C-558/21 P – Global Silicones Council u.a./ Kommission u.a.

C-558/21 P – Global Silicones Council u.a./ Kommission u.a.

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2023:320

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 20. April 2023(1)

Rechtssache C558/21 P

Global Silicones Council u. a.

gegen

Europäische Kommission

„Rechtsmittel – Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 (REACH) – Änderung des Anhangs XVII der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 zur Beschränkung der Herstellung, des Inverkehrbringens und der Verwendung bestimmter gefährlicher Stoffe, Gemische und Erzeugnisse – Beschränkung der Verwendung von Octamethylcyclotetrasiloxan (‚D4‘) und Decamethylcyclopentasiloxan (‚D5‘) – Persistente, bioakkumulierbare und toxische Stoffe – Sehr persistente und sehr bioakkumulierbare Stoffe – Unannehmbare Risiken – Begründung“

I.      Einleitung

1.        Die REACH-Verordnung(2) erlaubt der Kommission, die Herstellung, die Verwendung oder das Inverkehrbringen von Stoffen zu beschränken, wenn mit diesen Aktivitäten ein unannehmbares Risiko für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt verbunden ist.

2.        Besondere Risiken bestehen u. a. bei Stoffen, die persistent, bioakkumulierbar und toxisch („PBT“) oder sehr persistent und sehr bioakkumulierbar („vPvB“ für very persistant and very bioaccumulative) sind.(3) Derartige Stoffe werden nur sehr langsam oder gar nicht abgebaut und können sich daher in der Umwelt anreichern. Die Auswirkungen einer solchen Anreicherung sind langfristig nicht vorhersehbar. Auch ist eine solche Anreicherung in der Praxis schwer rückgängig zu machen, da die Beendigung der Freisetzung des Stoffes nicht unbedingt zu einer Verringerung der Stoffkonzentration in der Umwelt führt. Darüber hinaus können PBT‑ oder vPvB-Stoffe abgelegene Gebiete kontaminieren, die vor einer weiteren Kontamination durch gefährliche Stoffe aus menschlicher Tätigkeit geschützt werden sollten.(4)

3.        Mit der angefochtenen Verordnung(5) untersagt die Kommission den Einsatz der streitigen Stoffe, Octamethylcyclotetrasiloxan („D4“) und Decamethylcyclopentasiloxan („D5“), in abwaschbaren kosmetischen Mitteln, weil D4 ein PBT‑/vPvB-Stoff sei und D5 ein vPvB-Stoff.

4.        Nachdem das Gericht die Klage gegen die angefochtene Verordnung abgewiesen hat, wirft das vorliegende Rechtsmittel insbesondere Fragen dazu auf, ob die Kommission selbst hätte feststellen müssen, dass in Bezug auf die streitigen Stoffe unannehmbare Risiken vorliegen, wie das Konzept der unannehmbaren Risiken anzuwenden ist und ob das Verbot ausreichend begründet ist. Darüber hinaus geht es um die Einstufung der streitigen Stoffe als PBT‑/vPvB bzw. vPvB, doch damit beschäftige ich mich nur in den Schlussanträgen in der parallel anhängigen Rechtssache C‑559/21 P, Global Silicones/ECHA.

II.    Rechtlicher Rahmen

5.        Die REACH-Verordnung ermächtigt die Kommission, die Herstellung, die Verwendung oder das Inverkehrbringen von Stoffen zu beschränken (Titel VIII).

6.        Art. 68 Abs. 1 der REACH-Verordnung ist die Rechtsgrundlage der Verhängung von Beschränkungen:

„Bringt die Herstellung, die Verwendung oder das Inverkehrbringen von Stoffen ein unannehmbares Risiko für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt mit sich, das gemeinschaftsweit behandelt werden muss, so wird Anhang XVII nach dem in Art. 133 Abs. 4 genannten Verfahren geändert, indem nach dem Verfahren der Art. 69 bis 73 neue Beschränkungen der Herstellung, der Verwendung oder des Inverkehrbringens von Stoffen als solchen, in Gemischen oder in Erzeugnissen erlassen oder geltende Beschränkungen in Anhang XVII geändert werden. Bei einer solchen Entscheidung werden die sozioökonomischen Auswirkungen der Beschränkung einschließlich der Verfügbarkeit von Alternativen berücksichtigt.

…“

7.        Art. 69 der REACH-Verordnung regelt die Einleitung eines Verfahrens zur Verhängung einer Beschränkung. Abs. 4 betrifft die Einleitung durch einen Mitgliedstaat:

„Bringt nach Auffassung eines Mitgliedstaates die Herstellung, das Inverkehrbringen oder die Verwendung eines Stoffes als solchem, in einem Gemisch oder in einem Erzeugnis ein Risiko für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt mit sich, das nicht angemessen beherrscht wird und behandelt werden muss, so teilt er der Agentur mit, dass er ein Dossier zu erstellen beabsichtigt, das den Anforderungen der einschlägigen Abschnitte des Anhangs XV entspricht.“

8.        Im Übrigen sieht Art. 69 der REACH-Verordnung eine Öffentlichkeitsbeteiligung vor und nach Art. 70 bis 72 sind Stellungnahmen der Ausschüsse für Risikobeurteilung und für sozioökonomische Analyse einzuholen.

9.        Art. 73 Abs. 1 der REACH-Verordnung regelt den Erlass der Beschränkung:

„Sind die Voraussetzungen des Art. 68 erfüllt, so erstellt die Kommission … den Entwurf einer Änderung des Anhangs XVII; …

Weicht der Änderungsentwurf vom ursprünglichen Vorschlag ab oder werden die Stellungnahmen der Agentur nicht berücksichtigt, so fügt die Kommission eine ausführliche Erklärung der Gründe für die Abweichung an.“

10.      Die endgültige Entscheidung wird nach Art. 73 Abs. 2 und Art. 133 der REACH-Verordnung in einem Komitologieverfahren unter Beteiligung der Mitgliedstaaten getroffen.

11.      In Anhang I der REACH-Verordnung sind die allgemeinen Anforderungen an die Stoffsicherheitsbeurteilung und die Stoffsicherheitsberichte geregelt. Nr. 4.0.1 beschreibt den Umgang mit PBT‑ und vPvB-Stoffen:

„Ziel der Ermittlung der PBT‑ und vPvB-Eigenschaften ist es, zu ermitteln, ob der Stoff die in Anhang XIII identifizierten Kriterien erfüllt, und, wenn ja, die potenziellen Emissionen des Stoffes zu beschreiben. Eine Ermittlung schädlicher Wirkungen nach den Abschnitten 1 und 3 in Bezug auf alle Langzeitwirkungen und eine Abschätzung der Langzeitexposition von Mensch und Umwelt nach Abschnitt 5 (Expositionsbeurteilung) – Schritt 2 (Expositionsabschätzung) – können für Stoffe, die die PBT‑ und vPvB-Kriterien in Anhang XIII erfüllen, nicht mit hinreichender Zuverlässigkeit durchgeführt werden. Daher ist eine gesonderte Ermittlung der PBT‑ und vPvB-Eigenschaften erforderlich.“

12.      Nr. 6.5 von Anhang I der REACH-Verordnung regelt insbesondere das Risikomanagement bei PBT‑/vPvB-Stoffen:

„…

Ergreift der Hersteller oder Importeur an seinem Standort für Stoffe, die die PBT‑ und vPvB-Kriterien erfüllen, Risikomanagementmaßnahmen, die die Exposition von Menschen und Umwelt und die Emissionen während des gesamten Lebenszyklus des Stoffes, der sich aus der Herstellung und den identifizierten Verwendungen ergibt, minimieren, und empfiehlt er derartige Maßnahmen für nachgeschaltete Anwender, so verwendet er hierfür die gemäß Abschnitt 5 Schritt 2 gewonnenen Informationen.“

13.      Anhang XV der REACH-Verordnung enthält die Anforderungen an ein Dossier, mit dem eine Beschränkung vorgeschlagen wird. Schon in der Einleitung wird auf Anhang I verwiesen:

„Für Methodik und Format aller Dossiers nach dem vorliegenden Anhang gelten die entsprechenden Teile des Anhangs I.“

14.      Eine weitere Verweisung auf Anhang I befindet sich in einem Unterabschnitt von Anhang XV Nr. 3 der REACH-Verordnung:

Informationen über schädliche Wirkungen und Risiken

Die Risiken, denen mit der Beschränkung begegnet werden soll, sind auf der Grundlage einer Beurteilung der schädlichen Wirkungen und der Risiken gemäß den entsprechenden Teilen des Anhangs I zu beschreiben und in dem in Teil B des Stoffsicherheitsberichts nach Anhang I beschriebenen Format zu dokumentieren.

Es ist nachzuweisen, dass vorhandene Risikomanagementmaßnahmen (einschließlich der in den Registrierungen nach den Art. 10 bis 14 genannten) unzureichend sind.“

III. Sachverhalt und Verfahren

15.      Am. 17. April 2015 übermittelte das Vereinigte Königreich der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) ein Dossier nach Anhang XV der REACH-Verordnung, in dem es vorschlug, die Verwendung der streitigen Stoffe in kosmetischen Mitteln zu beschränken, die unter normalen Anwendungsbedingungen nach dem Auftragen mit Wasser abgewaschen werden. Dies sei notwendig, um zu verhindern, dass die streitigen Stoffe ins Abwasser gelangen.

16.      Am 10. März 2016 gab der Ausschuss der ECHA für Risikobeurteilung eine Stellungnahme ab, wonach D4 die Kriterien für PBT‑ und vPvB-Stoffe erfülle und D5 die Kriterien für vPvB-Stoffe. Der Ausschuss bestätigte die Risiken, die entstehen, wenn diese Stoffe ins Wasser gelangen. Er folgerte auch, dass die vorgeschlagene Beschränkung eine gezielte und geeignete unionsweite Maßnahme sei, um Freisetzungen der streitigen Stoffe durch abwaschbare Produkte zu minimieren.

17.      Am 9. Juni 2016 legte der Ausschuss der ECHA für sozioökonomische Analyse seine Stellungnahme vor und stellte fest, die vorgeschlagene Beschränkung sei im Hinblick auf ihre sozioökonomischen Vor- und Nachteile die am besten geeignete Maßnahme, um die Ableitung der streitigen Stoffe in das Abwasser zu reduzieren.

18.      Mit der angefochtenen Verordnung vom 10. Januar 2018 änderte die Kommission Anhang XVII der REACH-Verordnung dahin gehend, dass die streitigen Stoffe nach dem 31. Januar 2020 in abwaschbaren kosmetischen Mitteln nicht in einer Konzentration von 0,1 Gewichtsprozent oder höher in den Verkehr gebracht werden dürfen.(6) Dort wird klargestellt, dass mit „abwaschbaren kosmetischen Mitteln“ Mittel gemeint sind, die unter normalen Anwendungsbedingungen nach dem Auftragen mit Wasser abgewaschen werden.

19.      Nach dem achten Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung beruht diese Beschränkung der Verwendung der beiden Stoffe auf den gefährlichen Eigenschaften von D4 als PBT‑Stoff und als vPvB-Stoff sowie von D5 als vPvB-Stoff. Daher stelle das Vorhandensein der streitigen Stoffe in bestimmten kosmetischen Mitteln, die nach dem Auftragen mit Wasser abgewaschen werden, ein Risiko für die Umwelt dar.

20.      Der neunte Erwägungsgrund stellt die Reichweite der Beschränkung klar:

„… In kosmetischen Mitteln, die dazu bestimmt sind, über längere Zeit mit der Haut, dem Haar oder den Schleimhäuten in Berührung zu verbleiben, verdampfen D4 und D5 nach dem Auftragen mit der Zeit[,] und alle Reste werden beim normalen Waschen abgespült. Diese Mittel waren nicht Bestandteil des Dossiers nach Anhang XV, da sie nicht die Hauptquelle für die Umweltrisiken sind, die durch D4 und D5 verursacht werden, das von ihnen ausgehende Risiko für die Umwelt wurde daher noch nicht durch den RAC [(Ausschuss für Risikobewertung)] bewertet. Deswegen sollten die Beschränkungen lediglich für abwaschbare kosmetische Mittel gelten, die unter normalen Anwendungsbedingungen kurz nach dem Auftragen mit Wasser entfernt werden, weil D4 und D5 unter diesen Umständen vor der Verdampfung in Gewässer eingetragen werden.“

21.      Der erste Rechtsmittelführer, Global Silicones Council, vertritt Unternehmen, die weltweit Silikonprodukte herstellen und verkaufen. Die anderen Rechtsmittelführerinnen, Wacker Chemie AG, Momentive Performance Materials GmbH, Shin-Etsu Silicones Europe BV und Elkem Silicones France SAS, sind in der Europäischen Union niedergelassene Unternehmen, die Silikonprodukte, insbesondere D4 und D5, herstellen, verkaufen und liefern.

22.      Sie erhoben Klage gegen die angefochtene Verordnung, die das Gericht mit dem angefochtenen Urteil vom 30. Juni 2021, Global Silicones Council u. a./Kommission (T‑226/18, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:403), abwies.

23.      Am 8. September 2021 legten die Rechtsmittelführer das vorliegende Rechtsmittel ein. Sie beantragen,

1)      das angefochtene Urteil aufzuheben,

2)      die angefochtene Verordnung aufzuheben oder, hilfsweise, die Rechtssache an das Gericht zurückzuverweisen und

3)      der Kommission die Kosten des Verfahrens, einschließlich der Kosten des Verfahrens vor dem Gericht, aufzuerlegen.

24.      Der American Chemicals Council (ACC) war Streithelfer der Rechtsmittelführer im Verfahren vor dem Gericht und unterstützt ihre Anträge.

25.      Die Europäische Kommission tritt dem Rechtsmittel entgegen und beantragt,

1)      das Rechtsmittel abzuweisen und

2)      den Rechtsmittelführern die Kosten aufzuerlegen.

26.      Deutschland und die ECHA waren Streithelfer der Kommission im Verfahren vor dem Gericht. Sie unterstützen die Kommission und beantragen, den Rechtsmittelführern die Kosten aufzuerlegen. Die übrigen Streithelfer der Kommission vor dem Gericht haben sich nicht am Rechtsmittelverfahren beteiligt.

27.      Die Beteiligten haben sich schriftlich geäußert. Auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung hat der Gerichtshof verzichtet, da er aufgrund des schriftlichen Verfahrens keine weiteren Informationen benötigt.

IV.    Rechtliche Würdigung

28.      Die Rechtsmittelführer und der ACC machen fünf Rechtsmittelgründe geltend.

29.      Der vierte und der fünfte Rechtsmittelgrund betreffen die Feststellung der bioakkumulativen Eigenschaften von D4 und D5. Sie entsprechen weitgehend Rechtsmittelgründen, die die Rechtsmittelführer und der ACC in der Rechtssache C‑559/21 P, Global Silicones Council/ECHA, geltend machen, und sind aufgrund der Erwägungen zurückzuweisen, die ich in den Schlussanträgen in jener Sache vom 20. April 2023 darlege. Daher werde ich in den vorliegenden Schlussanträgen auf diese Rechtsmittelgründe nicht weiter eingehen.

30.      Die ersten drei Rechtsmittelgründe in der vorliegenden Sache beziehen sich dagegen darauf, dass das Gericht die Auffassung der Kommission bestätigt hat, die Freisetzung der streitigen Stoffe sei mit einem Risiko verbunden, das eine Beschränkung der Verwendung des betreffenden Stoffs in abwaschbaren Kosmetika rechtfertige.

31.      Insofern wenden sich die Rechtsmittelführer zunächst auf formaler Ebene dagegen, dass die Kommission nicht selbst festgestellt hat, die Beschränkung sei notwendig, um einem unannehmbaren Risiko zu begegnen, sondern sich weitgehend auf Würdigungen im Rahmen des Vorverfahrens stützt (dazu unter B). Inhaltlich wenden sie sich gegen Einzelheiten der Beurteilung dieses Risikos (dazu unter C). Um diese Rechtsmittelgründe zu erörtern, werde ich zunächst den rechtlichen Maßstab darstellen, der bei der Anwendung der maßgeblichen Bestimmung, Art. 68 Abs. 1 der REACH-Verordnung, zu beachten ist (dazu unter A).

A.      Rechtlicher Maßstab

32.      Nach Art. 68 Abs. 1 der REACH-Verordnung verhängt die Kommission Beschränkungen, wenn die Herstellung, die Verwendung oder das Inverkehrbringen von Stoffen ein unannehmbares Risiko für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt mit sich bringt.

33.      Bei der Beurteilung, ob ein Risiko unannehmbar ist, muss die Kommission den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit anwenden. Damit gewährleistet sie, dass die Beschränkung die Grundrechte respektiert. Schutzmaßnahmen, etwa die streitgegenständliche Beschränkung, dürfen vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten und dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer entsprechen. Dabei ist, wenn mehrere (gleichermaßen(7)) geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen; ferner müssen die auferlegten Belastungen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen.(8)

34.      Art. 68 Abs. 1 der REACH-Verordnung dient dem spezifischen Ziel der Minderung oder Vermeidung von Risiken, die mit der Herstellung, der Verwendung oder dem Inverkehrbringen von Stoffen verbunden sind. Eine nach dieser Bestimmung erlassene Beschränkung muss erstens geeignet sein, dieses Ziel zu erreichen, und zweitens dafür erforderlich sein, also das mildeste Mittel darstellen.

35.      Drittens müssen die mit der Beschränkung verbundenen Belastungen in einem angemessenen Verhältnis zu der angestrebten Minderung oder Vermeidung des betreffenden Risikos stehen.

36.      Dieses Verhältnis hat der Gesetzgeber in Art. 68 Abs. 1 der REACH-Verordnung mit dem Begriff des „unannehmbaren Risikos“ konkretisiert. Damit es „unannehmbar“ ist und eine Beschränkung rechtfertigen kann, muss dem Risiko ein erhebliches Gewicht zukommen. Auch sind „annehmbare“ Risiken vorstellbar, die nicht mit einer Beschränkung bekämpft werden dürfen. Allerdings ergibt sich aus den Art. 35 und 37 der Charta, Art. 114 Abs. 3 AEUV sowie Art. 1 Abs. 1 und dem ersten Erwägungsgrund der REACH-Verordnung, dass ein hohes Schutzniveau für die menschliche Gesundheit und für die Umwelt anzustreben ist. Dies muss auch bei der Entscheidung über Beschränkungen beachtet werden.

37.      Dabei steht die konkrete Bestimmung des Risikoniveaus, das für die Gesellschaft hinnehmbar erscheint, den Organen zu, die für politische Entscheidungen zuständig sind. Denn das annehmbare Risiko wird nicht nur auf der Grundlage im engen Sinne naturwissenschaftlicher Erwägungen, sondern auch unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Faktoren bestimmt.(9) Art. 68 Abs. 1 der REACH-Verordnung weist diese Aufgabe beim Erlass einer Beschränkung der Kommission zu, die sie im Rahmen eines Komitologieverfahrens unter Beteiligung der Mitgliedstaaten ausübt.

38.      Da es sich bei der Beurteilung, ob ein Risiko unannehmbar ist, um eine wissenschaftlich und technisch hochkomplexe Frage handelt, die zudem eine politische Abwägung erfordert, kommt der Kommission ein weiter Beurteilungsspielraum zu. Derartige Maßnahmen können die Unionsgerichte nur auf offensichtliche Beurteilungsfehler oder eine offensichtliche Überschreitung der Grenzen des Beurteilungsspielraums überprüfen. In einem solchen Kontext darf der Unionsrichter nämlich nicht seine Beurteilung der tatsächlichen Umstände wissenschaftlicher und technischer Art an die Stelle der Stellen setzen, denen allein der Gesetzgeber diese Aufgabe anvertraut hat.(10)

39.      Soweit jedoch die Organe der Union über einen solchen Beurteilungsspielraum verfügen, kommt der Beachtung der Garantien, die die Unionsrechtsordnung in Verwaltungsverfahren gewährt, eine umso größere Bedeutung zu. Zu diesen Garantien gehört insbesondere das Recht auf eine ausreichende Begründung der Entscheidung. Nur so kann der Gerichtshof überprüfen, ob die für die Wahrnehmung des Beurteilungsspielraums maßgeblichen sachlichen und rechtlichen Umstände vorgelegen haben.(11)

B.      Die formale „Trennungsthese“

40.      Mit dem ersten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes und dem zweiten Rechtsmittelgrund erheben die Rechtsmittelführer und der ACC eher formale Einwände.

41.      Die Kommission hat nämlich in der Begründung der angefochtenen Verordnung nicht dargelegt, dass und warum sie selbst der Auffassung ist, mit der streitgegenständlichen Verwendung der streitigen Stoffe sei ein unannehmbares Risiko verbunden. Sie hat vielmehr im achten Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung nur festgestellt, dass das Vorhandensein der streitigen Stoffe in bestimmten kosmetischen Mitteln, die nach dem Auftragen mit Wasser abgewaschen werden, ein Risiko für die Umwelt darstellt. Dieses Risiko liege darin, dass D4 ein PBT‑Stoff und ein vPvB-Stoff sei sowie D5 ein vPvB-Stoff.

42.      Weiter reichende Beurteilungen und Feststellungen finden sich zwar in den Stellungnahmen, die das Vereinigte Königreich sowie die Ausschüsse der ECHA für Risikobeurteilung und sozioökonomische Analyse im Vorverfahren vorgelegt haben, doch diese wollen die Rechtsmittelführer und der ACC nicht gelten lassen. Dieses Vorbringen lässt sich zusammenfassend als „Trennungsthese“ bezeichnen.

43.      Nachfolgend werde ich zunächst diese Trennungsthese widerlegen und anschließend die Begründung der angefochtenen Verordnung untersuchen.

1.      Erster Teil des ersten Rechtsmittelgrundes Berücksichtigung des Vorverfahrens

44.      Mit dem ersten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes wenden sich die Rechtsmittelführer und der ACC gegen Feststellungen des Gerichts in den Rn. 192 und 217 des angefochtenen Urteils, die darauf hinauslaufen, dass sich die Kommission die Beurteilungen und Feststellungen aus dem Vorverfahren implizit zu eigen machen kann und dies im vorliegenden Fall auch getan hat.

45.      Die Ergebnisse des Vorverfahrens sind nach den Rechtsmittelführern und dem ACC streng von der Beurteilung zu trennen, die die Kommission vornehmen müsse, wenn sie eine Beschränkung verhängt. Art. 68 Abs. 1 der REACH-Verordnung ermächtige nämlich nur die Kommission, eine Beschränkung zu verhängen, und dies sei der strengste Eingriff, den die Verordnung vorsehe. Außerdem werde nur in dieser Bestimmung der Begriff des unannehmbaren Risikos verwendet, während er in den Bestimmungen über das Vorverfahren nicht auftauche.

46.      Dieses Vorbringen überzeugt jedoch nicht. Die Feststellungen des Gerichts entsprechen nämlich Art. 73 Abs. 1 Unterabs. 2 der REACH-Verordnung. Danach muss die Kommission eine ausführliche Erklärung der Gründe vorlegen, wenn ihr Entwurf einer Beschränkung vom ursprünglichen Vorschlag (des Mitgliedstaats oder der ECHA) abweicht oder sie dabei die Stellungnahmen der ECHA nicht berücksichtigt. Im Gegenschluss ergibt sich daraus, dass die Kommission keine ausführliche Begründung vorlegen muss, wenn die Beschränkung dem ursprünglichen Vorschlag und den Stellungnahmen entspricht. Auf diese Bestimmung verweist das Gericht zutreffend in Rn. 213 des angefochtenen Urteils.

47.      Auch praktisch erscheint jedenfalls die strenge Trennung zwischen der Beurteilung der Kommission und dem Vorverfahren unrealistisch. Die Kommission entscheidet in einem Komitologieverfahren unter Beteiligung der Mitgliedstaaten. Die Mitgliedstaaten sind gleichzeitig nach Art. 85 der REACH-Verordnung eng in die Besetzung und die Arbeit der Ausschüsse eingebunden, die sich im Vorverfahren äußern.

48.      Wie das Gericht in den Rn. 188 ff. des angefochtenen Urteils ausführt, zielen die Stellungnahmen im Vorverfahren im Übrigen darauf ab, ein unannehmbares Risiko aufzuzeigen (oder zu widerlegen). Die jeweils anzuwendenden Bestimmungen umschreiben nämlich dieses Risiko lediglich mit anderen Worten.

49.      So ist bereits die Einleitung des Verfahrens durch einen Mitgliedstaat nach Art. 69 Abs. 4 der REACH-Verordnung davon abhängig, dass die Herstellung, das Inverkehrbringen oder die Verwendung des Stoffs nach Auffassung des Mitgliedstaats ein Risiko mit sich bringt, das nicht angemessen beherrscht wird und behandelt werden muss. Solange dies der Fall ist, ist das Risiko unannehmbar. Sobald es angemessen beherrscht wird, ist es auch annehmbar.

50.      Das Gericht stellt in Rn. 199 des angefochtenen Urteils zwar fest, dass ein unannehmbares Risiko nicht identisch ist mit einem Risiko, das nicht angemessen beherrscht wird und behandelt werden muss. Entgegen den Rechtsmittelführern liegt darin jedoch kein Widerspruch zu den Rn. 192 und 217, wo das Gericht es zulässt, dass die Kommission sich bei der Beurteilung, ob ein Risiko unannehmbar ist, die Feststellungen im Vorverfahren zu eigen macht. Im Zusammenhang der Rn. 198 und 199 soll die genannte Feststellung in Rn. 199 nämlich vor allem zum Ausdruck bringen, dass die Beurteilung des Risikos im Laufe des Verfahrens, insbesondere durch die Ausschüsse der ECHA, weiter vertieft wird, was Deutschland mit Hinweisen auf die Entstehungsgeschichte der Regelung untermauert.

51.      Das zeigt auch eine genauere Betrachtung des Vorverfahrens.

52.      In dem zunächst zu erstellenden Dossier muss der Mitgliedstaat nach Anhang XV Abschnitt II Nr. 3 der REACH-Verordnung nachweisen, dass vorhandene Risikomanagementmaßnahmen unzureichend sind, und die vorgeschlagene Beschränkung begründen, insbesondere hinsichtlich der Erforderlichkeit eines unionsweiten Vorgehens. Außerdem muss er begründen, dass die Beschränkung geeignet ist, um die Risiken innerhalb einer angemessenen Frist und in einer dem Risiko angemessenen Weise auf ein annehmbares Maß zu verringern. Das bedeutet zwangsläufig, dass das Dossier auf einem zumindest bislang unannehmbaren Risiko beruhen muss.

53.      Nachdem der Mitgliedstaat dies alles dargelegt hat, nehmen die Ausschüsse für Risikobeurteilung (Art. 70 der REACH-Verordnung) sowie für sozioökonomische Analyse (Art. 71) unter Berücksichtigung einer Öffentlichkeitsbeteiligung zu dem Vorschlag und seiner Begründung Stellung. Dabei beurteilen sie im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeit umfassend einerseits das Risiko und andererseits die sozioökonomischen Auswirkungen der vorgeschlagenen Beschränkungen.

54.      In Rn. 217 des angefochtenen Urteils bringt das Gericht daher lediglich zum Ausdruck, dass die Kommission ein unannehmbares Risiko nicht selbst noch einmal ausdrücklich feststellen muss, wenn sie die Beschränkung erlässt und sich dabei die Beurteilungen des Vorverfahrens zu eigen macht, die dieses Risiko bereits aufzeigen. Dass diese Vorgehensweise der angefochtenen Verordnung zugrunde liegt, hat die Kommission im gerichtlichen Verfahren ausdrücklich bestätigt.

55.      Wegen dieser Verknüpfung zwischen dem Vorverfahren und der Kommissionsentscheidung ist im Übrigen das Argument zurückzuweisen, dass die Beurteilung eines unannehmbaren Risikos nicht auf Anhang I der REACH-Verordnung gestützt werden könne. Dieses Vorbringen beruht nämlich ebenfalls auf der angeblichen Trennung zwischen dem Vorverfahren und der Beurteilung durch die Kommission. Dass Anhang I im Vorverfahren anwendbar ist, wird nicht bestritten.

56.      Die im ersten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes von den Rechtsmittelführern und ACC verfochtene Trennungsthese ist daher zurückzuweisen. Vielmehr müssen die Ergebnisse des Vorverfahrens sowohl bei der Prüfung der Vollständigkeit der Begründung der angefochtenen Verordnung als auch bei der Beurteilung dieser Begründung berücksichtigt werden, wenn die Kommission sie sich – wie im vorliegenden Fall – zu eigen macht.

2.      Zweiter Rechtsmittelgrund – unzureichende Begründung der angefochtenen Verordnung

57.      Aufbauend auf der Trennungsthese beanstanden die Rechtsmittelführer und der ACC mit dem zweiten Rechtsmittelgrund, das Gericht habe in Rn. 337 des angefochtenen Urteils zu Unrecht die Begründung der angefochtenen Verordnung als ausreichend akzeptiert.

58.      Die Begründung eines Rechtsakts ergibt sich jedoch nicht nur aus seinem Wortlaut, sondern auch aus seinem Kontext sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet.(12) Im vorliegenden Fall tragen insbesondere die Stellungnahmen aus dem Vorverfahren, die die Kommission sich zu eigen macht, zur Begründung bei. Diese waren den Rechtsmittelführern bekannt; sie konnten sich im Vorverfahren sogar dazu äußern. Daher kann auch dieser Rechtsmittelgrund nicht durchdringen.

59.      Es wäre zwar wünschenswert, wenn sich die Begründung der angefochtenen Verordnung ganz oder zumindest in wesentlichen Teilen aus den Erwägungsgründen ergäbe. Damit würde die Kommission nicht nur die Überprüfung der Verordnung erleichtern, sondern auch das Risiko von Missverständnissen vermeiden. Gleichwohl ist es möglich, unter Berücksichtigung der Stellungnahmen im Vorverfahren die Begründung der angefochtenen Verordnung zu rekonstruieren.

60.      Die angefochtene Verordnung beschränkt die Herstellung, die Verwendung und das Inverkehrbringen der streitigen Stoffe nicht umfassend. Sie verbietet vielmehr, diese Stoffe in kosmetischen Mitteln in Verkehr zu bringen, die unter normalen Anwendungsbedingungen nach dem Auftragen mit Wasser abgewaschen werden.

61.      Insbesondere aus dem neunten Erwägungsgrund ergibt sich, dass das unmittelbare Ziel dieser Beschränkung darin liegt, die Freisetzung der streitigen Stoffe in Gewässer zu mindern. Darin liege die Hauptquelle für die Umweltrisiken, die mit diesen Stoffen verbunden sind. Die Stellungnahme des Ausschusses für Risikobeurteilung kommt zum gleichen Ergebnis.(13)

62.      Die Ausschüsse für Risikobeurteilung und für sozioökonomische Analyse erörtern in ihren Stellungnahmen die Eignung des Verbots der streitgegenständlichen Verwendung, dieses Ziel zu erreichen, und legen dar, dass andere Maßnahmen weniger wirksam wären.

63.      Was das Verhältnis zwischen dem Ziel des Verbots und den damit einhergehenden Belastungen angeht, so sind die Aussagen im Vorverfahren zur Bedeutung der Umweltrisiken zwar widersprüchlich. Diese Widersprüche haben jedoch keine Auswirkungen auf den Inhalt der angefochtenen Verordnung.

64.      Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass die Auswirkungen von PBT‑/vPvB-Stoffen in der Umwelt und letztlich auch auf Menschen nicht vorhersehbar sind, weil diese Stoffe sich immer weiter anreichern können.(14)

65.      Das Vereinigte Königreich hat daher einerseits in seinem Dossier zur Begründung des Beschränkungsvorschlags in jeder Freisetzung der streitigen Stoffe einen Hinweis auf ein „unannehmbares Risiko“ gesehen,(15) hielt aber andererseits die Freisetzung in die Luft für unbedenklich, denn es sei davon auszugehen, dass die Stoffe dort verblieben, bis sie zersetzt würden.(16)

66.      Auch der Ausschuss für Risikobeurteilung verlangt grundsätzlich, jede Freisetzung der streitigen Stoffe zu minimieren,(17) und wendet sich sogar dagegen, die Freisetzung in die Luft als unbedenklich anzusehen. Vielmehr enthielte eine neuere Studie Anhaltspunkte, dass auch mit einer Freisetzung in die Luft ein Risiko der Ablagerung in Wasser oder den Boden verbunden sei.(18)

67.      Trotz ihrer weiter reichenden Aussagen zu den Risiken der streitigen Stoffe schlugen sowohl das Vereinigte Königreich als auch der Ausschuss für Risikobeurteilung nur das in der angefochtenen Verordnung verhängte Verbot vor, das allein die Freisetzung in Gewässer verhindern soll. Der Ausschuss betonte lediglich, bei der künftigen Überprüfung der Beschränkung sei das Risiko einer Freisetzung in die Luft weiter zu untersuchen.(19)

68.      Der Vorschlag des Verbots durch das Vereinigte Königreich und die Zustimmung des Ausschusses für Risikobeurteilung lassen sich demnach nur dadurch erklären, dass sich die streitigen Stoffe bei einer Freisetzung in Gewässer voraussichtlich nicht vollständig zersetzen, sondern zumindest teilweise in der Umwelt anreichern.

69.      Das Vereinigte Königreich und der Ausschuss für sozioökonomische Analyse untersuchten schließlich das Verhältnis zwischen den Vorteilen und den Belastungen durch die vorgeschlagene Beschränkung. Auch dieser Ausschuss teilte nicht alle Einschätzungen des Vereinigten Königreichs, insbesondere hinsichtlich der monetären Bewertung der Vorteile der Beschränkung, kam aber dennoch wie dieser ehemalige Mitgliedstaat zu dem Ergebnis, dass die Vorteile die Nachteile deutlich überwiegen.

70.      Da die Kommission mit der angefochtenen Verordnung dem von den Ausschüssen bestätigten Vorschlag des Vereinigten Königreichs gefolgt ist, ist davon auszugehen, dass sie insbesondere aus dem Vergleich der Vor- und Nachteile des Verbots geschlossen hat, das Risiko, dem es begegnen soll, sei unannehmbar. So verstehe ich im Übrigen auch die Feststellung des Gerichts in Rn. 187 des angefochtenen Urteils.

3.      Zwischenergebnis

71.      Die formalen Einwände gegen die Behandlung der Angabe der Gründe für die angefochtene Verordnung durch das Gericht sind somit unbegründet.

C.      Inhaltliche Einwände gegen die angefochtene Verordnung

72.      Der zweite Teil des ersten Rechtsmittelgrundes und der dritte Rechtsmittelgrund betreffen inhaltliche Einwände gegen die angefochtene Verordnung. Sie haben im Wesentlichen die erste Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung zum Gegenstand, die Art. 68 Abs. 1 der REACH-Verordnung verlangt, nämlich die Beurteilung des Risikos. Sie beruhen jedoch auf überzogenen rechtlichen Anforderungen sowie einem fehlgehenden Verständnis des angefochtenen Urteils und der angefochtenen Verordnung.

1.      Zweiter Teil des ersten Rechtsmittelgrundes – Schwelle des unannehmbaren Risikos

73.      Mit dem zweiten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes beanstanden die Rechtsmittelführer, das Gericht habe in Rn. 202 des angefochtenen Urteils zu Unrecht zugelassen, dass die Kommission bzw. die Stellungnahmen aus dem Vorverfahren keine kritische Schwelle für die Wahrscheinlichkeit nachteiliger Wirkungen definiert hätte, die für die Gesellschaft nicht annehmbar seien. Mit anderen Worten: Die Kommission habe es versäumt, die Grenze zwischen einem annehmbaren und einem unannehmbaren Risiko festzulegen.

74.      Die Kommission war jedoch nicht verpflichtet, dazu eine Feststellung zu treffen.

75.      Da die Risiken der streitigen Stoffe auf ihren PBT‑/vPvB-Eigenschaften beruhen, ergibt sich aus Anhang I Nr. 4.0.1 der REACH-Verordnung, dass kein annehmbares Risiko definiert werden muss, wie das Gericht in den Rn. 190, 191 und 202 des angefochtenen Urteils darlegt.

76.      Anhang I Nr. 4.0.1 der REACH-Verordnung hält fest, dass eine Ermittlung schädlicher Wirkungen auf Mensch und Umwelt und eine Abschätzung der Langzeitexposition für PBT‑/vPvB-Stoffe nicht mit hinreichender Zuverlässigkeit durchgeführt werden können. Im Rahmen der Stoffsicherheitsbeurteilung und des Stoffsicherheitsberichts wird daher nur anhand der Kriterien von Anhang XIII untersucht, ob es sich um PBT‑/vPvB-Stoffe handelt, und anschließend ist die Freisetzung dieser Stoffe zu beschreiben.

77.      Der Grund für diese Regelung liegt darin, dass sich derartige Stoffe anreichern können. Daher ist es auch nicht möglich, die Festlegung eines annehmbaren Risikos bei PBT‑/vPvB-Stoffen auf bestimmte Grenzwerte für die Freisetzung zu stützen.

78.      Soweit die Rechtsmittelführer dem die Methode einer wissenschaftlichen Organisation entgegenhalten, um die Risiken von PBT‑/vPvP-Stoffen quantitativ zu bestimmen, so mag diese Methode wissenschaftlich vertretbar sein. Sie findet allerdings keine Grundlage in den anwendbaren Regelungen der REACH-Verordnung. In diesen kommt zum Ausdruck, dass das Risiko der Anreicherung dieser Stoffe es verbietet, eine unbedenklich freisetzbare Menge zu bestimmen.

79.      Die Rechtsmittelführer und der ACC stützen die Verpflichtung zur Definition eines annehmbaren Risikos außerdem auf das Urteil des Gerichts in der Rechtssache Pfizer, wonach vorsorgliche Maßnahmen voraussetzen, das Schutzniveau festzulegen, das die zuständigen Stellen für die Gesellschaft als angemessen erachten. Entsprechend diesem Schutzniveau müssten diese Stellen dann den Risikograd bestimmen, der ihnen für diese Gesellschaft nicht mehr hinnehmbar erscheint und der, wird er überschritten, trotz bestehender wissenschaftlicher Ungewissheit vorbeugende Maßnahmen erforderlich macht. Dabei ist der Risikograd die kritische Schwelle für die Wahrscheinlichkeit nachteiliger Wirkungen und für die Schwere dieser potenziellen Wirkungen.(20)

80.      Schon das damals im Urteil Pfizer vom Gericht angeführte Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Toolex zeigt jedoch, dass es nicht in jedem Fall notwendig ist, die Grenze zwischen annehmbaren und unannehmbaren Risiken präzise zu bestimmen. Denn dort hatte der Gerichtshof anerkannt, dass unter Berücksichtigung der Schwierigkeiten, die kritische Schwelle für eine ernsthaften Gefährdung zu bestimmen, ein grundsätzliches Verbot der Verwendung des fraglichen Stoffs gerechtfertigt war.(21)

81.      Dementsprechend ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Vorsorgeprinzip nur, dass vorsorgliche Maßnahmen erstens die Bestimmung der möglicherweise negativen Auswirkungen erfordern und zweitens eine umfassende Bewertung dieses Risikos auf der Grundlage der zuverlässigsten verfügbaren wissenschaftlichen Daten und der neuesten Ergebnisse der internationalen Forschung voraussetzen.(22) Eine genaue Bestimmung der Grenze des noch hinnehmbaren Risikos verlangt der Gerichtshof dagegen nicht.

82.      Dies ist folgerichtig, weil diese Grenze häufig Teil der wissenschaftlichen Unsicherheit ist, der vorsorgliche Maßnahmen begegnen sollen. Darüber hinaus mag es mehrere Stoffe mit identischen Risiken geben, die aber mit unterschiedlich gewichtigen Vorteilen verbunden sind. In solchen Fällen ist es vorstellbar, das gleiche Risiko bei einem sehr vorteilhaften Stoff als hinnehmbar anzusehen, bei einem weniger vorteilhaften Stoff dagegen nicht.

83.      Somit war die Kommission auch aufgrund allgemeiner Erwägungen nicht verpflichtet, genau abzugrenzen, in welchem Umfang das Risiko der Freisetzung der streitigen Stoffe annehmbar sein könnte.

84.      Auch der zweite Teil des ersten Rechtsmittelgrundes ist daher unbegründet.

2.      Dritter Rechtsmittelgrund – Emissionen als Hinweis auf das Risiko

85.      Mit dem dritten Rechtsmittelgrund wenden sich die Rechtsmittelführer und der ACC insbesondere gegen Rn. 196 des angefochtenen Urteils. Dort geht es darum, dass das Vereinigte Königreich in seinem gemäß Anhang XV erstellten Dossier und der Ausschuss zur Risikobeurteilung zu dem Schluss gekommen sind, die mit den streitigen Stoffen verbundenen Risiken könnten nicht zuverlässig quantifiziert, aber ihre Emissionen könnten als Hinweis auf ein Risiko gewertet werden. Darin sieht das Gericht keinen offensichtlichen Beurteilungsfehler, der die angefochtene Verordnung in Frage stellen könnte.

86.      Die Rechtsmittelführer und der ACC vertreten hingegen die Auffassung, Art. 68 Abs. 1 in Verbindung mit den Anhängen XV und I der REACH-Verordnung erlaube es nicht, jede Freisetzung von PBT‑/vPvB-Stoffen als unannehmbares Risiko anzusehen. Es widerspreche früherer Rechtsprechung des Gerichts, vorsorgliche Maßnahmen auf den Ausschluss jeglichen Risikos („Nullrisiko“) zu stützen.(23) Darüber hinaus reiche es beim Umgang mit Risiken nicht aus, ein Risiko zu identifizieren, sondern die politisch verantwortlichen Stellen müssten in einem zweiten Schritt festlegen, welches Schutzniveau erreicht werden solle, also welches Risiko noch annehmbar sei.

a)      Schutzniveau

87.      Was das Vorbringen zur Festlegung des Schutzniveaus angeht, ist auf die soeben angestellte Prüfung des zweiten Teils des ersten Rechtsmittelgrundes zu verweisen. Danach ist es nicht in jedem Fall notwendig, die Grenze zwischen annehmbaren und unannehmbaren Risiken festzulegen. Vielmehr kann die Kommission ein bestimmtes Risiko als unannehmbar ansehen, ohne zu bestimmen, in welchem Umfang die Freisetzung des betreffenden Stoffes ein annehmbares Risiko darstellen würde.

b)      Die Freisetzung als Hinweis auf ein Risiko

88.      Es trifft allerdings zu, dass die Stellungnahme des Ausschusses für Risikobeurteilung und das vom Vereinigten Königreich vorgelegte Dossier nach Anhang XV der REACH-Verordnung bei oberflächlicher Betrachtung den Eindruck erwecken, die Beschränkung sei ausschließlich darauf gestützt, dass die Freisetzung von PBT‑/vPvB-Stoffen verhindert werden müsste.

89.      Die REACH-Verordnung verlangt jedoch nicht, jede Freisetzung derartiger Stoffe zu verhindern. Insbesondere sieht Nr. 6.5 von Anhang I vor, dass Hersteller und Importeure von PBT‑/vPvB-Stoffen Risikomanagementmaßnahmen ergreifen, die eine Freisetzung lediglich minimieren sollen, aber sie nicht verhindern müssen.

90.      Im Übrigen ist es vorstellbar, dass die Vorteile bestimmter Verwendungen von PBT‑/vPvP-Stoffen so bedeutsam sind, dass sie gegenüber den Risiken einer Freisetzung eindeutig überwiegen und deshalb eine Beschränkung nicht gerechtfertigt ist. Das ist insbesondere zu erwarten, wenn die risikobehafteten Stoffe bei wichtigen Verwendungen nicht durch weniger riskante Stoffe ersetzt werden können.

91.      Das Vorbringen der Rechtsmittelführer in diesem Punkt beruht jedoch auf einem falschen Verständnis des angefochtenen Urteils und der angefochtenen Verordnung. Der Regelungsinhalt der angefochtenen Verordnung und die oben dargestellte Rekonstruktion ihrer Begründung zeigen nämlich, dass sie nicht auf der Erwägung beruht, dass jede Freisetzung von PBT‑/vPvP-Stoffen eine Beschränkung erfordert. Grund der Beschränkung ist vielmehr, dass die Freisetzung der streitigen Stoffe in Gewässer aufgrund ihrer Verwendung in abwaschbaren Kosmetika verhindert werden soll. Darauf stellt auch das Gericht in den Rn. 194 und 195 des angefochtenen Urteils ab, ohne dass die Rechtsmittelführer und der ACC das beanstanden würden.

c)      Nullrisiko

92.      Dementsprechend geht auch das Vorbringen der Rechtsmittelführer und des ACC ins Leere, die Kommission wolle jedes Risiko ausschließen oder verlange den Nachweis, dass kein Risiko bestehe. Die angefochtene Verordnung wendet sich vielmehr gegen ein spezifisches Risiko, nämlich jenes der Freisetzung der streitigen Stoffe in Gewässer.

93.      Darüber hinaus beruht auch der Hinweis auf frühere Rechtsprechung des Gerichts zum Nullrisiko auf einem falschen Verständnis. Nach dem Gericht darf eine vorbeugende Maßnahme oder umgekehrt ihre Rücknahme oder Abschwächung nicht von dem Nachweis abhängig gemacht werden, dass keinerlei Risiken bestehen. Ein solcher Nachweis kann im Allgemeinen aus wissenschaftlicher Sicht nicht erbracht werden, da es in der Praxis ein „Nullrisiko“ nicht gibt.(24)

94.      Entgegen der Auffassung der Rechtsmittelführer und des ACC ist damit allerdings nicht gemeint, dass der vollständige Ausschluss eines bestimmten Risikos unzulässig wäre. Es geht vielmehr darum, dass ein Risiko vorbeugende Maßnahmen nicht bereits deshalb rechtfertigen kann, weil es wissenschaftlich nicht vollständig ausgeschlossen wurde. Der Gerichtshof betont dementsprechend regelmäßig, dass die Risikobewertung bei der Anwendung des Vorsorgeprinzips nicht mit rein hypothetischen Erwägungen begründet werden darf.(25) Damit sind bloße, wissenschaftlich noch nicht verifizierte Vermutungen gemeint.(26) Demgegenüber genügen wissenschaftlich verankerte Bedenken auch bei fortbestehender wissenschaftlicher Ungewissheit den Anforderungen dieses Prinzips.(27)

95.      Das Risiko der Anreicherung von PBT‑/vPvB-Stoffen ist jedoch nicht hypothetisch, sondern wissenschaftlich anerkannt.

96.      Auch der dritte Rechtsmittelgrund ist somit zurückzuweisen.

3.      Zwischenergebnis

97.      Daher können die Rechtsmittelführer und der ACC auch mit ihren inhaltlichen Einwänden nicht durchdringen.

D.      Schlussbemerkung – Unannehmbarkeit des Risikos

98.      Sämtliche bislang erörterte Einwände beruhen möglicherweise auf der Überzeugung der Rechtsmittelführer und des ACC, das Gericht habe zu Unrecht, insbesondere in den Rn. 204 und 205 des angefochtenen Urteils, akzeptiert, dass die Kommission auf der Grundlage des Vorverfahrens zu dem Ergebnis gekommen ist, das mit der Verwendung abwaschbarer Kosmetika einhergehende Risiko einer Freisetzung der streitigen Stoffe in Gewässer sei unannehmbar.

99.      Diese Überzeugung wäre jedoch darauf zurückzuführen, dass die Rechtsmittelführer und der ACC nur bestimmte Punkte der Begründung der angefochtenen Verordnung in den Blick nehmen, aber den Gesamtzusammenhang vernachlässigen.

100. Insofern ist erneut daran zu erinnern, dass die angefochtene Verordnung nur ein bestimmtes Risiko betrifft, das mit der Verwendung der streitigen Stoffe verbunden ist, nämlich jenes der Freisetzung in Gewässer.

101. Verwendungen, die nicht mit einer Freisetzung verbunden sind, waren dagegen überhaupt nicht Gegenstand des Verfahrens. Die Verwendung in Kosmetika, die nicht innerhalb kurzer Zeit abgewaschen werden sollen, wurde zwar erörtert, wird aber von der angefochtenen Verordnung nicht erfasst. Denn nach bisherigem Kenntnisstand führt diese Verwendung im Wesentlichen zu einer Freisetzung in die Luft und nur in geringem Maß zur Freisetzung in Gewässer.

102. Wie aus dem neunten Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung zu schließen ist, sah die Kommission in der Freisetzung in Gewässer die „Hauptquelle für die Umweltrisiken“ und diese Risiken somit implizit als unannehmbar an. Der Grund für diese Beurteilung liegt darin, dass sich die streitigen Stoffe dabei in der Umwelt anreichern können, was der Grund für ihre Einstufung als sehr bioakkumulierbar ist.

103. Diese Einstufung als sehr bioakkumulierbar stellen die Rechtsmittelführer und der ACC im Rahmen des vierten und des fünften Rechtsmittelgrundes in Frage. Aus den Gründen, die ich in meinen Schlussanträgen vom 20. April 2023 in der Rechtssache C‑559/21 P, Global Silicones Council/ECHA, darlege, halte ich diese Rechtsmittelgründe für unbegründet.

104. Aus dem Blick gerät dabei jedoch die Frage, ob die Beurteilung, das Risiko der Anreicherung in der Umwelt sei unannehmbar, auf einem offensichtlichen Fehler beruht. Da die Rechtsmittelführer insofern keine konkreten Einwände vortragen, ist nur an zwei Punkte zu erinnern.

105. Erstens kommt der Kommission bei der Beurteilung dieser Frage ein weiter Beurteilungsspielraum zu, den die Unionsgerichte nur auf offensichtliche Fehler überprüfen können.(28)

106. Und zweitens wurde die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme im Vorverfahren intensiv untersucht. Insbesondere hat der Ausschuss für sozioökonomische Analyse festgestellt, dass die Vorteile des Verbots seine Nachteile weit überwiegen,(29) ohne dass die Rechtsmittelführer oder der ACC das in Frage stellen würden.

107. Ein offensichtlicher Beurteilungsfehler ist somit nicht ersichtlich. Daher wäre das Rechtsmittel auch zurückzuweisen, wenn man es dahin auslegen würde, dass es die im vorliegenden Abschnitt angesprochene, vorstellbare Kritik enthält.

V.      Kosten

108. Wenn das Rechtsmittel unbegründet ist, entscheidet der Gerichtshof nach Art. 184 Abs. 2 der Verfahrensordnung über die Kosten.

109. Gemäß Art 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

110. Da die Rechtsmittelführer mit ihren Rechtsmittelgründen unterlegen sind und die Kommission ihre Verurteilung zur Tragung der Kosten beantragt hat, sind den Rechtsmittelführern diese Kosten aufzuerlegen.

111. Deutschland und der ECHA, Streithelfer im ersten Rechtszug, sind nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung ihre eigenen Kosten aufzuerlegen.(30)

112. Im Übrigen ergibt sich aus Art. 184 Abs. 4 der Verfahrensordnung, dass der Gerichtshof einer erstinstanzlichen Streithilfepartei, wenn sie das Rechtsmittel nicht selbst eingelegt, aber am schriftlichen oder mündlichen Verfahren vor dem Gerichtshof teilgenommen hat, ihre eigenen Kosten auferlegen kann. Da der ACC am Verfahren teilgenommen hat und mit seinen Anträgen unterlegen ist, sind ihm seine eigenen Kosten aufzuerlegen.(31)

VI.    Ergebnis

113. Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, wie folgt zu entscheiden:

1)      Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen.

2)      Der Global Silicones Council und die anderen Rechtsmittelführer tragen ihre eigenen Kosten sowie die Kosten, die der Europäischen Kommission aufgrund des Rechtsmittels entstanden sind.

3)      Die Bundesrepublik Deutschland, die Europäische Chemikalienagentur und der American Chemistry Council, Inc. (ACC) tragen ihre eigenen Kosten.

































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