T-498/22 – Melnichenko/ Rat

T-498/22 – Melnichenko/ Rat

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:T:2025:180

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTS (Erste erweiterte Kammer)

26. Februar 2025(*)

„ Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen – Einfrieren von Geldern – Beschränkung der Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten – Liste der Personen, Organisationen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden und deren Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten Beschränkungen unterliegt – Aufnahme des Namens des Klägers in die Liste und Belassung auf der Liste – Begriff ,Verbindung‘ – Art. 2 Abs. 1 in fine des Beschlusses 2014/145/GASP – Einrede der Rechtswidrigkeit – Beurteilungsfehler – Grundrechte – Verhältnismäßigkeit “

In der Rechtssache T‑498/22,

Aleksandra Melnichenko, wohnhaft in St. Moritz (Schweiz), vertreten durch Rechtsanwältin A. Miron, Rechtsanwalt D. Müller, Rechtsanwältin H. Bajer Pellet, Rechtsanwalt R. Pieri, Rechtsanwältin A. Beauchemin und C. Zatschler, SC,

Klägerin,

unterstützt durch

EuroChem Group AG mit Sitz in Zug (Schweiz)

und

Siberian Coal Energy Company AO (SUEK) mit Sitz in Moskau (Russland),

vertreten durch Rechtsanwälte N. Montag, L. Engelen und S. Bonifassi,

Streithelferinnen,

gegen

Rat der Europäischen Union, vertreten durch B. Driessen und J. Rurarz als Bevollmächtigte im Beistand von Rechtsanwalt B. Maingain und Rechtsanwältin S. Remy,

Beklagter,

unterstützt durch

Königreich Belgien, vertreten durch C. Pochet, M. Van Regemorter und L. Van den Broeck als Bevollmächtigte,

Streithelfer,

erlässt

DAS GERICHT (Erste erweiterte Kammer)

zum Zeitpunkt der Beratung unter Mitwirkung des Richters R. Mastroianni in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten, der Richterin M. Brkan sowie der Richter I. Gâlea, T. Tóth und S. L. Kalėda (Berichterstatter),

Kanzler: R. Ūkelytė, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

auf die mündliche Verhandlung vom 9. Juli 2024

folgendes

Urteil(1)

1        Mit ihrer Klage nach Art. 263 AEUV begehrt die Klägerin, Frau Aleksandra Melnichenko, die Nichtigerklärung folgender Rechtsakte, soweit damit ihr Name in die Listen im Anhang der Rechtsakte (im Folgenden: streitige Listen) aufgenommen wurde bzw. darin belassen wird:

–        erstens: Beschluss (GASP) 2022/883 des Rates vom 3. Juni 2022 zur Änderung des Beschlusses 2014/145/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2022, L 153, S. 92) und Durchführungsverordnung (EU) 2022/878 des Rates vom 3. Juni 2022 zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 269/2014 über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2022, L 153, S. 15) (im Folgenden zusammen: ursprüngliche Rechtsakte);

–        zweitens: Beschluss (GASP) 2022/1530 des Rates vom 14. September 2022 zur Änderung des Beschlusses 2014/145/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2022, L 239, S. 149) und Durchführungsverordnung (EU) 2022/1529 des Rates vom 14. September 2022 zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 269/2014 über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2022, L 239, S. 1) (im Folgenden zusammen: Rechtsakte vom September 2022);

–        drittens: Beschluss (GASP) 2023/572 des Rates vom 13. März 2023 zur Änderung des Beschlusses 2014/145/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2023, L 75 I, S. 134) und Durchführungsverordnung (EU) 2023/571 des Rates vom 13. März 2023 zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 269/2014 über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2023, L 75 I, S. 1) (im Folgenden zusammen: Rechtsakte von März 2023) sowie Beschluss (GASP) 2023/811 des Rates vom 13. April 2023 zur Änderung des Beschlusses 2014/145/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2023, L 101, S. 67) und Durchführungsverordnung (EU) 2023/806 des Rates vom 13. April 2023 zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 269/2014 über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2023, L 101, S. 1) (im Folgenden zusammen: Rechtsakte von April 2023; zusammen mit den ursprünglichen Rechtsakten, den Rechtsakten von September 2022 und den Rechtsakten von März 2023: angefochtene Rechtsakte).

[nicht wiedergegeben]

 Anträge der Parteien

27      Die Klägerin, unterstützt durch die EuroChem Group und SUEK, beantragt,

–        Art. 2 Abs. 1 des Beschlusses 2014/145 in geänderter Fassung und Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 269/2014 in geänderter Fassung für unanwendbar zu erklären, soweit sich diese Rechtsakte auf Personen und Einrichtungen beziehen, die mit den in den streitigen Listen aufgeführten Personen und Organisationen „verbunden“ sind;

–        die angefochtenen Rechtsakte für nichtig zu erklären, soweit sie sie betreffen;

–        dem Rat die Kosten aufzuerlegen.

28      Der Rat, unterstützt durch das Königreich Belgien, beantragt,

–        die Klage abzuweisen;

–        der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

 Rechtliche Würdigung

29      Die Klägerin stützt ihre Klage im Wesentlichen auf fünf Klagegründe. Sie rügt erstens einen „offensichtlichen Beurteilungsfehler“, zweitens einen Verstoß gegen die Begründungspflicht, drittens einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und gegen die Grundrechte, viertens die Rechtswidrigkeit des in Art. 2 Abs. 1 des Beschlusses 2014/145 in geänderter Fassung und in Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 269/2014 in geänderter Fassung enthaltenen Kriteriums der natürlichen oder juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen, die mit einer Person verbunden sind, die nach einem der in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a bis h dieses Beschlusses und in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a bis h dieser Verordnung genannten Kriterien für die Aufnahme in die Liste restriktiven Maßnahmen unterliegt (im Folgenden: Kriterium der Verbindung), und fünftens eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör.

[nicht wiedergegeben]

[nicht wiedergegeben]

[nicht wiedergegeben]

[nicht wiedergegeben]

[nicht wiedergegeben]

 Zum dritten Klagegrund: Verletzung von Grundrechten

[nicht wiedergegeben]

105    Des Weiteren trägt die Klägerin, unterstützt durch die EuroChem Group und SUEK, vor, da sie niemals eine Verbindung zu russischen Entscheidungsträgern unterhalten habe, trage ihre Sanktionierung in keiner Weise zur Verwirklichung der Ziele der Verordnung Nr. 269/2014 in geänderter Fassung bei, nämlich Druck auf die russischen Behörden auszuüben, und stehe im Widerspruch zur Politik der Union zur Sicherstellung der weltweiten Ernährungssicherheit. Die Aufrechterhaltung dieser sie betreffenden restriktiven Maßnahmen sei daher weder erforderlich noch geeignet.

106    Der Rat, unterstützt durch das Königreich Belgien, tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen.

107    Es ist darauf hinzuweisen, dass in den Art. 7, 17 und 45 der Charta das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und der Kommunikation, das Eigentumsrecht sowie das Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, verbürgt sind.

108    Was als Erstes die in den Art. 7 und 17 der Charta verankerten Grundrechte angeht, ist festzustellen, dass im vorliegenden Fall die in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen Sicherungsmaßnahmen darstellen, die nicht darauf abzielen, den betroffenen Personen ihr Eigentumsrecht und ihr Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und der Kommunikation zu entziehen. Mit der Ausnahme des Rechts auf Achtung der Kommunikation, für das eine Einschränkung nicht nachgewiesen wurde, sind die fraglichen Maßnahmen gleichwohl unbestreitbar mit einer Einschränkung dieser Grundrechte verbunden (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 12. März 2014, Al Assad/Rat, T‑202/12, EU:T:2014:113, Rn. 115 und die dort angeführte Rechtsprechung).

109    Nach ständiger Rechtsprechung genießen die Grundrechte aus den Art. 7 und 17 der Charta jedoch keinen absoluten Schutz, sondern müssen im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden (vgl. Urteil vom 12. März 2014, Al Assad/Rat, T‑202/12, EU:T:2014:113, Rn. 113 und die dort angeführte Rechtsprechung).

110    In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 52 Abs. 1 der Charta zum einen „[j]ede Einschränkung der Ausübung der in [der] Charta anerkannten Rechte und Freiheiten … gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten [muss]“ und zum anderen „[u]nter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit … Einschränkungen nur vorgenommen werden [dürfen], wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen“.

111    Um mit dem Unionsrecht vereinbar zu sein, muss eine Einschränkung der Ausübung der Grundrechte und Grundfreiheiten somit vier Voraussetzungen erfüllen. Erstens muss sie insofern „gesetzlich vorgesehen“ sein, als das Unionsorgan, das Maßnahmen erlässt, die geeignet sind, die Grundrechte einer natürlichen oder juristischen Person zu beschränken, hierfür über eine Rechtsgrundlage verfügen muss. Zweitens muss sie den Wesensgehalt dieser Rechte achten. Drittens muss mit der Einschränkung eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung verfolgt werden, die als solche von der Union anerkannt ist. Viertens muss sie verhältnismäßig sein (vgl. Urteil vom 27. Juli 2022, RT France/Rat, T‑125/22, EU:T:2022:483, Rn. 145 und 222 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

112    Im vorliegenden Fall sind diese vier Voraussetzungen erfüllt.

113    Erstens ist festzustellen, dass die Einschränkungen der Ausübung des Rechts der Klägerin auf Achtung des Privat- und Familienlebens und der Wohnung sowie ihres Eigentumsrechts „gesetzlich vorgesehen“ sind, da sie in Rechtsakten festgelegt sind, die insbesondere allgemeine Geltung haben (Beschluss 2014/145 in geänderter Fassung und Verordnung Nr. 269/2014 in geänderter Fassung) und für die eine eindeutige Rechtsgrundlage im Unionsrecht besteht (Art. 29 EUV bzw. Art. 215 AEUV).

114    Zweitens sind die oben in Rn. 113 genannten Einschränkungen befristet und reversibel, da die angefochtenen Rechtsakte für eine Dauer von sechs Monaten gelten und fortlaufend überprüft werden, wie in Art. 6 des Beschlusses 2014/145 in geänderter Fassung vorgesehen. Daher ist davon auszugehen, dass sie den Wesensgehalt des Rechts der Klägerin auf Achtung des Privat- und Familienlebens und der Wohnung sowie ihres Eigentumsrechts nicht beeinträchtigen. Darüber hinaus sehen die angefochtenen Rechtsakte die Möglichkeit vor, Ausnahmen von den verhängten restriktiven Maßnahmen zu gewähren. Insbesondere ist es in Bezug auf das Einfrieren von Geldern nach Art. 2 Abs. 3 und 4 des Beschlusses 2014/145 in geänderter Fassung sowie Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 269/2014 in geänderter Fassung zum einen möglich, die Verwendung eingefrorener Gelder zur Befriedigung von Grundbedürfnissen oder zur Erfüllung bestimmter Verpflichtungen zu genehmigen, und zum anderen, Sondergenehmigungen zu erteilen, um eingefrorene Gelder, sonstige Vermögenswerte oder andere wirtschaftliche Ressourcen freizugeben.

115    Drittens soll mit den oben in Rn. 113 genannten Einschränkungen Druck auf die russischen Behörden ausgeübt werden, damit diese ihre Handlungen und politischen Maßnahmen, die die Ukraine destabilisieren, beenden. Es handelt sich hier um eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung, die im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) verfolgt werden und auf die in Art. 21 Abs. 2 Buchst. b und c EUV Bezug genommen wird, nämlich Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die Menschenrechte und die Grundsätze des Völkerrechts zu festigen und zu fördern sowie den Frieden zu erhalten, Konflikte zu verhüten und die internationale Sicherheit und den Schutz der Zivilbevölkerung zu stärken (vgl. entsprechend Urteil vom 30. November 2016, Rotenberg/Rat, T‑720/14, EU:T:2016:689, Rn. 176).

116    Viertens ist in Bezug auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit darauf hinzuweisen, dass nach diesem als allgemeinem Grundsatz des Unionsrechts die Handlungen der Unionsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten dürfen, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist. So ist, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen, und die verursachten Nachteile müssen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (vgl. Urteil vom 30. November 2016, Rotenberg/Rat, T‑720/14, EU:T:2016:689, Rn. 178 und die dort angeführte Rechtsprechung).

117    Was die Geeignetheit der oben in Rn. 113 genannten Einschränkungen angeht, ist im Hinblick auf dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen, die für die Völkergemeinschaft derart grundlegend sind wie die, die mit den angefochtenen Rechtsakten verfolgt werden, festzustellen, dass diese Einschränkungen für sich genommen nicht als unangemessen angesehen werden können. Zu ihrer Erforderlichkeit ist festzustellen, dass die verfolgten Ziele mit alternativen, weniger einschneidenden Maßnahmen wie etwa einem System der vorherigen Genehmigung nicht ebenso wirksam erreicht werden können. Zudem handelt es sich um vorübergehende und reversible Einschränkungen, die Möglichkeiten für Ausnahmen vorsehen. Die Nachteile, die der Klägerin entstehen, stehen deshalb nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung des Ziels, das mit den angefochtenen Rechtsakten verfolgt wird.

118    Im Übrigen ist das Vorbringen der Klägerin, wonach die oben in Rn. 113 genannten Einschränkungen unverhältnismäßig seien, da sie Gefahren für die globale Ernährungssicherung mit sich brächten, als ins Leere gehend zurückzuweisen. Es steht nämlich weder in Zusammenhang mit dem Eigentumsrecht der Klägerin noch mit deren Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie ihrer Wohnung.

119    Somit stehen die oben in Rn. 113 genannten Einschränkungen nicht außer Verhältnis zu den mit den restriktiven Maßnahmen verfolgten Zielen.

120    Als Zweites ist zu dem Vorbringen der Klägerin, wonach ihr Recht aus Art. 45 Abs. 1 der Charta, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen, verletzt werde, festzustellen, dass die Ausübung der durch die Charta anerkannten Rechte, die in den Verträgen geregelt sind, nach Art. 52 Abs. 2 der Charta im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Bedingungen und Grenzen erfolgt. Wie aus den Erläuterungen zur Charta (ABl. 2007, C 303, S. 17) hervorgeht, ist das in Art. 45 Abs. 1 der Charta garantierte Recht das Recht, das durch Art. 20 Abs. 2 Buchst. a AEUV garantiert ist. Dessen Umfang ist in Art. 21 AEUV näher bestimmt.

121    Nach Art. 21 Abs. 1 AEUV steht das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, unter dem Vorbehalt der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen. Da der in der zweiten Satzhälfte von Art. 21 Abs. 1 AEUV enthaltene Vorbehalt von „Verträgen“ im Plural spricht, sind auch der EU-Vertrag sowie die zu seiner Anwendung erlassenen Bestimmungen eingeschlossen. Im Bereich der GASP können Einschränkungen des in Art. 45 Abs. 1 der Charta verankerten Rechts der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, somit durch auf Art. 29 EUV gestützte Rechtsakte, wie die angefochtenen Rechtsakte, vorgenommen werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. November 2014, Mayaleh/Rat, T‑307/12 und T‑408/13, EU:T:2014:926, Rn. 195 und 196, und vom 4. Dezember 2015, Sarafraz/Rat, T‑273/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:939, Rn. 194 und 195).

122    Jedoch müssen, wie bereits oben in Rn. 111 dargelegt, Einschränkungen der in der Charta verankerten Rechte, um mit dem Unionsrecht im Einklang zu stehen, die in Art. 52 Abs. 1 der Charta festgelegten Bedingungen erfüllen: Sie müssen gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt der Rechte achten, es muss mit ihnen eine von der Union anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung verfolgt werden, und sie dürfen nicht unverhältnismäßig sein. Dies gilt auch für durch die Charta anerkannte Rechte, die in den Verträgen geregelt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2015, Delvigne, C‑650/13, EU:C:2015:648, Rn. 46, und Schlussanträge des Generalanwalts Szpunar in der Rechtssache Agenzia delle dogane e dei monopoli und Ministero dell’Economia e delle Finanze, C‑452/20, EU:C:2021:855, Nr. 60). Daher müssen Einschränkungen der Ausübung des in Art. 45 Abs. 1 der Charta verankerten Rechts, die im Rahmen der Durchführung der GASP erfolgen, diese Voraussetzungen erfüllen.

123    Im vorliegendem Fall ist erstens festzustellen, dass die sich aus den angefochtenen Rechtsakten ergebenden Einschränkungen des Rechts der Klägerin, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen, „gesetzlich vorgesehen“ sind, da sie in Rechtsakten festgelegt sind, die insbesondere allgemeine Geltung haben (Beschluss 2014/145 in geänderter Fassung und Verordnung Nr. 269/2014 in geänderter Fassung) und für die eine eindeutige Rechtsgrundlage im Unionsrecht besteht (Art. 29 EUV bzw. Art. 215 AEUV).

124    Zweitens ist hinsichtlich der Frage, ob die oben in Rn. 123 genannten Einschränkungen den „Wesensgehalt“ des Rechts der Klägerin achten, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen, auf die Art und den Umfang der in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen abzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Juli 2022, RT France/Rat, T‑125/22, EU:T:2022:483, Rn. 153).

125    Hierzu ist festzustellen, dass die oben in Rn. 123 genannten Einschränkungen den „Wesensgehalt“ des Rechts der Klägerin achten, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen. Zunächst stehen diese Einschränkungen nämlich nach Art. 1 Abs. 2 des Beschlusses 2014/145 in geänderter Fassung im Einklang mit dem Grundsatz des Völkerrechts, wonach ein Staat seinen eigenen Staatsangehörigen nicht das Recht verweigern darf, in sein Hoheitsgebiet einzureisen und sich dort aufzuhalten. Außerdem werden die streitigen Listen gemäß Art. 6 des Beschlusses 2014/145 in geänderter Fassung regelmäßig überprüft, um die Namen der Personen zu streichen, die die Kriterien für die Aufnahme nicht mehr erfüllen. Schließlich stellen diese Einschränkungen das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen, als solches nicht in Frage, denn sie setzen dieses Recht nur bei bestimmten Personen unter ganz bestimmten Voraussetzungen und aufgrund deren individueller Situation vorübergehend aus, solange diese Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 6. Oktober 2015, Delvigne, C‑650/13, EU:C:2015:648, Rn. 48).

126    Drittens dienen die oben in Rn. 123 genannten Einschränkungen der oben in Rn. 115 genannten Zielsetzung des Gemeinwohls.

127    Viertens sind die oben in Rn. 123 genannten Einschränkungen geeignet, die oben in Rn. 115 genannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung zu erreichen, da sie zu deren Verwirklichung beitragen.

128    Zur Erforderlichkeit der oben in Rn. 123 genannten Einschränkungen ist festzustellen, dass die Klägerin nicht nachgewiesen hat, dass der Rat weniger einschneidende, aber ebenso geeignete Maßnahmen hätte in Betracht ziehen können. Im Übrigen gilt für die Anwendung der in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen eine Ausnahmeregelung gemäß Art. 1 Abs. 6 des Beschlusses 2014/145 in geänderter Fassung, die es den Mitgliedstaaten gestattet, Ausnahmen von den verhängten Maßnahmen zuzulassen, u. a. wenn die Reise einer Person aufgrund einer humanitären Notlage gerechtfertigt ist.

129    Zudem ist festzustellen, dass die oben in Rn. 123 genannten Einschränkungen, auch wenn der Klägerin durch die Anwendung der in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen die von ihr beschriebenen Nachteile entstehen, angesichts der Bedeutung der mit diesen Maßnahmen verfolgten Ziele nicht offensichtlich unverhältnismäßig sind (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 14. Oktober 2009, Bank Melli Iran/Rat, T‑390/08, EU:T:2009:401, Rn. 71).

130    Des Weiteren legt die Klägerin keine konkreten Nachweise für die behauptete Schwere der Nachteile vor, die sich aus der Anwendung der in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen ergeben. Ihr Argument, dass sie daran gehindert sei, sich zu ihrem Familienwohnsitz in der Schweiz zu begeben, ist im Rahmen der Prüfung ihres Vorbringens zur Verletzung ihres Rechts auf Freizügigkeit innerhalb der Union nicht relevant.

131    Daraus folgt, dass die oben in Rn. 123 genannten Einschränkungen die Voraussetzungen von Art. 52 Abs. 1 der Charta erfüllen.

132    Zum Vorbringen der Klägerin, sie habe gemäß Art. 21 AEUV in entsprechender Anwendung des Urteils vom 19. Oktober 2004, Zhu und Chen (C‑200/02, EU:C:2004:639, Rn. 46), ein abgeleitetes Recht, sich in einem Mitgliedstaat aufzuhalten, wenn dies erforderlich sei, damit ihre Kinder im Kleinkindalter, die Unionsbürger seien, von ihrem Aufenthaltsrecht Gebrauch machen könnten, ist festzustellen, dass die Erwägungen aus diesem Urteil nicht auf den vorliegenden Fall übertragen werden können, da die Klägerin als Unionsbürgerin über ein eigenständiges Recht verfügt, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Ein solches Recht gilt jedoch nicht absolut, und aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die Einschränkung des Rechts der Klägerin, sich in der Union frei zu bewegen, als gerechtfertigt anzusehen ist.

133    Soweit sich die Klägerin im Übrigen auf das abgeleitete Recht ihres Ehemanns, eines Drittstaatsangehörigen, beruft, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und dort aufzuhalten, ist dieses Argument ebenfalls als unbeachtlich zurückzuweisen, da es nicht geeignet ist, eine Beeinträchtigung ihres eigenen Rechts, sich in der Union frei zu bewegen, nachzuweisen.

134    Zum Verweis der Klägerin auf das Recht ihrer minderjährigen Kinder, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 24 Abs. 2 der Charta bei allen Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen, die Kinder betreffen, das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss.

135    Im vorliegenden Fall ist aber zum einen festzustellen, dass die Klägerin in ihren Schriftsätzen und in der mündlichen Verhandlung klargestellt hat, dass sie keine Verletzung des Rechts ihrer Kinder, sich in der Union autonom frei zu bewegen und aufzuhalten, geltend mache. Zum anderen ist das Vorbringen der Klägerin nicht hinreichend begründet, soweit sie sich auf die Situation ihrer Kinder beruft, um die geltend gemachte Unverhältnismäßigkeit der Einschränkung ihres eigenen Rechts darzulegen, sich innerhalb der Union frei zu bewegen. Die Klägerin macht nämlich lediglich geltend, dass die gegen sie verhängten restriktiven Maßnahmen ihre Kinder dazu zwängen, das Gebiet der Union zu verlassen. Zudem hat sie auf Nachfrage in der mündlichen Verhandlung zu diesem Punkt lediglich allgemein behauptet, dass ihre Familienmitglieder daran gehindert seien, gemeinsam an ihren Wohnsitzen innerhalb der Union und in der Schweiz zu leben. Darüber hinaus hat sie auf die Unterbrechung der familiären Beziehungen ihrer Kinder zu ihren in Europa lebenden Großeltern sowie auf die Unterbrechung ihrer schulischen Ausbildung verwiesen. Es ist jedoch festzustellen, dass die in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen zum einen nicht die Kinder der Klägerin betreffen und zum anderen nicht das Recht der Klägerin einschränken, in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats der Union, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, frei einzureisen und sich dort aufzuhalten. Daher macht die Klägerin zu Unrecht geltend, dass ihre Kinder aufgrund dieser Maßnahmen gezwungen seien, dieses Gebiet zu verlassen. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass Art. 1 Abs. 6 des Beschlusses 2014/145 in geänderter Fassung es den Mitgliedstaaten gestattet, Ausnahmen von den in Rede stehenden Maßnahmen u. a. dann zuzulassen, wenn die Reise aufgrund einer humanitären Notlage gerechtfertigt ist, wobei diese Bestimmung im Licht von Art. 24 Abs. 2 der Charta unter Berücksichtigung des Wohls des Kindes auszulegen und anzuwenden ist.

136    Nach alledem ist der dritte Klagegrund zurückzuweisen und die Klage damit insgesamt abzuweisen.

 Kosten

137    Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag des Rates die Kosten aufzuerlegen.

[nicht wiedergegeben]

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Erste erweiterte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Klage wird abgewiesen.

2.      Frau Aleksandra Melnichenko trägt die Kosten.

3.      Die EuroChem Group AG, die Siberian Coal Energy Company AO (SUEK) und das Königreich Belgien tragen ihre eigenen Kosten.

Mastroianni

Brkan

Gâlea

Tóth

 

      Kalėda

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 26. Februar 2025.

Unterschriften




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