T-1081/23 – BT GS Belgium/ Kommission

T-1081/23 – BT GS Belgium/ Kommission

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:T:2025:748

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTS (Vierte Kammer)

23. Juli 2025(*)

„ Öffentliche Dienstleistungsaufträge – Ausschreibungsverfahren – Transeuropäische Telematikdienste zwischen Behörden – Erweiterung der neuen Generation (TESTA-ng II Ext) – Richtlinie 2014/24/EU – Verordnung (EU, Euratom) 2018/1046 – Entscheidung, den laufenden Vertrag ohne Veröffentlichung einer neuen Ausschreibungsbekanntmachung zu ändern – Unvorhersehbare Umstände – Nichtigkeitsklage – Klagebefugnis – Individuelle Betroffenheit – Zulässigkeit “

In der Rechtssache T‑1081/23,

BT Global Services Belgium mit Sitz in Machelen (Belgien), vertreten durch Rechtsanwältinnen V. Dor, A. Lepièce und M. Vilain XIIII,

Klägerin,

gegen

Europäische Kommission, vertreten durch L. André, M. Ilkova und S. Romoli als Bevollmächtigte,

Beklagte,

erlässt

DAS GERICHT (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten R. da Silva Passos, der Richterin T. Pynnä (Berichterstatterin) und des Richters H. Cassagnabère,

Kanzler: P. Cullen, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

auf die mündliche Verhandlung vom 27. Februar 2025

folgendes

Urteil(1)

[nicht wiedergegeben]

 Rechtliche Würdigung

 Zulässigkeit

22      Die Kommission macht geltend, die Klage sei unzulässig, da die Klägerin nicht klagebefugt sei, genauer gesagt, weil sie nicht individuell betroffen sei im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV.

[nicht wiedergegeben]

31      Im vorliegenden Fall handelt es sich bei der angefochtenen Entscheidung um eine im Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlichte Bekanntmachung von Änderungen eines Auftrags.

32      Da die angefochtene Entscheidung nicht an die Klägerin gerichtet ist und eine solche Entscheidung keinen Rechtsakt mit allgemeiner Geltung darstellt, ist zu prüfen, ob die Klägerin von dieser Entscheidung unmittelbar und individuell betroffen ist.

33      Was als Erstes die Frage betrifft, ob die Klägerin von der angefochtenen Entscheidung unmittelbar betroffen ist, so ist darauf hinzuweisen, dass das in Art. 263 Abs. 4 AEUV vorgesehene Erfordernis, dass eine natürliche oder juristische Person von der Maßnahme, die Gegenstand der Klage ist, unmittelbar betroffen sein muss, verlangt, dass zwei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind, nämlich zum einen, dass sich die beanstandete Maßnahme unmittelbar auf die Rechtsstellung dieser Person auswirkt, und zum anderen, dass sie den Adressaten, die mit ihrer Durchführung betraut sind, keinerlei Ermessensspielraum lässt, ihre Umsetzung vielmehr rein automatisch erfolgt und sich allein aus der Unionsregelung ohne Anwendung weiterer Durchführungsvorschriften ergibt (vgl. Urteil vom 21. Februar 2024, Inivos und Inivos/Kommission, T‑38/21, EU:T:2024:100, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34      Es ist nacheinander zu prüfen, ob die Klägerin jedes dieser beiden Erfordernisse erfüllt.

35      Erstens ist zu prüfen, ob sich die angefochtene Entscheidung unmittelbar auf die Rechtsstellung der Klägerin auswirkt.

36      Der Klägerin wurde durch die angefochtene Entscheidung endgültig die Möglichkeit genommen, sich an einem Verfahren zu beteiligen. Die angefochtene Entscheidung hat sich somit unmittelbar auf die Rechtsstellung der Klägerin ausgewirkt. Zudem ist diese auf dem betreffenden Markt tätig.

37      Zweitens wurde der Auftrag DIGIT/A3/PN/2019/026 durch die angefochtene Entscheidung mit sofortiger und bindender Wirkung endgültig geändert. Da diese Entscheidung insoweit Rechtswirkungen erzeugt, ohne dass es einer ergänzenden Maßnahme bedarf, ist das zweite oben in Rn. 33 genannte Erfordernis erfüllt.

38      Daraus folgt, dass die angefochtene Entscheidung die Klägerin unmittelbar betroffen hat. Dies wird im Übrigen von der Kommission nicht bestritten.

39      Was als Zweites die Frage betrifft, ob die Klägerin von der angefochtenen Entscheidung individuell betroffen ist, so geht aus der ständigen Rechtsprechung hervor, dass, wer nicht Adressat einer Entscheidung ist, nur dann geltend machen kann, von ihr individuell betroffen zu sein, wenn die Entscheidung ihn wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten (vgl. Urteil vom 21. Februar 2024, Inivos und Inivos/Kommission, T‑38/21, EU:T:2024:100, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40      Daher ist zu prüfen, ob die angefochtene Entscheidung die Klägerin entweder wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, sie aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände im Sinne der in Rn. 39 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung berührt.

41      Insoweit können nach ständiger Rechtsprechung, wenn eine Entscheidung eine Gruppe von Personen berührt, die zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung anhand von den Mitgliedern der Gruppe eigenen Merkmalen feststanden oder feststellbar waren, diese Personen von der Entscheidung insoweit individuell betroffen sein, als sie zu einem beschränkten Kreis von Wirtschaftsteilnehmern gehören (vgl. Urteil vom 21. Februar 2024, Inivos und Inivos/Kommission, T‑38/21, EU:T:2024:100, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42      In Bezug auf öffentliche Aufträge hat der Gerichtshof entschieden, dass aus den Bestimmungen der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge (ABl. 1989, L 395, S. 33) in der durch die Richtlinie 2014/23/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die Konzessionsvergabe (ABl. 2014, L 94, S. 1) geänderten Fassung hervorgeht, dass ein effektiver gerichtlicher Rechtsschutz verlangt, dass die abgelehnten Bieter über eine tatsächliche Möglichkeit verfügen, einen Rechtsbehelf einzulegen (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Vizepräsidenten des Gerichtshofs vom 22. November 2022, Telefónica de España/Kommission, C‑478/22 P[R], EU:C:2022:914, Rn. 47).

43      Außerdem heißt es im 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 2007/66/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2007 zur Änderung der Richtlinien 89/665 und 92/13/EWG des Rates im Hinblick auf die Verbesserung der Wirksamkeit der Nachprüfungsverfahren bezüglich der Vergabe öffentlicher Aufträge (ABl. 2007, L 335, S. 31), dass „[e]in Nachprüfungsverfahren zumindest jeder Person zur Verfügung stehen [sollte], die ein Interesse an einem bestimmten Auftrag hat oder hatte und der durch einen behaupteten Verstoß ein Schaden entstanden ist bzw. zu entstehen droht“.

44      Unter den besonderen Umständen eines Rückgriffs des öffentlichen Auftraggebers auf das Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung einer Auftragsbekanntmachung ist ein Wirtschaftsteilnehmer, der nicht zur Teilnahme an diesem Verfahren aufgefordert wurde, obwohl er die Kriterien erfüllen konnte, die der öffentliche Auftraggeber bei der Auswahl der Unternehmen angewandt hat, an die eine Aufforderung zur Angebotsabgabe gerichtet wurde, als zu einem beschränkten Kreis von Wettbewerbern gehörend anzusehen, die ein Angebot hätten abgeben können, wenn sie zur Teilnahme am Verfahren aufgefordert worden wären (Urteil vom 21. Februar 2024, Inivos und Inivos/Kommission, T‑38/21, EU:T:2024:100, Rn. 71).

45      Im vorliegenden Fall handelt es sich bei der angefochtenen Entscheidung um eine Bekanntmachung von Änderungen eines Auftrags. Demnach ist es der Klägerin anders als im Fall eines Verhandlungsverfahrens ohne vorherige Veröffentlichung einer Auftragsbekanntmachung nicht möglich, nachzuweisen, dass sie die Kriterien erfüllen konnte, die der öffentliche Auftraggeber bei der Auswahl der Unternehmen angewandt hat, an die eine Aufforderung zur Angebotsabgabe gerichtet wurde, und dass sie daher zu einem beschränkten Kreis von Wettbewerbern gehörte, die ein Angebot hätten abgeben können, wenn sie zur Teilnahme am Verfahren aufgefordert worden wären.

46      Die Klägerin hat jedoch erstens an der nicht offenen Ausschreibung DIGIT/R2/PR/2011/039 „Transeuropäische Telematikdienste zwischen Behörden – Neue Generation (TESTA-ng)“ aus dem Jahr 2011 teilgenommen. Zudem hat sie an der nicht offenen Ausschreibung DIGIT/A3/PR/2019/RP/010 „Transeuropäische Telematikdienste zwischen Behörden (TESTA)“ teilgenommen, für die ihr der Zuschlag erteilt worden ist (siehe oben, Rn. 3 und 5). Wie die Kommission vorträgt, kann zwar nicht sicher davon ausgegangen werden, dass der Klägerin ein weiterer Zuschlag erteilt würde, dies ändert aber, wie die Klägerin geltend macht, nichts daran, dass diese als Einzige den Zuschlag für das letzte für den Wettbewerb geöffnete Vergabeverfahren für die Dienste des TESTA-Netzes erhalten hat.

47      Zweitens besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Ausschreibung DIGIT/A3/PR/2019/RP/010, für die die Klägerin den Zuschlag erhalten hatte, und dem Auftrag DIGIT/A3/PN/2019/026, der durch die angefochtene Entscheidung geändert worden ist. Ziel des Auftrags DIGIT/A3/PN/2019/026 war es nämlich, die Kontinuität des Dienstes des TESTA-Netzes bis zur Migration zu einem neuen Auftragnehmer nach Abschluss des Verfahrens DIGIT/A3/PR/2019/RP/010 sicherzustellen (siehe oben, Rn. 6).

48      Drittens besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Annullierung der Ausschreibung DIGIT/A3/PR/2019/RP/010, für die die Klägerin den Zuschlag erhalten hatte, und dem Erlass der angefochtenen Entscheidung, den Auftrag DIGIT/A3/PN/2019/026 zu ändern. Die Kommission hat den Erlass der angefochtenen Entscheidung nämlich mit dem Vorliegen unvorhersehbarer Umstände begründet, die sich aus den von den Unionsgerichten erlassenen Beschlüssen vom 1. April 2022, Telefónica de España/Kommission (T‑170/22 R, nicht veröffentlicht), vom 22. Juli 2022, Telefónica de España/Kommission (C‑478/22 P[R]-R, nicht veröffentlicht, EU:C:2022:598), und vom 14. März 2023, Telefónica de España/Kommission (C‑141/23 P[R]-R, nicht veröffentlicht, EU:C:2023:292), ergäben und zur Annullierung der Ausschreibung DIGIT/A3/PR/2019/RP/010 geführt hätten, was es unmöglich gemacht habe, zu einem neuen Netzwerk zu migrieren bzw. bis zum Ablauf des Vertrags ein neues, voll funktionsfähiges Netzwerk zu erlangen (siehe oben, Rn. 18).

49      Aufgrund dieser besonderen Umstände, die sie aus dem Kreis aller übrigen Personen herausheben, kann die Klägerin auf der Grundlage der oben in Rn. 39 angeführten Rechtsprechung individualisiert werden.

50      Die Kommission hat in der Gegenerwiderung und in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, die Klägerin hätte in Bezug auf die angefochtene Entscheidung klagebefugt sein können, wenn sie zuvor die Entscheidung über die Vergabe des Auftrags DIGIT/A3/PN/2019/026 angefochten hätte. Dieses Argument ist zurückzuweisen. Die Klägerin ist nämlich unabhängig davon, ob sie gegen diese Entscheidung Klage erhebt, durch die oben in den Rn. 46 bis 48 dargestellten Umstände individualisiert.

51      Folglich ist das Vorbringen der Kommission, die Klage sei wegen fehlender Klagebefugnis der Klägerin, genauer gesagt wegen ihrer fehlenden individuellen Betroffenheit, unzulässig, zurückzuweisen. Die Klage ist demnach zulässig.

[nicht wiedergegeben]

 Begründetheit

[nicht wiedergegeben]

 Zum ersten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 72 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2014/24 und Art. 172 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung 2018/1046

[nicht wiedergegeben]

–       Zum ersten Teil des ersten Klagegrundes

80      Mit dem ersten Teil des ersten Klagegrundes macht die Klägerin einen Verstoß gegen Art. 72 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i der Richtlinie 2014/24 geltend, der inhaltlich Art. 172 Abs. 3 Buchst. b Ziff. i der Verordnung 2018/1046 entspricht. Die Änderung sei nämlich nicht aufgrund von Umständen, die ein seiner Sorgfaltspflicht nachkommender öffentlicher Auftraggeber nicht vorhersehen konnte, erforderlich geworden.

81      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 72 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i der Richtlinie 2014/24 und Art. 172 Abs. 3 Buchst. b Ziff. i der Verordnung 2018/1046 ein Auftrag ohne Durchführung eines neuen Vergabeverfahrens geändert werden kann, wenn „[d]ie Änderung aufgrund von Umständen [erforderlich wurde], die ein seiner Sorgfaltspflicht nachkommender öffentlicher Auftraggeber nicht vorhersehen konnte“, und wenn bestimmte weitere in diesen Bestimmungen vorgesehene Bedingungen erfüllt sind, die nicht Gegenstand des ersten Teils des ersten Klagegrundes sind.

82      Im 109. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/24 heißt es:

„Öffentliche Auftraggeber können sich mit externen Umständen konfrontiert sehen, die sie zum Zeitpunkt der Zuschlagserteilung nicht absehen konnten, insbesondere wenn sich die Ausführung des Auftrags über einen längeren Zeitraum erstreckt. In diesem Fall ist ein gewisses Maß an Flexibilität erforderlich, um den Auftrag an diese Gegebenheiten anzupassen, ohne ein neues Vergabeverfahren einleiten zu müssen. Der Begriff ‚unvorhersehbare Umstände‘ bezeichnet Umstände, die auch bei einer nach vernünftigem Ermessen sorgfältigen Vorbereitung der ursprünglichen Zuschlagserteilung durch den öffentlichen Auftraggeber unter Berücksichtigung der diesem zur Verfügung stehenden Mittel, der Art und Merkmale des spezifischen Projekts, der bewährten Praxis im betreffenden Bereich und der Notwendigkeit, ein angemessenes Verhältnis zwischen den bei der Vorbereitung der Zuschlagserteilung eingesetzten Ressourcen und dem absehbaren Nutzen zu gewährleisten, nicht hätten vorausgesagt werden können …“

83      Wie sich aus dem Wortlaut des 109. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2014/24 ergibt, sind unvorhersehbare Umstände externe Umstände, die auch bei einer nach vernünftigem Ermessen sorgfältigen Vorbereitung der ursprünglichen Zuschlagserteilung durch den öffentlichen Auftraggeber unter Berücksichtigung der diesem zur Verfügung stehenden Mittel, der Art und Merkmale des spezifischen Projekts, der bewährten Praxis im betreffenden Bereich und der Notwendigkeit, ein angemessenes Verhältnis zwischen den bei der Vorbereitung der Zuschlagserteilung eingesetzten Ressourcen und dem absehbaren Nutzen zu gewährleisten, nicht hätten vorausgesagt werden können (Urteil vom 7. Dezember 2023, Obshtina Razgrad, C‑441/22 und C‑443/22, EU:C:2023:970, Rn. 68).

84      Im vorliegenden Fall wurde der Auftrag DIGIT/A3/PN/2019/026 am 26. Juni 2019 ausgeschrieben und am 29. Mai 2020 vergeben (siehe oben, Rn. 6).

85      In der angefochtenen Entscheidung heißt es:

„[D]ie Abfolge der Ereignisse außerhalb der Kontrolle des öffentlichen Auftraggebers (wie die COVID-19-Pandemie und drei Folgeaufträge der [Unionsgerichte] – am 1. April 2022, 22. Juli 2022 und 14. März 2023 – und die Anordnung der Aussetzung der Unterzeichnung des Rahmenvertrags), die schließlich zur Annullierung des TESTA RP im April 2023 geführt haben, [macht] es unmöglich, zu einem neuen Netzwerk zu migrieren/ein neues Netz voll funktionsfähig bis zum Ablauf des Rahmenvertrags zu erlangen. In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass dieser Abschluss des Ausschreibungsverfahrens einen außergewöhnlichen Umstand darstellt, der von einem sorgfältigen öffentlichen Auftraggeber vor der Unterzeichnung des Rahmenvertrags nicht vorgesehen werden konnte. Die Notwendigkeit, weiterhin mit dem aktuellen TESTA-ng-Netz zu arbeiten, bis die Ersatzlösung verfügbar und voll funktionsfähig ist, fordert die in Abschnitt VII.2.1) beschriebenen Änderungen.“

86      Bei der Vorbereitung des betreffenden Auftrags, der im Juni 2019 ausgeschrieben wurde, und zum Zeitpunkt der Vergabe dieses Auftrags im Mai 2020 konnte die Kommission keine der in der angefochtenen Entscheidung genannten externen Umstände vorhersehen, d. h. weder die Schwere der Covid-19-Pandemie, die zum Zeitpunkt der Zuschlagserteilung gerade ausgebrochen war, noch die Abfolge der in den Rn. 8 bis 15 des vorliegenden Urteils aufgeführten Vorgeschichte des Verfahrens, die einen besonders ungewöhnlichen Fall darstellt.

87      Somit ergibt sich aus Art. 72 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i der Richtlinie 2014/24 und Art. 172 Abs. 3 Buchst. b Ziff. i der Verordnung 2018/1046 in Verbindung mit dem 109. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/24, dass, wie die Kommission geltend gemacht hat, die Covid-19-Pandemie und die Entscheidungen des Gerichts und des Gerichtshofs zwischen April 2022 und März 2023, mit denen die Aussetzung der Unterzeichnung des vorherigen Rahmenvertrags angeordnet wurde, als Umstände angesehen werden können, die ein seiner Sorgfaltspflicht nachkommender öffentlicher Auftraggeber im Sinne dieser Bestimmungen nicht vorhersehen konnte.

88      Darüber hinaus erfordert die Sorgfalt, die der öffentliche Auftraggeber bei der Vorbereitung der ursprünglichen Zuschlagserteilung an den Tag gelegt haben muss, um sich auf Art. 72 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i der Richtlinie 2014/24 bzw. auf Art. 172 Abs. 3 Buchst. b Ziff. i der Verordnung 2018/1046 berufen zu können, nicht, dass die Kommission bei der Vorbereitung des betreffenden öffentlichen Auftrags zu berücksichtigen hat, dass es aufgrund dieser unvorhersehbaren Umstände nicht möglich sein wird, zu einem neuen Netzwerk zu migrieren bzw. ein neues, voll funktionsfähiges Netz bis zum Ablauf des Rahmenvertrags einzurichten.

89      Nach alledem ist der erste Teil des ersten Klagegrundes zurückzuweisen.

–       Zum zweiten Teil des ersten Klagegrundes

90      Mit dem zweiten Teil des ersten Klagegrundes macht die Klägerin einen Verstoß gegen Art. 72 Abs. 1 Buchst. c Ziff. iii der Richtlinie 2014/24 geltend, da die aufeinanderfolgenden Änderungen des ursprünglichen Auftrags mit dem Ziel vorgenommen worden seien, diese Richtlinie zu umgehen.

91      Insoweit bestimmt Art. 72 Abs. 1 Buchst. c Ziff. iii der Richtlinie 2014/24, wonach eine etwaige Preiserhöhung nicht mehr als 50 % des Werts des ursprünglichen Auftrags betragen darf, dass, wenn „mehrere aufeinander folgende Änderungen vorgenommen [werden,] diese Beschränkung für den Wert jeder einzelnen Änderung [gilt]“ und dass „[s]olche aufeinander folgenden Änderungen nicht mit dem Ziel vorgenommen werden [dürfen], diese Richtlinie zu umgehen“. Die entsprechende Bestimmung in der Verordnung 2018/1046, nämlich Art. 172 Abs. 3 Buchst. b Ziff. ii dieser Verordnung, enthält dagegen keine solche Klarstellung.

92      Da die Richtlinie 2014/24 nicht auf die Kommission anwendbar ist, kann im vorliegenden Fall kein Verstoß gegen Art. 72 Abs. 1 Buchst. c Ziff. iii der Richtlinie 2014/24 festgestellt werden.

93      Jedenfalls besteht, wie die Kommission zu Recht geltend gemacht hat, der Zweck der im letzten Satz von Art. 72 Abs. 1 Buchst. c Ziff. iii der Richtlinie 2014/24 vorgesehenen Beschränkung darin, einen Missbrauch dieser Bestimmung zu verhindern und insbesondere ein Szenario zu vermeiden, in dem der öffentliche Auftraggeber mehrere aufeinanderfolgende Änderungen desselben Auftrags durchführt, um die Verpflichtungen aus der Richtlinie 2014/24 zu umgehen. Diese Beschränkung gilt daher für aufeinanderfolgende Änderungen eines bestimmten Vertrags. Sie erstreckt sich nicht auf abgeschlossene Vergabeverfahren.

94      Im vorliegenden Fall hat die Kommission den Vertrag jedoch nur einmal geändert. Demnach ist der zweite Teil des ersten Klagegrundes zurückzuweisen.

[nicht wiedergegeben]

 Zum zweiten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 172 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung 2018/1046

97      Mit ihrem zweiten Klagegrund macht die Klägerin geltend, die Voraussetzungen für eine Änderung des Auftrags nach Art. 172 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung 2018/1046 seien nicht erfüllt. Die Kommission gebe in der angefochtenen Entscheidung nicht an, inwiefern die in dieser Bestimmung vorgesehenen Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt seien.

[nicht wiedergegeben]

105    Vorab ist darauf hinzuweisen, dass in der angefochtenen Entscheidung sowohl Art. 172 Abs. 3 Buchst. a als auch Art. 172 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung 2018/1046 als Rechtsgrundlage angeführt werden. Außerdem scheint sie sich auf Art. 172 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung 2018/1046 nur hilfsweise zu beziehen (siehe oben, Rn. 74 und 75).

106    In Abschnitt VII.2.2 („Gründe für die Änderung“) der angefochtenen Entscheidung heißt es nämlich, dass eine „Notwendigkeit der Änderung aufgrund von Umständen, die ein öffentlicher Auftraggeber/Auftraggeber bei aller Umsicht nicht vorhersehen konnte“, vorliege, die in Art. 72 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2014/24 und, mit nahezu identischem Wortlaut, in Art. 172 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung 2018/1046 vorgesehen ist.

107    Der in Art. 172 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung 2018/1046 vorgesehene Fall wird folglich als Hauptgrund angeführt. In der angefochtenen Entscheidung wird Art. 172 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung 2018/1046 darüber hinaus als zusätzliche Rechtsgrundlage genannt, wenn es heißt, dass „einige der erforderlichen Änderungen auch auf Artikel 172 Absatz (3) Buchstabe (a) der Verordnung [2018/1046] [beruhen]“.

108    Mit anderen Worten ist, insofern als die Vertragsänderungen vollständig auf die in Art. 172 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung 2018/1046 vorgesehenen Umstände gestützt werden können, da die Kommission im Rahmen des ersten Klagegrundes nachgewiesen hat, dass diese Umstände im vorliegenden Fall vorliegen, der zweite Klagegrund, mit dem ein Verstoß gegen Art. 172 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung 2018/1046 geltend gemacht wird, als ins Leere gehend zurückzuweisen.

 Zum dritten Klagegrund: Verstoß gegen die Grundsätze der Gleichheit und der Transparenz

109    Mit ihrem dritten Klagegrund macht die Klägerin geltend, die Kommission habe dadurch, dass sie die Auftragsobergrenze der Rahmenvereinbarung von 121,9 Mio. Euro auf 160,9 Mio. Euro angehoben habe, ohne eine neue Ausschreibung durchzuführen, gegen die in Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24 und in der Rechtsprechung des Gerichtshofs verankerten Grundprinzipien der Gleichheit, des Wettbewerbs und der Transparenz verstoßen.

[nicht wiedergegeben]

113    Der 107. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/24 lautet:

„Es ist erforderlich, die Bedingungen näher zu bestimmen, unter denen Änderungen eines Auftrags während des Ausführungszeitraums ein neues Vergabeverfahren erfordern; dabei ist der einschlägigen Rechtsprechung des [Gerichtshofs] Rechnung zu tragen. Ein neues Vergabeverfahren ist erforderlich bei wesentlichen Änderungen des ursprünglichen Auftrags, insbesondere des Umfangs und der inhaltlichen Ausgestaltung der gegenseitigen Rechte und Pflichten der Parteien, einschließlich der Zuweisung der Rechte des geistigen Eigentums. Derartige Änderungen sind Ausdruck der Absicht der Parteien, wesentliche Bedingungen des betreffenden Auftrags neu zu verhandeln. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die geänderten Bedingungen, hätten sie bereits für das ursprüngliche Verfahren gegolten, dessen Ergebnis beeinflusst hätten.

Änderungen des Auftrags, die zu einer geringfügigen Änderung des Auftragswerts bis zu einer bestimmten Höhe führen, sollten jederzeit möglich sein, ohne dass ein neues Vergabeverfahren durchgeführt werden muss. Zu diesem Zweck und um Rechtssicherheit zu gewährleisten, sollten in dieser Richtlinie Geringfügigkeitsgrenzen vorgesehen werden, unterhalb deren kein neues Vergabeverfahren erforderlich ist. Änderungen des Auftrags, die diese Schwellenwerte überschreiten, sollten ohne erneutes Vergabeverfahren möglich sein, soweit diese die in dieser Richtlinie festgelegten Bedingungen erfüllen.“

114    Mit anderen Worten legt die Richtlinie 2014/24 die Bedingungen fest, unter denen Änderungen eines Auftrags während des Ausführungszeitraums unter Wahrung der in ihrem Art. 18 Abs. 1 genannten Grundsätze der Gleichheit und der Transparenz kein neues Vergabeverfahren erfordern. Dies lässt sich entsprechend auf die Verordnung 2018/1046 anwenden.

115    In den Rn. 68 bis 72 des von der Klägerin angeführten Urteils vom 17. Juni 2021, Simonsen & Weel (C‑23/20, EU:C:2021:490), hat der Gerichtshof erstens klargestellt, dass öffentliche Auftraggeber, die von Anbeginn an an der Rahmenvereinbarung beteiligt sind, sich nur bis zu einer Höchstmenge oder einem Höchstwert verpflichten können und dass die Rahmenvereinbarung ihre Wirkung verliert, wenn diese Menge oder dieser Wert erreicht ist. Dies war hier der Fall, da die Vertragsobergrenze auf 121,9 Mio. Euro festgesetzt wurde (siehe oben, Rn. 6).

116    Der Gerichtshof hat zweitens ausgeführt, dass nach Art. 72 der Richtlinie 2014/24 jedoch Änderungen zulässig sind, die ihrer Art nach nicht substanziell sind, da mit der Erfüllung dieser Bedingungen gewährleistet werden kann, dass die in Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24 angeführten Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung beachtet werden. Auch wenn der Gerichtshof damit auf Art. 72 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2014/24 Bezug zu nehmen scheint, wonach „Aufträge und Rahmenvereinbarungen … ohne Durchführung eines neuen Vergabeverfahrens im Einklang mit dieser Richtlinie geändert werden [können,] wenn die Änderungen, unabhängig von ihrem Wert, nicht wesentlich … sind“, kann die gleiche Argumentation entsprechend auf die in Art. 72 Abs. 1 Buchst. b und c der Richtlinie 2014/24 und in Art. 172 Abs. 3 Buchst. a und b der Verordnung 2018/1046 vorgesehenen Fälle angewandt werden.

117    Im vorliegenden Fall hat die Kommission im Rahmen des ersten Klagegrundes nachgewiesen, dass die in Art. 172 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung 2018/1046 vorgesehenen außergewöhnlichen Umstände tatsächlich vorlagen. Daraus folgt, dass die Vertragsänderung unter einen der in Art. 172 der Verordnung 2018/1046 vorgesehenen Fälle fällt.

[nicht wiedergegeben]

119    Vor diesem Hintergrund kann kein Verstoß gegen die Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung festgestellt werden.

[nicht wiedergegeben]

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Vierte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Klage wird abgewiesen.

2.      BT Global Services Belgium trägt die Kosten.

da Silva Passos

Pynnä

Cassagnabère

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 23. Juli 2025.

Unterschriften




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