Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
19. November 2024(* )
„ Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Art. 20 AEUV – Unionsbürgerschaft – Art. 21 AEUV – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Art. 22 AEUV – Aktives und passives Wahlrecht bei Kommunalwahlen und bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Wohnsitzmitgliedstaat unter denselben Bedingungen wie die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats – Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen – Kein Recht auf Mitgliedschaft in einer politischen Partei – Art. 2 und 10 EUV – Demokratieprinzip – Art. 4 Abs. 2 EUV – Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten – Art. 12 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Rolle der politischen Parteien beim Ausdruck des Willens der Unionsbürger “
In der Rechtssache C‑814/21
betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 21. Dezember 2021,
Europäische Kommission , vertreten durch A. Szmytkowska und J. Tomkin als Bevollmächtigte,
Klägerin,
gegen
Republik Polen , vertreten durch B. Majczyna, E. Borawska-Kędzierska und A. Siwek-Ślusarek als Bevollmächtigte,
Beklagte,
unterstützt durch
Tschechische Republik , vertreten durch A. Edelmannová, T. Müller, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
Streithelferin,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten T. von Danwitz, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún, der Kammerpräsidenten A. Kumin und D. Gratsias, des Richters E. Regan, der Richterin I. Ziemele (Berichterstatterin), des Richters Z. Csehi und der Richterin O. Spineanu-Matei,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. September 2023,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. Januar 2024
folgendes
Urteil
1 Mit ihrer Klage begehrt die Europäische Kommission die Feststellung, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 22 AEUV verstoßen hat, dass sie Unionsbürgern, die nicht die polnische Staatsangehörigkeit besitzen, aber in Polen ihren Wohnsitz haben, das Recht verwehrt, Mitglied einer politischen Partei zu sein.
Rechtlicher Rahmen
Internationales Recht
2 Die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) bestimmt in Art. 11 („Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit“):
„(1) Jede Person hat das Recht, sich frei und friedlich mit anderen zu versammeln und sich frei mit anderen zusammenzuschließen; dazu gehört auch das Recht, zum Schutz ihrer Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten.
(2) Die Ausübung dieser Rechte darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale oder öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Dieser Artikel steht rechtmäßigen Einschränkungen der Ausübung dieser Rechte für Angehörige der Streitkräfte, der Polizei oder der Staatsverwaltung nicht entgegen.“
3 Art. 16 („Beschränkungen der politischen Tätigkeit ausländischer Personen“) EMRK bestimmt:
„Die Artikel 10, 11 und 14 sind nicht so auszulegen, als untersagten sie den Hohen Vertragsparteien, die politische Tätigkeit ausländischer Personen zu beschränken.“
4 Art. 3 („Recht auf freie Wahlen“) des am 20. März 1952 in Paris unterzeichneten Zusatzprotokolls zur EMRK lautet:
„Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, in angemessenen Zeitabständen freie und geheime Wahlen unter Bedingungen abzuhalten, welche die freie Äußerung der Meinung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Körperschaften gewährleisten.“
Unionsrecht
EU-Vertrag und AEU-Vertrag
5 Art. 2 EUV sieht vor:
„Die Werte, auf die sich die [Europäische] Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“
6 Art. 4 Abs. 1 und 2 EUV lautet:
„(1) Alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten verbleiben gemäß Artikel 5 bei den Mitgliedstaaten.
(2) Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt. Sie achtet die grundlegenden Funktionen des Staates, insbesondere die Wahrung der territorialen Unversehrtheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der nationalen Sicherheit. Insbesondere die nationale Sicherheit fällt weiterhin in die alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten.“
7 Art. 5 Abs. 1 und 2 EUV sieht vor:
„(1) Für die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Union gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung. Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union gelten die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit.
(2) Nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung wird die Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben. Alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten verbleiben bei den Mitgliedstaaten.“
8 Art. 10 EUV bestimmt:
„(1) Die Arbeitsweise der Union beruht auf der repräsentativen Demokratie.
(2) Die Bürgerinnen und Bürger sind auf Unionsebene unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten.
Die Mitgliedstaaten werden im Europäischen Rat von ihrem jeweiligen Staats- oder Regierungschef und im Rat [der Europäischen Union] von ihrer jeweiligen Regierung vertreten, die ihrerseits in demokratischer Weise gegenüber ihrem nationalen Parlament oder gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern Rechenschaft ablegen müssen.
(3) Alle Bürgerinnen und Bürger haben das Recht, am demokratischen Leben der Union teilzunehmen. Die Entscheidungen werden so offen und bürgernah wie möglich getroffen.
(4) Politische Parteien auf europäischer Ebene tragen zur Herausbildung eines europäischen politischen Bewusstseins und zum Ausdruck des Willens der Bürgerinnen und Bürger der Union bei.“
9 Art. 18 Abs. 1 AEUV lautet:
„Unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge ist in ihrem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.“
10 In Art. 20 AEUV heißt es:
„(1) Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt diese aber nicht.
(2) Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben die in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten. Sie haben unter anderem
…
b) in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen, wobei für sie dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats;
…
Diese Rechte werden unter den Bedingungen und innerhalb der Grenzen ausgeübt, die in den Verträgen und durch die in Anwendung der Verträge erlassenen Maßnahmen festgelegt sind.“
11 Art. 21 Abs. 1 AEUV lautet:
„Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.“
12 Art. 22 AEUV bestimmt:
„(1) Jeder Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, hat in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen, wobei für ihn dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats. Dieses Recht wird vorbehaltlich der Einzelheiten ausgeübt, die vom Rat einstimmig gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung des Europäischen Parlaments festgelegt werden; in diesen können Ausnahmeregelungen vorgesehen werden, wenn dies aufgrund besonderer Probleme eines Mitgliedstaats gerechtfertigt ist.
(2) Unbeschadet des Artikels 223 Absatz 1 und der Bestimmungen zu dessen Durchführung besitzt jeder Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament, wobei für ihn dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats. Dieses Recht wird vorbehaltlich der Einzelheiten ausgeübt, die vom Rat einstimmig gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung des Europäischen Parlaments festgelegt werden; in diesen können Ausnahmeregelungen vorgesehen werden, wenn dies aufgrund besonderer Probleme eines Mitgliedstaats gerechtfertigt ist.“
Charta
13 Art. 12 („Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit“) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) lautet:
„(1) Jede Person hat das Recht, sich insbesondere im politischen, gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Bereich auf allen Ebenen frei und friedlich mit anderen zu versammeln und frei mit anderen zusammenzuschließen, was das Recht jeder Person umfasst, zum Schutz ihrer Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten.
(2) Politische Parteien auf der Ebene der Union tragen dazu bei, den politischen Willen der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger zum Ausdruck zu bringen.“
14 Art. 39 („Aktives und passives Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament“) der Charta bestimmt:
„(1) Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger besitzen in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament unter denselben Bedingungen wie die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats.
(2) Die Mitglieder des Europäischen Parlaments werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl gewählt.“
15 Art. 40 („Aktives und passives Wahlrecht bei den Kommunalwahlen“) der Charta sieht vor:
„Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger besitzen in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen unter denselben Bedingungen wie die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats.“
Richtlinie 93/109/EG
16 Die Erwägungsgründe 3 bis 7 und 10 der Richtlinie 93/109/EG des Rates vom 6. Dezember 1993 über die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Wahlen zum Europäischen Parlament für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen (ABl. 1993, L 329, S. 34), in der durch die Richtlinie 2013/1/EU des Rates vom 20. Dezember 2012 (ABl. 2013, L 26, S. 27) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 93/109) lauten:
„Das in Artikel 8b Absatz 2 [EG] vorgesehene aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Wohnsitzmitgliedstaat stellt eine Anwendung des Grundsatzes der Nichtsdiskriminierung zwischen in- und ausländischen Gemeinschaftsbürgern sowie eine Ergänzung des in Artikel 8a [EG] festgeschriebenen Rechts auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt dar.
Artikel 8b Absatz 2 [EG] betrifft nur die Möglichkeit der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Wahlen zum Europäischen Parlament – unbeschadet der Durchführung von Artikel 138 Absatz 3 [EG], der die Einführung eines in allen Mitgliedstaaten einheitlichen Verfahrens für diese Wahlen vorsieht – und zielt vor allem darauf ab, die Bedingung der Staatsangehörigkeit, an die heute in den meisten Mitgliedstaaten die Ausübung dieser Rechte geknüpft ist, aufzuheben.
Die Anwendung von Artikel 8b Absatz 2 [EG] setzt keine Harmonisierung der Wahlrechtsordnungen der Mitgliedstaaten voraus. Mit Rücksicht auf den in Artikel 3b Absatz 3 [EG] festgeschriebenen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit darf zudem der Inhalt der einschlägigen Gemeinschaftsvorschriften nicht über das für die Erreichung des Ziels von Artikel 8b Absatz 2 [EG] erforderliche Maß hinausgehen.
Artikel 8b Absatz 2 [EG] zielt darauf ab, dass alle Unionsbürger, gleich, ob sie Staatsangehörige des Mitgliedstaats ihres Wohnsitzes sind oder nicht, dort ihr aktives und passives Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament unter den gleichen Bedingungen ausüben können. Deshalb müssen für die Unionsbürger, die keine Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats sind, die gleichen Bedingungen, insbesondere bezüglich der Wohnsitzdauer und des Wohnsitznachweises, gelten, wie sie gegebenenfalls für die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats gelten.
Artikel 8b Absatz 2 [EG] sieht das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Wohnsitzmitgliedstaat vor, ohne dieses an die Stelle des aktiven und passiven Wahlrechts im Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt, zu setzen. Es gilt, die freie Entscheidung des Unionsbürgers bezüglich des Mitgliedstaats, in dem er sich an der Europawahl beteiligen möchte, zu respektieren, wobei ein Missbrauch dieser Freiheit durch eine doppelte Stimmabgabe oder eine doppelte Kandidatur auszuschließen ist.
…
Die Unionsbürgerschaft zielt darauf ab, die Unionsbürger in ihrem Aufnahmeland besser zu integrieren; in diesem Zusammenhang entspricht es den Absichten der Verfasser des Vertrags, jede Polarisierung zwischen den Listen von in- und ausländischen Kandidaten zu vermeiden.“
17 Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 93/109 bestimmt:
„In dieser Richtlinie werden die Einzelheiten festgelegt, nach denen die Unionsbürger, die ihren Wohnsitz in einem Mitgliedstaat haben, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, dort das aktive und das passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament ausüben können.“
18 Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 93/109 sieht vor:
„Bei der Einreichung seiner Kandidaturerklärung hat der passiv Wahlberechtigte der Gemeinschaft die gleichen Nachweise wie ein nationaler passiv Wahlberechtigter beizubringen. Außerdem hat er eine förmliche Erklärung vorzulegen, aus der Folgendes hervorgeht:
a) seine Staatsangehörigkeit, sein Geburtsdatum und [sein] Geburtsort, seine letzte Anschrift im Herkunftsmitgliedstaat sowie seine Anschrift im Wahlgebiet des Wohnsitzmitgliedstaats;
b) dass er nicht gleichzeitig in einem anderen Mitgliedstaat bei den Wahlen zum Europäischen Parlament kandidiert;
c) im Wählerverzeichnis welcher Gebietskörperschaft oder welchen Wahlkreises des Herkunftsmitgliedstaats er gegebenenfalls zuletzt eingetragen gewesen ist;
d) dass er in seinem Herkunftsmitgliedstaat nicht infolge einer Einzelfallentscheidung einer Justizbehörde oder einer Einzelfallentscheidung einer Verwaltungsbehörde, die vor Gericht angefochten werden kann, des passiven Wahlrechts verlustig gegangen ist.“
19 Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 93/109 lautet:
„Bei Ablehnung des Antrags auf Eintragung in das Wählerverzeichnis oder bei Ablehnung der Kandidatur kann der Betreffende den Rechtsbehelf einlegen, den die Rechtsvorschriften des Wohnsitzmitgliedstaats in gleichen Fällen für die nationalen aktiv und passiv Wahlberechtigten vorsehen.“
Richtlinie 94/80/EG
20 Die Erwägungsgründe 4, 5 und 14 der Richtlinie 94/80/EG des Rates vom 19. Dezember 1994 über die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen (ABl. 1994, L 368, S. 38), lauten:
„Die Anwendung von Artikel 8b Absatz 1 [EG] setzt keine globale Harmonisierung der Wahlrechtsordnungen der Mitgliedstaaten voraus. Er zielt im Wesentlichen darauf ab, die Bedingung der Staatsangehörigkeit aufzuheben, an die zur Zeit in den meisten Mitgliedstaaten die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts geknüpft ist. Mit Rücksicht auf den in Artikel 3b Absatz 3 [EG] festgeschriebenen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit darf zudem der Inhalt der einschlägigen Gemeinschaftsvorschriften nicht über das für die Erreichung des Ziels von Artikel 8b Absatz 1 [EG] erforderliche Maß hinausgehen.
Artikel 8b Absatz 1 [EG] zielt darauf ab, dass alle Unionsbürger, unabhängig davon, ob sie Staatsangehörige des Wohnsitzmitgliedstaats sind oder nicht, dort ihr aktives und passives Wahlrecht bei den Kommunalwahlen unter den gleichen Bedingungen ausüben können. Deshalb müssen für die Unionsbürger, die nicht Staatsangehörige des betreffenden Mitgliedstaats sind, insbesondere bezüglich der Wohnsitzdauer und des Wohnsitznachweises die gleichen Bedingungen gelten, wie sie gegebenenfalls für die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats gelten. Die Unionsbürger, die keine Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats sind, dürfen keinen besonderen Voraussetzungen unterworfen sein, es sei denn, die unterschiedliche Behandlung von in- und ausländischen Staatsangehörigen wäre durch besondere Umstände Letzterer gerechtfertigt, die sie von den Ersteren unterscheiden.
…
Die Unionsbürgerschaft zielt darauf ab, die Unionsbürger in ihrem Aufnahmeland besser zu integrieren; in diesem Zusammenhang entspricht es den Absichten der Verfasser des Vertrags, jede Polarisierung zwischen den Listen von in- und ausländischen Kandidaten zu vermeiden.“
21 Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 94/80 lautet:
„In dieser Richtlinie werden die Einzelheiten festgelegt, nach denen die Unionsbürger, die ihren Wohnsitz in einem Mitgliedstaat haben, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, dort das aktive und das passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen ausüben können.“
22 In Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 94/80 heißt es:
„Aktiv Wahlberechtigte …, die in das Wählerverzeichnis eingetragen worden sind, bleiben unter den gleichen Bedingungen wie inländische aktiv Wahlberechtigte so lange eingetragen, bis sie von Amts wegen aus diesem Wählerverzeichnis gestrichen werden, weil sie die Voraussetzungen für die Ausübung des aktiven Wahlrechts nicht mehr erfüllen.
Aktiv Wahlberechtigte, die auf ihren Antrag hin in das Wählerverzeichnis eingetragen worden sind, können auf Antrag auch wieder aus dem Wählerverzeichnis gestrichen werden.
Im Fall der Verlegung des Wohnsitzes in eine andere lokale Gebietskörperschaft der Grundstufe desselben Mitgliedstaats werden diese aktiv Wahlberechtigten in das Wählerverzeichnis dieser Gebietskörperschaft unter denselben Voraussetzungen wie ein inländischer aktiv Wahlberechtigter eingetragen.“
23 Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 94/80 bestimmt:
„Bei Einreichung der Erklärung über seine Kandidatur hat der passiv Wahlberechtigte im Sinne des Artikels 3 die gleichen Nachweise beizubringen wie ein inländischer Kandidat. Der Wohnsitzmitgliedstaat kann verlangen, dass er eine förmliche Erklärung mit der Angabe seiner Staatsangehörigkeit und seiner Anschrift im Wohnsitzmitgliedstaat vorlegt.“
24 Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 94/80 sieht vor:
„Bei Nichteintragung in das Wählerverzeichnis, bei Ablehnung des Antrags auf Eintragung in das Wählerverzeichnis oder bei Ablehnung der Kandidatur kann der Betreffende die Rechtsbehelfe einlegen, die die Rechtsvorschriften des Wohnsitzmitgliedstaats in vergleichbaren Fällen für die inländischen aktiv und passiv Wahlberechtigten vorsehen.“
Polnisches Recht
25 Art. 2 Abs. 1 der Ustawa o partiach politycznych (Gesetz über die politischen Parteien) vom 27. April 1997 (Dz. U. 1997, Nr. 98, Pos. 604) in geänderter Fassung sieht vor:
„Staatsangehörige der Republik Polen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, können Mitglieder einer politischen Partei sein.“
26 Art. 5 des Gesetzes über politische Parteien bestimmt:
„Der Zugang zu öffentlichen Hörfunk- und Fernsehkanälen wird den politischen Parteien gemäß den in gesonderten Gesetzen festgelegten Regeln garantiert.“
27 In Art. 24 dieses Gesetzes heißt es:
„(1) Das Vermögen einer politischen Partei stammt aus Beiträgen ihrer Mitglieder, aus Spenden, Erbschaften oder Vermächtnissen, Vermögenserträgen sowie gesetzlich vorgesehenen Zuschüssen und Subventionen.
(2) Das Vermögen einer politischen Partei darf nur für satzungsgemäße oder gemeinnützige Zwecke verwendet werden.
…
(4) Eine politische Partei darf Einkünfte aus ihrem Vermögen nur erzielen aus
1. der Verzinsung der auf Bankkonten und Einlagen angesammelten Gelder;
2. dem Handel mit Anleihen und Schatzanweisungen des Skarb Państwa [Staatskasse, Polen];
3. der Veräußerung von Vermögenswerten;
…“
28 Art. 28 Abs. 1 dieses Gesetzes sieht vor:
„Eine politische Partei, die
1. nach der Einsetzung ihres eigenen Wahlausschusses für die Wahlen zum Sejm [Erste Kammer des Parlaments, Polen] mindestens 3 % der landesweit abgegebenen gültigen Stimmen für ihre Wahlkreisliste der Kandidaten für das Amt eines Abgeordneten erhalten hat oder
2. für die Wahlen zum Sejm einem Wahlbündnis beigetreten ist, auf dessen Wahlkreisliste der Kandidaten für das Amt eines Abgeordneten landesweit mindestens 6 % der abgegebenen gültigen Stimmen entfallen sind,
hat Anspruch darauf, während der Legislaturperiode und gemäß den in diesem Gesetz festgelegten Modalitäten und Regeln einen Zuschuss aus dem Staatshaushalt … zur Durchführung ihrer satzungsgemäßen Tätigkeiten zu erhalten.“
29 Art. 36 Abs. 1 dieses Gesetzes lautet:
„Die Mittel des Wahlfonds der politischen Partei können aus eigenen Beiträgen dieser Partei sowie aus Spenden, Erbschaften und Vermächtnissen stammen.“
30 Art. 84 der Ustawa Kodeks wyborczy (Gesetz über die Wahlordnung) vom 5. Januar 2011 (Dz. U. 2011, Nr. 21, Pos. 112) in ihrer für die vorliegende Klage maßgebenden Fassung (im Folgenden: Wahlgesetzbuch) bestimmt:
„§ 1. Das Recht, Kandidaten für eine Wahl zu nominieren, steht den Wahlausschüssen zu. Die Wahlausschüsse üben auch andere Wahltätigkeiten aus und betreiben insbesondere auf der Basis der Ausschließlichkeit den Wahlkampf für die Kandidaten.
§ 2. Bei den Wahlen zum Sejm und zum Senat sowie bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in der Republik Polen können die Wahlausschüsse von den politischen Parteien und den Wahlbündnissen politischer Parteien sowie von den Wählern gebildet werden.
…
§ 4. Bei den Wahlen zu den repräsentativen Gremien von Gebietskörperschaften und bei den Bürgermeisterwahlen können die Wahlausschüsse von den politischen Parteien und den Wahlbündnissen politischer Parteien, von sozialen Vereinen und Organisationen (im Folgenden: Organisationen) sowie von den Wählern gebildet werden.“
31 Art. 87 des Wahlgesetzbuchs sieht vor:
„§ 1. Politische Parteien können ein Wahlbündnis bilden, um gemeinsame Kandidaten aufzustellen. Eine politische Partei kann nur einem einzigen Wahlbündnis angehören.
§ 2. Die Wahlaktivitäten für ein Wahlbündnis werden von einem Wahlausschuss des Bündnisses durchgeführt, der aus den zur Vertretung der politischen Parteien nach außen befugten Organen besteht.
…“
32 Art. 89 § 1 des Wahlgesetzbuchs bestimmt:
„Mindestens 15 wahlberechtigte Bürger können einen Wahlausschuss bilden.“
33 Art. 117 § 1 des Wahlgesetzbuchs sieht vor:
„Die Wahlausschüsse, deren Kandidaten registriert wurden, haben ab dem 15. Tag vor dem Wahltermin bis zum Ende des Wahlkampfs das Recht, Wahlsendungen unentgeltlich in den Programmen der öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten auf Kosten dieser Anstalten zu verbreiten.“
34 Art. 119 § 1 des Wahlgesetzbuchs bestimmt:
„Unbeschadet des Rechts nach Art. 117 § 1 kann jeder Wahlausschuss ab dem Zeitpunkt des Eingangs der Anzeige seiner Einsetzung bei der zuständigen Wahlbehörde bis zum Ende des Wahlkampfs entgeltliche Wahlsendungen in den Programmen öffentlich-rechtlicher und privater Hörfunk- und Fernsehveranstalter verbreiten.“
35 Art. 126 des Wahlgesetzbuchs lautet:
„Die Wahlausschüsse bringen die für die Wahlen aufgewendeten Kosten aus eigenen Mitteln auf.“
36 In Art. 130 des Wahlgesetzbuchs heißt es:
„§ 1. Die Verantwortung für die finanziellen Verpflichtungen des Wahlausschusses liegt beim Finanzbeauftragten.
§ 2. Ohne die schriftliche Zustimmung des Finanzbeauftragten dürfen keine finanziellen Verpflichtungen im Namen und für Rechnung des Wahlausschusses eingegangen werden.
§ 3. Reichen die dem Finanzbeauftragten zur Verfügung stehenden Mittel nicht zur Deckung der gegen den Wahlausschuss bestehenden Forderungen aus, so haften für die finanziellen Verpflichtungen
1. des Wahlausschusses der politischen Partei oder der Organisation diejenige politische Partei oder Organisation, die diesen Ausschuss gebildet hat;
2. des Wahlausschusses eines Wahlbündnisses die politischen Parteien, die diesem Bündnis angehören, als Gesamtschuldner;
3. eines von den Wählern gebildeten Wahlausschusses die Mitglieder dieses Ausschusses als Gesamtschuldner.
…“
37 In Art. 132 des Wahlgesetzbuchs heißt es:
„§ 1. Die finanziellen Mittel des Wahlausschusses einer politischen Partei dürfen nur aus dem nach den Bestimmungen des [Gesetzes über die politischen Parteien] errichteten Wahlfonds dieser Partei stammen.
§ 2. Die finanziellen Mittel des Wahlausschusses eines Wahlbündnisses dürfen nur aus dem Wahlfonds der Parteien stammen, die diesem Wahlbündnis angehören.
§ 3. Die finanziellen Mittel
1. des Wahlausschusses einer Organisation,
2. des Wahlausschusses von Wählern,
dürfen nur aus Beiträgen polnischer Staatsangehöriger mit ständigem Wohnsitz im Hoheitsgebiet der Republik Polen sowie aus Bankkrediten stammen, die ausschließlich für Wahlzwecke aufgenommen wurden.
…“
38 Art. 133 des Wahlgesetzbuchs sieht vor, dass der Wahlausschuss einer politischen Partei oder eines Wahlbündnisses, der Wahlausschuss von Bürgern und der Wahlausschuss einer Organisation während des Wahlkampfs die Räumlichkeiten der politischen Partei, die Räumlichkeiten eines Mitglieds des Wahlausschusses bzw. die Räumlichkeiten dieser Organisation sowie die Büroausstattung dieser Einrichtungen unentgeltlich nutzen darf.
39 Abschnitt VI des Wahlgesetzbuchs, der den Wahlen zum Europäischen Parlament gewidmet ist, enthält u. a. dessen Art. 341 und 343. Nach Art. 341 des Wahlgesetzbuchs haben der Wahlausschuss einer politischen Partei, der Wahlausschuss eines Wahlbündnisses und der Wahlausschuss der Wähler das Recht, Kandidaten für diese Wahlen zu nominieren. Nach Art. 343 des Wahlgesetzbuchs muss die Bewerberliste durch Unterschriften von mindestens 10 000 Wählern, die ihren ständigen Wohnsitz im betreffenden Wahlkreis haben, unterstützt werden.
40 Abschnitt VII des Wahlgesetzbuchs, der den Wahlen der Vertreter der Gebietskörperschaften gewidmet ist, enthält u. a. dessen Art. 399 bis 403.
41 Art. 399 des Wahlgesetzbuchs sieht vor, dass das Recht, Kandidaten für das Amt eines Beraters zu nominieren, den Wahlausschüssen politischer Parteien, den Wahlausschüssen von Wahlbündnissen, den Wahlausschüssen von Organisationen und den Wahlausschüssen von Bürgern zusteht.
42 Nach Art. 400 § 1 des Wahlgesetzbuchs ist der Wahlausschuss einer politischen Partei verpflichtet, seine Konstituierung der Staatlichen Wahlkommission in der Zeit vom Tag der Veröffentlichung der Verordnung über die Durchführung von Wahlen bis zum 55. Tag vor dem Wahltermin anzuzeigen.
43 Art. 401 § 1 des Wahlgesetzbuchs bestimmt, dass der Wahlausschuss eines Wahlbündnisses in der Zeit vom Tag der Veröffentlichung der Verordnung über die Durchführung von Wahlen bis zum 55. Tag vor dem Wahltermin gebildet werden kann und der Wahlbeauftragte des Wahlausschusses des Wahlbündnisses die Konstituierung dieses Ausschusses der Staatlichen Wahlkommission spätestens am 55. Tag vor dem Wahltermin anzuzeigen hat.
44 Nach Art. 402 § 1 des Wahlgesetzbuchs ist der Wahlausschuss einer Organisation verpflichtet, seine Konstituierung dem für den Sitz der Organisation zuständigen Wahlkommissar in der Zeit vom Tag der Veröffentlichung der Verordnung über die Durchführung von Wahlen bis zum 55. Tag vor dem Wahltermin anzuzeigen.
45 Art. 403 des Wahlgesetzbuchs bestimmt:
„§ 1. Mindestens 15 wahlberechtigte Bürger können einen Wahlausschuss von Bürgern bilden.
§ 2. Vorbehaltlich der Bestimmungen von § 3 zeigt der Wahlbeauftragte eines Wahlausschusses von Bürgern dessen Konstituierung der Staatlichen Wahlkommission an, nachdem mindestens 1 000 Unterschriften von wahlberechtigten Staatsangehörigen gesammelt wurden, die die Bildung dieses Wahlausschusses unterstützen. Die Anzeige kann spätestens am 55. Tag vor dem Wahltermin erfolgen.
§ 3. Wurde ein Wahlausschuss für Wähler gebildet, um Kandidaten in nur einer Woiwodschaft zu benennen, so beträgt
1. die Zahl der in § 1 genannten Bürger 5;
2. die Zahl der in § 2 genannten Unterschriften 20, und die in § 2 genannte Anzeige wird dem für den Sitz des Ausschusses zuständigen Wahlkommissar übermittelt.“
46 Art. 23 Abs. 1 der Ustawa o Radiofonii i Telewizji (Rundfunkgesetz) vom 29. Dezember 1992 (Dz. U. 1993, Nr. 7, Pos. 34) in ihrer für die vorliegende Klage maßgebenden Fassung bestimmt, dass die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten den politischen Parteien die Möglichkeit geben, ihren Standpunkt zu grundlegenden öffentlichen Angelegenheiten darzulegen.
47 Nach Art. 4 Abs. 1 der Ustawa Prawo o stowarzyszeniach (Vereinsgesetz) vom 7. April 1989 (Dz. U. 1989, Nr. 20, Pos. 104) können sich Ausländer mit Wohnsitz in Polen in Vereinigungen zusammenschließen.
Vorverfahren und Verfahren vor dem Gerichtshof
48 Nach einem erfolglosen Austausch im Rahmen des EU-Pilot-Systems richtete die Kommission am 26. April 2013 ein Aufforderungsschreiben an die Republik Polen, in dem sie die polnischen Behörden darauf hinwies, dass die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats, die das Recht, eine politische Partei zu gründen und Mitglied einer solchen Partei zu werden, den eigenen Staatsangehörigen vorbehielten, ihrer Ansicht nach mit dem Unionsrecht unvereinbar seien. Dieser Mitgliedstaat antwortete darauf am 24. Juli 2013 und bestritt jeden Verstoß gegen das Unionsrecht.
49 Am 22. April 2014 gab die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der sie daran festhielt, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 22 AEUV verstoßen habe, dass sie Unionsbürgern, die nicht die polnische Staatsangehörigkeit besäßen, aber ihren ständigen Wohnsitz im Hoheitsgebiet der Republik Polen hätten, das Recht verweigert habe, eine politische Partei zu gründen und Mitglied einer solchen Partei zu werden. Sie forderte die Republik Polen daher auf, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um der mit Gründen versehenen Stellungnahme binnen zwei Monaten nach ihrem Erhalt nachzukommen.
50 In ihrer Antwort vom 16. Juni 2014 machte die Republik Polen geltend, dass Art. 22 AEUV Unionsbürgern, die nicht die Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats besäßen, in dem sie ihren Wohnsitz hätten, im Wohnsitzmitgliedstaat nicht das Recht verleihe, eine politische Partei zu gründen und Mitglied einer politischen Partei zu werden.
51 Mit Schreiben vom 2. Dezember 2020 ersuchte der Europäische Justizkommissar die Republik Polen um Informationen über eine mögliche Entwicklung ihres Standpunkts oder über etwaige Gesetzesänderungen, um die betreffenden Rechte für Unionsbürger zu gewährleisten, die nicht die polnische Staatsangehörigkeit besitzen und sich im Hoheitsgebiet der Republik Polen aufhalten.
52 Da die polnischen Behörden mit Schreiben vom 26. Januar 2021 ihren früheren Standpunkt wiederholten, dass das polnische Recht nicht mit Art. 22 AEUV unvereinbar sei, hat die Kommission beschlossen, die vorliegende Klage zu erheben, wobei sie deren Gegenstand darauf beschränkte, dass die Republik Polen gegen ihre Verpflichtungen aus dieser Bestimmung verstoßen habe, weil die Mitgliedschaft in einer politischen Partei polnischen Staatsangehörigen vorbehalten sei.
53 Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 10. Mai 2022 ist die Tschechische Republik als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Republik Polen zugelassen.
Zur Klage
Zur Zulässigkeit der Klage
Vorbringen der Parteien
54 In ihrem Streithilfeschriftsatz macht die Tschechische Republik geltend, die Klage der Kommission sei unzulässig, da die rechtlichen Umstände, auf die sie sich stütze, in der Klageschrift nicht klar angegeben würden und da sie nicht in einer Weise formuliert sei, die verhindere, dass der Gerichtshof ultra petita entscheide. Die Kommission habe nämlich ihre Klage auf Art. 22 AEUV gestützt, aber auch einen Verstoß gegen andere Bestimmungen des Unionsrechts, insbesondere gegen Art. 11 und Art. 12 Abs. 1 der Charta sowie gegen Art. 20 Abs. 2 Buchst. b AEUV, geltend gemacht, die in den Klageanträgen nicht genannt seien.
55 Die Kommission hält dieses Vorbringen für nicht stichhaltig.
Würdigung durch den Gerichtshof
56 Gemäß Art. 40 Abs. 4 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union können mit den aufgrund des Beitritts gestellten Anträgen nur die Anträge einer Partei unterstützt werden.
57 Die Republik Polen als Beklagte, deren Anträge die Tschechische Republik als Streithelferin unterstützt, hat jedoch keine Einrede der Unzulässigkeit gegen die Klage der Kommission erhoben.
58 Daraus folgt, dass die Tschechische Republik als Streithelferin nicht befugt ist, eine Einrede der Unzulässigkeit zu erheben (vgl. entsprechend Urteil vom 8. November 2007, Spanien/Rat, C‑141/05, EU:C:2007:653, Rn. 27 und 28).
59 Der Gerichtshof kann jedoch von Amts wegen prüfen, ob die Voraussetzungen des Art. 258 AEUV für die Erhebung einer Vertragsverletzungsklage erfüllt sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. Juni 2016, Kommission/Niederlande, C‑233/14, EU:C:2016:396, Rn. 43, und vom 5. April 2017, Kommission/Bulgarien, C‑488/15, EU:C:2017:267, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).
60 Nach Art. 120 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs und seiner zu dieser Bestimmung ergangenen Rechtsprechung muss die Klageschrift den Streitgegenstand, die vorgebrachten Klagegründe und Argumente sowie eine kurze Darstellung dieser Klagegründe enthalten. Ihre Darstellung muss hinreichend klar und deutlich sein, um dem Beklagten die Vorbereitung seines Verteidigungsvorbringens und dem Gerichtshof die Wahrnehmung seiner Kontrollaufgabe zu ermöglichen. Folglich müssen sich die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf die eine Klage gestützt wird, zusammenhängend und verständlich unmittelbar aus der Klageschrift ergeben, und die Anträge in der Klageschrift müssen eindeutig formuliert sein, damit der Gerichtshof nicht ultra petita entscheidet oder eine Rüge übergeht (Urteil vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen [Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern], C‑204/21, EU:C:2023:442, Rn. 188 und die dort angeführte Rechtsprechung).
61 Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass eine nach Art. 258 AEUV erhobene Klage eine zusammenhängende und genaue Darstellung der Rügen enthalten muss, damit der Mitgliedstaat und der Gerichtshof die Tragweite des gerügten Verstoßes gegen das Unionsrecht richtig erfassen können, was notwendig ist, damit der betreffende Staat sich sachgerecht verteidigen und der Gerichtshof überprüfen kann, ob die behauptete Vertragsverletzung vorliegt (Urteil vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen [Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern], C‑204/21, EU:C:2023:442, Rn. 189 und die dort angeführte Rechtsprechung).
62 Insbesondere muss die Klage der Kommission eine zusammenhängende und detaillierte Darlegung der Gründe enthalten, aus denen sie zu der Überzeugung gelangt ist, dass der betreffende Mitgliedstaat gegen eine der ihm nach Unionsrecht obliegenden Verpflichtungen verstoßen hat (Urteil vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen [Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern], C‑204/21, EU:C:2023:442, Rn. 190 und die dort angeführte Rechtsprechung).
63 Im vorliegenden Fall geht aus den Anträgen in der Klageschrift klar hervor, dass die Kommission der Republik Polen einen Verstoß gegen Art. 22 AEUV vorwirft, der darin bestehen soll, dass dieser Mitgliedstaat Unionsbürgern, die nicht die polnische Staatsangehörigkeit besäßen, aber in seinem Hoheitsgebiet wohnten, das Recht verwehre, Mitglied einer politischen Partei zu sein. Die Klageschrift enthält eine zusammenhängende und genaue Darstellung der Gründe, aus denen die Kommission zu der Auffassung gelangt ist, dass dies die Unionsbürger daran hindere, ihr passives Wahlrecht bei Kommunalwahlen und Wahlen zum Europäischen Parlament unter denselben Bedingungen auszuüben wie polnische Staatsangehörige.
64 Insbesondere geht, wie der Generalanwalt in Nr. 48 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, aus der Begründung der Klageschrift klar hervor, dass Art. 22 AEUV nach Ansicht der Kommission in dem u. a. durch Art. 20 Abs. 2 Buchst. b AEUV definierten Kontext und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs zwischen Art. 22 AEUV und den Art. 11 und 12 der Charta auszulegen ist, ohne dass daraus abgeleitet werden könnte, dass die Kommission einen eigenständigen Verstoß gegen diese Bestimmungen dartun möchte. Die Bezugnahme auf Art. 20 Abs. 2 Buchst. b AEUV sowie auf die Art. 11 und 12 der Charta in einigen Randnummern der Klageschrift führt daher nicht zur Mehrdeutigkeit des Wortlauts der Klageschrift.
65 Folglich sind die Voraussetzungen des Art. 258 AEUV für die Erhebung einer Vertragsverletzungsklage erfüllt, und die Klage der Kommission ist zulässig.
Zur Begründetheit
Vorbringen der Parteien
66 Die Kommission macht geltend, Art. 22 AEUV garantiere jedem Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitze, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen sowie bei Wahlen zum Europäischen Parlament in diesem Mitgliedstaat unter denselben Bedingungen wie dessen Staatsangehörigen. Folglich habe die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 22 AEUV verstoßen, dass sie in Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes über politische Parteien die Mitgliedschaft in einer politischen Partei polnischen Staatsangehörigen vorbehalte und dadurch verhindere, dass Unionsbürger, die in Polen wohnten, aber nicht die polnische Staatsangehörigkeit besäßen, bei den Kommunalwahlen und den Wahlen zum Europäischen Parlament das Wahlrecht unter denselben Bedingungen ausüben könnten wie polnische Staatsangehörige.
67 Art. 22 AEUV stelle einen allgemeinen Grundsatz der Gleichbehandlung auf und impliziere, dass das Erfordernis der Staatsangehörigkeit als Voraussetzung für das aktive und passive Wahlrecht bei diesen Wahlen sowie alle Maßnahmen abgeschafft würden, die geeignet seien, Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besäßen, daran zu hindern, ihr passives Wahlrecht unter denselben Bedingungen auszuüben wie die Angehörigen des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sie wohnten. Diese Unionsbürger müssten daher in den Genuss aller in der nationalen Rechtsordnung vorhandenen Mittel kommen, die den nationalen Kandidaten bei den genannten Wahlen zur Verfügung stünden.
68 Erstens spielten die politischen Parteien in den Wahlsystemen der Mitgliedstaaten eine grundlegende Rolle, da sie die wesentliche Form der Teilnahme am politischen Leben und das am häufigsten genutzte Mittel für die Teilnahme an Wahlen als Kandidaten darstellten. Angesichts dessen wäre der Umstand, dass Unionsbürger, die ihren Wohnsitz in Polen hätten, ohne die polnische Staatsangehörigkeit zu besitzen, nicht Mitglied einer politischen Partei sein und so in den Genuss zahlreicher Vorteile einer solchen Mitgliedschaft, insbesondere in Bezug auf Bekanntheit, personelle und finanzielle Ressourcen, organisatorische Infrastruktur und Zugang zu den Medien, kommen könnten, ihrer Befähigung abträglich, unter denselben Bedingungen wie polnische Staatsangehörige bei Wahlen erfolgreich und wirksam zu kandidieren.
69 Auch wenn ein solcher Unionsbürger durch eine individuelle Vereinbarung in die Kandidatenliste des Wahlausschusses einer politischen Partei aufgenommen werden könnte, wäre er gleichwohl schlechter gestellt als Kandidaten, die Mitglied der betreffenden Partei seien. Ein Unionsbürger, der in Polen wohne, aber nicht die polnische Staatsangehörigkeit besitze, hätte nämlich nicht die gleichen Chancen, auf dieser Liste einen aussichtsreichen Platz einzunehmen, und müsste sich einem Programm anschließen, an dessen Ausarbeitung er im Prinzip nicht beteiligt gewesen sei. Schon der bloße Umstand, dass er auf dieser Liste nur als parteiloser Kandidat erscheinen könne, polnische Staatsangehörige hingegen als Mitglied dieser Partei, zeuge davon, dass Unionsbürger mit Wohnsitz in Polen, die nicht die polnische Staatsangehörigkeit besäßen, nicht unter denselben Bedingungen wie polnische Staatsangehörige als Kandidaten bei den Wahlen auftreten könnten.
70 Zweitens weist die Kommission darauf hin, dass es zwar derzeit Sache der Mitgliedstaaten sei, die auf Unionsebene nicht harmonisierten Aspekte der Kommunalwahlen und der Wahlen zum Europäischen Parlament zu regeln, doch müssten sie ihre Befugnisse unter Beachtung des Unionsrechts ausüben. Eine nationale Maßnahme, die geeignet sei, die Ausübung eines der Rechte, die sich wie das passive Wahlrecht bei diesen Wahlen aus dem Unionsbürgerstatus ergäben, zu beschränken, könne nur dann mit dem Allgemeininteresse gerechtfertigt werden, wenn sie mit den durch das Unionsrecht garantierten Grundrechten vereinbar sei; dies sei hier nicht der Fall.
71 Die Auslegung von Art. 22 AEUV, wonach der Unionsgesetzgeber beabsichtigt habe, allein die formalen Anforderungen an Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besäßen, abzuschaffen, komme weder im Wortlaut dieser Bestimmung noch im Wortlaut der Richtlinien 93/109 und 94/80 zum Ausdruck und würde Art. 22 AEUV seiner praktischen Wirksamkeit berauben. Der Inhalt und der materielle Anwendungsbereich dieser Bestimmung könnten nicht auf die in den genannten Richtlinien geregelten formalen Aspekte reduziert werden, und die Art. 22 AEUV zu entnehmende Pflicht zur Gewährleistung der Gleichbehandlung werde nicht dadurch in Frage gestellt, dass er keine abschließende Liste der dabei zu erfüllenden Voraussetzungen enthalte.
72 Drittens führe die Republik Polen mit dem Erlass der Bestimmungen über das passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament das Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durch und sei daher verpflichtet, deren Bestimmungen nachzukommen. Daher seien der Anwendungsbereich und die Anforderungen von Art. 20 Abs. 2 Buchst. b und Art. 22 AEUV unter Berücksichtigung dieser Bestimmungen der Charta und insbesondere ihres Art. 12 Abs. 1, dessen Wortlaut dem von Art. 11 EMRK entspreche, auszulegen.
73 Die Versagung des Rechts, Mitglied einer politischen Partei zu sein, sei eine Einschränkung des Grundrechts auf Vereinigungsfreiheit und dürfe gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta nicht über die nach der EMRK zulässigen Einschränkungen hinausgehen. Die in Art. 11 Abs. 2 EMRK genannten Gründe, die eine Einschränkung des Rechts auf Vereinigungsfreiheit rechtfertigen könnten, seien im vorliegenden Fall nicht einschlägig. Außerdem habe der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil vom 27. April 1995, Piermont/Frankreich (CE:ECHR:1995:0427JUD001577389, § 64), entschieden, dass sich die Mitgliedstaaten nicht auf Art. 16 EMRK berufen könnten, wenn Angehörige anderer Mitgliedstaaten Rechte geltend machten, die ihnen durch die Verträge verliehen worden seien.
74 Das Verbot, Mitglied einer politischen Partei zu sein, könne nicht mit dem Ziel gerechtfertigt werden, zu verhindern, dass Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besäßen, am politischen Leben ihres Wohnsitzstaats teilnehmen und insbesondere die Ergebnisse der in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallenden Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen beeinflussen könnten.
75 Zum einen verleihe das Unionsrecht Unionsbürgern mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besäßen, zwar kein uneingeschränktes Recht auf Teilnahme am politischen Leben dieses Mitgliedstaats, doch seien die politischen Rechte in die Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Unionsbürgerschaft aufgenommen worden, um sicherzustellen, dass sich diese Bürger in ihrem Wohnsitzmitgliedstaat im Rahmen von Kommunalwahlen und Wahlen zum Europäischen Parlament integrieren und eine aktive politische Rolle spielen könnten; dies werde auch durch den zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 93/109 und den 14. Erwägungsgrund der Richtlinie 94/80 bestätigt. Zum anderen stehe es den Mitgliedstaaten frei, das passive Wahlrecht bei nationalen oder in bestimmten Fällen bei regionalen Wahlen ihren Staatsangehörigen vorzubehalten oder Sonderregeln zu erlassen, die zu einer Einschränkung der Mitgliedschaftsrechte von Unionsbürgern mit Wohnsitz in diesen Mitgliedstaaten, die nicht deren Staatsangehörigkeit besäßen, in einer politischen Partei führten, insbesondere indem ihnen das Recht verwehrt werde, an Beschlüssen der betreffenden Partei in Bezug auf die Aufstellung von Kandidaten bei den nationalen Parlamentswahlen mitzuwirken.
76 Die von ihr vertretene Auslegung von Art. 22 AEUV verstoße nicht gegen den Grundsatz der Achtung der nationalen Identität, denn zum einen sei Art. 4 Abs. 2 EUV im Einklang mit den übrigen Bestimmungen der Verträge, einschließlich Art. 22 AEUV, auszulegen, und zum anderen gelte Art. 22 AEUV nur für Kommunalwahlen und Wahlen zum Europäischen Parlament, nicht aber für nationale Parlamentswahlen.
77 Jedenfalls habe die Republik Polen keinen Beweis dafür erbracht, dass es eine Bedrohung für ihre nationale Identität darstellen würde, wenn Unionsbürger mit Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat, die nicht dessen Staatsangehörigkeit besäßen und dort bei Kommunalwahlen und Wahlen zum Europäischen Parlament kandidieren wollten, Mitglied einer politischen Partei werden könnten.
78 Die Republik Polen, unterstützt durch die Tschechische Republik, macht erstens geltend, Art. 22 AEUV sei nicht unmittelbar anwendbar und erfordere den Erlass zusätzlicher Gesetzgebungsakte durch den Rat. Die Modalitäten der Ausübung der in Art. 22 AEUV genannten Rechte seien in den Richtlinien 94/80 und 93/109 festgelegt, in deren Erwägungsgründen ausdrücklich auf das Hauptziel und die Umstände der Einführung von Art. 8b Abs. 1 und 2 EG, der dem jetzigen Art. 22 AEUV entspreche, Bezug genommen werde. Aus dem vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 94/80 und dem fünften Erwägungsgrund der Richtlinie 93/109 gehe jedoch hervor, dass Art. 22 AEUV keine globale Harmonisierung der Wahlrechtsordnungen der Mitgliedstaaten voraussetze. Der Unionsgesetzgeber habe die formalen Anforderungen abschaffen wollen, die die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts durch Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besäßen, verhinderten oder die dieses Recht mittels zusätzlicher Bedingungen eingeschränkt hätten, die von den Mitgliedstaaten ohne ausreichende Rechtfertigung ausschließlich diesen Personen auferlegt worden seien.
79 Zweitens würden im polnischen Recht die Art. 22 AEUV zu entnehmenden Garantien umgesetzt. Insbesondere mache dieses Recht die Möglichkeit, bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament zu kandidieren, für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besäßen, nicht von der Zugehörigkeit zu einer politischen Partei abhängig. Außerdem könnten Unionsbürger, die ihren Wohnsitz in Polen hätten, ohne die polnische Staatsangehörigkeit zu besitzen, nach polnischem Recht von allen verfügbaren Formen der Kandidatur Gebrauch machen, einschließlich der Kandidatur auf der Liste einer politischen Partei oder eines Wahlbündnisses politischer Parteien, wobei die Aufnahme in eine solche Liste nicht davon abhänge, dass die Person einer Partei angehöre.
80 Drittens verleihe Art. 22 AEUV Unionsbürgern mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besäßen, nicht das Recht, Mitglied politischer Parteien zu werden und uneingeschränkt am politischen Leben in dem Mitgliedstaat teilzunehmen, in dem sie wohnten, und er verpflichte die Mitgliedstaaten nicht, diesen Bürgern die Ausübung eines solchen Rechts zu gestatten und über das Parteiensystem Einfluss auf das Ergebnis der nationalen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen auszuüben. Die Mitgliedschaft in einer politischen Partei erlaube es, an der Wahl ihrer internen Organe teilzunehmen, die über die Ausrichtung ihrer Aktionen auf allen Ebenen und nicht nur in Bezug auf Kommunalwahlen und Wahlen zum Europäischen Parlament entschieden.
81 Die Festlegung der Regeln für die Arbeitsweise, die Struktur und die Ziele der in den Mitgliedstaaten aktiven politischen Parteien falle grundsätzlich in die ausschließliche Zuständigkeit jedes Mitgliedstaats. Die von der Kommission vorgeschlagene Auslegung von Art. 22 AEUV liefe dem Zweck und der Tragweite dieser Bestimmung sowie dem in Art. 5 Abs. 2 EUV definierten Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung zuwider. Sie würde unter Verstoß gegen Art. 4 Abs. 1 und 2 EUV zur Anwendung der Bestimmungen der Verträge in einem Bereich führen, für den die Mitgliedstaaten zuständig seien.
82 Da Art. 22 AEUV den Unionsbürgern nicht das Recht verleihe, Mitglied politischer Parteien zu werden, finde Art. 12 der Charta keine Anwendung. Dagegen trage das polnische Recht dem in Art. 11 EMRK verankerten Vereinigungsrecht unter Berücksichtigung von Art. 16 EMRK, wonach es zulässig sei, die politische Tätigkeit ausländischer Personen zu beschränken, in vollem Umfang Rechnung.
83 Viertens habe die Kommission nicht dargetan, dass das Verbot für Unionsbürger mit Wohnsitz in Polen, die nicht die polnische Staatsangehörigkeit besäßen, Mitglied einer politischen Partei zu werden, ihre Möglichkeit beschränke, ihr passives Wahlrecht bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament auszuüben; dieses Vorbringen sei rein hypothetisch und werde nicht durch konkrete Daten oder Beweise untermauert.
84 Die Kommission mache zu Unrecht geltend, dass die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei den Kandidaten bei Wahlen zahlreiche Vorteile biete, von denen unabhängige Kandidaten nicht profitieren könnten. Zunächst habe sie nicht dargetan, dass eine solche Zugehörigkeit für das in den Vorstellungen der Wähler vorhandene Image der Kandidaten bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament relevant sei. Dieses Image hänge vielmehr von der Aktivität der Kandidaten ab und knüpfe nicht an die Mitgliedschaft in einer Partei an. Die Mitgliedschaft habe daher keinen Einfluss auf ihre Wahlchancen.
85 Sodann habe die Kommission nicht berücksichtigt, dass es im polnischen Recht Mechanismen gebe, die verhindern sollten, dass die Wahlausschüsse der Parteien und Wahlbündnisse gegenüber den Wahlausschüssen der Wähler und Organisationen bevorzugt würden; dies gelte insbesondere für die für alle Wahlausschüsse geltende Obergrenze der Ausgaben für Wahlwerbung, die Vorschriften für die Nutzung von Räumlichkeiten und Ausstattung durch die Wahlausschüsse sowie die nationale Regelung über den Zugang zu den Medien, die allen Wahlausschüssen einen solchen Zugang unter ähnlichen Bedingungen garantiere. Dass die politischen Parteien das Recht hätten, außerhalb der Wahlkampfperiode auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehkanälen ihren Standpunkt zu grundlegenden öffentlichen Angelegenheiten darzulegen, ergebe sich aus ihrer Rolle im politischen System des Staates und falle in dessen Zuständigkeit. Außerdem würden alle Kandidaten beim Zugang zu den sozialen Medien gleichbehandelt.
86 Schließlich beruhe auch das Vorbringen der Kommission, dass Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besäßen, weniger bekannt seien, so dass die Vorteile, die sich aus der Mitgliedschaft in einer politischen Partei ergäben, für sie umso größer seien, auf einer nicht durch Tatsachen untermauerten Prämisse. Die Bekanntheit einer Person in der Gesellschaft hänge ausschließlich von ihren Initiativen und vom Umfang ihres Engagements ab und habe nichts mit ihrer Staatsangehörigkeit zu tun. Unionsbürger, die in Polen für die Kommunalwahlen und die Wahlen zum Europäischen Parlament kandidierten, ohne die polnische Staatsangehörigkeit zu besitzen, weckten allein deshalb das Interesse der Wähler, weil sie aus einem anderen Mitgliedstaat stammten und weil sie durch ihre Erfahrung das öffentliche Leben in Polen bereichern könnten. Die Republik Polen habe anhand einer Studie des Centrum Badania Opinii Społecznej (Zentrum für öffentliche Meinungsforschung, Polen) nachgewiesen, dass die Persönlichkeit des Bewerbers wegen der Besonderheiten der Kommunalwahlen und der Wahlen zum Europäischen Parlament von entscheidender Bedeutung für das Image sei, das er den Wählern vermittle, und dass seine Zugehörigkeit zu einer politischen Partei insoweit zweitrangig sei.
87 Die Tschechische Republik fügt hinzu, die Kommission habe nicht nachgewiesen, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zu einer politischen Partei und der Möglichkeit einer effizienten und effektiven Kandidatur bei einer Kommunalwahl oder einer Wahl zum Europäischen Parlament bestehe. Überdies habe die Kommission ihre Klage auf eine falsche Rechtsgrundlage gestützt. Die Vereinbarkeit einer nationalen Regelung, die Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besäßen, an der Mitgliedschaft in einer politischen Partei hindere, mit dem Unionsrecht sei nicht anhand von Art. 22 AEUV zu prüfen, sondern anhand des allgemeinen Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Art. 18 AEUV. Da die bloße Zugehörigkeit eines solchen Bürgers zu einer politischen Partei ihn nicht zu einem Kandidaten bei einer Kommunalwahl oder einer Wahl zum Europäischen Parlament mache, könne eine solche nationale Regelung nicht als unvereinbar mit dem allgemeinen Diskriminierungsverbot in Art. 18 AEUV oder einer anderen Bestimmung des Primärrechts, die ein spezielles Diskriminierungsverbot vorsehe, angesehen werden.
Würdigung durch den Gerichtshof
88 Mit ihrer Klage begehrt die Kommission die Feststellung, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 22 AEUV verstoßen hat, dass sie Unionsbürgern mit Wohnsitz in Polen, die nicht die polnische Staatsangehörigkeit besitzen, das Recht verwehrt, Mitglied einer politischen Partei zu sein.
89 Zur Prüfung der Begründetheit dieser Klage ist die Tragweite von Art. 22 AEUV zu klären, bevor beurteilt wird, ob diese Bestimmung die damit durch die polnischen Rechtsvorschriften eingeführte Ungleichbehandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit hinsichtlich der Möglichkeit, Mitglied einer politischen Partei zu werden, verbietet oder ob sie möglicherweise durch Gründe gerechtfertigt werden kann, die mit der Achtung der nationalen Identität eines Mitgliedstaats zusammenhängen.
– Zur Tragweite von Art. 22 AEUV
90 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut und die mit ihr verfolgten Ziele zu berücksichtigen, sondern auch ihr Kontext. Die Entstehungsgeschichte einer Bestimmung des Unionsrechts kann ebenfalls relevante Anhaltspunkte für ihre Auslegung liefern (Urteil vom 14. Juli 2022, Italien und Comune di Milano/Rat [Sitz der Europäischen Arzneimittel-Agentur], C‑59/18 und C‑182/18, EU:C:2022:567, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).
91 Was den ersten Aspekt angeht, haben nach dem Wortlaut von Art. 22 AEUV Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament unter denselben Bedingungen wie die Angehörigen des letztgenannten Mitgliedstaats; diese Rechte werden vorbehaltlich der vom Rat festgelegten Einzelheiten ausgeübt.
92 Der Wortlaut von Art. 22 AEUV enthält keine Bezugnahme auf die Bedingungen für den Erwerb der Mitgliedschaft in einer politischen Partei.
93 Dagegen geht aus seinem Wortlaut zunächst hervor, dass das aktive und passive Wahlrecht von Unionsbürgern mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, die Kommunalwahlen und die Wahlen zum Europäischen Parlament in diesem Mitgliedstaat betrifft.
94 Sodann ergibt sich aus ihm, dass den Unionsbürgern dieses Recht unter „denselben Bedingungen“ zusteht wie den Angehörigen des Mitgliedstaats, in dem sie wohnen. Durch den Verweis auf die für die Angehörigen des Wohnsitzmitgliedstaats eines solchen Unionsbürgers geltenden Bedingungen für das aktive und passive Wahlrecht verbietet Art. 22 AEUV diesem Mitgliedstaat, die Ausübung dieses Rechts durch den Unionsbürger anderen Bedingungen zu unterwerfen als denjenigen, die für seine eigenen Staatsangehörigen gelten.
95 Diese Bestimmung stellt somit ein besonderes Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit auf, das für die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament gilt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. September 2006, Spanien/Vereinigtes Königreich, C‑145/04, EU:C:2006:543, Rn. 66, vom 12. September 2006, Eman und Sevinger, C‑300/04, EU:C:2006:545, Rn. 53, und vom 6. Oktober 2015, Delvigne, C‑650/13, EU:C:2015:648, Rn. 42) und folglich für jede nationale Maßnahme, die eine die wirksame Ausübung dieser Rechte möglicherweise beeinträchtigende Ungleichbehandlung schafft.
96 Außerdem ist dieses Diskriminierungsverbot nur der spezifische Ausdruck des allgemeinen Gleichheitssatzes, der zu den tragenden Grundsätzen des Unionsrechts gehört (vgl. entsprechend Urteil vom 20. Februar 2024, X [Keine Angabe von Kündigungsgründen], C‑715/20, EU:C:2024:139, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).
97 Nach ständiger Rechtsprechung soll Art. 18 Abs. 1 AEUV eigenständig nur bei unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen zur Anwendung kommen, für die der AEU-Vertrag keine besonderen Diskriminierungsverbote vorsieht (Urteil vom 15. Juli 2021, The Department for Communities in Northern Ireland, C‑709/20, EU:C:2021:602, Rn. 65).
98 Die Tschechische Republik kann daher nicht zur Unterstützung der Republik Polen mit Erfolg geltend machen, dass die in der Klageschrift der Kommission genannten nationalen Rechtsvorschriften unter Art. 18 Abs. 1 AEUV fielen und nicht unter Art. 22 AEUV.
99 Schließlich ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 22 AEUV, dass das aktive und das passive Wahlrecht vorbehaltlich der vom Rat festgelegten Einzelheiten ausgeübt werden.
100 Insoweit werden in den Richtlinien 93/109 und 94/80, die auf der Grundlage von Art. 8b EG, jetzt Art. 22 AEUV, erlassen wurden, die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Wahlen zum Europäischen Parlament bzw. bei den Kommunalwahlen festgelegt.
101 Diese Richtlinien, die, wie sich aus dem fünften Erwägungsgrund der Richtlinie 93/109 und dem vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 94/80 ergibt, keine abschließende Harmonisierung der Wahlrechtsordnungen der Mitgliedstaaten bewirken, enthalten zwar keine Bestimmungen über die Bedingungen, unter denen Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, die Mitgliedschaft in einer politischen Partei erlangen können.
102 Der Anwendungsbereich dieser Richtlinien kann jedoch nicht, auch nicht implizit, die Tragweite der Rechte und Pflichten beschränken, die sich aus Art. 22 AEUV ergeben. Das besondere Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit in dieser Bestimmung ist nämlich allgemein formuliert, und schon nach dem Wortlaut von Art. 22 AEUV unterliegt nur die Ausübung des darin verankerten aktiven und passiven Wahlrechts den vom Rat festgelegten Einzelheiten. In diesen Einzelheiten können zwar „Ausnahmeregelungen vorgesehen werden, wenn dies aufgrund besonderer Probleme eines Mitgliedstaats gerechtfertigt ist“, doch dürfen sie, abgesehen von diesem besonderen Fall, nicht dazu führen, dass die praktische Wirksamkeit dieser Rechte allgemein beeinträchtigt wird.
103 In Ermangelung spezifischer Bestimmungen über die Bedingungen, unter denen Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, in diesem Mitgliedstaat Mitglied politischer Parteien werden können, fällt die Festlegung dieser Bedingungen zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, doch müssen sie bei deren Ausübung die Verpflichtungen einhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben (vgl. entsprechend Urteile vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung, vom 14. Dezember 2021, Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“, C‑490/20, EU:C:2021:1008, Rn. 38, vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen [Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern], C‑204/21, EU:C:2023:442, Rn. 63, und vom 5. September 2023, Udlændinge- og Integrationsministeriet [Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit], C‑689/21, EU:C:2023:626, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
104 Unter Einhaltung der in den genannten Richtlinien festgelegten Einzelheiten darf ein Mitgliedstaat somit einen Unionsbürger mit Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat, der nicht dessen Staatsangehörigkeit besitzt, außerhalb der durch die Richtlinien geregelten Bereiche keinen nationalen Bestimmungen unterwerfen, die zu einer Ungleichbehandlung bei der Ausübung der ihm durch Art. 22 AEUV verliehenen Rechte führen, denn sonst würde die praktische Wirksamkeit des in diesem Artikel enthaltenen Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Frage gestellt (vgl. entsprechend, zu Art. 21 Abs. 1 AEUV, Urteile vom 12. März 2014, O. und B., C‑456/12, EU:C:2014:135, Rn. 54, und vom 27. Juni 2018, Altiner und Ravn, C‑230/17, EU:C:2018:497, Rn. 26).
105 Folglich lassen weder das Fehlen von Bestimmungen in den Richtlinien 93/109 und 94/80 über die Bedingungen, unter denen Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, in diesem Mitgliedstaat Mitglied politischer Parteien werden können, noch der in Art. 4 Abs. 1 und in Art. 5 Abs. 2 EUV verankerte Grundsatz, dass alle Zuständigkeiten, die der Union nicht durch die Verträge übertragen wurden, bei den Mitgliedstaaten verbleiben, den Schluss zu, dass die Festlegung der Bedingungen für den Erwerb der Mitgliedschaft in einer politischen Partei nicht in den Anwendungsbereich von Art. 22 AEUV fällt.
106 Was den zweiten Aspekt – den Kontext, in dem Art. 22 AEUV steht – betrifft, sind sowohl die übrigen Bestimmungen des AEU-Vertrags als auch die u. a. im EU-Vertrag und in der Charta enthaltenen gleichrangigen Bestimmungen heranzuziehen.
107 Hierzu ist erstens festzustellen, dass Art. 22 AEUV zum Zweiten Teil des AEU-Vertrags gehört, der die Bestimmungen über die Nichtdiskriminierung und die Unionsbürgerschaft enthält.
108 Art. 20 AEUV verleiht jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, den Status eines Unionsbürgers, der nach ständiger Rechtsprechung dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (Urteile vom 20. September 2001, Grzelczyk, C‑184/99, EU:C:2001:458, Rn. 31, vom 18. Januar 2022, Wiener Landesregierung [Widerruf einer Einbürgerungszusicherung], C‑118/20, EU:C:2022:34, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers und Institut national de la statistique et des études économiques, C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 49).
109 Nach Art. 22 AEUV in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 AEUV knüpft das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament an den Unionsbürgerstatus an (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers und Institut national de la statistique et des études économiques, C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 49 bis 51 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 18. April 2024, Préfet du Gers und Institut national de la statistique et des études économiques, C‑716/22, EU:C:2024:339, Rn. 40 und 41).
110 Überdies verleiht die Unionsbürgerschaft nach Art. 20 Abs. 2 und Art. 21 AEUV jedem Unionsbürger ein elementares und individuelles Recht, sich vorbehaltlich der im AEU-Vertrag vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen und der Maßnahmen zu ihrer Durchführung frei im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten (Urteil vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers und Institut national de la statistique et des études économiques, C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 50).
111 Somit besteht ein Zusammenhang zwischen dem Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht einerseits und dem aktiven und passiven Wahlrecht der Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament andererseits. Wie der Generalanwalt in den Nrn. 94 und 95 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, wurde ein solcher Zusammenhang bereits mit der Anerkennung dieses aktiven und passiven Wahlrechts durch den Vertrag von Maastricht hergestellt, indem es mit dem Recht verknüpft wurde, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.
112 Zweitens beruht nach Art. 10 Abs. 1 EUV die Arbeitsweise der Union auf der repräsentativen Demokratie, die den Wert der Demokratie konkretisiert. Dieser stellt nach Art. 2 EUV einen der Werte dar, auf die sich die Union gründet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Dezember 2019, Puppinck u. a./Kommission, C‑418/18 P, EU:C:2019:1113, Rn. 64, und vom 19. Dezember 2019, Junqueras Vies, C‑502/19, EU:C:2019:1115, Rn. 63).
113 In Art. 10 Abs. 2 und 3 EUV wird das Recht der Unionsbürger anerkannt, unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten zu sein und am demokratischen Leben der Union teilzunehmen.
114 Wie der Generalanwalt in Nr. 101 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, wird durch Art. 10 EUV in Bezug auf die Wahlen zum Europäischen Parlament der Zusammenhang zwischen dem Grundsatz der repräsentativen Demokratie innerhalb der Union und dem mit der Unionsbürgerschaft verbundenen, durch Art. 22 Abs. 2 AEUV garantierten aktiven und passiven Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament klar zum Ausdruck gebracht.
115 Drittens ist in Art. 12 Abs. 1 der Charta das Recht jeder Person verankert, sich insbesondere im politischen, gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Bereich auf allen Ebenen frei mit anderen zusammenzuschließen.
116 Dieses Recht entspricht dem durch Art. 11 Abs. 1 EMRK garantierten Recht, so dass ihm gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite wie dem letztgenannten Recht beizumessen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juni 2020, Kommission/Ungarn [Transparenz von Vereinigungen], C‑78/18, EU:C:2020:476, Rn. 111), was der Gewährung eines weiter gehenden Schutzes durch das Unionsrecht nicht entgegensteht (Urteil vom 22. Juni 2023, K.B. und F.S. [Prüfung von Amts wegen im Strafverfahren], C‑660/21, EU:C:2023:498, Rn. 41).
117 In diesem Kontext geht aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hervor, dass das Recht auf Vereinigungsfreiheit eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft darstellt, weil es den Bürgern erlaubt, in Bereichen von gemeinsamem Interesse kollektiv tätig zu werden und dadurch zum ordnungsgemäßen Funktionieren des öffentlichen Lebens beizutragen (vgl. in diesem Sinne EGMR, 17. Februar 2004, Gorzelik u. a./Polen, CE:ECHR:2004:0217JUD004415898, §§ 88, 90 und 92).
118 Die vorrangige Rolle der politischen Parteien beim Ausdruck des Willens der Unionsbürger wird in Bezug auf die politischen Parteien auf europäischer Ebene in Art. 10 Abs. 4 EUV und in Art. 12 Abs. 2 der Charta anerkannt.
119 Politische Parteien, zu deren Aufgaben es gehört, Kandidaten für die Wahlen aufzustellen (vgl. entsprechend EGMR, 8. Juli 2008, Georgische Arbeiterpartei/Georgien, CE:ECHR:2008:0708JUD000910304, § 142), nehmen somit eine wesentliche Funktion im System der repräsentativen Demokratie wahr, auf dem gemäß Art. 10 Abs. 1 EUV die Arbeitsweise der Union beruht.
120 Folglich trägt die Mitgliedschaft in einer politischen Partei erheblich zur wirksamen Ausübung des durch Art. 22 AEUV verliehenen passiven Wahlrechts bei.
121 Was den dritten Aspekt angeht, besteht das Ziel von Art. 22 AEUV erstens darin, Unionsbürgern mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, das Recht zu verleihen, am demokratischen Wahlprozess dieses Mitgliedstaats teilzunehmen. Es erstreckt sich, wie oben in Rn. 93 ausgeführt, auf die Teilnahme an diesem Prozess durch das aktive und passive Wahlrecht auf europäischer und lokaler Ebene.
122 Zweitens soll dieser Artikel die Gleichbehandlung der Unionsbürger gewährleisten; dies impliziert, damit das passive Wahlrecht von Unionsbürgern mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, wirksam ausgeübt werden kann, einen gleichen Zugang zu den Mitteln, über die die Angehörigen dieses Mitgliedstaats nach der nationalen Rechtsordnung für die Ausübung dieses Rechts bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament verfügen.
123 Drittens ergibt sich aus dem oben in Rn. 111 angesprochenen Zusammenhang zwischen der Freizügigkeit und dem Aufenthaltsrecht einerseits und dem aktiven und passiven Wahlrecht bei diesen Wahlen andererseits, dass das letztgenannte Recht u. a. die schrittweise Integration des betreffenden Unionsbürgers in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats fördern soll (Urteile vom 14. November 2017, Lounes, C‑165/16, EU:C:2017:862, Rn. 56, und vom 18. Januar 2022, Wiener Landesregierung [Widerruf einer Einbürgerungszusicherung], C‑118/20, EU:C:2022:34, Rn. 42).
124 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 101 und 102 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, soll Art. 22 AEUV somit die Repräsentativität der Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, als Folge ihrer Integration in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats gewährleisten.
125 Infolgedessen ist davon auszugehen, dass Art. 22 AEUV bei einer Auslegung im Licht der Art. 20 und 21 AEUV, von Art. 10 EUV und von Art. 12 der Charta zur Ermöglichung einer wirksamen Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament in einem Mitgliedstaat durch Unionsbürger mit Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, verlangt, dass die Unionsbürger einen gleichen Zugang zu den Mitteln haben, über die die Angehörigen dieses Mitgliedstaats für die wirksame Ausübung dieser Rechte verfügen.
– Zum Vorliegen einer gegen Art. 22 AEUV verstoßenden Ungleichbehandlung
126 Wie aus Rn. 89 des vorliegenden Urteils hervorgeht, sehen die tschechischen Rechtsvorschriften eine Ungleichbehandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit hinsichtlich der Möglichkeit vor, Mitglied einer politischen Partei zu werden.
127 Die Republik Polen, unterstützt durch die Tschechische Republik, vertritt jedoch hilfsweise die Auffassung, dass diese Ungleichbehandlung nicht gegen Art. 22 AEUV verstoße, denn erstens gebe das polnische Recht Unionsbürgern, die ihren Wohnsitz in Polen hätten, ohne die polnische Staatsangehörigkeit zu besitzen, die Möglichkeit, auf alle verfügbaren Formen der Kandidatur bei Wahlen zurückzugreifen, einschließlich der Kandidatur auf der Liste einer politischen Partei oder eines Wahlbündnisses politischer Parteien, wobei die Aufnahme in eine solche Liste nicht davon abhänge, dass die Person einer politischen Partei angehöre.
128 Zweitens habe die Kommission nicht dargetan, dass das Verbot für solche Unionsbürger, Mitglied einer politischen Partei zu werden, die Ausübung ihres passiven Wahlrechts bei Kommunalwahlen und Wahlen zum Europäischen Parlament beschränke.
129 Zum letztgenannten Punkt ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Kommission obliegt, das Vorliegen der von ihr gerügten Vertragsverletzungen nachzuweisen, wobei sie sich nicht auf eine Vermutung gleich welcher Art stützen kann (Urteil vom 18. Juni 2020, Kommission/Ungarn [Transparenz von Vereinigungen], C‑78/18, EU:C:2020:476, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
130 Das Vorliegen einer Vertragsverletzung kann jedoch, wenn sie auf dem Erlass einer Maßnahme in Form eines Gesetzes oder einer Verordnung, deren Vorliegen und Anwendung nicht bestritten werden, beruht, durch eine rechtliche Analyse der Bestimmungen dieser Maßnahme nachgewiesen werden (Urteile vom 18. Juni 2020, Kommission/Ungarn [Transparenz von Vereinigungen], C‑78/18, EU:C:2020:476, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 16. November 2021, Kommission/Ungarn [Pönalisierung der Unterstützung von Asylbewerbern], C‑821/19, EU:C:2021:930, Rn. 106).
131 Im vorliegenden Fall geht die der Republik Polen von der Kommission zur Last gelegte Vertragsverletzung auf den Erlass einer gesetzgeberischen Maßnahme, namentlich auf Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes über politische Parteien, zurück, dessen Vorliegen und Anwendung dieser Mitgliedstaat nicht bestreitet und dessen Bestimmungen Gegenstand einer rechtlichen Analyse in der Klageschrift sind.
132 Daher ist die Stichhaltigkeit dieser Analyse zu prüfen, indem geklärt wird, ob die durch Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes über politische Parteien geschaffene Ungleichbehandlung dazu führt, dass Unionsbürger mit Wohnsitz in Polen, die nicht die polnische Staatsangehörigkeit besitzen, unter Verstoß gegen Art. 22 AEUV keinen gleichen Zugang zu den Mitteln haben, über die die Angehörigen dieses Mitgliedstaats für die wirksame Ausübung ihres passiven Wahlrechts verfügen.
133 Hierzu ist festzustellen, dass nach Art. 84 § 1 des Wahlgesetzbuchs das Recht, Kandidaten für eine Wahl zu nominieren, den Wahlausschüssen zusteht, die auf der Basis des Grundsatzes der Ausschließlichkeit den Wahlkampf für die Kandidaten betreiben. Aus Art. 84 §§ 2 und 4 des Wahlgesetzbuchs geht hervor, dass bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in Polen die Wahlausschüsse von politischen Parteien, Wahlbündnissen politischer Parteien und Wählern gebildet werden und dass die Wahlausschüsse bei den Wahlen zu den repräsentativen Gremien von Gebietskörperschaften und bei den Bürgermeisterwahlen außerdem von sozialen Organisationen gebildet werden.
134 Es ist daher, wie die Republik Polen geltend macht, grundsätzlich möglich, dass ein unabhängiger Kandidat, der keiner politischen Partei angehört, vom Wahlausschuss einer politischen Partei oder eines Wahlbündnisses politischer Parteien nominiert werden kann.
135 Zum einen hat jedoch der Umstand, dass ein Unionsbürger mit Wohnsitz in Polen, der nicht die polnische Staatsangehörigkeit besitzt, nach Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes über politische Parteien nicht Mitglied einer politischen Partei sein kann, grundsätzlich zur Folge, dass er an der Entscheidungsfindung dieser Partei hinsichtlich seiner Nominierung durch deren Wahlausschuss nicht oder zumindest nur in beschränktem Umfang mitwirken kann. Das Vorbringen der Republik Polen, mit dem das für diese Unionsbürger geltende Verbot, Mitglied politischer Parteien zu werden, mit dem Erfordernis gerechtfertigt werden soll, den Einfluss solcher Unionsbürger u. a. auf die internen Organe einer politischen Partei, die über deren Handlungen entscheiden, auszuschließen, zeugt gerade von der Bedeutung, die die Mitgliedschaft in einer politischen Partei für die Mitwirkung an deren Entscheidungen hat.
136 Bei potenziellen Kandidaten, die die politischen Vorstellungen einer politischen Partei teilen, macht das Verbot, Mitglied der Partei zu werden, ihre Nominierung durch den Wahlausschuss einer politischen Partei oder eines Wahlbündnisses politischer Parteien zwar nicht unmöglich, erschwert sie aber zumindest, da im Prinzip die Mitglieder einer politischen Partei darüber entscheiden, welche Kandidaten nominiert werden sollen und welchen Listenplatz sie erhalten, was Einfluss auf ihre Wahlchancen haben kann.
137 Dieser Umstand bringt Unionsbürger mit Wohnsitz in Polen, die nicht die polnische Staatsangehörigkeit besitzen, im Verhältnis zu polnischen Staatsangehörigen, die Mitglied einer politischen Partei sind, hinsichtlich der Möglichkeit, auf der Liste einer politischen Partei bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament zu kandidieren, in eine ungünstigere Lage.
138 Zum anderen ist, wie der Generalanwalt in Nr. 119 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, der Umstand, dass polnische Staatsangehörige die Wahl haben, entweder als Mitglied einer politischen Partei oder als unabhängige Kandidaten zu kandidieren, während Unionsbürger mit Wohnsitz in Polen, die nicht die polnische Staatsangehörigkeit besitzen, nur die letztgenannte Möglichkeit haben, ein Beleg dafür, dass diese Unionsbürger ihr passives Wahlrecht bei diesen Wahlen nicht unter denselben Bedingungen ausüben können wie polnische Staatsangehörige.
139 Die durch Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes über politische Parteien geschaffene unterschiedliche Behandlung führt somit dazu, dass Unionsbürger mit Wohnsitz in Polen, die nicht die polnische Staatsangehörigkeit besitzen, keinen gleichen Zugang zu den Mitteln haben, über die die Angehörigen dieses Mitgliedstaats für die wirksame Ausübung ihres passiven Wahlrechts bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament verfügen.
140 Dieses Ergebnis kann nicht durch das Vorbringen der Republik Polen in Frage gestellt werden, wonach zum einen die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei keinen Einfluss auf die Wahlchancen der Kandidaten habe, da diese in Wirklichkeit von ihren Aktivitäten und ihrer Persönlichkeit abhingen, und zum anderen Unionsbürger mit Wohnsitz in Polen, die nicht die polnische Staatsangehörigkeit besäßen, die Möglichkeit hätten, bei den Kommunalwahlen und den Wahlen zum Europäischen Parlament auf Listen zu kandidieren, die von anderen Wahlausschüssen als denen der politischen Parteien aufgestellt worden seien.
141 Erstens kommt nämlich, wie oben in den Rn. 117 bis 119 ausgeführt, den politischen Parteien im Wahlsystem und damit beim reibungslosen Funktionieren des europäischen demokratischen Systems eine vorrangige Rolle zu. Die Republik Polen erkennt diese Rolle hinsichtlich der nationalen Wahlen selbst an, indem sie geltend macht, dass die Errichtung und die Arbeitsweise der politischen Parteien in erster Linie darauf abzielten, den Zugang ihrer Mitglieder zur Macht in dem betreffenden Mitgliedstaat zu begünstigen. Diese Feststellung gilt aber auch für die Kommunalwahlen und die Wahlen zum Europäischen Parlament.
142 Daher darf zwar die Wirkung der Persönlichkeit der Wahlbewerber und ihrer Aktivitäten auf die Wähler nicht unterschätzt werden, doch ist ihre Zugehörigkeit zu einer politischen Partei, die wesensgemäß bestrebt ist, für ihre Kandidaten ein günstiges Ergebnis bei den Wahlen zu erzielen, und deren organisatorische Strukturen sowie personelle, administrative und finanzielle Ressourcen zur Verfolgung dieses Ziels dienen, geeignet, die Wahl dieser Kandidaten zu begünstigen. Überdies zeugen die von der Republik Polen vorgelegten Studien davon, dass die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei eines der Kriterien darstellt, an denen sich die Wähler orientieren.
143 Was zweitens die Möglichkeit für Unionsbürger mit Wohnsitz in Polen, die nicht die polnische Staatsangehörigkeit besitzen, betrifft, bei diesen Wahlen in anderer Weise als auf einer vom Wahlausschuss einer politischen Partei eingereichten Liste zu kandidieren, und zwar indem sie von einem Wahlausschuss der Wähler oder, bei Wahlen zu den repräsentativen Gremien von Gebietskörperschaften und bei Bürgermeisterwahlen, von einer Organisation nominiert werden, ist festzustellen, dass die Tatsache, dass diese Unionsbürger dazu angehalten werden, andere Wege als die Aufnahme in eine von einer politischen Partei eingereichte Liste zu beschreiten, zu einer Polarisierung zwischen den Listen von in- und ausländischen Kandidaten, zu einer Fragmentierung des politischen Diskurses und zu einer Marginalisierung dieser Kandidaten führen kann, was dem mit Art. 22 AEUV verfolgten Ziel der Integration zuwiderliefe.
144 Drittens ist zum Vorbringen der Republik Polen, wonach das polnische Recht Mechanismen vorsehe, um eine Besserstellung der Wahlausschüsse von politischen Parteien und Wahlbündnissen politischer Parteien gegenüber den übrigen Wahlausschüssen zu verhindern, zunächst darauf hinzuweisen, dass die Wahlausschüsse nach Art. 126 des Wahlgesetzbuchs die für die Wahlen aufgewendeten Kosten aus eigenen Mitteln aufbringen.
145 Insoweit sieht Art. 132 § 1 des Wahlgesetzbuchs vor, dass die finanziellen Mittel des Wahlausschusses einer politischen Partei nur aus dem nach den Bestimmungen des Gesetzes über politische Parteien errichteten Wahlfonds dieser Partei stammen dürfen. Nach den Art. 24 und 28 dieses Gesetzes stammt das Vermögen einer politischen Partei aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden, Erbschaften oder Vermächtnissen, Vermögenserträgen, gesetzlich vorgesehenen Zuschüssen und Subventionen, Einkünften u. a. aus Bankzinsen, dem Handel mit Anleihen oder der Veräußerung bestimmter Vermögenswerte und, wenn sie bei den Wahlen zum Sejm einen gewissen Prozentsatz der Stimmen erhalten, einem Zuschuss während der Legislaturperiode. Nach Art. 36 Abs. 1 des Gesetzes über politische Parteien können die Mittel des Wahlfonds der politischen Partei aus eigenen Beiträgen dieser Partei, Spenden, Erbschaften und Vermächtnissen stammen.
146 Dagegen beschränken sich die Finanzierungsquellen eines Wahlausschusses von Wählern oder Organisationen nach Art. 132 § 3 des Wahlgesetzbuchs auf Beiträge polnischer Staatsangehöriger mit ständigem Wohnsitz in Polen und auf Bankkredite, die ausschließlich für Wahlzwecke aufgenommen werden.
147 Auch wenn die einschlägigen nationalen Bestimmungen Obergrenzen für die Ausgaben vorsehen, die keiner der Wahlausschüsse überschreiten darf, verfügen die politischen Parteien folglich gleichwohl über zahlreichere und damit grundsätzlich bedeutendere Finanzierungsquellen für ihren Wahlkampf.
148 Sodann sieht Art. 133 des Wahlgesetzbuchs vor, dass der Wahlausschuss einer politischen Partei oder eines Wahlbündnisses, der Wahlausschuss von Bürgern und der Wahlausschuss einer Organisation während des Wahlkampfs die Räumlichkeiten der politischen Partei, die Räumlichkeiten eines Mitglieds des Wahlausschusses bzw. die Räumlichkeiten dieser Organisation sowie die Büroausstattung dieser Einrichtungen unentgeltlich nutzen darf. Der Umstand, dass die politischen Parteien über zahlreiche Finanzierungsquellen insbesondere für den Erwerb oder die Anmietung ihrer Räumlichkeiten und der Büroausstattung verfügen (siehe oben, Rn. 145), führt dazu, dass die Wahlausschüsse politischer Parteien im Vergleich zu den übrigen Wahlausschüssen zur Förderung ihres Wahlkampfs grundsätzlich über größere Kapazitäten bei Räumlichkeiten und Büroausstattung verfügen.
149 Schließlich verfügen die Wahlausschüsse von politischen Parteien oder Wahlbündnissen politischer Parteien aus denselben Gründen grundsätzlich über mehr Mittel zur Deckung anderer Kosten für die politische Kommunikation als der in Art. 117 § 1 des Wahlgesetzbuchs genannten, der die unentgeltliche Verbreitung von Wahlsendungen in den Programmen öffentlich-rechtlicher Rundfunk- und Fernsehveranstalter betrifft, deren Kosten Letztere tragen, und insbesondere für die Werbung in sozialen Netzwerken.
150 In Anbetracht dessen ist festzustellen, dass die durch Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes über politische Parteien geschaffene Ungleichbehandlung dazu führt, dass Unionsbürger mit Wohnsitz in Polen, die nicht die polnische Staatsangehörigkeit besitzen, keinen gleichen Zugang zu den Mitteln haben, über die die Angehörigen dieses Mitgliedstaats für die wirksame Ausübung ihres passiven Wahlrechts bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament verfügen, so dass sie eine grundsätzlich nach Art. 22 AEUV verbotene Ungleichbehandlung darstellt.
– Zur Achtung der nationalen Identität
151 Zu prüfen ist noch das Vorbringen der Republik Polen, die Auslegung von Art. 22 AEUV, wonach die Mitgliedstaaten, um zu gewährleisten, dass das in diesem Artikel verankerte Diskriminierungsverbot bei der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen und den Wahlen zum Europäischen Parlament beachtet werde, den Unionsbürgern mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besäßen, gestatten müssten, Mitglied einer politischen Partei in diesem Mitgliedstaat zu werden, verstoße gegen Art. 4 Abs. 2 EUV, der vorsehe, dass die Union die nationale Identität der Mitgliedstaaten achte, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen zum Ausdruck komme.
152 Die Republik Polen macht geltend, ein Mitgliedstaat könne nicht verpflichtet sein, solchen Unionsbürgern die ständige und uneingeschränkte Mitwirkung am politischen Leben des Mitgliedstaats, in dem sie wohnten, zu gestatten und über das System der politischen Parteien Einfluss auf das Ergebnis der nationalen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen auszuüben, was der Fall wäre, wenn sie das Recht hätten, Mitglied einer politischen Partei zu werden.
153 Hierzu ist erstens festzustellen, dass die Organisation des nationalen politischen Lebens, zu der die politischen Parteien beitragen, Teil der nationalen Identität im Sinne von Art. 4 Abs. 2 EUV ist.
154 Zweitens impliziert Art. 22 AEUV, indem er Unionsbürgern mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, dort das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament verleiht, jedoch weder, dass dieser Mitgliedstaat verpflichtet ist, den Unionsbürgern das aktive und passive Wahlrecht bei nationalen Wahlen zuzuerkennen, noch ein Verbot für diesen Mitgliedstaat, besondere Regeln für die Entscheidungsfindung innerhalb einer politischen Partei in Bezug auf die Aufstellung von Kandidaten bei den nationalen Wahlen zu erlassen, die es ausschließen, dass Mitglieder der Partei, die keine Angehörigen dieses Staates sind, bei einer solchen Entscheidungsfindung mitwirken.
155 Drittens ist Art. 4 Abs. 2 EUV unter Berücksichtigung der gleichrangigen Bestimmungen, insbesondere der Art. 2 und 10 EUV, zu verstehen und kann die Mitgliedstaaten nicht von der Einhaltung der sich aus diesen Vorschriften ergebenden Erfordernisse befreien (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen [Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern], C‑204/21, EU:C:2023:442, Rn. 72).
156 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Demokratieprinzip und der Grundsatz der Gleichbehandlung Werte darstellen, auf die sich die Union gemäß Art. 2 EUV gründet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Juni 2021, Ungarn/Parlament, C‑650/18, EU:C:2021:426, Rn. 94).
157 Art. 2 EUV stellt keine bloße Aufzählung politischer Leitlinien oder Absichten dar, sondern enthält Werte, die der Union als Rechtsgemeinschaft schlechthin ihr Gepräge geben, wobei sich diese Werte in Grundsätzen niederschlagen, die rechtlich verbindliche Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten beinhalten (Urteile vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat, C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 232, und vom 16. Februar 2022, Polen/Parlament und Rat, C‑157/21, EU:C:2022:98, Rn. 264).
158 Außerdem beruht, wie sich aus Rn. 112 des vorliegenden Urteils ergibt, die Arbeitsweise der Union nach Art. 10 Abs. 1 EUV auf dem Grundsatz der repräsentativen Demokratie, der den in Art. 2 EUV genannten Wert der Demokratie konkretisiert (Urteil vom 19. Dezember 2019, Junqueras Vies, C‑502/19, EU:C:2019:1115, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).
159 Indem Art. 22 AEUV den Unionsbürgern mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen sowie bei Wahlen zum Europäischen Parlament in diesem Mitgliedstaat unter denselben Bedingungen wie dessen Staatsangehörigen garantiert, konkretisiert er die Grundsätze der Demokratie sowie der Gleichbehandlung der Unionsbürger (siehe oben, Rn. 96), die zur Identität und zu den gemeinsamen Werten der Union gehören, denen die Mitgliedstaaten beipflichten und deren Achtung sie in ihrem Hoheitsgebiet gewährleisten müssen.
160 Folglich kann der Umstand, dass solchen Unionsbürgern in ihrem Wohnsitzmitgliedstaat gestattet wird, Mitglied einer politischen Partei zu werden, damit die Grundsätze der Demokratie und der Gleichbehandlung vollständig umgesetzt werden, nicht als Beeinträchtigung der nationalen Identität dieses Mitgliedstaats angesehen werden.
161 Nach alledem ist festzustellen, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 22 AEUV verstoßen hat, dass sie Unionsbürgern, die nicht die polnische Staatsangehörigkeit besitzen, aber in Polen ihren Wohnsitz haben, das Recht verwehrt, Mitglied einer politischen Partei zu sein.
Kosten
162 Gemäß Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Republik Polen im Rahmen der vorliegenden Klage unterlegen ist, sind ihr neben ihren eigenen Kosten gemäß dem Antrag der Kommission deren Kosten aufzuerlegen.
163 Nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten und die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Folglich trägt die Tschechische Republik ihre eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Republik Polen hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 22 AEUV verstoßen, dass sie Unionsbürgern, die nicht die polnische Staatsangehörigkeit besitzen, aber ihren Wohnsitz in Polen haben, das Recht verwehrt, Mitglied in einer politischen Partei zu sein.
2. Die Republik Polen trägt neben ihren eigenen Kosten die Kosten der Europäischen Kommission.
3. Die Tschechische Republik trägt ihre eigenen Kosten.
Unterschriften