C-222/23 – Toplofikatsia Sofia (Notion de domicile du défendeur)

C-222/23 – Toplofikatsia Sofia (Notion de domicile du défendeur)

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2024:405

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

16. Mai 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 – Gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen – Mahnverfahren – Begriff ‚Wohnsitz‘ – Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der seine ständige Anschrift in diesem Mitgliedstaat und seine aktuelle Anschrift in einem anderen Mitgliedstaat hat – Unmöglichkeit, diese ständige Anschrift zu ändern oder darauf zu verzichten“

In der Rechtssache C‑222/23

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sofiyski rayonen sad (Rayongericht Sofia, Bulgarien) mit Entscheidung vom 7. April 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 7. April 2023, in dem Verfahren

„Toplofikatsia Sofia“ EAD

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Richterin O. Spineanu-Matei (Berichterstatterin), der Richter J.‑C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin L. S. Rossi,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Noë und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 18 Abs. 1 und Art. 21 AEUV, Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 und Art. 62 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1) sowie Art. 7 und Art. 22 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EU) 2020/1784 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2020 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten (Zustellung von Schriftstücken) (ABl. 2020, L 405, S. 40).

2        Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens zum Erlass eines Mahnbescheids, das die „Toplofikatsia Sofia“ EAD, ein Wärmeenergieversorger, gegen V.Z.A., einen Kunden und Schuldner, wegen eines Geldbetrags angestrengt hat, der dem Wert der Fernwärme entspricht, die für seine Wohnung in Sofia (Bulgarien) geliefert wurde.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Verordnung Nr. 1215/2012

3        In den Erwägungsgründen 13 und 15 der Verordnung Nr. 1215/2012 heißt es:

„(13)      Zwischen den Verfahren, die unter diese Verordnung fallen, und dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten muss ein Anknüpfungspunkt bestehen. Gemeinsame Zuständigkeitsvorschriften sollten demnach grundsätzlich dann Anwendung finden, wenn der Beklagte seinen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat hat.

(15)      Die Zuständigkeitsvorschriften sollten in hohem Maße vorhersehbar sein und sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richten. Diese Zuständigkeit sollte stets gegeben sein außer in einigen genau festgelegten Fällen, in denen aufgrund des Streitgegenstands oder der Vertragsfreiheit der Parteien ein anderes Anknüpfungskriterium gerechtfertigt ist. Der Sitz juristischer Personen muss in der Verordnung selbst definiert sein, um die Transparenz der gemeinsamen Vorschriften zu stärken und Kompetenzkonflikte zu vermeiden.“

4        Art. 4 dieser Verordnung lautet:

„(1)      Vorbehaltlich der Vorschriften dieser Verordnung sind Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu verklagen.

(2)      Auf Personen, die nicht dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, angehören, sind die für Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats maßgebenden Zuständigkeitsvorschriften anzuwenden.“

5        Art. 5 Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt:

„Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, können vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats nur gemäß den Vorschriften der Abschnitte 2 bis 7 dieses Kapitels verklagt werden.“

6        Art. 7 Nr. 1 dieser Verordnung sieht vor:

„Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden:

1.      a)      wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre;

b)      im Sinne dieser Vorschrift – und sofern nichts anderes vereinbart worden ist – ist der Erfüllungsort der Verpflichtung

–        für den Verkauf beweglicher Sachen der Ort in einem Mitgliedstaat, an dem sie nach dem Vertrag geliefert worden sind oder hätten geliefert werden müssen;

–        für die Erbringung von Dienstleistungen der Ort in einem Mitgliedstaat, an dem sie nach dem Vertrag erbracht worden sind oder hätten erbracht werden müssen;

c)      ist Buchstabe b nicht anwendbar, so gilt Buchstabe a.

7        In Art. 62 der Verordnung Nr. 1215/2012 heißt es:

„(1)      Ist zu entscheiden, ob eine Partei im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, dessen Gerichte angerufen sind, einen Wohnsitz hat, so wendet das Gericht sein Recht an.

(2)      Hat eine Partei keinen Wohnsitz in dem Mitgliedstaat, dessen Gerichte angerufen sind, so wendet das Gericht, wenn es zu entscheiden hat, ob die Partei einen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat hat, das Recht dieses Mitgliedstaats an.“

 Verordnung 2020/1784

8        Art. 1 („Anwendungsbereich“) der Verordnung Nr. 2020/1784 sieht vor:

„(1)      Diese Verordnung gilt für die grenzüberschreitende Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen. …

(2)      Mit Ausnahme des Artikels 7 gilt diese Verordnung nicht, wenn die Anschrift des Empfängers eines Schriftstücks unbekannt ist.

…“

9        In Art. 7 („Unterstützung bei der Ermittlung von Anschriften“) dieser Verordnung heißt es:

„(1)      Ist die Anschrift der Person, der das gerichtliche oder außergerichtliche Schriftstück in einem anderen Mitgliedstaat zuzustellen ist, nicht bekannt, so leistet der andere Mitgliedstaat bei der Ermittlung der Anschrift in mindestens einer der folgenden Weisen Unterstützung:

a)      Angabe benannter Behörden, an welche die Übermittlungsstellen Anfragen um die Ermittlung der Anschrift des Empfängers des Schriftstücks richten;

b)      Erlaubnis für Personen aus anderen Mitgliedstaaten, Auskunftsanfragen zu Anschriften von Empfängern, auch auf elektronischem Wege, mittels eines auf dem Europäischen Justizportal verfügbaren Standardformulars, direkt an Wohnsitzregister oder andere öffentlich zugängliche Datenbanken zu richten; oder

c)      Bereitstellung ausführlicher Informationen im Europäischen Justizportal darüber, wie Anschriften von Empfängern ermittelt werden können.

(2)      Jeder Mitgliedstaat teilt der [Europäischen] Kommission folgende Angaben mit, damit diese im Europäischen Justizportal zugänglich gemacht werden:

a)      die Mittel, mit denen der Mitgliedstaat in seinem Hoheitsgebiet nach Absatz 1 Unterstützung leistet;

b)      gegebenenfalls Name und Kontaktdaten der in Absatz 1 Buchstaben a und b genannten Behörden;

c)      die Angabe, ob die Behörden des Empfangsmitgliedstaats auf eigene Initiative Auskunftsersuchen an Wohnsitzregister oder andere Datenbanken für Informationen über Anschriften richten, wenn die im Zustellungsantrag angegebene Anschrift nicht richtig ist.

Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission jede Änderung der in Unterabsatz 1 genannten Angaben mit.“

10      Art. 22 („Nichteinlassung des Beklagten“) dieser Verordnung sieht vor:

„(1)      War ein verfahrenseinleitendes Schriftstück oder ein diesem gleichwertiges Schriftstück nach dieser Verordnung zum Zwecke der Zustellung in einen anderen Mitgliedstaat zu übermitteln und hat sich der Beklagte nicht auf das Verfahren eingelassen, so ergeht kein Urteil, bis festgestellt ist, dass das Schriftstück so rechtzeitig zugestellt oder übergegeben worden ist, dass der Beklagte genügend Zeit hatte, um sich verteidigen zu können, und dass

a)      das Schriftstück in einer Weise zugestellt worden ist, die das Recht des Empfangsmitgliedstaats für die Zustellung von Schriftstücken in einem innerstaatlichen Rechtsstreit an dort befindliche Personen vorschreibt, oder

b)      das Schriftstück tatsächlich entweder dem Beklagten persönlich ausgehändigt oder nach einem anderen in dieser Verordnung vorgesehenen Verfahren in der Wohnung des Beklagten abgegeben worden ist.

(2)      Jeder Mitgliedstaat kann der Kommission mitteilen, dass ein Gericht ungeachtet des Absatzes 1 den Rechtsstreit entscheiden kann, auch wenn keine Bescheinigung über die Zustellung oder die Aushändigung bzw. Abgabe des verfahrenseinleitenden Schriftstücks oder ein diesem gleichwertiges Schriftstück eingegangen ist, sofern alle folgenden Voraussetzungen erfüllt sind:

a)      Das Schriftstück ist nach einem in dieser Verordnung vorgesehenen Verfahren übermittelt worden;

b)      seit der Absendung des Schriftstücks ist eine Frist verstrichen, die das Gericht im Einzelfall als angemessen erachtet, mindestens jedoch eine Frist von sechs Monaten;

c)      es wurde keine Bescheinigung irgendeiner Art erlangt, obwohl alle zumutbaren Schritte zu ihrer Erlangung durch die zuständigen Behörden oder Stellen des Empfangsmitgliedstaats unternommen wurden.

Diese Informationen werden über das Europäische Justizportal zugänglich gemacht.

(3)      Ungeachtet der Absätze 1 und 2 können Gerichte in begründeten dringenden Fällen einstweilige Maßnahmen oder Sicherungsmaßnahmen anordnen.

(4)      War ein verfahrenseinleitendes Schriftstück oder ein diesem gleichwertiges Schriftstück nach dieser Verordnung zum Zweck der Zustellung in einen anderen Mitgliedstaat zu übermitteln, und ist eine Entscheidung gegen einen Beklagten ergangen, der sich nicht auf das Verfahren eingelassen hat, so kann das Gericht dem Beklagten unter Außerachtlassung des Ablaufs der Frist für die Einlegung von Rechtsmitteln die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren, sofern die beiden folgenden Voraussetzungen erfüllt sind:

a)      Der Beklagte hat ohne sein Verschulden nicht so rechtzeitig Kenntnis von dem Schriftstück erlangt, dass er sich hätte verteidigen können, oder nicht so rechtzeitig Kenntnis von der Entscheidung erlangt, dass er ein Rechtsmittel hätte einlegen können, und

b)      die Verteidigung des Beklagten scheint nicht von vornherein in der Sache aussichtslos.

Ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann nur innerhalb einer angemessenen Frist, nachdem der Beklagte von der Entscheidung Kenntnis erhalten hat, gestellt werden.

Jeder Mitgliedstaat kann der Kommission mitteilen, dass ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Ablauf einer durch den Mitgliedstaat in seiner Mitteilung bestimmten Frist unzulässig ist. Diese Frist muss mindestens ein Jahr ab dem Datum der Entscheidung betragen. Diese Informationen werden über das Europäische Justizportal zugänglich gemacht.

(5)      Absatz 4 gilt nicht für Entscheidungen, die den Personenstand oder die Rechtsfähigkeit von Personen betreffen.“

 Bulgarisches Recht

 ZGR

11      Der Zakon za grazhdanskata registratsia (Gesetz über die Registrierung der Bürger, DV Nr. 67 vom 27. Juli 1999) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: ZGR) bestimmt in Art. 90 Abs. 1:

„Jede Person, die nach diesem Gesetz der Registrierung der Bürger unterliegt, muss schriftlich ihre ständige und ihre aktuelle Anschrift mitteilen …“

12      Art. 93 ZGR sieht vor:

„(1)      Unter ,ständiger Anschrift‘ ist die Anschrift in dem Ort zu verstehen, den die Person für die Eintragung in das Bevölkerungsregister wählt.

(2)      Die ständige Anschrift befindet sich immer im Hoheitsgebiet der Republik Bulgarien.

(3)      Niemand kann mehr als eine ständige Anschrift haben.

(4)      Bulgarische Staatsangehörige, die im Ausland leben, nicht im Bevölkerungsregister eingetragen sind und keine ständige Anschrift in Bulgarien angeben können, werden von Amts wegen in das Bevölkerungsregister des Bezirks ,Sredets‘ der Stadt Sofia eingetragen.

(5)      Die ständige Anschrift der Staatsangehörigen ist eine Adresse für die Korrespondenz mit den staatlichen Behörden und den lokalen Gebietskörperschaften.

(6)      Die ständige Anschrift der Staatsangehörigen wird verwendet, um in den durch Gesetz oder einen anderen normativen Rechtsakt festgelegten Fällen Rechte auszuüben oder Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen.

(7)      Die ständige Anschrift kann dieselbe Anschrift wie die aktuelle sein.“

13      Art. 94 ZGR bestimmt:

„(1)      Die aktuelle Anschrift ist die Anschrift, an der die Person wohnt.

(2)      Niemand kann mehr als eine aktuelle Anschrift haben.

(3)      Die aktuelle Anschrift bulgarischer Staatsangehöriger, deren Wohnsitz sich im Ausland befindet, steht im Bevölkerungsregister nur mit dem Namen des Staates, in dem sie wohnen.“

14      In Art. 96 Abs. 1 ZGR heißt es:

„Die aktuelle Anschrift wird erklärt, indem die Person die Anschrift bei den in Art. 92 Abs. 1 genannten Behörden angibt. Bulgarische Staatsangehörige, die im Ausland wohnen, teilen ihre aktuelle Anschrift, d. h. den Staat, in dem sie wohnen, bei den in Art. 92 Abs. 1 genannten Behörden der ständigen Anschrift mit.“

 KMChP

15      Der Kodeks na mezhdunarodnoto chastno pravo (Gesetzbuch über das internationale Privatrecht, DV Nr. 42 vom 17. Mai 2005) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: KMChP) bestimmt in Art. 4:

„(1)      Die internationale Zuständigkeit der bulgarischen Gerichte und anderer bulgarischer Stellen besteht, wenn:

1.      der Beklagte seinen gewöhnlichen Aufenthalt, seinen satzungsmäßigen Sitz oder seinen Geschäftssitz in Bulgarien hat;

…“

16      In Art. 48 Abs. 7 KMChP heißt es:

„Im Sinne des vorliegenden Gesetzbuchs bedeutet ,gewöhnlicher Aufenthalt‘ einer natürlichen Person deren Lebensmittelpunkt, ohne dass dieser Ort mit der Notwendigkeit einer Eintragung oder eines Aufenthalts- oder Niederlassungstitels zusammenhängt. Bei der Ermittlung dieses Ortes sind insbesondere persönliche oder berufliche Umstände zu berücksichtigen, die sich aus den dauerhaften Verbindungen dieser Person zu dem Ort oder aus ihrer Absicht ergeben, solche Verbindungen aufzubauen.“

 GPK

17      Der Grazhdanski protsesualen kodeks (Zivilprozessordnung, DV Nr. 59 vom 20. Juli 2007) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: GPK) sieht in Art. 38 („Zustellungsanschrift“) vor:

„Die Zustellung wird an der in den Akten der Rechtssache vermerkten Anschrift bewirkt. Wird der Empfänger nicht an der angegebenen Anschrift angetroffen, wird die Zustellung an seiner aktuellen Anschrift bewirkt und, wenn diese nicht vorhanden ist, an seiner ständigen Anschrift.“

18      Art. 40 („Zustellungsbevollmächtigter“) GPK bestimmt:

„(1)      Eine Partei, die sich mehr als einen Monat im Ausland aufhält oder sich für mehr als einen Monat dorthin begibt, ist verpflichtet, eine Person am Sitz des Gerichts zu benennen, an die Zustellungen bewirkt werden (Zustellungsbevollmächtigter), wenn sie in dem Verfahren in Bulgarien keinen Prozessbevollmächtigten hat. Dieselbe Pflicht obliegt dem gesetzlichen Vertreter, dem Betreuer und dem Prozessbevollmächtigten der Partei.

(2)      Benennen die in Abs. 1 genannten Personen keinen Zustellungsbevollmächtigten, werden alle Mitteilungen zu den Akten genommen und gelten als zugestellt. Das Gericht informiert die Personen über diese Folgen bei der Zustellung der ersten Mitteilung.“

19      Art. 41 („Informationspflicht“) GPK sieht vor:

„(1)      Eine Partei, die sich mehr als einen Monat nicht an der Anschrift aufhält, die sie in der Rechtssache angegeben hat oder an der eine Zustellung für sie erfolgte, ist verpflichtet, dem Gericht ihre neue Anschrift mitzuteilen. Dieselbe Pflicht obliegt dem gesetzlichen Vertreter, dem Betreuer und dem Prozessbevollmächtigten der Partei.

(2)      Wird die in Abs. 1 genannte Pflicht nicht befolgt, werden alle Mitteilungen zu den Akten genommen und gelten als zugestellt. Das Gericht informiert die Partei über diese Folgen bei der Zustellung der ersten Mitteilung.“

20      In Art. 53 GMK („Zustellung an im Inland wohnhafte Ausländer“) heißt es:

„Die Zustellung an im Inland wohnhafte Ausländer erfolgt an der den zuständigen Dienststellen der Verwaltung angegebenen Anschrift.“

21      Art. 410 („Antrag auf Erlass eines Mahnbescheids“) GPK bestimmt:

„(1)      Der Antragsteller kann den Erlass eines Mahnbescheids beantragen

1.      wegen Geldforderungen oder Forderungen über vertretbare Sachen, wenn der Rayonen sad [Rayongericht] für den Anspruch zuständig ist;

…“

22      In Art. 411 („Erlass eines Mahnbescheids“) GPK heißt es:

„(1)      Der Antrag ist bei dem Rayonen sad [Rayongericht] zu stellen, in dessen Bezirk der Schuldner seine ständige Anschrift oder seinen Sitz hat; dieses Gericht prüft von Amts wegen innerhalb von drei Tagen seine örtliche Zuständigkeit. Ein Antrag gegen einen Verbraucher ist bei dem Gericht zu stellen, in dessen Bezirk dieser seine aktuelle Anschrift oder, in Ermangelung einer aktuellen Anschrift, seine ständige Anschrift hat. Ist das Gericht der Auffassung, dass die Rechtssache nicht in seine Zuständigkeit fällt, verweist es sie unverzüglich an das zuständige Gericht.

(2)      Das Gericht prüft den Antrag in einer vorbereitenden Sitzung und erlässt innerhalb der Frist nach Abs. 1 einen Mahnbescheid, außer in den folgenden Fällen:

4.      der Schuldner hat seine ständige Anschrift oder seinen Sitz nicht im Hoheitsgebiet der Republik Bulgarien;

5.      der Schuldner hat keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Republik Bulgarien oder übt seine Tätigkeit nicht im Hoheitsgebiet der Republik Bulgarien aus.

(3)      Wenn das Gericht dem Antrag stattgibt, erlässt es einen Mahnbescheid, der dem Schuldner in Abschrift zugestellt wird.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

23      Toplofikatsia Sofia ist eine Gesellschaft bulgarischen Rechts, die Wärmeenergie verteilt. Am 6. März 2023 beantragte sie beim Sofiyski rayonen sad (Rayongericht Sofia, Bulgarien), dem vorlegenden Gericht, einen Mahnbescheid gegen den bulgarischen Staatsangehörigen V.Z.A.

24      Sie verlangt von ihm die Zahlung eines Geldbetrags in Höhe von 700,61 bulgarischen Leva (BGN) (ca. 358 Euro) mit der Begründung, dass er Eigentümer einer Wohnung in Sofia sei, die sich in einem im Miteigentum stehenden Gebäude befinde, und nicht die Rechnung bezahlt habe, die seinem Wärmeenergieverbrauch für diese Wohnung im Zeitraum vom 15. September 2020 bis zum 22. Februar 2023 entspreche.

25      Das vorlegende Gericht erklärt, dass V.Z.A. noch nicht Partei des Ausgangsverfahrens sei und es erst werde, nachdem der beantragte Mahnbescheid erlassen worden sei, sofern dieses Gericht für den Antrag zuständig sei.

26      Aus den Nachforschungen, die es im Ausgangsverfahren von Amts wegen gemäß den ihm nach bulgarischen Recht obliegenden Pflichten angestellt habe, ergebe sich, dass V.Z.A. seit dem Jahr 2000 im nationalen Bevölkerungsregister mit einer ständigen Anschrift in Sofia eingetragen sei. Allerdings habe er am 6. März 2010 als aktuelle Anschrift eine Anschrift in einem anderen Mitgliedstaat als der Republik Bulgarien angemeldet. In diesem Zusammenhang erläutert das vorlegende Gericht, dass nach bulgarischem Recht keine vollständige aktuelle Anschrift im Ausland angemeldet werden könne.

27      Das vorlegende Gericht verweist auch auf eine verbindliche Auslegungsentscheidung des Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht, Bulgarien) vom 18. Juni 2014 (im Folgenden: Entscheidung vom 18. Juni 2014) über die in Art. 411 Abs. 2 Nrn. 4 und 5 GPK vorgesehenen Fälle, in denen der Erlass eines Mahnbescheids abgelehnt werde.

28      Nach der Entscheidung vom 18. Juni 2014 müsse im Fall eines Antrags auf Erlass eines Mahnbescheids gemäß Art. 411 GPK das Vorliegen einer ständigen Anschrift oder eines gewöhnlichen Aufenthalts im Hoheitsgebiet der Republik Bulgarien zu dem Zeitpunkt geprüft werden, zu dem der Mahnbescheid nach seinem Erlass zugestellt werden solle, obwohl der Erlass eines solchen Mahnbescheids gemäß Art. 411 Abs. 2 Nrn. 4 und 5 GPK abgelehnt werden müsse, wenn keine ständige Anschrift oder kein gewöhnlicher Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Republik Bulgarien vorliege.

29      Nach der Entscheidung vom 18. Juni 2014 werde, wenn festgestellt werde, dass ein Gericht einen Mahnbescheid gegen einen Schuldner ohne ständige Anschrift im Hoheitsgebiet der Republik Bulgarien erlassen habe, der Mahnbescheid von diesem Gericht von Amts wegen für ungültig erklärt. Wenn hingegen festgestellt werde, dass der Schuldner keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Republik Bulgarien habe, könne der Mahnbescheid von dem Gericht, das ihn erlassen habe, nicht für ungültig erklärt werden. Im letztgenannten Fall müsse dieses Gericht bei der Zustellung des Mahnbescheids prüfen, ob der Schuldner eine ständige Anschrift in Bulgarien habe; wenn dies der Fall sei, gelte der Mahnbescheid entweder durch Mitteilung an eine Person des Haushalts des Schuldners oder durch Aushang einer Benachrichtigung als ordnungsgemäß zugestellt. Folglich könne die Anwendung von Art. 411 Abs. 2 Nr. 5 GPK nur durch Einspruch im Berufungsverfahren geltend gemacht werden.

30      Die Entscheidung vom 18. Juni 2014 sei ergangen, bevor Art. 411 Abs. 1 GPK in dem Sinne geändert worden sei, dass das angerufene Gericht nunmehr die Pflicht habe, von Amts wegen seine örtliche Zuständigkeit u. a. anhand der ständigen Anschrift des Schuldners zu prüfen.

31      Aus Art. 411 GPK in seiner Auslegung durch den Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht) ergebe sich, dass ein Mahnbescheid gegen einen Schuldner, der bulgarischer Staatsangehöriger sei und dessen ständige Anschrift in Bulgarien registriert bleibe, immer erlassen werde, selbst wenn dieser Schuldner über eine ebenfalls im Bevölkerungsregister eingetragene Anschrift im Ausland verfüge. Diese Auslegung könnte jedoch gegen die in Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 aufgestellte Regel verstoßen, wonach ein Schuldner, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats habe, grundsätzlich nur vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats verklagt werden könne.

32      Das vorlegende Gericht stellt auch fest, dass gemäß Art. 93 ZGR die ständige Anschrift von bulgarischen Staatsangehörigen im bulgarischen Hoheitsgebiet bleibe und im Fall des Umzugs in einen anderen Mitgliedstaat nicht geändert werden könne. Dies stelle eine Behinderung der Ausübung des in Art. 21 AEUV gewährleisteten Rechts bulgarischer Staatsangehöriger auf Freizügigkeit und auf Wahl des Wohnorts dar.

33      Überdies würden diejenigen bulgarischen Staatsangehörigen, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hätten, unter Verstoß gegen Art. 18 AEUV potenziell umgekehrt aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert. Gemäß Art. 53 GPK erhielten nämlich Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die ständig in Bulgarien wohnten, Zustellungen an die bei den Einwanderungsbehörden angemeldete Anschrift. Wenn sie nicht mehr im bulgarischen Hoheitsgebiet wohnten, seien die bulgarischen Gerichte in Anwendung des an den Wohnsitz anknüpfenden Zuständigkeitskriteriums für sie nicht mehr zuständig. Bulgarische Staatsangehörige könnten dagegen die Eintragung ihrer ständigen Anschrift nicht löschen und blieben weiterhin verpflichtet, einen Empfänger zu haben, der bereit sei, Zustellungen in ihrem Namen in Bulgarien entgegenzunehmen.

34      Des Weiteren ergebe sich aus Art. 94 Abs. 3 ZGR in Verbindung mit Art. 93 Abs. 2 ZGR, dass ein bulgarischer Staatsangehöriger keine genaue Anschrift außerhalb Bulgariens registrieren könne, da die Verwaltung nur den Staat eintrage, in den dieser Staatsangehörige verzogen sei. Dies sei der Grund, weshalb Art. 4 KMChP als Zuständigkeitskriterium in Fällen des internationalen Privatrechts, in denen das Unionsrecht nicht zur Anwendung komme, den gewöhnlichen Aufenthalt des Schuldners festlege.

35      In diesem Kontext fragt sich das vorlegende Gericht zunächst, ob Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 dem entgegenstehe, dass die internationale Zuständigkeit eines mit einem Antrag auf Erlass eines Mahnbescheids befassten Gerichts unter Berücksichtigung des Kriteriums des „Wohnsitzes“, wie er sich aus den im Ausgangsverfahren maßgeblichen nationalen Vorschriften ergebe, bestimmt werde. Selbst wenn nicht auszuschließen sei, dass es seine internationale Zuständigkeit auf Art. 7 Nr. 1 Buchst. b zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1215/2012 stützen könne, da der Vertrag, aus dem sich der geltend gemachte Anspruch ergebe, die Lieferung von Wärmeenergie für eine Immobilie in Sofia betreffe, bleibe die Frage der Ermittlung des Wohnsitzes weiterhin von Belang.

36      Das vorlegende Gericht fragt sich darüber hinaus, ob das einem Gericht mit der Entscheidung vom 18. Juni 2014 auferlegte Verbot, sich auf die aktuelle Anschrift des Schuldners zu stützen, um festzustellen, ob dieser seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Hoheitsgebiet der Republik Bulgarien habe, mit Art. 18 AEUV vereinbar sei, da dieses Verbot eine umgekehrte Diskriminierung darstelle.

37      Da das nationale Recht ihm nicht erlaube, die Anschrift des Schuldners außerhalb Bulgariens zu ermitteln, überlegt das vorlegende Gericht schließlich, ob es sich insoweit auf die in Art. 7 der Verordnung 2020/1784 eingeräumte Möglichkeit stützen könne, die Hilfe des betreffenden Mitgliedstaats in Anspruch zu nehmen.

38      Unter diesen Umständen hat der Sofiyski Rayonen sad (Rayongericht Sofia) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 62 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 in Verbindung mit Art. 18 Abs. 1 und Art. 21 AEUV dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass der Begriff des „Wohnsitzes“ einer natürlichen Person aus nationalen Rechtsvorschriften hergeleitet wird, die vorsehen, dass sich die ständige Anschrift von Staatsangehörigen des Staates des angerufenen Gerichts stets in diesem Staat befindet und nicht an einen anderen Ort in der Europäischen Union verlegt werden kann?

2.      Ist Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 in Verbindung mit Art. 18 Abs. 1 und Art. 21 AEUV dahin auszulegen, dass er nationale Rechtsvorschriften und nationale Rechtsprechung erlaubt, wonach ein Gericht eines Staates sich nicht weigern darf, einen Mahnbescheid gegen einen Schuldner zu erlassen, der Staatsangehöriger dieses Staates ist und bezüglich dessen die begründete Vermutung besteht, dass es an der internationalen Zuständigkeit des Gerichts fehlt, weil der Schuldner seinen Wohnsitz wahrscheinlich in einem anderen Unionsstaat hat, was sich aus der Erklärung des Schuldners gegenüber der zuständigen Behörde ergibt, dass er in diesem Staat eine Meldeanschrift habe? Ist in einem solchen Fall von Bedeutung, wann diese Erklärung abgegeben wurde?

3.      Ist Art. 18 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta in dem Fall, dass sich die internationale Zuständigkeit des angerufenen Gerichts aus einer anderen Vorschrift als Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 ergibt, dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften und nationaler Rechtsprechung entgegensteht, wonach der Erlass eines Mahnbescheids zwar nur gegen eine natürliche Person zulässig ist, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Staat des angerufenen Gerichts hat, aber die Feststellung, dass der Schuldner, wenn er Staatsangehöriger dieses Staates ist, seinen Aufenthalt in einem anderen Staat begründet hat, nicht allein auf der Grundlage erfolgen kann, dass er gegenüber dem erstgenannten Staat eine Meldeanschrift angegeben hat („aktuelle“ Anschrift), die sich in einem anderen Staat der Europäischen Union befindet, wenn es dem Schuldner nicht möglich ist, darzulegen, dass er vollständig in den letztgenannten Staat umgezogen ist und keine Anschrift im Hoheitsgebiet des Staates des angerufenen Gerichts hat? Ist es in diesem Fall von Bedeutung, wann die Erklärung über die aktuelle Anschrift abgegeben wurde?

4.      Falls die erste Teilfrage der dritten Vorlagefrage dahin beantwortet wird, dass der Erlass eines Mahnbescheids zulässig ist, ist es dann nach Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 in Verbindung mit der Auslegung von Art. 22 Abs. 1 und 2 der Verordnung 2020/1784, wie sie im Urteil vom 19. Dezember 2012, Alder (C‑325/11, EU:C:2012:824), erfolgt ist, und in Verbindung mit dem Grundsatz der wirksamen Anwendung des Unionsrechts bei der Ausübung der nationalen Verfahrensautonomie zulässig, dass ein nationales Gericht eines Staates, in dem Staatsangehörige ihre Meldeanschrift im Hoheitsgebiet dieses Staates nicht aufgeben und sie nicht in einen anderen Staat verlegen können, dann, wenn es mit einem Antrag auf Erlass eines Mahnbescheids in einem Verfahren ohne Beteiligung des Schuldners befasst ist, gemäß Art. 7 der Verordnung 2020/1784 bei den Behörden des Staates, in dem der Schuldner eine Meldeanschrift hat, Auskünfte über dessen dortige Anschrift und das Datum der dortigen Registrierung einholt, um den tatsächlichen gewöhnlichen Aufenthalt des Schuldners vor Erlass der abschließenden Entscheidung in der Rechtssache zu ermitteln?

 Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

39      Nach ständiger Rechtsprechung ist das durch Art. 267 AEUV geschaffene Verfahren ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung der bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten benötigen, und die Rechtfertigung des Vorabentscheidungsersuchens liegt nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen, sondern darin, dass es für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreits erforderlich ist (Urteil vom 9. Januar 2024, G. u. a. [Ernennung von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Polen], C‑181/21 und C‑269/21, EU:C:2024:1, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40      Wie sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 267 AEUV ergibt, muss die beantragte Vorabentscheidung „erforderlich“ sein, um dem vorlegenden Gericht den „Erlass seines Urteils“ in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermöglichen (Urteil vom 9. Januar 2024, G. u. a. [Ernennung von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Polen], C‑181/21 und C‑269/21, EU:C:2024:1, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41      Der Gerichtshof hat daher darauf hingewiesen, dass sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem Aufbau von Art. 267 AEUV folgt, dass das Vorabentscheidungsverfahren insbesondere voraussetzt, dass bei den nationalen Gerichten tatsächlich ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sie eine Entscheidung erlassen müssen, bei der das im Vorabentscheidungsverfahren ergangene Urteil berücksichtigt werden kann (Urteil vom 9. Januar 2024, G. u. a. [Ernennung von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Polen], C‑181/21 und C‑269/21, EU:C:2024:1, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42      Im vorliegenden Fall muss das vorlegende Gericht seine Zuständigkeit für den Erlass eines Mahnbescheids gemäß Art. 411 Abs. 1 GPK von Amts wegen prüfen. Hierfür hat es dem Gerichtshof vier Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt, die die Auslegung der Verordnungen Nrn. 1215/2012 und 2020/1784 sowie die Auslegung von Art. 18 Abs. 1 AEUV, Art. 21 AEUV und Art. 47 Abs. 2 der Charta betreffen.

43      Erstens geht zur begehrten Auslegung von Art. 47 Abs. 2 der Charta aus dem Vorabentscheidungsersuchen nicht hervor, dass diese Auslegung für die Entscheidung, die das nationale Gericht zu treffen hat, objektiv erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Januar 2024, G. u. a. [Ernennung von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Polen], C‑181/21 und C‑269/21, EU:C:2024:1, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung). Das vorlegende Gericht erläutert nämlich nicht den Bezug, den es zwischen dieser Bestimmung und dem Ausgangsrechtsstreit herstellt, und auch nicht die Gründe, aus denen seiner Ansicht nach eine Auslegung dieser Bestimmung für die Entscheidung dieses Rechtsstreits erforderlich wäre.

44      Zweitens ist zur begehrten Auslegung von Art. 22 der Verordnung 2020/1784 festzustellen, dass dieser Artikel, wie aus seiner Überschrift hervorgeht, die Pflichten des nationalen Gerichts bei Nichteinlassung des Beklagten regelt. Dieser Artikel kommt zur Anwendung, wenn ein verfahrenseinleitendes Schriftstück oder ein diesem gleichwertiges Schriftstück bereits zum Zweck der Zustellung in einen anderen Mitgliedstaat übermittelt wurde und ein kontradiktorisches Verfahren nach dem Ausgangsverfahren, in dem der Schuldner noch nicht Partei ist, betrifft. Art. 22 der Verordnung 2020/1784 geht also von einer Prämisse aus, die im vorliegenden Fall nur hypothetisch ist, und zwar der Nichteinlassung des Beklagten.

45      Daraus folgt, dass das Vorabentscheidungsersuchen, soweit es die Auslegung von Art. 47 Abs. 2 der Charta und Art. 22 Abs. 1 und 2 der Verordnung 2020/1784 betrifft, in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht und daher unzulässig ist.

 Zu den Vorlagefragen

 Zu den Fragen 1 bis 3

 Vorbemerkungen

46      Erstens stellt sich in Bezug auf die Auslegung der maßgeblichen Bestimmungen der Verordnung Nr. 1215/2012 zunächst die Frage, ob der Ausgangsrechtsstreit unter diese Verordnung fällt, da deren Anwendung einen Auslandsbezug voraussetzt. Im vorliegenden Fall ist der betreffende Schuldner zwar noch nicht Partei des Ausgangsverfahrens, der Antrag auf Erlass eines Mahnbescheids gegen diesen Schuldner, dessen Wohnsitz sich in einem anderen Mitgliedstaat befindet, ist aber bereits gestellt, was einen ausreichenden Auslandsbezug darstellt, um zur Anwendung dieser Verordnung zu führen.

47      Zweitens ist zur Auslegung von Art. 18 AEUV darauf hinzuweisen, dass dieser Artikel eigenständig nur bei unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen zur Anwendung kommen soll, für die keine besonderen Diskriminierungsverbote bestehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Februar 2011, Missionswerk Werner Heukelbach, C‑25/10, EU:C:2011:65, Rn. 18, sowie vom 28. September 2023, Ryanair/Kommission, C‑321/21 P, EU:C:2023:713, Rn. 98 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48      Was im vorliegenden Fall die von den Vorlagefragen im Wesentlichen aufgeworfene Problematik betrifft, nämlich die der unterschiedlichen Modalitäten für die Bestimmung des Wohnsitzes je nachdem, ob bulgarische Staatsangehörige oder in Bulgarien wohnhafte ausländische Staatsangehörige betroffen sind, stellt Art. 4 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 ein Diskriminierungsverbot auf, da diese Bestimmung jede Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit bei der Anwendung der Zuständigkeitsvorschriften dieser Verordnung verbietet. Daher ist Art. 18 AEUV nicht eigenständig anzuwenden und infolgedessen auch nicht getrennt auszulegen.

49      Drittens ist auf Folgendes hinzuweisen: Da die Verordnung Nr. 1215/2012 die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1) aufgehoben und ersetzt hat, die ihrerseits das Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der Fassung der aufeinanderfolgenden Übereinkommen über den Beitritt der neuen Mitgliedstaaten zu diesem Übereinkommen ersetzt hat, gilt die vom Gerichtshof vorgenommene Auslegung der Bestimmungen der beiden letztgenannten Rechtsinstrumente auch für die Verordnung Nr. 1215/2012, soweit diese Bestimmungen als mit denen dieser letztgenannten Verordnung „gleichwertig“ angesehen werden können (Urteil vom 9. Juli 2020, Verein für Konsumenteninformation, C‑343/19, EU:C:2020:534, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 Zur ersten Frage

50      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 62 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach als Wohnsitz von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, eine Anschrift gilt, die immer im ersten Mitgliedstaat eingetragen bleibt.

51      Hierzu ist zunächst festzustellen, dass der Begriff „Wohnsitz“ in der Struktur der Verordnung Nr. 1215/2012 von wesentlicher Bedeutung ist, denn er stellt das allgemeine Anknüpfungskriterium dar, anhand dessen gemäß Art. 4 Abs. 1 dieser Verordnung, der auf den Wohnsitz des Beklagten unabhängig von dessen Staatsangehörigkeit Bezug nimmt, die internationale Zuständigkeit festgestellt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2013, Corman-Collins, C‑9/12, EU:C:2013:860, Rn. 22 und 23).

52      Wie aus dem Bericht von Herrn P. Jenard zum Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1979, C 59, S. 1) hervorgeht, dessen Kommentare zur Rechtfertigung der Entscheidung für das Wohnsitzkriterium auch für die Auslegung der Verordnung Nr. 1215/2012 gelten, wurde die Entscheidung des Gesetzgebers, dieses Kriterium dem der Staatsangehörigkeit vorzuziehen, durch die Notwendigkeit bestimmt, die einheitliche Anwendung der Zuständigkeitsregeln zu erleichtern, um zu vermeiden, dass unterschiedliche Zuständigkeitsregeln gelten, je nachdem, ob sich in einem Rechtsstreit Staatsangehörige eines Vertragsstaats oder ein Staatsangehöriger eines Vertragsstaats und ein ausländischer Staatsangehöriger oder zwei ausländische Staatsangehörige gegenüberstehen.

53      Wie im Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen sowie in der Verordnung Nr. 44/2001 wird in der Verordnung Nr. 1215/2012 der Begriff „Wohnsitz“ nicht definiert. So verweist Art. 62 Abs. 1 dieser Verordnung für die Entscheidung, ob eine Partei einen Wohnsitz im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats hat, dessen Gerichte angerufen worden sind, auf das innerstaatliche Recht dieses Mitgliedstaats. Hat eine Partei keinen Wohnsitz in dem Mitgliedstaat, dessen Gerichte angerufen worden sind, so wendet das Gericht, wenn es zu entscheiden hat, ob die Partei einen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat hat, gemäß Art. 62 Abs. 2 dieser Verordnung das Recht dieses Mitgliedstaats an.

54      Die Mitgliedstaaten sind daher für die Ermittlung des Wohnsitzes einer natürlichen Person grundsätzlich gemäß ihrem eigenen Recht zuständig.

55      Allerdings darf nach ständiger Rechtsprechung die Anwendung der nationalen Vorschriften die praktische Wirksamkeit eines Unionsrechtsakts nicht beeinträchtigen. Wie der Gerichtshof in Bezug auf die Verordnung Nr. 44/2001 im Wesentlichen entschieden hat – und diese Rechtsprechung ist auf die Auslegung der Verordnung Nr. 1215/2012 übertragbar –, darf nämlich die Anwendung der Verfahrensvorschriften eines Mitgliedstaats die praktische Wirksamkeit des in der letztgenannten Verordnung vorgesehenen Systems nicht dadurch beeinträchtigen, dass die in dieser aufgestellten Grundsätze vereitelt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. April 2009, Apostolides, C‑420/07, EU:C:2009:271, Rn. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung).

56      Wie aus Rn. 51 des vorliegenden Urteils hervorgeht, beruht das mit der Verordnung Nr. 1215/2012 eingeführte System auf der Entscheidung des Unionsgesetzgebers, die einheitlichen Zuständigkeitsvorschriften auf das Wohnsitzkriterium zu stützen und nicht auf das Kriterium der Staatsangehörigkeit des Beklagten. Infolgedessen kann, wie auch die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen geltend macht, ein Mitgliedstaat diese grundlegende Entscheidung nicht dadurch ändern, dass er nationale Vorschriften anwendet, nach denen seine Staatsangehörigen verpflichtend einen Wohnsitz in seinem Hoheitsgebiet haben.

57      Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass das bulgarische Recht bei seinen Staatsangehörigen zwischen deren ständiger und deren aktueller Anschrift unterscheidet.

58      Jeder bulgarische Staatsangehörige verfügt über eine einzige ständige Anschrift im Hoheitsgebiet der Republik Bulgarien, die der im Bevölkerungsregister eingetragenen Anschrift entspricht und immer in diesem Hoheitsgebiet bleibt. Bulgarische Staatsangehörige, die im Ausland leben und keine ständige Anschrift in Bulgarien vorweisen können, werden von Amts wegen in das Bevölkerungsregister des Bezirks „Sredets“ der Stadt Sofia eingetragen. Die aktuelle Anschrift ist hingegen die Anschrift, an der die betreffende Person wohnt. Für im Ausland niedergelassene bulgarische Staatsangehörige beschränkt sich diese Anschrift auf den Eintrag des Namens des Staates, in dem sie leben, im Bevölkerungsregister, ohne dass nach Angaben des vorlegenden Gerichts für solche Staatsangehörige die Möglichkeit besteht, eine genaue Adresse außerhalb Bulgariens einzutragen. Wie dieses Gericht erläutert, sind bulgarische Staatsangehörige daher verpflichtet, unabhängig von dem Ort, an dem sie tatsächlich wohnen, über eine ständige Anschrift in Bulgarien zu verfügen.

59      Vorbehaltlich der Überprüfungen, die das vorlegende Gericht vornehmen muss, setzen die bulgarischen Rechtsvorschriften, wie sie vom vorlegenden Gericht dargestellt werden, den Wohnsitz bulgarischer Staatsangehöriger mit deren ständiger Anschrift gleich, die sich unabhängig davon, ob sie in Bulgarien oder im Ausland wohnen, immer in Bulgarien befindet, und ermöglichen ihnen nicht, eine vollständige Anschrift in einem anderen Mitgliedstaat zu registrieren, selbst wenn sie ständig dort wohnen und somit nach den gemäß Art. 62 Abs. 2 der Verordnung 1215/2012 anwendbaren Rechtsvorschriften dieses anderen Mitgliedstaats als Personen mit Wohnsitz in dessen Hoheitsgebiet angesehen werden können.

60      Weiter ist klarzustellen, dass es nur dem vorlegenden Gericht zukommt, die Bedeutung des Begriffs „Wohnsitz“ im nationalen Recht zu bestimmen. Soweit eine nationale Regelung diesen Begriff automatisch mit einer dauerhaften, verpflichtenden und manchmal fiktiven Anschrift, die für jeden Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats registriert ist, verknüpft, beeinträchtigt eine solche Regelung allerdings die praktische Wirksamkeit der Verordnung Nr. 1215/2012, da sie darauf hinausläuft, das Kriterium des Wohnsitzes, auf dem die mit dieser Verordnung eingeführten Zuständigkeitsvorschriften beruhen, durch das Kriterium der Staatsangehörigkeit zu ersetzen.

61      Unter diesen Umständen braucht die Frage, ob Art. 21 AEUV einer nationalen Regelung wie der in der vorstehenden Randnummer beschriebenen ebenfalls entgegensteht, nicht geprüft zu werden.

62      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 62 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach als Wohnsitz von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, eine Anschrift gilt, die immer im ersten Mitgliedstaat eingetragen bleibt.

 Zur zweiten und zur dritten Frage

63      Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren (Urteil vom 30. Januar 2024, Direktor na Glavna direktsia „Natsionalna politsia“ pri MVR – Sofia, C‑118/22, EU:C:2024:97, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

64      Im vorliegenden Fall gehen die zweite und die dritte Frage, die zusammen zu prüfen sind, darauf zurück, dass, wie aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, das vorlegende Gericht meint, gemäß Art. 411 GPK in seiner Auslegung durch die Entscheidung vom 18. Juni 2014 verpflichtet zu sein, einen Mahnbescheid gegen einen Schuldner zu erlassen, der bulgarischer Staatsangehöriger ist und dessen ständige Anschrift sich in Bulgarien befindet, auch wenn es plausible Gründe für die Annahme gibt, dass dieser Schuldner zum Zeitpunkt der Stellung dieses Antrags auf Erlass eines Mahnbescheids im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnte und infolgedessen dieses Gericht gemäß Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 nicht international zuständig für einen solchen Antrag wäre.

65      Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts kann nicht ausgeschlossen werden, dass es seine Zuständigkeit auf eine andere Bestimmung stützen kann, nämlich Art. 7 Nr. 1 Buchst. b zweiter Gedankenstrich in Abschnitt 2 des Kapitels II der Verordnung Nr. 1215/2012. Das Gericht fragt sich allerdings, ob Art. 5 Abs. 1 dieser Verordnung dem entgegensteht, dass es verpflichtet ist, einen Mahnbescheid gegen einen Schuldner zu erlassen, dessen aktuelle Anschrift sich in einem anderen Mitgliedstaat befindet. In diesem Kontext fragt sich das vorlegende Gericht auch nach der Relevanz des Zeitpunkts, zu dem eine aktuelle Anschrift vom betreffenden Schuldner registriert wurde.

66      Infolgedessen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit der zweiten und der dritten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass eine nationale Regelung in ihrer Auslegung durch die nationale Rechtsprechung einem Gericht eines Mitgliedstaats die Zuständigkeit verleiht, einen Mahnbescheid gegen einen Schuldner zu erlassen, bei dem plausible Gründe für die Annahme bestehen, dass er seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats hat.

67      Wie in Rn. 51 des vorliegenden Urteils ausgeführt wurde, stellt Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 als allgemeine Zuständigkeitsregel, auf der diese Verordnung beruht, die des Wohnsitzes des Beklagten unabhängig von dessen Staatsangehörigkeit auf.

68      Nach Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 können Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, nur gemäß den Vorschriften der Abschnitte 2 bis 7 des Kapitels II dieser Verordnung vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats verklagt werden. Diese Abschnitte enthalten Vorschriften für besondere Zuständigkeiten, Zuständigkeitsvorschriften für Versicherungssachen, Verbrauchersachen und individuelle Arbeitsverträge, Vorschriften für ausschließliche Zuständigkeiten und Vorschriften für Vereinbarungen über die Zuständigkeit.

69      Diesen Abschnitten ist zu entnehmen, dass nur in den darin geregelten Situationen davon ausgegangen werden kann, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats international zuständig für eine Sache gegen einen Verbraucher ist, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats hat.

70      Im vorliegenden Fall müsste das vorlegende Gericht einen Mahnbescheid gegen einen Verbraucher erlassen können, bei dem plausible Gründe für die Annahme bestehen, dass er zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Erlass des Mahnbescheids seinen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat als der Republik Bulgarien hatte, wenn es seine Zuständigkeit für einen solchen Antrag auf eine der Zuständigkeitsvorschriften in den Abschnitten 2 bis 7 der Verordnung Nr. 1215/2012 stützen kann.

71      Für die Bestimmung der Zuständigkeit sind also diejenigen Umstände zu berücksichtigen, die zum Zeitpunkt der Stellung des betreffenden Antrags auf Erlass eines Mahnbescheids bestanden.

72      Nach alledem ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass eine nationale Regelung in ihrer Auslegung durch die nationale Rechtsprechung einem Gericht eines Mitgliedstaats in anderen als den in den Abschnitten 2 bis 7 des Kapitels II dieser Verordnung vorgesehenen Situationen die Zuständigkeit verleiht, einen Mahnbescheid gegen einen Schuldner zu erlassen, bei dem plausible Gründe für die Annahme bestehen, dass er zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Erlass des Mahnbescheids seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats hatte.

 Zur vierten Frage

73      Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 7 der Verordnung 2020/1784 dahin auszulegen ist, dass er einem Gericht eines Mitgliedstaats, das für den Erlass eines Mahnbescheids gegen einen Schuldner zuständig ist, bei dem plausible Gründe für die Annahme bestehen, dass er seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats hat, nicht verwehrt, sich an die zuständigen Behörden zu wenden und die von diesem anderen Mitgliedstaat zur Verfügung gestellten Mittel zu nutzen, um zum Zweck der Zustellung des Mahnbescheids die Anschrift dieses Schuldners zu ermitteln.

74      Zunächst ist auf Folgendes hinzuweisen: Sollte das vorlegende Gericht, zu dem Ergebnis kommen, dass es auf der Grundlage einer der Zuständigkeitsvorschriften in den Abschnitten 2 bis 7 des Kapitels II der Verordnung Nr. 1215/2012 für das Ausgangsverfahren zuständig ist und infolgedessen befugt ist, den gegen den betreffenden Schuldner beantragten Mahnbescheid zu erlassen, auch wenn der Schuldner seinen Wohnsitz im Hoheitsgebet eines anderen Mitgliedstaats hat, ist es verpflichtet, dem Schuldner den Mahnbescheid zuzustellen.

75      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs fällt, wenn der Empfänger eines gerichtlichen Schriftstücks im Ausland ansässig ist, die Zustellung dieses Schriftstücks grundsätzlich in den Anwendungsbereich der Verordnung 2020/1784 und muss auf dem Weg bewirkt werden, den diese Verordnung dafür vorsieht, außer namentlich in dem Fall, in dem der Wohnsitz oder gewöhnliche Aufenthalt dieses Empfängers unbekannt ist (vgl. entsprechend Urteil vom 19. Dezember 2012, Alder, C‑325/11, EU:C:2012:824, Rn. 24 und 25).

76      In dieser letztgenannten Situation besteht allerdings gemäß Art. 1 Abs. 2 dieser Verordnung, der auf deren Art. 7 verweist, eine Pflicht, bei der Ermittlung der Anschrift des Empfängers des zuzustellenden Schriftstücks Unterstützung zu leisten.

77      Nach Art. 7 der Verordnung 2020/1784 leistet, wenn die Anschrift der Person, der das gerichtliche oder außergerichtliche Schriftstück in einem anderen Mitgliedstaat zuzustellen ist, nicht bekannt ist, der andere Mitgliedstaat bei der Ermittlung der Anschrift dadurch Unterstützung, dass er entweder Behörden benennt, an welche die Übermittlungsstellen Anfragen zu diesem Zweck stellen können, oder dass er direkte Auskunftsanfragen zu dieser Anschrift mittels eines auf dem Europäischen Justizportal verfügbaren Standardformulars an Wohnsitzregister oder andere öffentlich zugängliche Datenbanken erlaubt oder dass er Informationen in diesem Justizportal bereitstellt, wie die Anschrift ermittelt werden kann.

78      Folglich kann ein Gericht eines Mitgliedstaats, das ein gerichtliches oder außergerichtliches Schriftstück in einem anderen Mitgliedstaat zustellen muss, alle nach Art. 7 der Verordnung 2020/1784 zur Verfügung gestellten Mittel nutzen, um die Anschrift des Empfängers des zuzustellenden Schriftstücks zu ermitteln.

79      Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 7 der Verordnung 2020/1784 dahin auszulegen ist, dass er einem Gericht eines Mitgliedstaats, das für den Erlass eines Mahnbescheids gegen einen Schuldner zuständig ist, bei dem plausible Gründe für die Annahme bestehen, dass er seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats hat, nicht verwehrt, sich an die zuständigen Behörden zu wenden und die von diesem anderen Mitgliedstaat zur Verfügung gestellten Mittel zu nutzen, um zum Zweck der Zustellung des Mahnbescheids die Anschrift dieses Schuldners zu ermitteln.

 Kosten

80      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 62 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen

ist dahin auszulegen, dass

er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach als Wohnsitz von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, eine Anschrift gilt, die immer im ersten Mitgliedstaat eingetragen bleibt.

2.      Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012

sind dahin auszulegen, dass

sie dem entgegenstehen, dass eine nationale Regelung in ihrer Auslegung durch die nationale Rechtsprechung einem Gericht eines Mitgliedstaats in anderen als den in den Abschnitten 2 bis 7 des Kapitels II dieser Verordnung vorgesehenen Situationen die Zuständigkeit verleiht, einen Mahnbescheid gegen einen Schuldner zu erlassen, bei dem plausible Gründe für die Annahme bestehen, dass er zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Erlass des Mahnbescheids seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats hatte.

3.      Art. 7 Verordnung (EU) 2020/1784 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2020 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten (Zustellung von Schriftstücken)

ist dahin auszulegen, dass

er einem Gericht eines Mitgliedstaats, das für den Erlass eines Mahnbescheids gegen einen Schuldner zuständig ist, bei dem plausible Gründe für die Annahme bestehen, dass er seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats hat, nicht verwehrt, sich an die zuständigen Behörden zu wenden und die von diesem anderen Mitgliedstaat zur Verfügung gestellten Mittel zu nutzen, um zum Zweck der Zustellung des Mahnbescheids die Anschrift dieses Schuldners zu ermitteln.

Unterschriften



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