T-113/24 – Lattanzio KIBS u. a./ Kommission

T-113/24 – Lattanzio KIBS u. a./ Kommission

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:T:2025:756

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTS (Achte Kammer)

23. Juli 2025(*)

„ Öffentliche Aufträge – Schutz der finanziellen Interessen der Union – Nichtigkeitsklage – Keine unmittelbare Betroffenheit – Teilweise Unzulässigkeit – Ausschlusskriterien für Vergabeverfahren – Begriff ‚Rechtskräftige Gerichtsentscheidung, mit der festgestellt wird, dass die Person oder Stelle sich einer Straftat schuldig gemacht hat‘ – Art. 136 Abs. 1 Buchst. d Ziff. ii der Verordnung (EU, Euratom) 2018/1046 – Personen, die Vertretungs‑, Entscheidungs- oder Kontrollbefugnisse bezüglich einer Person oder Stelle besitzen, die sich in einer Ausschlusssituation befindet – Art. 136 Abs. 4 Buchst. a der Verordnung 2018/1046 – Begründungspflicht – Verhältnismäßigkeit “

In der Rechtssache T‑113/24,

Lattanzio KIBS SpA mit Sitz in Mailand (Italien),

CY,

CV,

CW,

vertreten durch M. Hommé und B. O’Connor, Avocats,

Kläger,

gegen

Europäische Kommission, vertreten durch F. Moro und P. Rossi als Bevollmächtigte,

Beklagte,

erlässt

DAS GERICHT (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten A. Kornezov (Berichterstatter) sowie des Richters K. Kecsmár und der Richterin S. Kingston,

Kanzler: P. Cullen, Verwaltungsrat,

aufgrund des Beschlusses vom 8. Mai 2024, Lattanzio KIBS u. a./Kommission (T‑113/24 R, nicht veröffentlicht, EU:T:2024:306),

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

auf die mündliche Verhandlung vom 15. Januar 2025

folgendes

Urteil(1)

1        Mit ihrer Klage nach Art. 263 AEUV beantragen die Kläger, die Lattanzio KIBS SpA (im Folgenden: LKIBS) sowie CY, CV und CW, den Beschluss Ares (2023) 8545235 der Kommission vom 13. Dezember 2023 über das Verfahren zum Ausschluss von LKIBS von der Teilnahme an durch die Verordnung (EU, Euratom) 2018/1046 und die Verordnung (EU) 2018/1877 geregelten Gewährungsverfahren für die Vergabe von öffentlichen Aufträgen und Zuschüssen (im Folgenden: angefochtener Beschluss) für nichtig zu erklären.

[nicht wiedergegeben]

 Anträge der Parteien

10      Die Kläger beantragen,

–        den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären;

–        der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

11      Die Kommission beantragt,

–        die Klage, soweit sie von CW erhoben wurde, als unzulässig und in jedem Fall insgesamt als unbegründet abzuweisen;

–        den Klägern die Kosten aufzuerlegen.

 Rechtliche Würdigung

[nicht wiedergegeben]

 Zur Begründetheit

21      Die Kläger stützen ihre Klage auf acht Gründe, und zwar erstens einen offensichtlichen Beurteilungsfehler, soweit die Kommission davon ausgegangen sei, dass es sich bei dem Urteil des Tribunale di Milano (Gericht Mailand, Italien) (im Folgenden: Urteil des Gerichts Mailand) um ein rechtskräftiges Urteil handele, mit dem festgestellt worden sei, dass sich CY und CV der Bestechung schuldig gemacht hätten, zweitens einen Verstoß gegen Art. 136 Abs. 1 Buchst. d Ziff. ii der Verordnung 2018/1046, drittens dass die Kommission hätte bei der Anwendung dieser Bestimmung das nationale Recht berücksichtigen müssen, viertens einen Verstoß gegen Art. 136 Abs. 4 der Verordnung 2018/1046, fünftens einen Begründungsmangel, sechstens einen Verstoß gegen den in Art. 136 Abs. 3 der Verordnung 2018/1046 und Art. 5 Abs. 4 EUV vorgesehenen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, siebtens einen Verstoß gegen Art. 136 Abs. 6 Buchst. a der Verordnung 2018/1046 und achtens eine Verletzung des in Art. 41 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankerten Anspruchs auf rechtliches Gehör.

 Zum ersten, zum zweiten und zum dritten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 136 Abs. 1 Buchst. d Ziff. ii der Verordnung 2018/1046

22      Mit ihren drei ersten Klagegründen, die zusammen zu prüfen sind, machen die Kläger im Wesentlichen geltend, die Kommission habe dadurch gegen Art. 136 Abs. 1 Buchst. d Ziff. ii der Verordnung 2018/1046 verstoßen, dass sie das Urteil des Gerichts Mailand als rechtskräftiges Urteil, mit dem festgestellt worden sei, dass sich CY und CV der Bestechung schuldig gemacht hätten, angesehen habe.

23      Im Rahmen des ersten Klagegrundes tragen die Kläger vor, dass die Kommission das in Art. 444 des Codice di procedura penale (Strafprozessordnung) vorgesehene Patteggiamento-Verfahren, in dem das Urteil des Gerichts Mailand ergangen sei, zu Unrecht als Verfahren des „vorherigen Schuldeingeständnisses“ („plea bargain“ im Englischen) eingestuft und angenommen habe, dass CY und CV ihre Schuld im Rahmen dieses Verfahrens eingeräumt hätten. Eine solche Schlussfolgerung sei aber insoweit fehlerhaft, als das nationale Gericht beim Erlass eines Urteils nach dieser Bestimmung keine Würdigung des Sachverhalts und der Schuld der Angeklagten vornehme.

24      Zudem ergebe sich aus Art. 445 Abs. 1bis der Strafprozessordnung, dass ein nach deren Art. 444 ergangenes Urteil keine Verurteilung darstelle. Die erstgenannte Bestimmung sehe nämlich vor, dass ein solches Urteil einer Verurteilung „gleichgestellt“ werden könne, woraus sich implizit ergebe, dass ein Patteggiamento-Urteil nicht als Verurteilung angesehen werden könne.

25      Im Rahmen des zweiten Klagegrundes machen die Kläger geltend, die Kommission habe mit der Annahme, dass das Urteil des Gerichts Mailand eine legitime Grundlage für den Ausschluss der LKIBS von der Teilnahme an Gewährungsverfahren, namentlich nach der Verordnung 2018/1046, darstelle, gegen Art. 136 Abs. 1 Buchst. d Ziff. ii der Verordnung 2018/1046 verstoßen. Sie bestreiten zwar nicht, dass es sich bei dem Urteil des Gerichts Mailand um ein rechtskräftiges Urteil handelt, machen aber geltend, dass in diesem Urteil nicht festgestellt worden sei, dass sich CY und CV der Bestechung schuldig gemacht hätten.

26      Im Rahmen des dritten Klagegrundes bringen die Kläger vor, die Kommission wäre verpflichtet gewesen, bei der Auslegung des Urteils des Gerichts Mailand das nationale Recht zu berücksichtigen. Sie hätte das Urteil insbesondere anhand von Art. 445 Abs. 1bis der Strafprozessordnung würdigen müssen, aus dem sich ergebe, dass ein nach deren Art. 444 ergangenes Urteil nicht in einem Verwaltungsverfahren wie dem, das zum Erlass des angefochtenen Beschlusses geführt habe, hätte verwendet werden dürfen.

27      Die Kommission beantragt, die ersten drei Klagegründe zurückzuweisen.

28      Nach Art. 136 Abs. 1 Buchst. d Ziff. ii der Verordnung 2018/1046 „[schließt d]er zuständige Anweisungsbefugte … eine in Artikel 135 Absatz 2 genannte Person oder Stelle von der Teilnahme an Gewährungsverfahren nach dieser Verordnung oder von der Auswahl zur Ausführung von Unionsmitteln aus, wenn diese Person oder Stelle sich in einer oder mehrerer der folgenden Ausschlusssituationen befindet: … durch eine rechtskräftige Gerichtsentscheidung [wurde] festgestellt …, dass die Person oder Stelle sich einer der folgenden Straftaten schuldig gemacht hat: … Bestechung im Sinne des Artikels 4 Absatz 2 der Richtlinie (EU) 2017/1371 … oder Bestechung im Sinne anderen anwendbaren Rechts“.

29      Im angefochtenen Beschluss ist die Kommission im Wesentlichen davon ausgegangen, dass das Urteil des Gerichts Mailand ein rechtskräftiges Urteil sei und dass CY und CV dadurch, dass sie eine Herabsetzung der Strafe beantragt und akzeptiert hätten, eingeräumt hätten, sich der Bestechung im Sinne von Art. 136 Abs. 1 Buchst. d Ziff. ii der Verordnung 2018/1046 schuldig gemacht zu haben.

30      Hierzu ist erstens festzustellen, dass CY und CV in ihrer Eigenschaft [vertraulich](2) des „Lattanzio-Konzerns“, darin eingeschlossen Lattanzio Advisory, nunmehr LAIC, und der übrigen Konzerngesellschaften, von der mit der Rechtssache betrauten Staatsanwaltschaft u. a. wegen Bestechung im Sinne des italienischen Strafgesetzbuchs angeklagt worden waren. Sie hätten Beamten der Republik Nordmazedonien Geld angeboten und sich mit ihnen auf Geldzahlungen und weitere Dienste oder Vorteile verständigt, um das dauerhafte Wohlwollen dieser Beamten für die Interessen von Lattanzio Advisory und des „Lattanzio-Konzerns“ im Rahmen der von der Union in diesem Staat finanzierten Vergabeverfahren zu erhalten.

31      Zweitens ergibt sich aus dem Urteil, dass die Angeklagten die Anwendung des in Art. 444 der Strafprozessordnung vorgesehenen besonderen Verfahrens beantragt hatten und dass die Staatsanwaltschaft diesem Vorschlag zustimmte.

32      Drittens hat das Tribunale di Milano (Gericht Mailand) in der Sache festgestellt, dass die ihm vorliegenden Beweise hinreichend erstens die zur Last gelegten Handlungen belegten, zweitens, dass diese Handlungen eine Straftat, und zwar Bestechung im Sinne des italienischen Strafgesetzbuchs, darstellten, und drittens, dass diese Handlungen den Angeklagten zuzurechnen seien. Das Tribunale di Milano (Gericht Mailand) hat ebenfalls festgestellt, dass keine Gründe für einen Wegfall des Strafinteresses oder Mängel hinsichtlich der Verfahrensvoraussetzungen vorlägen, wie sie sich aus den Ermittlungshandlungen, insbesondere den vorgelegten Beweisquellen ableiten ließen, dass die Parteien wirksam ihre Zustimmung erteilt hätten, dass der vorgeworfene Sachverhalt rechtlich zutreffend subsumiert worden sei und dass das ausgehandelte Strafmaß für die in Rede stehende Straftat angemessen sei.

33      Auf Grundlage dieser Feststellungen hat das Tribunale di Milano (Gericht Mailand) gegen CY und CV eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe von zwei Jahren und gegen Lattanzio Advisory, nunmehr LAIC, eine finanzielle Sanktion in Höhe von 80 000 Euro verhängt.

34      Aus dem Urteil des Gerichts Mailand ergibt sich damit im Wesentlichen – wie von den Klägern in der mündlichen Verhandlung bestätigt –, dass es hinreichende Beweise für die zur Last gelegten Handlungen, die rechtlich als Bestechung im Sinne des italienischen Strafgesetzbuchs eingeordnet wurden, gab, dass diese Handlungen namentlich CY und CV zugerechnet werden konnten und dass aufgrund dieser Handlungen gegen sie eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe verhängt wurde. Darüber hinaus wurde aufgrund derselben Handlungen gegen Lattanzio Advisory, nunmehr LAIC, eine finanzielle Sanktion verhängt.

35      Was die Frage betrifft, ob das Urteil des Gerichts Mailand ein rechtskräftiges Urteil darstellt, mit dem festgestellt wurde, dass sich die betroffenen Personen und Stellen der Bestechung im Sinne von Art. 136 Abs. 1 Buchst. d Ziff. ii der Verordnung 2018/1046 schuldig gemacht haben, steht zwischen den Parteien außer Streit, dass dieses Urteil rechtskräftig ist.

36      Zu der Voraussetzung, dass durch ein solches rechtskräftiges Urteil festgestellt worden sein muss, dass sich die in Rede stehende Person oder Stelle der Bestechung schuldig gemacht hat, ist darauf hinzuweisen, dass dem Wortlaut von Art. 136 Abs. 1 Buchst. d Ziff. ii der Verordnung 2018/1046 nicht zu entnehmen ist, ob davon auszugehen ist, dass ein Urteil diese Voraussetzung erfüllt, das im Rahmen eines besonderen Strafverfahrens wie des Patteggiamento-Verfahrens ergeht, in dem ohne einen förmlichen Schuldspruch der Angeklagten wegen Bestechung festgestellt wird, dass ihnen solche Handlungen zugerechnet werden können, und in dem aufgrund dieser Handlungen gegen sie eine Strafe sowie eine finanzielle Sanktion verhängt wird.

37      Unter diesen Umständen ist eine systematische und teleologische Auslegung von Art. 136 Abs. 1 Buchst. d Ziff. ii der Verordnung 2018/1046 vorzunehmen (vgl. entsprechend Urteil vom 4. März 2020, Bank BGŻ BNP Paribas, C‑183/18, EU:C:2020:153, Rn. 42 und 43).

38      Zum Zusammenhang, in den sich diese Bestimmung einfügt, ist festzustellen, dass die Bestimmungen der Verordnung 2018/1046 einschließlich der Bestimmungen über das Früherkennungs- und Ausschlusssystem in ihrem Titel V Kapitel 2 Abschnitt 2, zu denen Art. 136 Abs. 1 Buchst. d Ziff. ii der Verordnung gehört, verwaltungsrechtlicher und nicht strafrechtlicher Art sind. Nach Art. 91 der Verordnung 2018/1046 berührt deren Titel IV Kapitel 5 („Verantwortlichkeit der Finanzakteure“) nicht eine etwaige strafrechtliche Verantwortung der Finanzakteure nach dem anwendbaren nationalen Recht und den geltenden Bestimmungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Union sowie zur Bekämpfung der Bestechung, an der Beamte der Union oder Beamte von Mitgliedstaaten beteiligt sind.

39      Somit zielt Art. 136 Abs. 1 Buchst. d der Verordnung 2018/1046 als Bestimmung verwaltungsrechtlicher Art nicht darauf ab, die strafrechtliche Verantwortlichkeit einer natürlichen oder juristischen Person nach nationalem Recht festzustellen, sondern beschränkt sich darauf, die Fallgestaltungen festzulegen, in denen diese Person von Gewährungsverfahren nach dieser Verordnung auszuschließen ist, u. a. die in Art. 136 Abs. 1 Buchst. d Ziff. ii der Verordnung aufgeführte Fallgestaltung der Bestechung.

40      Zur teleologischen Auslegung von Art. 136 Abs. 1 Buchst. d Ziff. ii der Verordnung 2018/1046 ist darauf hinzuweisen, dass sich sowohl dem 64. Erwägungsgrund der Verordnung als auch deren Art. 135 Abs. 1 entnehmen lässt, dass das Ziel des Ausschlusssystems im Schutz der finanziellen Interessen der Union liegt. So sollen zum einen mit Art. 136 Abs. 1 Buchst. d Ziff. ii der Verordnung 2018/1046 Personen und Stellen von den in dieser Verordnung geregelten Gewährungsverfahren ausgeschlossen werden, die aufgrund ihres Verhaltens eine Gefahr für die finanziellen Interessen der Union darstellen können. Zum anderen ermöglicht es diese Bestimmung der Kommission, der ihr durch Art. 317 AEUV auferlegten Verpflichtung zur Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung hinsichtlich der Mittel der Union nachzukommen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. September 2023, Imdea Materiales/Kommission, T‑765/21, nicht veröffentlicht, EU:T:2023:588, Rn. 81).

41      Im Übrigen sind in der Verordnung 2018/1046 gerade zur Vermeidung der Gefahr einer Beeinträchtigung der finanziellen Interessen der Union Fallgestaltungen wie die in ihrem Art. 136 Abs. 2 und 5 aufgeführten vorgesehen, nach denen Bieter auch dann von den in dieser Verordnung geregelten Gewährungsverfahren vorläufig ausgeschlossen werden können, wenn es kein rechtskräftiges Urteil gibt, mit dem die Schuld der betroffenen Personen oder Stellen festgestellt wird.

42      Außerdem darf nach ständiger Rechtsprechung die Anwendung der nationalen Vorschriften die praktische Wirksamkeit eines Unionsrechtsakts nicht beeinträchtigen (Urteil vom 16. Mai 2024, Toplofikatsia Sofia [Begriff des Wohnsitzes des Beklagten], C‑222/23, EU:C:2024:405, Rn. 55). Somit ist bei mehreren möglichen Auslegungen einer Vorschrift des Unionsrechts derjenigen der Vorzug zu geben, die die praktische Wirksamkeit der Vorschrift zu wahren geeignet ist (vgl. Urteil vom 23. November 2023, EVN Business Service u. a., C‑480/22, EU:C:2023:918, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43      Eine enge Auslegung von Art. 136 Abs. 1 Buchst. d Ziff. ii der Verordnung 2018/1046, wie sie von den Klägern befürwortet wird, brächte aber die Gefahr einer Beeinträchtigung der praktischen Wirksamkeit dieser Bestimmung mit sich, da sie dazu führen würde, dass Personen und Stellen, gegen die durch ein rechtskräftiges Urteil wegen Bestechung Strafen und finanzielle Sanktionen verhängt wurden, ermöglicht würde, trotzdem an Verfahren zur Vergabe von aus dem Unionshaushalt finanzierten öffentlichen Aufträgen teilzunehmen, was eine Gefahr für die finanziellen Interessen der Union sowie die Wirtschaftlichkeit ihrer Haushaltsführung darstellen würde.

44      Daher ist davon auszugehen, dass ein rechtskräftiges Urteil wie das des Gerichts Mailand, das die angeklagten Personen und Stellen zwar nicht förmlich schuldig spricht, gleichwohl der Sache nach feststellt, dass ihnen Bestechungshandlungen zugerechnet werden können, und wegen dieser Handlungen gegen sie eine Strafe und eine finanzielle Sanktion verhängt, unter Art. 136 Abs. 1 Buchst. d Ziff. ii der Verordnung 2018/1046 fällt.

45      Dieses Ergebnis wird durch das Vorbringen der Kläger nicht in Frage gestellt.

46      Als Erstes machen die Kläger geltend, der angefochtene Beschluss weise mehrere Übersetzungsfehler auf. Solche Fehler haben allerdings, selbst wenn sie erwiesen wären, keine Auswirkung auf die Rechtmäßigkeit des Beschlusses, da sie weder die im vorliegenden Urteil vorgenommene Auslegung von Art. 136 Abs. 1 Buchst. d Ziff. ii der Verordnung 2018/1046 noch die wesentlichen Gesichtspunkte des Urteils des Gerichts Mailand berühren, wie sie oben in den Rn. 30 bis 34 zusammengefasst und von den Parteien in der mündlichen Verhandlung bestätigt worden sind.

47      Als Zweites bringen die Kläger vor, dass das nationale Gericht nach Art. 444 der Strafprozessordnung nicht auf einen „Freispruch“ im Sinne von Art. 530 der Strafprozessordnung erkennen könne, und zwar selbst dann nicht, wenn die Akte Beweise für die Unschuld des Angeklagten enthalte.

48      Diese Auslegung der angeführten Bestimmungen des nationalen Rechts durch die Kläger hat allerdings, selbst wenn sie zutreffen sollte, keinen Einfluss auf die Tatsache, dass sich aus dem Urteil des Gerichts Mailand, wie oben in den Rn. 30 bis 34 zusammengefasst, namentlich ergibt, dass hinreichende Beweise für Bestechungshandlungen vorlagen, die CY und CV, die die Anwendung des in Art. 444 der Strafprozessordnung vorgesehenen Verfahrens beantragt hatten, zugerechnet werden konnten, und dass es hingegen keine eindeutigen Beweise für ihre Unschuld gab.

49      Als Drittes machen die Kläger geltend, dass Art. 445 Abs. 1bis der Strafprozessordnung entgegen den Ausführungen der Kommission im angefochtenen Beschluss nicht vorsehe, dass eine nach Art. 444 der Strafprozessordnung ergangene „Sentenza di patteggiamento“ eine strafrechtliche Verurteilung darstelle, sondern lediglich, dass sie unter bestimmten Voraussetzungen einer solchen Verurteilung gleichgestellt werden könne. Außerdem weisen sie auf die Unterschiede zwischen einem nach Art. 444 der Strafprozessordnung ergangenem Urteil und einer nach Art. 533 der Strafprozessordnung ausgesprochenen Verurteilung hin.

50      Insoweit genügt zum einen die Feststellung, dass sich dieses Vorbringen auf die Qualifizierung des Urteils des Gerichts Mailand im italienischen Recht und die Unterschiede bezieht, die zwischen den Wirkungen eines solchen Urteils und denen bestehen können, die mit einer strafrechtlichen Verurteilung im Sinne von Art. 533 der Strafprozessordnung einhergehen. Derartige Unterschiede können die oben in Rn. 44 ausgeführte Auslegung von Art. 136 Abs. 1 Buchst. d Ziff. ii der Verordnung 2018/1046 aber nicht beeinflussen.

51      Zum anderen ist jedenfalls mit der Kommission darauf hinzuweisen, dass ein nach Art. 444 der Strafprozessordnung ergangenes Urteil nach dem letzten Satz von deren Art. 445 Abs. 1bis und vorbehaltlich der beiden ersten Sätze dieser Bestimmung einer Verurteilung „gleichgestellt“ ist.

52      Darüber hinaus hatte der Gerichtshof bereits Gelegenheit zu der Entscheidung, dass ein in Rechtskraft erwachsenes und nach dem in Art. 444 der Strafprozessordnung vorgesehenen Patteggiamento-Verfahren ergangenes Urteil für die Zwecke der Prüfung der Voraussetzungen der Anwendung des in Art. 50 der Charta verankerten Grundsatzes ne bis in idem eine rechtskräftige strafrechtliche Verurteilung darstellt (Urteil vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a., C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 14, 30, 59 und 63).

53      Als Viertes ist den Klägern zwar darin beizupflichten, dass die Kommission im 40. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses zu Unrecht ausgeführt hat, dass die Kläger dadurch, dass sie die Anwendung einer herabgesetzten Strafe wie der, die das Tribunale di Milano (Gericht Mailand) gegen sie verhängt habe, beantragt und akzeptiert hätten, ihre Schuld anerkannt hätten. Ein solches ausdrückliches Schuldeingeständnis lässt sich dem Urteil nämlich nicht entnehmen. Allerdings hat sich die Kommission für die Schlussfolgerung, dass dieses Urteil unter Art. 136 Abs. 1 Buchst. d Ziff. ii der Verordnung 2018/1046 fällt, nicht nur auf diese Annahme gestützt, sondern in den Erwägungsgründen 36 bis 38 des angefochtenen Beschlusses auch den oben in den Rn. 32 und 34 ausgeführten Umstand berücksichtigt, dass nach den Ausführungen im Urteil hinreichende Beweise vorlagen, nach denen u. a. die zur Last gelegten Handlungen den Angeklagten zugerechnet werden konnten, dass Art. 445 Abs. 1bis der Strafprozessordnung nach deren Art. 444 ergangene Urteile einer Verurteilung gleichstellt und dass Art. 136 Abs. 1 Buchst. d Ziff. ii der Verordnung 2018/1046 zwischen rechtskräftigen Urteilen nicht danach unterscheidet, ob sie im Anschluss an eine Verständigung zwischen den betreffenden Personen und der Staatsanwaltschaft ergangen sind oder nicht.

54      Als Fünftes argumentieren die Kläger mit dem ersten Satz von Art. 445 Abs. 1bis der Strafprozessordnung, wonach ein nach Art. 444 der Strafprozessordnung ergangenes Urteil u. a. in Verwaltungsverfahren keine Wirkungen entfalte und nicht als Beweis verwendet werden dürfe. Da es sich bei dem Verfahren, das zum Erlass des angefochtenen Beschlusses geführt habe, um ein Verwaltungsverfahren gehandelt habe, sei es der Kommission verwehrt, sich für den Erlass dieses Beschlusses auf das Urteil des Gerichts Mailand zu berufen.

55      Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden, da es darauf hinausläuft, einer Bestimmung des nationalen Rechts eine Sperrwirkung für die Anwendung einer Bestimmung des Unionsrechts zuzubilligen. Dieses Vorbringen steht damit im Widerspruch zum Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, der besagt, dass das Unionsrecht dem Recht der Mitgliedstaaten vorgeht. Dieser Grundsatz verpflichtet daher alle mitgliedstaatlichen Stellen, den verschiedenen unionsrechtlichen Vorschriften volle Wirksamkeit zu verschaffen, wobei das Recht der Mitgliedstaaten die diesen verschiedenen Vorschriften zuerkannte Wirkung in ihrem Hoheitsgebiet nicht beeinträchtigen darf (vgl. Urteil vom 11. Januar 2024, Global Ink Trade, C‑537/22, EU:C:2024:6, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung). Nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dürfen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts, auch wenn sie Verfassungsrang haben, die einheitliche Geltung und die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigen (Urteil vom 21. Dezember 2021, Randstad Italia, C‑497/20, EU:C:2021:1037, Rn. 52).

56      Als Sechstes ist die von den Klägern in der mündlichen Verhandlung vorgebrachte Argumentation zu verwerfen, die sich auf das Urteil vom 18. Dezember 2024, TP/Kommission (T‑776/22, Rechtsmittel anhängig, EU:T:2024:908), stützt. In den Rn. 44 und 45 dieses Urteils hat das Gericht nämlich entschieden, dass der für den Erlass einer Ausschlussmaßnahme aufgrund von Art. 136 Abs. 1 Buchst. b bis d und f bis h der Verordnung 2018/1046 zuständige Anweisungsbefugte offensichtlich durch die rechtliche Bewertung der fraglichen Handlung gebunden ist, die in einer rechtskräftigen Gerichts- bzw. bestandskräftigen Verwaltungsentscheidung vorgenommen wurde, ohne dass ihm insoweit irgendein Ermessen zustünde. Im vorliegenden Fall geht es aber nicht darum, eine andere rechtliche Bewertung des fraglichen Verhaltens als die im Urteil des Gerichts Mailand vorzunehmen, sondern darum, eine Bestimmung des Unionsrechts auszulegen, um festzustellen, ob ein solches Urteil unter Berücksichtigung der darin vorgenommenen rechtlichen Bewertungen in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fällt.

57      Nach alledem sind die ersten drei Klagegründe als unbegründet zurückzuweisen.

[nicht wiedergegeben]

 Zum achten Klagegrund: Verletzung des in Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta verankerten Anspruchs auf rechtliches Gehör

[nicht wiedergegeben]

124    Da keiner der von den Klägern vorgebrachten Klagegründe durchgreift, ist die Klage insgesamt abzuweisen.

 Kosten

125    Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

126    Da die Kläger unterlegen sind, sind ihnen gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten einschließlich der Kosten des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Achte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Klage wird abgewiesen.

2.      Die Lattanzio KIBS SpA sowie CY, CV und CW tragen die Kosten einschließlich der Kosten des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes.

Kornezov

Kecsmár

Kingston

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 23. Juli 2025.

Unterschriften





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