SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
JOSÉ MARTÍN Y PÉREZ DE NANCLARES
vom 29. Oktober 2025(1 )
Rechtssache T ‑638/24
Finanzamt Österreich,
Beteiligte:
D GmbH
(Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs [Österreich])
„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Mehrwertsteuer (MwSt) – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 20 – Innergemeinschaftlicher Erwerb von Gegenständen – Art. 62, 68 und 69 – Steuertatbestand und Steueranspruch – Art. 40 und 41 – Bestimmung des Orts des innergemeinschaftlichen Erwerbs von Gegenständen – Verwendung der Steuer‑Identifikationsnummer des Herkunftslandes der Gegenstände durch den Erwerber der Gegenstände – Art. 138 – Steuerbefreite innergemeinschaftliche Lieferungen – Art. 203 – Zu Unrecht in Rechnung gestellte und in demselben Mitgliedstaat gezahlte Steuer – Berichtigung der Rechnung – Rechtswirkungen “
I. Einleitung
1. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs (Österreich) veranlasst mich, zur Besteuerung eines innergemeinschaftlichen Erwerbs von Gegenständen im Sinne von Art. 20 der Richtlinie 2006/112/EG(2 ) in einem Fall Stellung zu nehmen, in dem der Mitgliedstaat des Beginns der Versendung oder Beförderung der Gegenstände diesen Erwerb gemäß Art. 41 dieser Richtlinie besteuert hat, weil der Erwerber die Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer dieses Staates verwendet und nicht nachgewiesen hat, dass der Umsatz im Mitgliedstaat der Beendigung der Versendung oder Beförderung mehrwertsteuerpflichtig war.
2. Aus dem Urteil vom 7. Juli 2022, Dyrektor Izby Skarbowej w W. (Falsche Einstufung von Reihengeschäften) (C‑696/20, im Folgenden: Urteil Dyrektor, EU:C:2022:528), geht hervor, dass in einem solchen Fall ein innergemeinschaftlicher Erwerb vorliegt. Dieser ist im Mitgliedstaat des Beginns der Versendung oder Beförderung gemäß Art. 41 der Richtlinie 2006/112 steuerpflichtig, es sei denn, er geht auf eine innergemeinschaftliche Lieferung zurück, die in diesem Mitgliedstaat nicht als steuerfrei behandelt wurde.
3. Um die Auslegung der letztgenannten Voraussetzung geht es in den Fragen des vorlegenden Gerichts. Die fraglichen Umsätze, die in den Jahren 2011 bis 2015 stattfanden, wurden nämlich von der österreichischen Finanzverwaltung als steuerbefreite innergemeinschaftliche Lieferungen und als mehrwertsteuerpflichtige innergemeinschaftliche Erwerbe eingestuft(3 ). Gleichwohl stellten die Lieferer für diese Lieferungen Mehrwertsteuer in Rechnung, so dass sie diese gemäß Art. 203 der Richtlinie 2006/112 schuldeten. Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob dieser Umstand ausreicht, um diese Lieferungen als nicht steuerbefreit zu behandeln, was nach dem Urteil Dyrektor ihrer Besteuerung auf der Grundlage von Art. 41 dieser Richtlinie entgegenstünde.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
4. Nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Richtlinie 2006/112 unterliegt der Mehrwertsteuer „der innergemeinschaftliche Erwerb von Gegenständen im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt … durch einen Steuerpflichtigen, der als solcher handelt …“.
5. Art. 20 Abs. 1 dieser Richtlinie definiert den Begriff „innergemeinschaftlicher Erwerb von Gegenständen“ als „die Erlangung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen beweglichen körperlichen Gegenstand zu verfügen, der durch den Verkäufer oder durch den Erwerber oder für ihre Rechnung nach einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sich der Gegenstand zum Zeitpunkt des Beginns der Versendung oder Beförderung befand, an den Erwerber versandt oder befördert wird“.
6. Nach Art. 40 der Richtlinie gilt „[a]ls Ort eines innergemeinschaftlichen Erwerbs von Gegenständen … der Ort, an dem sich die Gegenstände zum Zeitpunkt der Beendigung der Versendung oder Beförderung an den Erwerber befinden“.
7. Art. 41 der Richtlinie lautet:
„Unbeschadet des Artikels 40 gilt der Ort eines innergemeinschaftlichen Erwerbs von Gegenständen im Sinne des Artikels 2 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer i als im Gebiet des Mitgliedstaats gelegen, der dem Erwerber die von ihm für diesen Erwerb verwendete Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer erteilt hat, sofern der Erwerber nicht nachweist, dass dieser Erwerb im Einklang mit Artikel 40 besteuert worden ist.
Wird der Erwerb gemäß Artikel 40 im Mitgliedstaat der Beendigung der Versendung oder Beförderung der Gegenstände besteuert, nachdem er gemäß Absatz 1 besteuert wurde, wird die Steuerbemessungsgrundlage in dem Mitgliedstaat, der dem Erwerber die von ihm für diesen Erwerb verwendete Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer erteilt hat, entsprechend gemindert.“
8. Art. 62 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:
„Für die Zwecke dieser Richtlinie gilt
(1) als ‚Steuertatbestand‘ der Tatbestand, durch den die gesetzlichen Voraussetzungen für den Steueranspruch verwirklicht werden;
(2) als ‚Steueranspruch‘ der Anspruch auf Zahlung der Steuer, den der Fiskus kraft Gesetzes gegenüber dem Steuerschuldner von einem bestimmten Zeitpunkt an geltend machen kann, selbst wenn Zahlungsaufschub gewährt werden kann.“
9. Art. 68 dieser Richtlinie lautet:
„Der Steuertatbestand tritt zu dem Zeitpunkt ein, zu dem der innergemeinschaftliche Erwerb von Gegenständen bewirkt wird.
Der innergemeinschaftliche Erwerb von Gegenständen gilt als zu dem Zeitpunkt bewirkt, zu dem die Lieferung gleichartiger Gegenstände innerhalb des Mitgliedstaats als bewirkt gilt.“
10. Art. 69 der Richtlinie sieht vor, dass „[b]eim innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen … der Steueranspruch bei der Ausstellung der Rechnung, oder bei Ablauf der Frist nach Artikel 222 Absatz 1, wenn bis zu diesem Zeitpunkt keine Rechnung ausgestellt worden ist, ein[tritt]“.
11. Nach Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie „[befreien d]ie Mitgliedstaaten die Lieferungen von Gegenständen, die durch den Verkäufer … nach Orten außerhalb ihres jeweiligen Gebiets, aber innerhalb der [Union] versandt oder befördert werden, von der Steuer, wenn diese Lieferung an einen anderen Steuerpflichtigen … bewirkt wird, der/die als solche/r in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Beginns der Versendung oder Beförderung der Gegenstände handelt“.
12. Art. 203 der Richtlinie 2006/112 bestimmt, dass [d]ie Mehrwertsteuer … von jeder Person geschuldet [wird], die diese Steuer in einer Rechnung ausweist“.
B. Österreichisches Recht
13. Nach Art. 3 Abs. 8 des Anhangs (Binnenmarkt) des Umsatzsteuergesetzes 1994 vom 23. August 1994 (BGBl. 663/1994, im Folgenden: UStG 1994) wird „[d]er innergemeinschaftliche Erwerb … in dem Gebiet des Mitgliedstaates bewirkt, in dem sich der Gegenstand am Ende der Beförderung oder Versendung befindet. Verwendet der Erwerber gegenüber dem Lieferer eine ihm von einem anderen Mitgliedstaat erteilte Umsatzsteuer‑Identifikationsnummer, so gilt der Erwerb solange in dem Gebiet dieses Mitgliedstaates als bewirkt, bis der Erwerber nachweist, dass der Erwerb durch den im ersten Satz bezeichneten Mitgliedstaat besteuert worden ist.“
14. § 11 Abs. 12 UStG 1994 sah in der Fassung vor dem Abgabenänderungsgesetz 2023 (BGBl. I, 110/2023) vor:
„Hat der Unternehmer in einer Rechnung für eine Lieferung oder sonstige Leistung einen Steuerbetrag, den er nach diesem Bundesgesetz für den Umsatz nicht schuldet, gesondert ausgewiesen, so schuldet er diesen Betrag auf Grund der Rechnung, wenn er sie nicht gegenüber dem Abnehmer der Lieferung oder dem Empfänger der sonstigen Leistung entsprechend berichtigt. …“
III. Sachverhalt und Vorabentscheidungsersuchen
15. Im Ausgangsrechtsstreit stehen sich die D GmbH, eine in Österreich ansässige Gesellschaft, und das Finanzamt Österreich gegenüber. Der Rechtsstreit betrifft Mehrwertsteuer auf im Zeitraum zwischen 2011 und 2015 getätigte Umsätze.
16. Dem Vorabentscheidungsersuchen lässt sich entnehmen, dass D sich unter Verwendung ihrer österreichischen Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer Gegenstände liefern ließ, die sie von in Österreich ansässigen Lieferern in einem anderen Mitgliedstaat erworben hatte. Die ausgestellten Rechnungen wiesen die Mehrwertsteuer aus, die geschuldet gewesen wäre, wenn die Transaktionen ausschließlich auf österreichischem Gebiet stattgefunden hätten.
17. Die österreichische Finanzverwaltung stellte im Rahmen einer Steuerprüfung fest, D habe innergemeinschaftliche Erwerbe getätigt und nicht nachgewiesen, dass diese Umsätze im Mitgliedstaat der Beendigung der Versendung oder Beförderung der Mehrwertsteuer unterlegen hätten. Daher seien sie gemäß Art. 3 Abs. 8 des Anhangs (Binnenmarkt) des UStG 1994, der Art. 41 der Richtlinie 2006/112 umsetze, in Österreich steuerpflichtig. Darüber hinaus seien die entsprechenden innergemeinschaftlichen Lieferungen von der Mehrwertsteuer befreit, und die Lieferer hätten diese Steuer daher zu Unrecht in Rechnung gestellt. Nach § 11 Abs. 12 UStG 1994, mit dem Art. 203 der Richtlinie umgesetzt werde, schuldeten sie diese jedoch.
18. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist Art. 41 der Richtlinie 2006/112 anwendbar, sofern nicht davon ausgegangen werde, dass die fraglichen innergemeinschaftlichen Lieferungen aufgrund der Anwendung von Art. 203 dieser Richtlinie nicht als steuerbefreit behandelt worden wären. Es gebe Gründe für die Annahme, dass diese Lieferungen weiterhin von der Steuer befreit seien. Insbesondere ergebe sich die Verpflichtung zur Entrichtung der Mehrwertsteuer nicht aus einer Versagung der Steuerbefreiung, sondern aus der falschen Inrechnungstellung der Mehrwertsteuer. Außerdem sei diese Verpflichtung nicht endgültig, da § 11 Abs. 12 UStG 1994 es den Lieferern ermögliche, falsche Rechnungen jederzeit mit Wirkung ex nunc zu berichtigen.
19. Ungeachtet dieser Erwägungen schließt das vorlegende Gericht nicht aus, dass unter den Umständen des vorliegenden Falles die Anwendung von Art. 41 der Richtlinie 2006/112 gegen die Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit verstoßen könnte.
20. Für den Fall der Bejahung möchte das vorlegende Gericht wissen, welche Folgen eine Berichtigung der Rechnungen habe, in denen zu Unrecht Mehrwertsteuer ausgewiesen sei. Soweit eine solche Berichtigung zu einem Wegfall der Steuerschuld nach Art. 203 der Richtlinie 2006/112 führte, könnte Art. 41 dieser Richtlinie wieder anwendbar werden. Gegebenenfalls könnte die österreichische Finanzverwaltung, vorbehaltlich der im österreichischen Recht vorgesehenen Verjährungsfristen, die betreffenden innergemeinschaftlichen Erwerbe besteuern.
21. Was die Verjährungsproblematik angehe, so sei darüber hinaus zu klären, zu welchem Zeitpunkt diese Erwerbe als erfolgt anzusehen seien. Wenn dieser Zeitpunkt nicht mit der Rechnungsberichtigung zusammenfalle, sondern rückwirkend in der Vergangenheit verortet werden müsse, könnten die Verjährungsfristen der Anwendung von Art. 41 der Richtlinie 2006/112 entgegenstehen.
22. Daher hat der Verwaltungsgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Stehen die Art. 40, 41 und 203 der Richtlinie 2006/112 sowie die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Steuerneutralität der Anwendung einer nationalen Bestimmung – Art. 3 Abs. 8 Satz 2 des Anhangs (Binnenmarkt) des UStG 1994 –, wonach der Erwerb solange in dem Gebiet jenes Mitgliedstaates, dessen Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer vom Erwerber verwendet wurde, als bewirkt gilt, bis der Erwerber nachweist, dass der Erwerb in jenem Mitgliedstaat besteuert wurde, in dem sich der Gegenstand am Ende der Beförderung oder Versendung befindet, in solchen Fällen entgegen, in denen der innergemeinschaftliche Erwerb mit einer innergemeinschaftlichen Lieferung einhergeht, die in Österreich als steuerfreie Lieferung behandelt wurde, aber aufgrund des Ausweises einer österreichischen Umsatzsteuer in der Rechnung eine Steuerschuld für diese Lieferung aufgrund der ausgestellten Rechnung besteht?
2. Für den Fall, dass die Frage 1 bejaht wird: Führt der aufgrund einer späteren Rechnungsberichtigung durch deren Aussteller erfolgte Wegfall der zu Unrecht in der Rechnung über die steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung ausgewiesenen Umsatzsteuer zu einem innergemeinschaftlichen Erwerb gemäß Art. 41 der Richtlinie 2006/112 und, wenn ja, zu welchem Zeitpunkt wird dieser innergemeinschaftliche Erwerb bewirkt?
IV. Verfahren vor dem Gericht
23. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen ist am 22. November 2024 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen. Gemäß Art. 50b der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist das Ersuchen an das Gericht weitergeleitet worden, das beschlossen hat, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden.
24. Die österreichische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.
V. Rechtliche Würdigung
25. Ich schlage vor, die beiden Vorlagefragen nacheinander zu prüfen.
26. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 203 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass seine Anwendung aufgrund falscher Inrechnungstellung der Mehrwertsteuer für steuerbefreite innergemeinschaftliche Lieferungen im Mitgliedstaat des Beginns der Versendung oder Beförderung der gleichzeitigen Besteuerung der entsprechenden innergemeinschaftlichen Erwerbe in demselben Mitgliedstaat gemäß Art. 41 dieser Richtlinie entgegenstehen kann.
27. Zur Beantwortung dieser Frage werde ich in einem ersten Schritt die Anwendbarkeit von Art. 41 der Richtlinie 2006/112 prüfen und dabei die mit Art. 203 dieser Richtlinie zusammenhängende Problematik außer Acht lassen (A). In einem zweiten Schritt werde ich den Kern der ersten Frage prüfen, nämlich die Möglichkeit einer gleichzeitigen Anwendung der Art. 203 und 41 der Richtlinie 2006/112 (B).
28. Die zweite Frage wurde nur für den Fall gestellt, dass Art. 203 der Richtlinie 2006/112 dahin ausgelegt wird, dass seine Anwendung diejenige von Art. 41 dieser Richtlinie ausschließt.
29. Mit dieser Frage, von der ich nur einige Aspekte behandeln werde (C), möchte das vorlegende Gericht wissen, welche Folgen die Berichtigung von Rechnungen hat, in denen die Mehrwertsteuer für die betreffenden innergemeinschaftlichen Lieferungen zu Unrecht ausgewiesen ist. Insbesondere möchte es wissen, ob davon auszugehen ist, dass nach einer solchen Berichtigung Art. 41 der Richtlinie 2006/112 wieder anwendbar wird, und ob der innergemeinschaftliche Erwerb dann auch zum selben Zeitpunkt erfolgt, so dass der Steuertatbestand eintritt.
A. Anwendbarkeit von Art. 41 der Richtlinie 2006/112
30. Zur Beantwortung der ersten Vorlagefrage erscheint es mir sachgerecht, in groben Zügen den Gegenstand von Art. 41 der Richtlinie 2006/112, der zu den Vorschriften über den Ort der Besteuerung des innergemeinschaftlichen Erwerbs gehört, in Erinnerung zu rufen (1). Es folgt die Untersuchung der Grundlagen der Rechtsprechung, wonach Art. 41 anwendbar ist, wenn der Erwerber, wie im vorliegenden Fall, im Mitgliedstaat des Beginns der Versendung oder Beförderung der Gegenstände als mehrwertsteuerpflichtig registriert ist (2). Diese Aspekte erlauben es meines Erachtens, die erste Frage in ihren Kontext zu stellen und so die vom vorlegenden Gericht aufgeworfenen Fragen zu verstehen.
1. Gegenstand von Art. 41 der Richtlinie 2006/112
31. Die Art. 40 und 41 der Richtlinie 2006/112 ermöglichen es, den Ort eines innergemeinschaftlichen Erwerbs und damit den nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i dieser Richtlinie für dessen Besteuerung zuständigen Mitgliedstaat zu bestimmen(4 ). Diese Vorschriften gehören zu Titel V der Richtlinie, der den Ort des steuerbaren Umsatzes regelt, und zwar zu Kapitel 2 dieses Titels, das den Ort des innergemeinschaftlichen Erwerbs betrifft. Sie sollen Kompetenzkonflikte vermeiden, die zur Nichtbesteuerung oder, im Gegenteil, zur Doppelbesteuerung der von ihnen erfassten innergemeinschaftlichen Umsätze führen können(5 ).
32. Nach der in Art. 40 der Richtlinie 2006/112 aufgestellten Grundregel gilt als Ort eines innergemeinschaftlichen Erwerbs von Gegenständen der Mitgliedstaat, in dem sich die Gegenstände zum Zeitpunkt der Beendigung der Versendung oder Beförderung der Gegenstände an den Erwerber befinden. Art. 41 dieser Richtlinie findet Anwendung, wenn der Erwerber nicht nachweist, dass der Erwerb in diesem Staat besteuert wurde, und für die Zwecke des Erwerbs die Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer eines anderen Mitgliedstaats verwendet. Gegebenenfalls gilt dann als Ort des innergemeinschaftlichen Erwerbs das Gebiet des letztgenannten Mitgliedstaats(6 ).
33. Im Vergleich zu Art. 40 der Richtlinie 2006/112 stellt deren Art. 41 eine Art „Sicherheitsnetz“(7 ) dar, mit dem Steuerausfälle verhindert werden sollen. Diese Vorschrift stellt nämlich sicher, dass der innergemeinschaftliche Erwerb in jedem Fall der Mehrwertsteuer unterliegt. Die Verpflichtung, insoweit Mehrwertsteuer zu entrichten, eröffnet kein Recht auf Vorsteuerabzug, was darauf zurückzuführen ist, dass Art. 41 dieser Richtlinie subsidiären Charakter hat und den Erwerber dazu veranlassen soll, die Besteuerung des innergemeinschaftlichen Erwerbs im Mitgliedstaat der Beendigung der Versendung oder Beförderung nachzuweisen(8 ).
2. Anwendbarkeit von Art. 41 der Richtlinie 2006/112 im Fall eines im Mitgliedstaat des Beginns der Versendung oder Beförderung der Gegenstände registrierten Erwerbers
34. Zum Zeitpunkt der konkreten Umsätze, d. h. zwischen 2011 und 2015, war ihre Einstufung als innergemeinschaftliche Erwerbe im Sinne von Art. 20 der Richtlinie 2006/112 nicht selbstverständlich. Ein 2018 ergangenes Urteil des Gerichtshofs ließ sogar die Annahme zu, dass die Verwendung der Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer des Mitgliedstaats des Beginns der Versendung oder Beförderung durch den Erwerber eine solche Einstufung ausschloss(9 ).
35. Im Urteil Dyrektor hat der Gerichtshof jedoch bekräftigt, dass der innergemeinschaftliche Charakter eines Umsatzes nicht von der Verwendung einer bestimmten Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer abhängt(10 ). Zudem hat er auf dieser Grundlage entschieden, dass Art. 41 der Richtlinie 2006/112 anwendbar ist, wenn der Mitgliedstaat des Beginns der Versendung oder Beförderung der Gegenstände mit dem Staat der steuerlichen Registrierung des Erwerbers übereinstimmt(11 ).
36. Diese Feststellungen beruhen meines Erachtens auf einer systematischen Auslegung der Vorschriften der Richtlinie 2006/112 über die Regelung der innergemeinschaftlichen Lieferung und des innergemeinschaftlichen Erwerbs. Damit scheint der Gerichtshof einen Zusammenhang zwischen dem in Art. 20 dieser Richtlinie definierten Begriff „innergemeinschaftlicher Erwerb“ und den in Art. 138 dieser Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen für die Steuerbefreiung innergemeinschaftlicher Lieferungen hergestellt zu haben(12 ).
37. Nach gefestigter Rechtsprechung müssen diese beiden Vorschriften übereinstimmend ausgelegt werden, um ihnen dieselbe Bedeutung und Tragweite zu verleihen. Eine Lieferung, die unter diesen Art. 138 fällt, „[muss nämlich] mit einem innergemeinschaftlichen Erwerb einhergehen“(13 ).
38. Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 sieht im Wesentlichen vor, dass die Mitgliedstaaten die Lieferungen von Gegenständen, die durch den Verkäufer, den Erwerber oder für deren Rechnung in einen anderen Mitgliedstaat versandt oder befördert werden und die namentlich an einen anderen Steuerpflichtigen bewirkt werden, der als solcher handelt, von der Steuer befreien(14 ). Diese Vorschrift wurde durch die Richtlinie 2018/1910 geändert. Sie macht seitdem die Mehrwertsteuerbefreiung innergemeinschaftlicher Lieferungen von der Steuerregistrierung des Erwerbers in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Beginns der Versendung oder Beförderung der Gegenstände abhängig(15 ).
39. In der vorliegenden Rechtssache wurden ebenso wie in der Rechtssache, in der das Urteil Dyrektor ergangen ist, die fraglichen Umsätze vor dieser Änderung von Art. 138 der Richtlinie 2006/112 durch die Richtlinie 2018/1910 getätigt, so dass die Voraussetzung bezüglich des Mitgliedstaats der Steuerregistrierung ratione temporis nicht anwendbar ist. Soweit hier von Belang, bleiben deshalb die Lehren aus diesem Urteil in vollem Umfang gültig.
40. Ich teile daher voll und ganz die Einschätzung des vorlegenden Gerichts, dass es sich um innergemeinschaftliche Erwerbe durch D handelt, die aufgrund der Verwendung der österreichischen Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer gemäß Art. 41 der Richtlinie 2006/112 in Österreich steuerpflichtig sind.
41. Angesichts der im Urteil Dyrektor aufgestellten Grundsätze, die nicht die Anwendbarkeit dieser Vorschrift, sondern das Verbot der Doppelbesteuerung von innergemeinschaftlichen Lieferungen und innergemeinschaftlichen Erwerben betreffen, ist jedoch nicht sicher, ob die Republik Österreich in Ansehung der Schuld, für die die Lieferer von D nach Art. 203 der Richtlinie 2006/112 zahlungspflichtig sind, die betroffenen innergemeinschaftlichen Erwerbe tatsächlich besteuern darf.
B. Gleichzeitige Anwendung der Art. 203 und 41 der Richtlinie 2006/112
42. Zur Beantwortung der Frage, ob die österreichische Finanzverwaltung die von D bewirkten innergemeinschaftlichen Erwerbe besteuern darf, halte ich es für notwendig, zu klären, ob angesichts der Anwendung von Art. 203 der Richtlinie 2006/112 auf die entsprechenden Lieferungen die Besteuerung nach Art. 41 dieser Richtlinie zu einer gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verstoßenden Doppelbesteuerung führen kann.
43. Diese Prüfung gebietet meines Erachtens zum einen die Auslegung der Teile des Urteils Dyrektor, in denen der Gerichtshof unter Berücksichtigung eines der Ziele dieses Art. 41, nämlich der Vermeidung der Doppelbesteuerung, die Besteuerung des innergemeinschaftlichen Erwerbs von der Befreiung der entsprechenden Lieferung abhängig gemacht hat (1). Zum anderen schlage ich vor, zu klären, ob diese in Art. 138 der Richtlinie 2006/112 vorgesehene Steuerbefreiung innergemeinschaftlicher Lieferungen dadurch beeinflusst wird, dass eine Schuld nach Art. 203 dieser Richtlinie besteht, die sich aus der falschen Inrechnungstellung der Mehrwertsteuer ergibt (2).
1. Befreiung der innergemeinschaftlichen Lieferung als Voraussetzung für die Besteuerung des innergemeinschaftlichen Erwerbs
44. In Rn. 55 des Urteils Dyrektor hat der Gerichtshof bekräftigt, dass die Besteuerung des innergemeinschaftlichen Erwerbs nach Art. 41 der Richtlinie 2006/112 von der Befreiung der entsprechenden Lieferung abhängt. Dies ist aus meiner Sicht eine logische Folge der Rechtsnatur dieser Lieferung und dieses Erwerbs. Es handelt sich dabei um zwei Seiten derselben Medaille(16 ), die die Richtlinie 2006/112 nur für die Zwecke der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis unterscheidet(17 ). Würden also eine innergemeinschaftliche Lieferung und der entsprechende Erwerb beide mit Mehrwertsteuer belastet, läge eine Doppelbesteuerung vor, die den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität widerspräche.
45. Art. 138 der Richtlinie 2006/112 enthält die Voraussetzungen, unter denen eine innergemeinschaftliche Lieferung von der Mehrwertsteuer befreit werden muss(18 ). Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, kann der entsprechende Erwerb von dem in Art. 41 dieser Richtlinie benannten Mitgliedstaat nicht besteuert werden(19 ). Aus dem Urteil Dyrektor ergibt sich jedoch, dass die Unanwendbarkeit dieses Art. 41 nicht auf diesen Fall beschränkt ist. Selbst wenn eine innergemeinschaftliche Lieferung nach Art. 138 der Richtlinie 2006/112 von der Mehrwertsteuer befreit ist, kann insbesondere die Anwendung einer nationalen Regelung oder Praxis de facto zur Besteuerung einer solchen Lieferung führen, indem sie „als nicht steuerbefreit“ behandelt wird(20 ). Gegebenenfalls ist eine Besteuerung des entsprechenden Erwerbs nach Art. 41 dieser Richtlinie – zu deren Zielen gerade die Vermeidung der Doppelbesteuerung innergemeinschaftlicher Lieferungen und Erwerbe gehört – ausgeschlossen(21 ).
46. Im vorliegenden Fall geht es nicht darum, dass die Anwendung des nationalen Rechts zur Besteuerung einer steuerbefreiten innergemeinschaftlichen Lieferung führt. Die Frage des vorlegenden Gerichts betrifft vielmehr die Anwendung einer Vorschrift des Unionsrechts, nämlich Art. 203 der Richtlinie 2006/112. Somit ist zu prüfen, ob die Anwendung dieser Vorschrift aufgrund der falschen Inrechnungstellung der Mehrwertsteuer für innergemeinschaftliche Lieferungen – die nach Art. 138 dieser Richtlinie von der Steuer befreit sind – tatsächlich deren Besteuerung nach sich zieht und daher der Besteuerung der entsprechenden Erwerbe auf der Grundlage von Art. 41 der Richtlinie entgegensteht.
2. Keine Doppelbesteuerung bei Anwendung von Art. 203 der Richtlinie 2006/112
47. Bevor ich mit der Prüfung von Art. 203 der Richtlinie 2006/112 beginne, weise ich darauf hin, dass, sofern ich mich nicht irre, zwischen diesem Artikel und Art. 41 dieser Richtlinie kein hierarchisches Verhältnis besteht. Ich gehe daher davon aus, dass die österreichische Finanzverwaltung verpflichtet ist, diese Vorschriften gleichzeitig anzuwenden, es sei denn, die Besteuerung der betreffenden Erwerbe ist aus den im Urteil Dyrektor dargelegten Gründen ausgeschlossen.
48. Nach Art. 203 der Richtlinie 2006/112 wird die Mehrwertsteuer von jeder Person geschuldet, die sie in einer Rechnung ausweist. Diese Vorschrift begründet eine Steuerschuld in allen Fällen, in denen die Mehrwertsteuer zu Unrecht in Rechnung gestellt wurde, darunter insbesondere im Fall von Fehlern in Bezug auf den richtigen Satz und den Betrag der Steuer. Sie gilt auch, wenn jeder tatsächlich steuerpflichtige Umsatz fehlt(22 ).
49. Dagegen werden Fälle, in denen die Mehrwertsteuer zu Recht in Rechnung gestellt wurde und der Steuerbetrag richtig ist, nicht von Art. 203 der Richtlinie 2006/112 erfasst. Die Rechtsprechung hat hieraus abgeleitet, dass den von Art. 203 erfassten Fällen gemein ist, dass der Betrag der in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer höher ist als der Betrag, der nach anderen Vorschriften dieser Richtlinie geschuldet wäre. Somit findet Art. 203 nur auf den Mehrwertsteuerbetrag Anwendung, der den zutreffend in Rechnung gestellten Betrag übersteigt(23 ).
50. Diese Auslegung von Art. 203 der Richtlinie 2006/112 dürfte durch sein Ziel gestützt werden, der Gefährdung des Steueraufkommens zu begegnen, die darin besteht, dass der Empfänger einer falschen Rechnung in ungerechtfertigter Weise einen Vorsteuerabzug vornehmen kann(24 ).
51. In Anbetracht dieser Erwägungen bin ich ebenso wie Generalanwältin Kokott(25 ) der Ansicht, dass der Betrag, den der Aussteller einer Rechnung nach Art. 203 der Richtlinie 2006/112 schuldet, keine „echte Steuerschuld“ ist, sondern das Ergebnis einer objektiven Haftung. Seine Zahlung bietet eine Art Sicherheit gegen die Verwirklichung von Steuerausfällen für den Fall eines unberechtigt erfolgten Abzugs von zu Unrecht in Rechnung gestellter Mehrwertsteuer.
52. Ich neige der Auffassung zu, dass die Einstufung von Art. 203 der Richtlinie 2006/112 als Garantiemechanismus mit dem nicht endgültigen Charakter der sich aus seiner Anwendung ergebenden Schuld einhergeht. Der Aussteller der Rechnung hat nämlich einen Anspruch auf Erstattung der fälschlich in Rechnung gestellten und entrichteten Mehrwertsteuer, sofern er seinen guten Glauben nachweist oder die Gefährdung des Steueraufkommens rechtzeitig und vollständig beseitigt hat(26 ).
53. Der nichtsteuerliche Charakter der nach Art. 203 der Richtlinie 2006/112 entstandenen Schulden wird meines Erachtens dadurch bestätigt, dass die zu Unrecht in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer dem Fiskus „unabhängig davon geschuldet wird, ob aufgrund eines mehrwertsteuerpflichtigen Umsatzes die Pflicht besteht, diese zu entrichten“(27 ). Solche Schulden können nicht „geschuldeten Steuern“ gleichgestellt werden, d. h. „Steuern, die mit einem der Mehrwertsteuer unterworfenen Umsatz in Zusammenhang stehen oder die entrichtet worden sind, soweit sie geschuldet wurden“(28 ). Daraus folgt auch, dass die Zahlung der fälschlich ausgewiesenen Mehrwertsteuer durch den Rechnungsempfänger ihm kein Recht auf Vorsteuerabzug eröffnet(29 ).
54. Daher bin ich der Ansicht, dass Art. 203 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass die Entstehung einer Schuld gegenüber dem Fiskus, für die der Lieferer innergemeinschaftlicher Lieferungen, der zu Unrecht die Mehrwertsteuer in Rechnung gestellt hat, zahlungspflichtig ist, nicht der Besteuerung dieser Lieferungen gleichkommt. Folglich kann die Steuerbefreiung solcher Lieferungen auf der Grundlage von Art. 138 dieser Richtlinie durch eine solche Schuld nicht berührt werden. Daraus folgt auch, dass die Anwendung von Art. 203 der Richtlinie 2006/112 den Mitgliedstaat, der nach Art. 41 dieser Richtlinie für die Besteuerung des innergemeinschaftlichen Erwerbs zuständig ist, nicht daran hindert, seine Steuerhoheit auszuüben. Umgekehrt kann sich der Erwerber nicht auf eine Doppelbesteuerung der innergemeinschaftlichen Lieferung und des innergemeinschaftlichen Erwerbs berufen, um sich der Erhebung der Mehrwertsteuer zu widersetzen(30 ).
55. Meiner Ansicht nach wird diese Beurteilung des rechtlichen Zusammenspiels von Art. 203 und 41 der Richtlinie 2006/112 durch das Urteil vom 2. Juli 2020, Terracult (C‑835/18, EU:C:2020:520, Rn. 22 und 23), bestätigt. In dieser Rechtssache hat der Gerichtshof entschieden, dass die Anwendbarkeit des Reverse-Charge-Verfahrens für die Mehrwertsteuer nicht dadurch berührt wird, dass der Lieferer von Gegenständen die Mehrwertsteuer fälschlich in Rechnung gestellt hatte. Daraus folgt meines Erachtens, dass die falsche Inrechnungstellung der Mehrwertsteuer, die zu einer Steuerschuld auf der Grundlage von Art. 203 führt, weder für die steuerliche Einstufung des in der Rechnung genannten Umsatzes noch für dessen tatsächliche Behandlung von Belang sein kann.
56. Im Übrigen wäre ich zurückhaltend, davon auszugehen, dass die gleichzeitige Anwendung der Art. 41 und 203 der Richtlinie 2006/112 de facto zu einer doppelten wirtschaftlichen Belastung für D als Empfängerin innergemeinschaftlicher Lieferungen führt, wenn sie die zu Unrecht in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer tatsächlich an ihre Lieferer gezahlt hätte(31 ). Eine solche Belastung ist allenfalls nicht endgültig. In Anbetracht der Erfordernisse, die sich aus dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität ergeben, muss D nämlich in die Lage versetzt werden, die rechtsgrundlos an die Lieferer gezahlten Beträge entweder von diesen selbst, insbesondere im Wege der Zivilklage, oder ausnahmsweise von der Finanzverwaltung zurückzufordern(32 ).
57. Auch trägt zwar der Umstand, dass es D unmöglich ist, die gemäß Art. 41 der Richtlinie 2006/112(33 ) geschuldete Steuer abzuziehen, zu ihrer wirtschaftlichen Belastung bei. Ich halte diesen Gesichtspunkt jedoch nicht für entscheidend bei der Beurteilung, ob die gleichzeitige Anwendung von Art. 203 dieser Richtlinie zu einer Doppelbesteuerung führt. Im Übrigen bin ich der Ansicht, dass dieses Fehlen des Rechts auf Vorsteuerabzug eine unmittelbare Folge der Handlungen des Steuerpflichtigen ist, der beschlossen hat, die Steuer‑Identifikationsnummer des Mitgliedstaats des Beginns der Versendung oder Beförderung der Gegenstände zu verwenden. Außerdem steht es ihm frei, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Entscheidung abzumildern. So ist nach Art. 41 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112 die auf Abs. 1 dieses Artikels gestützte Besteuerung von Erwerben entsprechend zu verringern, wenn sie in dem in Art. 40 dieser Richtlinie genannten Mitgliedstaat der Mehrwertsteuer unterliegen(34 ). Im letztgenannten Staat ist der Erwerber gemäß Art. 168 Buchst. c der Richtlinie zum Abzug der entrichteten Mehrwertsteuer berechtigt.
58. Nach alledem schlage ich vor, auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 203 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass seine Anwendung aufgrund falscher Inrechnungstellung der Mehrwertsteuer für steuerbefreite innergemeinschaftliche Lieferungen im Mitgliedstaat des Beginns der Versendung oder Beförderung der gleichzeitigen Besteuerung der entsprechenden innergemeinschaftlichen Erwerbe in demselben Mitgliedstaat gemäß Art. 41 dieser Richtlinie nicht entgegensteht.
C. Folgen des Wegfalls der Schuld nach Art. 203 der Richtlinie 2006/112
59. In Anbetracht der von mir auf die erste Frage vorgeschlagenen Antwort erscheint mir die Prüfung der zweiten Frage nicht erforderlich, da diese die Möglichkeit betrifft, dass Art. 41 der Richtlinie 2006/112 nach einer Berichtigung der an D ausgestellten Rechnungen anwendbar wird. Gleichwohl bleibt diese Frage von gewissem Interesse, da sie Fragen zur Anwendung von Art. 203 dieser Richtlinie und zu den Umständen aufwirft, die den Zeitpunkt bestimmen, zu dem der Mehrwertsteuertatbestand eintritt.
60. Aus diesem Grund werde ich in einem ersten Schritt auf die Frage eingehen, ob es in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens erforderlich ist, die betreffenden Rechnungen zu berichtigen, um die Schuld nach Art. 203 der Richtlinie 2006/112 zu beseitigen (1). In einem zweiten Schritt werde ich das Zusammenspiel der jeweiligen Vorschriften der Richtlinie 2006/112 prüfen, die den Mehrwertsteuertatbestand sowie den Ort des Erwerbs regeln (2), was mir erlauben wird, Anhaltspunkte für die Beantwortung der zweiten Frage vorzuschlagen, falls meine Beurteilung der ersten Frage vom Spruchkörper nicht geteilt werden sollte.
1. Unanwendbarkeit von Art. 203 der Richtlinie 2006/112 mangels Gefährdung des Steueraufkommens
61. In seiner zweiten Frage geht das vorlegende Gericht von der Annahme aus, dass die Schuld der Lieferer von D nach Art. 203 der Richtlinie 2006/112 durch eine Berichtigung der Rechnungen, in denen zu Unrecht Mehrwertsteuer ausgewiesen ist, in Wegfall geraten könnte. Ich möchte jedoch daran erinnern, dass diese Vorschrift ebenfalls nicht mehr anwendbar ist, wenn keine Gefährdung des Steueraufkommens mehr besteht.
62. Insoweit ergibt sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen, dass die österreichische Finanzverwaltung im Rahmen einer Steuerprüfung feststellte, dass die in den Rechnungen für die betreffenden Lieferungen ausgewiesene Mehrwertsteuer nicht geschuldet gewesen sei und diese Steuer folglich kein Recht auf Vorsteuerabzug eröffnet habe. Diese Einschätzung wurde meines Wissens vom erstinstanzlichen Gericht bestätigt. Es lässt sich den dem Gericht vorliegenden Akten dagegen nicht eindeutig entnehmen, ob D vor der Steuerprüfung die von seinen Lieferern zu Unrecht in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer abgezogen hat oder ob die österreichische Finanzverwaltung den Vorsteuerabzug versagt hat(35 ).
63. Wie bereits ausgeführt(36 ), findet Art. 203 der Richtlinie 2006/112 Anwendung, wenn die falsche Rechnungsstellung zu einer Gefährdung des Steueraufkommens führt. Diese Gefahr kann sich verwirklichen, wenn es der Finanzverwaltung nicht gelingt, rechtzeitig die Gründe zu ermitteln, die einem Antrag auf Abzug der in Rechnung gestellten Steuer entgegenstünden, obwohl diese nicht geschuldet wird(37 ).
64. Wird diese Gefahr ausgeschlossen, findet Art. 203 der Richtlinie 2006/112 keine Anwendung mehr(38 ). Nach der Rechtsprechung ist dies insbesondere dann der Fall, wenn die Finanzbehörden dem Rechnungsempfänger das Recht auf Vorsteuerabzug endgültig versagt haben(39 ). In dem Fall, dass der Abzug bereits vorgenommen wurde, scheint mir dagegen die Gefährdung des Steueraufkommens nicht vollständig beseitigt werden zu können, solange der dem Rechnungsempfänger gewährte Abzug nicht rückgängig gemacht worden ist(40 ).
65. Meines Erachtens wird es Sache des vorlegenden Gerichts sein, im Licht dieser Erwägungen die erforderlichen Prüfungen vorzunehmen, um festzustellen, ob Art. 203 der Richtlinie 2006/112 weiterhin Anwendung findet.
2. Zusammenspiel der Vorschriften über den Mehrwertsteuertatbestand und den Ort des innergemeinschaftlichen Erwerbs
66. Wie die österreichische Regierung in ihren beim Gericht eingereichten schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, ist der Zeitpunkt, zu dem der Mehrwertsteuertatbestand und der Mehrwertsteueranspruch eintreten, auf der Grundlage der Art. 68 und 69 der Richtlinie 2006/112 zu bestimmen.
67. Insoweit rufe ich in Erinnerung, dass der Mehrwertsteuertatbestand für den innergemeinschaftlichen Erwerb nach Art. 68 der Richtlinie 2006/112 zu dem Zeitpunkt eintritt, zu dem die Lieferung gleichartiger Gegenstände als bewirkt gilt. Der Steueranspruch tritt nach Art. 69 dieser Richtlinie erst zu einem späteren Zeitpunkt ein, d. h. bei der Ausstellung der Rechnung oder, wenn keine Rechnung vorliegt, spätestens am 15. Tag des Monats, der auf den Monat folgt, in dem der Steuertatbestand eingetreten ist(41 ). Außerdem sieht Art. 206 der Richtlinie vor, dass der Steuerpflichtige grundsätzlich verpflichtet ist, die Mehrwertsteuer zum Zeitpunkt der Abgabe der Steuererklärung an den Fiskus abzuführen.
68. Aus den genannten Definitionen ergibt sich, dass „der Steuertatbestand, der Steueranspruch und die Zahlungspflicht drei aufeinanderfolgende Etappen in dem Prozess darstellen, der zur Erhebung der Steuer führt“(42 ).
69. Was speziell die Fragen des vorlegenden Gerichts zu den Rechtsfolgen der Anwendung von Art. 41 der Richtlinie 2006/112 betrifft, habe ich bereits darauf hingewiesen, dass dieser Artikel, der unter Titel V dieser Richtlinie fällt, zu den Vorschriften gehört, die die Bestimmung des Orts des innergemeinschaftlichen Erwerbs zum Gegenstand haben(43 ). Er enthält keine Angaben zum Steuertatbestand, zum Mehrwertsteueranspruch oder zur Zahlungspflicht. Außerdem kann Art. 41 nicht von den Art. 62 und 69 der Richtlinie abweichen, die zu einem gesonderten Titel gehören, nämlich zu Titel VI („Steuertatbestand und Steueranspruch“)(44 ).
70. Daraus folgt meines Erachtens, dass der Mehrwertsteuertatbestand für einen innergemeinschaftlichen Erwerb allein auf der Grundlage der in Art. 68 dieser Richtlinie festgelegten Kriterien zu bestimmen ist.
71. Als der Gerichtshof in den Rn. 52 bis 55 des Urteils Dyrektor festgestellt hat, dass Art. 41 der Richtlinie 2006/112 nicht anwendbar ist, weil eine Regelung eines Mitgliedstaats eine steuerbefreite innergemeinschaftliche Lieferung so behandelte, als wäre sie es nicht, hat er sich nicht zum Mehrwertsteuertatbestand geäußert, sondern die Steuerhoheit dieses Staates für die Besteuerung des entsprechenden innergemeinschaftlichen Erwerbs verneint.
72. Meiner Auffassung nach würde dies auch dann gelten, wenn das Gericht entgegen meinem Vorschlag entscheiden sollte, dass die Erwägungen in den Rn. 52 bis 55 des Urteils Dyrektor entsprechend auf eine Schuld nach Art. 203 der Richtlinie 2006/112 anwendbar sind, die sich aus einer falschen Inrechnungstellung der Mehrwertsteuer für eine steuerbefreite innergemeinschaftliche Lieferung ergibt. Die Unanwendbarkeit von Art. 41 dieser Richtlinie auf den entsprechenden Erwerb – die aus einer solchen Argumentation folgen würde – kann sich nicht auf den Mehrwertsteuertatbestand oder den Mehrwertsteueranspruch auswirken. Auch wenn die in diesem Artikel vorgesehene Besteuerungsbefugnis nach den Angaben des vorlegenden Gerichts wieder „auflebt“, ist nicht davon auszugehen, dass der Erwerb „rückwirkend entsteht“. Vielmehr fand er stets in der Vergangenheit statt, aber die Mehrwertsteuer konnte in dem in diesem Art. 41 bezeichneten Mitgliedstaat nicht erhoben werden.
73. Vorbehaltlich der dem vorlegenden Gericht obliegenden Prüfungen bin ich daher der Ansicht, dass im vorliegenden Fall der Steuertatbestand eingetreten ist, als die betreffenden innergemeinschaftlichen Lieferungen erbracht wurden, d. h. in den Jahren 2011 bis 2015.
74. Ich weise noch darauf hin, dass das Vorabentscheidungsersuchen in Bezug auf die Besteuerung der betreffenden innergemeinschaftlichen Erwerbe nicht auf die österreichische Regelung der Verjährungsfristen eingeht, die nach Ansicht des vorlegenden Gerichts das Handeln der österreichischen Finanzverwaltung einschränken könnte. Daher beschränke ich mich auf den Hinweis, dass das Unionsrecht gegenwärtig keine Frist festlegt, innerhalb derer das Recht der Steuerbehörden zur Festsetzung der Mehrwertsteuer verjährt. Es ist Sache der Mitgliedstaaten, die erforderlichen Vorschriften unter Beachtung des Unionsrechts zu erlassen, das angemessene Fristen verlangt, die sowohl den Steuerpflichtigen als auch die betroffene Verwaltung schützen(45 ).
75. Im Licht dieser Erwägungen bin ich der Ansicht, dass für den Fall, dass das Gericht die Beantwortung der zweiten Vorlagefrage für erforderlich hält, klarzustellen ist, dass Art. 41 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass die Frage der Anwendbarkeit dieser Vorschrift Art. 68 der genannten Richtlinie unberührt lässt, der den Steuertatbestand für den innergemeinschaftlichen Erwerb bestimmt. Dieser tritt nach der letztgenannten Vorschrift zu dem Zeitpunkt ein, zu dem der Erwerb bewirkt wird.
VI. Ergebnis
76. Nach alledem schlage ich vor, dem Verwaltungsgerichtshof (Österreich) wie folgt zu antworten:
1. Art. 203 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem
ist dahin auszulegen, dass
die Anwendung dieses Artikels aufgrund falscher Inrechnungstellung der Mehrwertsteuer für steuerbefreite innergemeinschaftliche Lieferungen im Mitgliedstaat des Beginns der Versendung oder Beförderung der gleichzeitigen Besteuerung der entsprechenden innergemeinschaftlichen Erwerbe in demselben Mitgliedstaat gemäß Art. 41 dieser Richtlinie nicht entgegensteht.
2) Art. 41 der Richtlinie 2006/112
ist dahin auszulegen, dass
die Frage der Anwendbarkeit dieser Vorschrift Art. 68 der genannten Richtlinie unberührt lässt, der den Steuertatbestand für den innergemeinschaftlichen Erwerb bestimmt. Dieser tritt nach der letztgenannten Vorschrift zu dem Zeitpunkt ein, zu dem der Erwerb bewirkt wird.
José Martín y Pérez de Nanclares
Vorgelegt in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 29. Oktober 2025.
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