Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTS (Fünfte Kammer)
9. Juli 2025(* )
„ REACH – Besonders besorgniserregende Stoffe – Festlegung einer Liste der für eine Aufnahme in Anhang XIV der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 in Frage kommenden Stoffe – Beschluss über die Ermittlung von Melamin als Stoff, der die Kriterien für die Aufnahme in die Liste erfüllt – Begründungspflicht – Recht auf Anhörung – Überschreitung von Befugnissen – Art. 57 der Verordnung Nr. 1907/2006 – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Verhältnismäßigkeit – Vorsorgegrundsatz – Befugnismissbrauch “
In der Rechtssache T‑167/23,
LAT Nitrogen Piesteritz GmbH, vormals Borealis Agrolinz Melamine Deutschland GmbH, mit Sitz in Lutherstadt Wittenberg (Deutschland),
Cornerstone Chemical Co. mit Sitz in Metairie, Louisiana (Vereinigte Staaten),
vertreten durch Rechtsanwältinnen R. Cana, E. Mullier und Z. Romata,
Klägerinnen,
unterstützt durch
Grupa Azoty Zakłady Azotowe Puławy S.A. mit Sitz in Puławy (Polen),
OCI Nitrogen BV mit Sitz in Sittard-Geleen (Niederlande),
Methanol Holdings (Trinidad) Ltd mit Sitz in Couva (Trinidad und Tobago),
vertreten durch Rechtsanwältinnen Cana, Mullier und Romata,
und durch
Fritz Egger GmbH & Co. OG mit Sitz in St. Johann in Tirol (Österreich) sowie die weiteren im Anhang(1 ) namentlich aufgeführten Streithelferinnen, vertreten durch Rechtsanwälte D. Strobl und M. Ahlhaus,
Streithelferinnen,
gegen
Europäische Chemikalienagentur (ECHA), vertreten durch M. Heikkilä, N. Herbatschek und A. Hautamäki als Bevollmächtigte,
Beklagte,
unterstützt durch
Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch J. Möller und N. Scheffel als Bevollmächtigte,
und durch
Europäische Kommission, vertreten durch D. Milanowska und K. Mifsud-Bonnici als Bevollmächtigte,
Streithelferinnen,
erlässt
DAS GERICHT (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten J. Svenningsen sowie der Richter C. Mac Eochaidh und J. Martín y Pérez de Nanclares (Berichterstatter),
Kanzler: I. Kurme, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
auf die mündliche Verhandlung vom 2. Oktober 2024
folgendes
Urteil (2 )
1 Mit ihrer Klage nach Art. 263 AEUV beantragen die Klägerinnen, die LAT Nitrogen Piesteritz GmbH, vormals Borealis Agrolinz Melamine Deutschland GmbH, und die Cornerstone Chemical Co., die Nichtigerklärung des Beschlusses D(2022)9120-DC der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) vom 16. Dezember 2022, soweit darin Melamin als besonders besorgniserregender Stoff im Sinne von Art. 57 der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2006 zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH), zur Schaffung einer Europäischen Agentur für chemische Stoffe, zur Änderung der Richtlinie 1999/45/EG und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 793/93 des Rates, der Verordnung (EG) Nr. 1488/94 der Kommission, der Richtlinie 76/769/EWG des Rates sowie der Richtlinien 91/155/EWG, 93/67/EWG, 93/105/EG und 2000/21/EG der Kommission (ABl. 2006, L 396, S. 1) ermittelt wurde (im Folgenden: angefochtener Beschluss).
I. Vorgeschichte des Rechtsstreits
[nicht wiedergegeben ]
3 Am 26. August 2022 reichte die zuständige Behörde der Bundesrepublik Deutschland ein Dossier nach Anhang XV der Verordnung Nr. 1907/2006 ein, das die Ermittlung von Melamin als besonders besorgniserregenden Stoff befürwortete, da Melamin die Kriterien von Art. 57 Buchst. f der Verordnung Nr. 1907/2006 erfülle (im Folgenden: Dossier nach Anhang XV).
4 Am 2. September 2022 forderte die ECHA gemäß Art. 59 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1907/2006 alle interessierten Kreise auf, bis zum 17. Oktober 2022 Bemerkungen zu dem Dossier nach Anhang XV vorzulegen. LAT Nitrogen Piesteritz übermittelte ihre Bemerkungen über die European Melamine Producers Association (EMPA, Europäischer Verband der Melaminhersteller) am 17. Oktober 2022.
5 Da bei der ECHA Bemerkungen zur Ermittlung von Melamin eingegangen waren, überwies sie das Dossier gemäß Art. 59 Abs. 7 der Verordnung Nr. 1907/2006 dem Ausschuss der Mitgliedstaaten.
6 In seiner 80. Sitzung vom 13. bis 15. Dezember 2022 einigte sich der Ausschuss der Mitgliedstaaten einstimmig darauf, Melamin als besonders besorgniserregenden Stoff zu ermitteln. Die Gründe für die Einigung wurden in den Belegunterlagen zu Melamin (im Folgenden: Belegunterlagen) dargelegt.
7 Am 16. Dezember 2022 erließ die ECHA gemäß Art. 59 Abs. 8 der Verordnung Nr. 1907/2006 den angefochtenen Beschluss, mit dem Melamin in die in Art. 59 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1907/2006 genannte Liste der für eine Aufnahme in Anhang XIV dieser Verordnung in Frage kommenden Stoffe (im Folgenden: Kandidatenliste) aufgenommen wurde, weil Melamin ebenso besorgniserregend sei wie andere in Art. 57 Buchst. a bis e der Verordnung Nr. 1907/2006 aufgeführte Stoffe und schwerwiegende Wirkungen auf die menschliche Gesundheit und auf die Umwelt im Sinne von Art. 57 Buchst. f der Verordnung Nr. 1907/2006 haben könnte.
[nicht wiedergegeben ]
II. Anträge der Parteien
9 Die Klägerinnen, unterstützt durch die Fritz Egger GmbH & Co. OG und die weiteren im Anhang namentlich aufgeführten juristischen Personen, beantragen,
– den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären, soweit er Melamin in die Kandidatenliste aufnimmt;
– der ECHA die Kosten aufzuerlegen.
10 Die Grupa Azoty Zakłady Azotowe Puławy S.A., die OCI Nitrogen BV und die Methanol Holdings (Trinidad) Ltd beantragen als Streithelferinnen zur Unterstützung der Anträge der Klägerinnen,
– den Anträgen der Klägerinnen zu entsprechen;
– die ihnen entstandenen Kosten der ECHA aufzuerlegen.
11 Die ECHA beantragt,
– die Klage abzuweisen;
– den Klägerinnen die Kosten der Hauptparteien aufzuerlegen;
– Grupa Azoty Zakłady Azotowe Puławy, OCI Nitrogen und Methanol Holdings (Trinidad) sowie Fritz Egger und den weiteren im Anhang namentlich aufgeführten juristischen Personen ihre eigenen Kosten aufzuerlegen.
12 Die Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Kommission beantragen als Streithelferinnen zur Unterstützung der Anträge der ECHA,
– die Klage abzuweisen;
– den Klägerinnen die Kosten aufzuerlegen.
III. Rechtliche Würdigung
[nicht wiedergegeben ]
B. Zum sechsten Klagegrund: Überschreitung von Befugnissen und Verstoß gegen Art. 59 Abs. 8 der Verordnung Nr. 1907/2006
24 Die Klägerinnen, unterstützt durch Grupa Azoty Zakłady Azotowe Puławy, OCI Nitrogen und Methanol Holdings (Trinidad) sowie durch Fritz Egger und die weiteren im Anhang namentlich aufgeführten juristischen Personen, machen geltend, die ECHA habe ihre Befugnisse überschritten und gegen Art. 59 Abs. 8 und Art. 85 Abs. 8 der Verordnung Nr. 1907/2006 verstoßen. Die ECHA habe nämlich zu Unrecht gemäß den in Art. 19 Abs. 5 der Geschäftsordnung des Ausschusses der Mitgliedstaaten vom 25. März 2021 festgelegten Verfahrensregeln für die Abstimmung angenommen, dass die Entscheidung, Melamin als besonders besorgniserregenden Stoff zu ermitteln, vom Ausschuss der Mitgliedstaaten einstimmig getroffen worden sei, obwohl vier Mitgliedstaaten sich der Stimme enthalten hätten.
[nicht wiedergegeben ]
1. Zum ersten Teil des sechsten Klagegrundes: Einrede der Rechtswidrigkeit gegen Art. 19 Abs. 5 der Geschäftsordnung des Ausschusses der Mitgliedstaaten
27 Die Klägerinnen tragen vor, keine Bestimmung der Verordnung Nr. 1907/2006 sehe vor, dass die Abstimmung als einstimmige Einigung des Ausschusses der Mitgliedstaaten angesehen werden könne, wenn ein Mitglied dieses Ausschusses sich der Stimme enthalte. Nur nach Art. 19 Abs. 5 der Geschäftsordnung des Ausschusses der Mitgliedstaaten vom 25. März 2021 stünden Stimmenthaltungen von anwesenden oder durch Bevollmächtigte vertretenen Mitgliedern Beschlüssen des Ausschusses, die Einstimmigkeit erforderten, nicht entgegen.
28 Wenn die Verordnung Nr. 1907/2006 es den Organen der ECHA erlaube, Verfahrensregeln für die Abstimmung zu erlassen, sähen ihre Bestimmungen dies ausdrücklich vor, was beim Ausschuss der Mitgliedstaaten nicht der Fall sei. Art. 85 Abs. 9 der Verordnung Nr. 1907/2006, der die Liste der Punkte enthalte, die die Geschäftsordnungen der Ausschüsse, zu denen der Ausschuss der Mitgliedstaaten zähle, regeln könnten, sehe den Erlass von Regeln über die Abstimmungsmodalitäten nicht vor.
29 Zunächst ist das Vorbringen der ECHA zurückzuweisen, wonach die Kritik der Klägerinnen an Art. 19 Abs. 5 der Geschäftsordnung des Ausschusses der Mitgliedstaaten über den Rahmen des vorliegenden Rechtsstreits hinausgehe.
30 Die Klägerinnen sind nämlich der Ansicht, der angefochtene Beschluss verstoße gegen wesentliche Formvorschriften, da er auf der Grundlage einer Bestimmung der Geschäftsordnung des Ausschusses der Mitgliedstaaten erlassen worden sei, die die höherrangige Rechtsnorm, im vorliegenden Fall die Verordnung Nr. 1907/2006, missachte.
31 Damit machen sie im Wesentlichen eine Einrede der Rechtswidrigkeit in Bezug auf Art. 19 Abs. 5 der Geschäftsordnung des Ausschusses der Mitgliedstaaten geltend.
32 Nach Ansicht der Klägerinnen ergibt sich die Rechtswidrigkeit dieser Bestimmung aus der fehlenden Zuständigkeit des Ausschusses der Mitgliedstaaten zur Festlegung von Verfahrensregeln für die Abstimmung in seiner Geschäftsordnung sowie aus dem Inhalt der Bestimmung.
33 Was als Erstes die Zuständigkeit des Ausschusses der Mitgliedstaaten für die Festlegung von Verfahrensregeln für die Abstimmung in seiner Geschäftsordnung betrifft, ist erstens darauf hinzuweisen, dass – wie auch die ECHA ausführt – Art. 85 Abs. 9 der Verordnung Nr. 1907/2006 vorsieht, dass in den Geschäftsordnungen ihrer Ausschüsse, zu denen der Ausschuss der Mitgliedstaaten zählt, „insbesondere“ die Verfahren für die Ersetzung der Mitglieder, die Verfahren für die Übertragung bestimmter Aufgaben auf Arbeitsgruppen, die Einsetzung von Arbeitsgruppen und die Einrichtung eines Dringlichkeitsverfahrens für die Verabschiedung von Stellungnahmen geregelt sind. Somit ist die in dieser Bestimmung enthaltene Liste der Fragen, die durch Geschäftsordnungen geregelt werden können, nicht abschließend, so dass sich allein aus dem Wortlaut von Art. 85 Abs. 9 der Verordnung Nr. 1907/2006 nicht ableiten lässt, dass Art. 19 Abs. 5 der Geschäftsordnung des Ausschusses der Mitgliedstaaten rechtswidrig wäre.
34 Zweitens trifft es zu, dass Art. 82 der Verordnung Nr. 1907/2006 ausdrücklich vorsieht, dass der Verwaltungsrat der ECHA seine Verfahrensregeln für die Abstimmung festlegt. Aus dem gleichen Grund wie oben in Rn. 33 dargelegt kann daraus jedoch nicht abgeleitet werden, dass die Ausschüsse der ECHA, darunter der Ausschuss der Mitgliedstaaten, dies mangels einer ähnlichen ausdrücklichen Erwähnung in der Verordnung Nr. 1907/2006 nicht tun könnten.
35 Zudem betrifft abgesehen von Art. 59 Abs. 8 der Verordnung Nr. 1907/2006, der vorsieht, dass Entscheidungen über die Ermittlung besonders besorgniserregender Stoffe im Wege der einstimmigen Einigung des Ausschusses der Mitgliedstaaten getroffen werden, keine andere Bestimmung dieser Verordnung die Abstimmungsmodalitäten in diesem Ausschuss. Die in Art. 59 Abs. 8 der Verordnung Nr. 1907/2006 aufgestellte Verfahrensregel geht jedoch nicht auf alle Fragen im Zusammenhang mit der Organisation einer Abstimmung ein, wie z. B. das zu erreichende Quorum und die Folgen, wenn das Quorum nicht erreicht wird, oder – wie im vorliegenden Fall – die Art und Weise, in der Enthaltungen das Ergebnis der Abstimmung beeinflussen können.
36 Da die Verordnung Nr. 1907/2006 nur die Frage der Art der Mehrheit regelt, die beim Erlass einer Entscheidung über die Ermittlung besonders besorgniserregender Stoffe erreicht werden muss, war es erforderlich, die übrigen Verfahrensregeln für die Abstimmung in der Geschäftsordnung des Ausschusses der Mitgliedstaaten festzulegen, um dem Risiko einer Regelungslücke vorzubeugen. Die Aufstellung solcher Regeln trägt außerdem zu ihrer Vorhersehbarkeit bei und ermöglicht es den Adressaten der erlassenen Rechtsakte, Kenntnis von ihnen zu nehmen und sie, wie im vorliegenden Fall, vor den Unionsgerichten anzufechten. Sie tragen daher zur Rechtssicherheit bei.
37 Folglich war der Ausschuss der Mitgliedstaaten befugt, in seiner Geschäftsordnung Verfahrensregeln für seine Abstimmungen festzulegen.
38 Was als Zweites den Inhalt von Art. 19 Abs. 5 der Geschäftsordnung des Ausschusses der Mitgliedstaaten betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass gemäß dieser Bestimmung Stimmenthaltungen von anwesenden oder durch Bevollmächtigte vertretenen Mitgliedern Beschlüssen des Ausschusses, die Einstimmigkeit erfordern, nicht entgegenstehen.
39 Mit dieser Regelung wurde die Verfahrenspraxis des Ausschusses der Mitgliedstaaten kodifiziert, die sich an Art. 238 Abs. 4 AEUV orientierte. Nach dieser Bestimmung, die für Abstimmungen im Rat der Europäischen Union gilt, steht die Stimmenthaltung von anwesenden oder vertretenen Mitglieder dem Zustandekommen von Beschlüssen des Rates, zu denen Einstimmigkeit erforderlich ist, nämlich nicht entgegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. April 2015, Hitachi Chemical Europe u. a./ECHA, T‑135/13, EU:T:2015:253, Rn. 132).
40 Unter diesen Umständen und in Ermangelung von Vorbringen der Klägerinnen, weshalb sich der Ausschuss der Mitgliedstaaten bei der Festlegung seiner eigenen Verfahrensregeln für die Abstimmung nicht an Art. 238 Abs. 4 AEUV habe orientieren dürfen, ist nicht ersichtlich, dass Art. 19 Abs. 5 der Geschäftsordnung des Ausschusses der Mitgliedstaaten Ausdruck einer Befugnisüberschreitung dieses Ausschusses wäre.
41 Das Vorbringen von Fritz Egger und der weiteren im Anhang namentlich aufgeführten juristischen Personen, wonach die in Art. 19 Abs. 5 der Geschäftsordnung des Ausschusses der Mitgliedstaaten getroffene Regelung die Ausübung der Befugnisse der Kommission, des Rates und des Europäischen Parlaments rechtswidrig beschränke, ist zurückzuweisen, ohne dass seine Zulässigkeit geprüft zu werden braucht.
42 Denn das Vorbringen von Fritz Egger und der weiteren juristischen Personen, deren Namen im Anhang aufgeführt sind, geht von der falschen Prämisse aus, dass eine Stimmenthaltung einer Ablehnung des in Rede stehenden Vorschlags gleichzustellen sei. Der Gerichtshof hat bereits darauf hingewiesen, dass eine Enthaltung ihrem üblichen Sinn nach als Weigerung zu verstehen ist, zu einem bestimmten Vorschlag Stellung zu beziehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Juni 2021, Ungarn/Parlament, C‑650/18, EU:C:2021:426, Rn. 84).
43 Entgegen dem Vorbringen der Klägerinnen ist der Umstand, dass sich der Gerichtshof hierzu in einer Rechtssache geäußert hat, die die Abstimmung im Parlament nach Art. 354 Abs. 4 AEUV betraf, wenn es einen Beschluss nach Art. 7 EUV zu fassen hat, nicht geeignet, der in diesem Urteil enthaltenen Definition der Enthaltung ihre Relevanz zu nehmen. Solange der Kontext, in dem dieser Begriff gebraucht wird, gleich ist, nämlich die Organisation einer Abstimmung, ist die vom Gerichtshof gegebene Definition einschlägig.
44 Der Unionsgesetzgeber hat sich im Rahmen von Art. 238 Abs. 4 AEUV dafür entschieden, dass der Verzicht auf eine Stellungnahme dem Zustandekommen von Beschlüssen, die einer einstimmigen Einigung bedürfen, nicht entgegenstehen soll. Da sich Art. 19 Abs. 5 der Geschäftsordnung des Ausschusses der Mitgliedstaaten an dieser Bestimmung orientiert, kann nicht geltend gemacht werden, dass er gegen grundlegende demokratische Grundsätze verstoße und die Befugnisse der Kommission, des Rates oder des Parlaments beeinträchtige.
45 Nach alledem ist die gegen Art. 19 Abs. 5 der Geschäftsordnung des Ausschusses der Mitgliedstaaten erhobene Einrede der Rechtswidrigkeit und folglich der erste Teil des sechsten Klagegrundes zurückzuweisen.
[nicht wiedergegeben ]
C. Zum fünften Klagegrund: Verletzung des Rechts der Klägerinnen auf Anhörung
[nicht wiedergegeben ]
2. Zum zweiten Teil des fünften Klagegrundes: Rechtsfehler in Bezug auf die Tragweite von Art. 59 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1907/2006
74 Die Parteien streiten über die Tragweite von Art. 59 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1907/2006. Während die Klägerinnen, unterstützt durch Grupa Azoty Zakłady Azotowe Puławy, OCI Nitrogen und Methanol Holdings (Trinidad) sowie durch Fritz Egger und die weiteren juristischen Personen, deren Namen im Anhang aufgeführt sind, ein echtes Recht auf Anhörung nach dieser Bestimmung geltend machen, ist die ECHA, unterstützt durch die Bundesrepublik Deutschland und die Kommission, der Ansicht, dass diese Bestimmung nur ein Recht auf Abgabe einer Stellungnahme verleihe.
75 Hierzu ist als Erstes festzustellen, dass, auch wenn in der französischen Fassung von Art. 59 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1907/2006 das Recht der interessierten Kreise erwähnt wird, „Informationen“ vorzulegen, das Recht dieser Parteien weiter gefasst ist und auch das Recht umfasst, „Stellungnahmen“ vorzulegen. Diese Auslegung wird durch die englische, die spanische, die italienische und die deutsche Fassung dieser Bestimmung bestätigt, in denen von „comments“, „observaciones“, „osservazioni“ und „Bemerkungen“ die Rede ist. Diese Auslegung wird auch durch die Auslegung bestätigt, die die ECHA sowohl in ihrer Praxis als auch in ihren beim Gericht eingereichten Schriftsätzen vorgenommen hat.
76 Was das Urteil vom 9. Juni 2021, Exxonmobil Petroleum & Chemical/ECHA (T‑177/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:336), betrifft, so trifft es zwar zu, dass in seiner englischen Fassung von einem „right to submit information“ die Rede ist. Die Bezugnahme auf den Begriff „information“ und nicht auf den Begriff „comments“ ist jedoch allein auf die wörtliche Übersetzung der französischen Fassung von Rn. 244 dieses Urteils zurückzuführen, die den Inhalt der in Rede stehenden Bestimmung wiedergibt. In diesem Urteil wollte das Gericht nicht die Art der Stellungnahmen beschränken, die die Beteiligten im Rahmen der durchgeführten öffentlichen Anhörung abgeben durften. Vielmehr ergibt sich aus den Rn. 246 bis 248 des genannten Urteils, dass die betroffenen Unternehmen die Möglichkeit hatten, sowohl bei dieser öffentlichen Anhörung als auch bei der Sitzung des Ausschusses der Mitgliedstaaten Stellung zu nehmen.
77 Was als Zweites die Frage betrifft, ob Art. 59 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1907/2006 den interessierten Kreisen ein echtes Recht auf Anhörung einräumt, trifft es zu, dass das Gericht, wie Fritz Egger und die anderen im Anhang namentlich aufgeführten juristischen Personen hervorheben, in Rn. 85 des Urteils vom 11. Mai 2017, Deza/ECHA (T‑115/15, EU:T:2017:329), festgestellt hat, dass aus dem Wortlaut von Art. 59 Abs. 2 bis 5 der Verordnung Nr. 1907/2006 hervorgeht, dass das Verfahren zur Ermittlung der in Art. 57 der Verordnung Nr. 1907/2006 genannten Stoffe gewährleisten soll, dass die Mitgliedstaaten und die an diesem Verfahren interessierten Kreise vor der Ausarbeitung einer Entscheidung über die Aufnahme eines Stoffes in die Kandidatenliste angehört werden können.
78 Auch wenn die ECHA in ihrer Stellungnahme zum Streithilfeschriftsatz von Fritz Egger und der weiteren im Anhang namentlich aufgeführten juristischen Personen versucht, diese Aussage in ihren Kontext zu stellen, indem sie darauf hinweist, dass Art. 59 Abs. 2 bis 5 der Verordnung Nr. 1907/2006 auf die Möglichkeit der Mitgliedstaaten und der interessierten Kreise Bezug nehme, zur Ermittlung des betreffenden Stoffes Stellung zu nehmen, bleibt es dabei, dass das Gericht in Rn. 91 des Urteils vom 11. Mai 2017, Deza/ECHA (T‑115/15, EU:T:2017:329), keine Verletzung des Rechts auf Anhörung der Klägerin festgestellt hat.
79 Daraus ist jedoch nicht zu schließen, dass das Gericht ein echtes Recht der interessierten Kreise auf Anhörung nach Art. 59 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1907/2006 anerkennen wollte.
80 Zum einen ist nämlich festzustellen, dass das Gericht nicht aufgefordert war, über die Frage zu entscheiden, ob Art. 59 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1907/2006 den interessierten Kreisen ein Recht auf Anhörung einräumt, sondern dass es mit der umfassenderen Frage befasst war, ob in dem gegebenen Fall das Verfahren nach Art. 59 der Verordnung Nr. 1907/2006 insgesamt eingehalten worden war. Insbesondere betraf das Hauptproblem die Frage, wie mehrere Vorschläge zur Einstufung eines Stoffes als besonders besorgniserregend im Sinne von Art. 57 der Verordnung einzureichen waren, unabhängig davon, ob es sich nun um verschiedene Stoffe oder um verschiedene Eigenschaften desselben in Art. 57 der Verordnung genannten Stoffes handelte (Urteil vom 11. Mai 2017, Deza/ECHA, T‑115/15, EU:T:2017:329, Rn. 86).
81 Zum anderen hat das Gericht, um zu der Schlussfolgerung in Rn. 91 des Urteils vom 11. Mai 2017, Deza/ECHA (T‑115/15, EU:T:2017:329), zu gelangen, in Rn. 90 dieses Urteils festgestellt, dass das Dossier zu dem in dieser Rechtssache in Rede stehenden Stoff sehr wohl Gegenstand des Verfahrens zur Abgabe von Bemerkungen nach Art. 59 Abs. 4 und 5 der Verordnung Nr. 1907/2006 war und dass zwischen den Parteien unstreitig war, dass die beteiligten Kreise, unter ihnen die Klägerin, durchaus die Möglichkeit gehabt hatten, ihre Bemerkungen abzugeben.
82 Im Übrigen hat das Gericht im Urteil vom 9. Juni 2021, Exxonmobil Petroleum & Chemical/ECHA (T‑177/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:336, Rn. 243), festgestellt, dass Art. 59 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1907/2006 den interessierten Kreisen kein Recht auf Anhörung gewährt. Aus Rn. 243 und 244 dieses Urteils geht ferner hervor, dass sich diese Bestimmung darauf beschränkt, eine öffentliche Anhörung vorzusehen, die den interessierten Kreisen keine besonderen Verfahrensrechte außer dem Recht zur Vorlage von Bemerkungen einräumt. Somit war die ECHA nach dieser Bestimmung nicht verpflichtet, einen Einzelnen, der vom Ausgang des Verwaltungsverfahrens betroffen sein könnte, anzuhören.
83 Im Beschluss vom 22. Dezember 2023, Exxonmobil Petroleum & Chemical/Kommission und ECHA (T‑121/23, nicht veröffentlicht, EU:T:2023:876, Rn. 59), hat das Gericht auf das Urteil vom 9. Juni 2021, Exxonmobil Petroleum & Chemical/ECHA (T‑177/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:336), Bezug genommen und daraus abgeleitet, dass Art. 59 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1907/2006 keine Verfahrensgarantie enthalte, auf die sich die Zulässigkeit der Klage stützen ließe (Beschluss vom 22. Dezember 2023, Exxonmobil Petroleum & Chemical/Kommission und ECHA, T‑121/23, nicht veröffentlicht, EU:T:2023:876, Rn. 62).
84 Jedenfalls hatte das Gericht Gelegenheit, seine Rechtsprechung zu bestätigen, wonach im Rahmen der Anwendung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 1907/2006 eine öffentliche Anhörung den interessierten Kreisen keine besonderen Verfahrensrechte außer dem Recht zur Vorlage von Bemerkungen einräumt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 30. Juni 2021, Global Silicones Council u. a./Kommission, T‑226/18, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:403, Rn. 321, und vom 15. September 2021, Laboratoire Pareva und Biotech3D/Kommission, T‑337/18 und T‑347/18, EU:T:2021:594, Rn. 220 bis 223).
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3. Zum dritten Teil des fünften Klagegrundes: Verstoß gegen Art. 59 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1907/2006
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99 Nach Art. 85 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1907/2006 können gegebenenfalls auf Antrag der Ausschussmitglieder oder des Verwaltungsrats der ECHA auch interessierte Kreise dazu eingeladen werden, als Beobachter an den Sitzungen teilzunehmen.
100 Der Status von Beobachtern wurde von der ECHA geregelt. So veröffentlichte sie am 18. Dezember 2020 einen Verhaltenskodex für Beobachter bei den Sitzungen der ECHA (im Folgenden: Verhaltenskodex für Beobachter). Daraus ergibt sich, dass die Rolle der Beobachter darin besteht, auf Anfrage technische und wissenschaftliche Daten auf der Grundlage ihres Sachverstands und ihrer Kenntnisse zur Verfügung zu stellen, und zum Informationsfluss von der ECHA und ihren Organen zu den Unternehmen beizutragen. Im Übrigen heißt es im Verhaltenskodex für Beobachter, dass die Beobachter nach dem Ermessen des Vorsitzenden an den Sitzungen des Ausschusses der Mitgliedstaaten teilnehmen können, nicht aber an den Teilen der Sitzungen, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Schließlich werden die Beobachter aufgefordert, dem Vorsitzenden im Voraus, spätestens zu Beginn der Sitzung mitzuteilen, zu welchen Punkten sie intervenieren möchten. Es wird klargestellt, dass diese Interventionen kurz sein müssen und sich an die vom Vorsitzenden gesetzte Zeit zu halten haben.
101 Daraus folgt, dass die Beobachter punktuell in den Sitzungen des Ausschusses der Mitgliedstaaten intervenieren können, sei es, um Fragen zu beantworten, die ihnen von den Mitgliedern des Ausschusses gestellt werden, sei es, um ihre Bemerkungen zu im Voraus beschlossenen Punkten mitzuteilen. Dagegen ist nicht vorgesehen, dass sich die Beobachter umfassend zu allen in diesen Sitzungen erörterten Punkten oder zu allen Informationen äußern können, die im Verfahren zur Ermittlung eines Stoffes als besonders besorgniserregend gesammelt wurden.
102 Ebenso wie Art. 59 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1907/2006 kein anderes Recht vorsieht als das, während der durchgeführten öffentlichen Anhörung Bemerkungen vorzulegen, gewähren Art. 85 Abs. 4 dieser Verordnung und der Beobachterstatus, wie er von der ECHA definiert wird, interessierten Kreisen, die an der Sitzung des Ausschusses der Mitgliedstaaten teilnehmen, somit kein Recht auf Anhörung. Sie geben ihnen lediglich die Möglichkeit, zu bestimmten und gegebenenfalls im Voraus festgelegten Punkten Stellung zu nehmen.
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D. Zum ersten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 57 Buchst. f der Verordnung Nr. 1907/2006 und offensichtliche Beurteilungsfehler
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2. Zum ersten Teil des ersten Klagegrundes: offensichtlicher Beurteilungsfehler, weil sich die ECHA auf Eigenschaften berufen habe, die keine „Gefährdung“ herbeiführten und die die Voraussetzung der „Wirkungen“ im Sinne von Art. 57 Buchst. f der Verordnung Nr. 1907/2006 nicht erfüllten
141 Im Rahmen des ersten Teils des ersten Klagegrundes machen die Klägerinnen im Wesentlichen geltend, bei der Anwendung von Art. 57 Buchst. f der Verordnung Nr. 1907/2006 könnten nur solche inhärenten Eigenschaften berücksichtigt werden, die wahrscheinlich schwerwiegende Wirkungen auf die menschliche Gesundheit oder auf die Umwelt hätten und daher eine Gefährdung für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt darstellten. Insoweit sei der Begriff „schädliche Wirkungen“ im Sinne der Abschnitte 1 bis 4 des Anhangs I der Verordnung Nr. 1907/2006 untrennbar und ausdrücklich mit der Gefahreneinstufung nach der Verordnung Nr. 1272/2008 verbunden. Keine der in der Verordnung Nr. 1272/2008 definierten Gefahrenkategorien erfasse jedoch die Eigenschaften, die mit dem Verbleib eines Stoffes in der Umwelt zusammenhingen. Daher habe die ECHA einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen, indem sie die Eigenschaften, die mit dem Verbleib von Melamin in der Umwelt zusammenhingen, mit den „Wirkungen“ im Sinne von Art. 57 Buchst. f der Verordnung Nr. 1907/2006 verknüpft habe, obwohl diese Eigenschaften nicht im Zusammenhang mit Gefährdungen gestanden hätten.
142 Die ECHA, unterstützt durch die Bundesrepublik Deutschland und die Kommission, tritt diesem Vorbringen entgegen.
143 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 57 Buchst. f der Verordnung Nr. 1907/2006 nach der Rechtsprechung verlangt, dass die Wirkungen des Stoffes auf die menschliche Gesundheit oder auf die Umwelt beispielsweise wegen ihrer Bedeutung oder ihrer Unumkehrbarkeit als „schwerwiegend“ betrachtet werden können. Die Prüfung dieser Voraussetzung beruht auf einer Bewertung der Gefahren für die Gesundheit oder die Umwelt anhand der relevanten Teile von Anhang I Abschnitte 1 bis 4 der Verordnung Nr. 1907/2006, wie es in Anhang XV Abschnitt II dieser Verordnung heißt. Es ist daher offensichtlich, dass diese erste Voraussetzung des Art. 57 Buchst. f dieser Verordnung eine Prüfung der durch die inhärenten Eigenschaften des in Rede stehenden Stoffes bedingten Gefahren verlangt (Urteile vom 15. März 2017, Hitachi Chemical Europe und Polynt/ECHA, C‑324/15 P, EU:C:2017:208, Rn. 27, und vom 23. Februar 2022, Chemours Netherlands/ECHA, T‑636/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:86, Rn. 35).
144 Wie die Klägerinnen ausführen, nehmen die Abschnitte 1 bis 3 des Anhangs I der Verordnung Nr. 1907/2006 ausdrücklich auf die Verordnung Nr. 1272/2008 Bezug. So heißt es in Abschnitt 1: „Ziel der Ermittlung schädlicher Wirkungen auf die Gesundheit des Menschen ist es, die Einstufung eines Stoffes gemäß der Verordnung … Nr. 1272/2008 zu bestimmen“. Ebenso sieht Abschnitt 2 vor, dass das „Ziel der Ermittlung schädlicher Wirkungen durch physikalisch-chemische Eigenschaften … die Bestimmung der Einstufung eines Stoffes gemäß der Verordnung … Nr. 1272/2008“ ist. Schließlich sieht Abschnitt 3 vor, dass das „Ziel der Ermittlung schädlicher Wirkungen auf die Umwelt … die Bestimmung der Einstufung eines Stoffes gemäß der Verordnung … Nr. 1272/2008“ ist. In Abschnitt 4 ist zwischen persistenten und bioakkumulierbaren Stoffen einerseits und toxischen Stoffen andererseits zu unterscheiden. Während nämlich ein Stoff als toxisch angesehen werden kann, wenn er bestimmte Kriterien der Verordnung Nr. 1272/2008 erfüllt, erfolgt die Beurteilung der persistenten und bioakkumulierbaren Eigenschaften eines Stoffes anhand von Kriterien, die unmittelbar in Anhang XIII der Verordnung Nr. 1907/2006 festgelegt sind, ohne Bezugnahme auf die Verordnung Nr. 1272/2008.
145 Außerdem sieht Art. 57 Buchst. a bis c der Verordnung Nr. 1907/2006 vor, dass Stoffe, die bestimmte in der Verordnung Nr. 1272/2008 festgelegte Kriterien für die Einstufung von CMR-Stoffen erfüllen, als besonders besorgniserregend ermittelt werden.
146 Daraus ist zu schließen, dass die Verordnung Nr. 1272/2008 bei der Ermittlung besonders besorgniserregender Stoffe gemäß Art. 57 der Verordnung Nr. 1907/2006 eine wichtige Rolle spielt.
147 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 1272/2008 nicht die Ermittlung besonders besorgniserregender Stoffe im Hinblick auf ihre Aufnahme in Anhang XIV der Verordnung Nr. 1907/2006 betrifft, und dass der Gerichtshof im Rahmen der Anwendung von Art. 57 Buchst. f der Verordnung Nr. 1907/2006 festgestellt hat, dass die Zugehörigkeit zu einer Gefahrenklasse weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung in dieser Hinsicht ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. März 2017, Polynt/ECHA, C‑323/15 P, EU:C:2017:207, Rn. 28).
148 Außerdem kann die ECHA zwar bestimmte Eigenschaften berücksichtigen, für die in Anhang XIII der Verordnung Nr. 1907/2006 Kriterien aufgestellt sind, auf die Art. 57 Buchst. d und e dieser Verordnung verweist (Urteil vom 23. Februar 2022, Chemours Netherlands/ECHA, T‑636/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:86, Rn. 163), doch hat das Gericht bereits entschieden, dass die in Anhang XIII festgelegten Kriterien als solche die ECHA oder die Kommission bei der Ermittlung der in Art. 57 Buchst. f der Verordnung genannten Stoffe nicht leiten können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. November 2021, Sasol Germany u. a./Kommission, T‑661/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:779, Rn. 37).
149 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass Art. 57 Buchst. f der Verordnung Nr. 1907/2006 nach der Rechtsprechung ein autonomes Verfahren vorsieht, mit dem Stoffe als besonders besorgniserregend ermittelt werden können, die nach dieser Bestimmung noch nicht als solche ermittelt worden sind (Urteil vom 15. März 2017, Polynt/ECHA, C‑323/15 P, EU:C:2017:207, Rn. 25).
150 Der Umstand, dass diese Bestimmung für die Zwecke der Ermittlung von Stoffen, die ebenso besorgniserregend sind, auf die in den Buchst. a bis e der Verordnung Nr. 1907/2006 aufgeführten Stoffe verweist, bedeutet nicht, dass ein Stoff die Kriterien für die Ermittlung dieser Stoffe erfüllen muss, um als besonders besorgniserregender Stoff im Sinne von Art. 57 Buchst. f der Verordnung Nr. 1907/2006 ermittelt werden zu können (Urteil vom 23. Februar 2022, Chemours Netherlands/ECHA, T‑636/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:86, Rn. 92).
151 Nach alledem ist die ECHA für die Zwecke der Ermittlung eines Stoffes als besonders besorgniserregend im Sinne von Art. 57 Buchst. f der Verordnung Nr. 1907/2006 weder auf die in der Verordnung Nr. 1272/2008 festgelegten Gefahrenklassen noch auf die ausdrücklich in Anhang XIII der Verordnung Nr. 1907/2006 festgelegten Kriterien beschränkt.
152 Dagegen muss die ECHA, wie oben in Rn. 134 ausgeführt, die Gefahren prüfen, die sich aus den inhärenten Eigenschaften des Stoffes ergeben, der als besonders besorgniserregend ermittelt werden soll. Der Begriff „Gefahr“ bezeichnet jedes Produkt oder Verfahren, das eine nachteilige Wirkung für die menschliche Gesundheit (vgl. Urteil vom 20. September 2019, PlasticsEurope/ECHA, T‑636/17, EU:T:2019:639, Rn. 98 und die dort angeführte Rechtsprechung) oder für die Umwelt haben „kann“.
153 Insoweit hat das Gericht bereits festgestellt, dass Art. 57 Buchst. f der Verordnung Nr. 1907/2006 eine Kombination mehrerer Wirkungen zur Feststellung ihrer Schwere nicht verbietet. Die Verwendung des Plurals in der Formulierung „schwerwiegende Wirkungen“ verdeutlicht, dass mehrere unterschiedliche Wirkungen berücksichtigt werden können. Die Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit oder die Umwelt sind nämlich nicht zwangsläufig weniger schwerwiegend, wenn sie sich erst aus der Gesamtheit mehrerer Wirkungen ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Februar 2022, Chemours Netherlands/ECHA, T‑636/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:86, Rn. 98). Daraus ist zu schließen, dass Art. 57 Buchst. f der Verordnung Nr. 1907/2006 nicht verlangt, dass eine inhärente Eigenschaft als solche und für sich genommen wahrscheinlich eine schwerwiegende Wirkung haben muss, um bei der Ermittlung eines Stoffes als besonders besorgniserregend berücksichtigt zu werden. Erforderlich ist vielmehr, dass sie in Kombination mit weiteren Wirkungen anderer inhärenter Eigenschaften dieses Stoffes wahrscheinlich eine schwerwiegende Wirkung auf die menschliche Gesundheit oder die Umwelt hat.
154 Dazu tragen die Klägerinnen vor, die mit dem Verbleib von Melamin in der Umwelt zusammenhängenden Eigenschaften, insbesondere seine Persistenz und Mobilität, wirkten sich als solche nicht auf die menschliche Gesundheit oder die Umwelt aus, da sie nur die Verbreitung oder das Vorhandensein dieses Stoffes bewirkten.
155 Dass sich ein Stoff aufgrund seiner Eigenschaften, die mit dem Verbleib in der Umwelt zusammenhängen, leicht verbreitet und in der Umwelt vorhanden ist, stellt jedoch sehr wohl eine Wirkung dar, da es sich um Folgen seiner inhärenten Eigenschaften handelt. Jedenfalls steht das Vorbringen der Klägerinnen schon im Widerspruch zum Wortlaut von Art. 57 Buchst. f der Verordnung Nr. 1907/2006, da aus diesem hervorgeht, dass persistente und bioakkumulierbare Stoffe als Stoffe mit schwerwiegenden Wirkungen auf die menschliche Gesundheit oder auf die Umwelt angesehen werden können. Persistenz und Bioakkumulation sind jedoch Eigenschaften, die mit dem Verbleib eines Stoffes in der Umwelt zusammenhängen.
156 Daher können bei der Beurteilung, ob ein Stoff gemäß Art. 57 Buchst. f der Verordnung Nr. 1907/2006 wahrscheinlich schwerwiegende Wirkungen auf die menschliche Gesundheit oder auf die Umwelt hat, die ebenso besorgniserregend sind wie diejenigen anderer in den Buchst. a bis e aufgeführter Stoffe, Wirkungen von Eigenschaften berücksichtigt werden, die den Verbleib des Stoffes in der Umwelt betreffen, wie etwa seine Persistenz, seine Mobilität und sein Potenzial für die Verbreitung über weite Entfernungen.
157 Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht in den Rn. 106, 191 und 209 des Urteils vom 23. Februar 2022, Chemours Netherlands/ECHA (T‑636/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:86), bestätigt hat, dass die sehr hohe Persistenz, die Mobilität, das geringe Adsorptionspotenzial und die hohe Wasserlöslichkeit, die den Stoff für eine Aufnahme mit Trinkwasser vollständig bioverfügbar machen, inhärente Eigenschaften sind, die herangezogen werden können, um zu beurteilen, ob die Voraussetzungen von Art. 57 Buchst. f der Verordnung Nr. 1907/2006 erfüllt sind.
158 In diesem Zusammenhang braucht die Definition des Begriffs „intrinsische Eigenschaften“ im Urteil vom 23. November 2022, CWS Powder Coatings u. a./Kommission (T‑279/20, T‑283/20 und T‑288/20, Rechtsmittel anhängig, EU:T:2022:725), auf das sich die Klägerinnen berufen, nicht überprüft zu werden. Abgesehen davon, dass dieses Urteil einen Fall der Anwendung der Verordnung Nr. 1272/2008 betrifft, schließt jedenfalls die wörtliche Auslegung des Begriffs der „intrinsischen Eigenschaften“ in Rn. 138 des Urteils als „Eigenschaften eines Stoffes, die ihm eigen sind“, jene Eigenschaften, die mit dem Verbleib eines Stoffes in der Umwelt zusammenhängen, nicht aus. Wie ein Stoff mit seiner Umgebung interagieren wird, hängt nämlich sehr wohl von seinen intrinsischen bzw. inhärenten Eigenschaften ab.
159 Daher können die Klägerinnen nicht mit Erfolg geltend machen, dass die ECHA einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen habe, indem sie davon ausgegangen sei, dass die Eigenschaften im Zusammenhang mit dem Verbleib von Melamin in der Umwelt Wirkungen hätten, die dazu beitragen könnten, Melamin als besonders besorgniserregenden Stoff im Sinne von Art. 57 Buchst. f der Verordnung Nr. 1907/2006 zu ermitteln.
160 Der erste Teil des ersten Klagegrundes ist daher zurückzuweisen.
[nicht wiedergegeben ]
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Fünfte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die LAT Nitrogen Piesteritz GmbH, vormals Borealis Agrolinz Melamine Deutschland GmbH, und die Cornerstone Chemical Co. tragen ihre eigenen Kosten sowie die Kosten der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA).
3. Die Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Kommission tragen ihre eigenen Kosten.
4. Die Grupa Azoty Zakłady Azotowe Puławy S.A., die OCI Nitrogen BV und die Methanol Holdings (Trinidad) Ltd tragen ihre eigenen Kosten.
5. Die Fritz Egger GmbH & Co. OG und die anderen im Anhang namentlich aufgeführten Streithelferinnen tragen ihre eigenen Kosten.
Svenningsen
Mac Eochaidh
Martín y Pérez de Nanclares
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 9. Juli 2025.
Unterschriften