sicherheit und unter menschenwürdigen Lebensbedingungen aufhalten kann, ohne der Gefahr einer Zurückweisung in das Gebiet ihres gewöhnlichen Aufenthalts ausgesetzt zu sein, solange für sie keine sichere Rückkehr dorthin möglich ist – auf die Menschenwürde Bezug genommen(48).
84. Sowohl die Kommission als auch der Kläger des Ausgangsverfahrens sind der Auffassung, dass die Frage, ob sich eine bei der UNRWA registrierte Person unter „menschenwürdigen Lebensbedingungen“ im Einsatzgebiet dieser Organisation aufhalten kann, für die Beurteilung relevant ist, ob ihr ernsthaft oder tatsächlich ein schwerwiegender Schaden droht und ob ihre medizinischen und gesundheitlichen Grundbedürfnisse befriedigt werden.
85. Ich stimme mit dieser Sichtweise überein. In der von mir oben in Nr. 81 dargelegten Schwelle kommt meines Erachtens eben diese Voraussetzung lediglich in detaillierterer Form zum Ausdruck(49).
V. Ergebnis
86. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:
1. Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anspruch auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes
ist dahin auszulegen, dass sich eine Person, die den Schutz oder Beistand des UNRWA in Anspruch genommen hat, in einer sehr unsicheren persönlichen Lage und in einer Situation befinden kann, in der es dem UNRWA nicht möglich ist, zu gewährleisten, dass ihre Lebensbedingungen mit der dieser Organisation übertragenen Aufgabe im Einklang stehen, wenn sie an einer Krankheit leidet und es ihr unmöglich ist, im Einsatzgebiet des UNRWA Zugang zu der erforderlichen medizinischen Behandlung oder Versorgung zu erhalten.
2. Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95
ist dahin auszulegen, dass es in einer solchen Situation des Nachweises bedarf, dass die betreffende Person der ernsten Gefahr eines schwerwiegenden Schadens ausgesetzt ist und dass es dem UNRWA nicht möglich sein wird, zu gewährleisten, dass die medizinischen und gesundheitlichen Grundbedürfnisse dieser Person befriedigt werden, wenn sie im Einsatzgebiet des Hilfswerks verbleibt. Beide Voraussetzungen sind erfüllt, wenn erwiesen ist, dass die Person bei einem Verbleib in diesem Gebiet (i) in unmittelbarer Lebensgefahr schwebt oder (ii) es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass sie, auch wenn sie nicht in unmittelbarer Lebensgefahr schwebt, wegen des fehlenden Zugangs zu angemessener medizinischer Behandlung oder Versorgung mit der tatsächlichen Gefahr einer ernsten, raschen und irreversiblen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands konfrontiert wäre, die zu starken Schmerzen oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führen würde.