C-97/24 – The Minister for Children, Equality, Disability, Integration and Youth

C-97/24 – The Minister for Children, Equality, Disability, Integration and Youth

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2025:269

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

LAILA MEDINA

vom 10. April 2025(1)

Rechtssache C97/24

S. A.,

R. J.

gegen

The Minister for Children, Equality, Disability, Integration and Youth,

Irland,

The Attorney General,

Beteiligter:

The United Nations High Commissioner for Refugees

(Vorabentscheidungsersuchen des High Court [Hohes Gericht, Irland])

„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Haftung eines Mitgliedstaats für einen Verstoß gegen das Unionsrecht – Hinreichend qualifizierter Verstoß – Höhere Gewalt – Asylpolitik – Richtlinie 2013/33/EU – Art. 17 und 18 – Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen – Massenzustrom von vorübergehend oder international schutzbedürftigen Personen – Kein Zugang zu im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen – Art. 18 Abs. 9 – Grundbedürfnisse – Erschöpfung der Unterbringungskapazitäten – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 1 und 4 – Menschenwürde und Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung “

1.        Dieses Vorabentscheidungsersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen S. A. und R. J., zwei Personen, die internationalen Schutz beantragt haben (im Folgenden: Antragsteller), einerseits und dem Minister for Children, Equality, Disability, Integration and Youth (Minister für Kinder, Gleichstellung, Integration, Menschen mit Behinderung und Jugend, Irland, im Folgenden: Minister), Irland, und dem Attorney General (Generalstaatsanwalt, Irland) (im Folgenden zusammen: irische Behörden) andererseits, in dem es um die Zuerkennung von Schadensersatz wegen der fehlenden Zurverfügungstellung von Unterkunft, Nahrung, Wasser und anderen im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen zur Befriedigung der Grundbedürfnisse der Antragsteller geht.

2.        Die Antragsteller begehren Schadensersatz mit der Begründung, dass die nationalen Behörden den Verpflichtungen aus der Richtlinie 2013/33/EU zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen(2), nicht nachgekommen seien.

3.        Der Haftungsanspruch nach Unionsrecht stützt sich auf die Rechtsprechung, die sich aus den grundlegenden Urteilen Francovich u. a.(3) und Brasserie du pêcheur und Factortame(4) (im Folgenden zusammen: Francovich-Rechtsprechung) ergibt, in denen der dem System der Verträge, auf denen die Union beruht, innewohnende Grundsatz der Haftung des Staates für Schäden, die dem Einzelnen durch dem Staat zuzurechnende Verstöße gegen das Unionsrecht entstehen(5), festgelegt wurde.

4.        Nach diesem Grundsatz haben die Geschädigten einen Ersatzanspruch, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind: Die unionsrechtliche Norm, gegen die verstoßen worden ist, bezweckt, ihnen Rechte zu verleihen, der Verstoß gegen diese Norm ist hinreichend qualifiziert, und zwischen diesem Verstoß und dem den Geschädigten entstandenen Schaden besteht ein unmittelbarer Kausalzusammenhang (im Folgenden: im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame vorgenommene Prüfung)(6). Die konkrete Anwendung der Kriterien zur Feststellung der Haftung der Mitgliedstaaten für Schäden, die Einzelnen durch Verstöße gegen das Unionsrecht entstanden sind, obliegt entsprechend den vom Gerichtshof hierfür entwickelten Leitlinien grundsätzlich den nationalen Gerichten(7).

5.        Im vorliegenden Fall machen die Antragsteller geltend, dass die drei Teile dieser Prüfung erfüllt seien, während sich die irischen Behörden auf höhere Gewalt berufen, die der Feststellung eines hinreichend qualifizierten Verstoßes und damit der Erfüllung der Anforderungen des zweiten Teils der im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame vorgenommenen Prüfung  entgegenstehe. Die irischen Behörden bestreiten nicht, dass sie es versäumt hätten, den Antragstellern eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen, wie es nach den nationalen Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 2013/33 vorgeschrieben sei. Sie lehnen jedoch einen Schadensersatzanspruch der Antragsteller ab, weil die Verstöße gegen das Unionsrecht durch Umstände verursacht worden seien, die höherer Gewalt gleichkämen und daher nicht „hinreichend qualifiziert“ im Sinne des zweiten Teils dieser Prüfung seien.

6.        Im vorliegenden Fall stellt sich daher die Frage, ob sich die nationalen Behörden auf höhere Gewalt berufen können, um einen Schadensersatzanspruch wegen eines Verstoßes gegen die Richtlinie 2013/33 abzuwehren.

I.      Rechtlicher Rahmen

7.        Einschlägig für die vorliegenden Schlussanträge sind die Art. 2, 17 und 18 der Richtlinie 2013/33. Art. 18 Abs. 9 dieser Richtlinie bestimmt insbesondere:

„In begründeten Ausnahmefällen können die Mitgliedstaaten für einen angemessenen Zeitraum, der so kurz wie möglich sein sollte, andere Modalitäten der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen festlegen als in diesem Artikel vorgesehen, wenn

a)      eine Beurteilung der spezifischen Bedürfnisse des Antragstellers gemäß Artikel 22 erforderlich ist;

b)      die üblicherweise verfügbaren Unterbringungskapazitäten vorübergehend erschöpft sind.

Bei derartig anderen Aufnahmemodalitäten werden unter allen Umständen die Grundbedürfnisse gedeckt.“

8.        Die Richtlinie 2013/33 wird durch die European Communities (Reception Conditions) Regulations 2018(8) (Verordnung von 2018 betreffend die Europäischen Gemeinschaften [Aufnahmebedingungen], im Folgenden: Verordnung von 2018) in irisches Recht umgesetzt.

9.        In der Verordnung werden die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen als „einem Empfänger zum Zweck der Einhaltung der [Richtlinie 2013/33] zur Verfügung gestellt“ definiert und wie folgt beschrieben:

„(a)      Unterkunft, Verpflegung und die damit verbundenen Sachleistungen,

(b)      Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs und

(c)      Kleidung in Form von Geldleistungen gemäß Section 201 des Social Welfare Consolidation Act 2005 [(Kodifiziertes Sozialschutzgesetz von 2005)].“

10.      Die Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs sind definiert als „der Teil der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen, der eine wöchentliche Zahlung darstellt, die im Rahmen eines vom Minister for Employment Affairs and Social Protection [(Minister für Beschäftigung und Sozialschutz)] verwalteten Systems an den Empfänger geleistet wird, damit dieser die anfallenden persönlichen Ausgaben bestreiten kann.“

11.      Regulation 4 der Verordnung von 2018 spiegelt die in Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie vorgesehene Ausnahme für den Fall wider, dass die üblicherweise verfügbaren Unterbringungskapazitäten vorübergehend erschöpft sind, stellt jedoch klar, dass eine solche außergewöhnliche Leistung dennoch „den Grundbedürfnissen des Empfängers“ entsprechen muss.

12.      Das vorlegende Gericht führt aus, dass der High Court (Hohes Gericht) in einem der vor den irischen Gerichten verhandelten Fälle, nämlich in dem Urteil SY/Minister for Children, Equality, Disability, Integration and Youth(9) entschieden habe, dass der Minister gegen seine Verpflichtungen aus der Verordnung von 2018 und aus Art. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verstoßen habe, indem er einer Person, die internationalen Schutz beantragt habe, keine Unterkunft, keine Verpflegung und keine sanitären Einrichtungen zur Verfügung gestellt habe, und dass der High Court (Hohes Gericht) festgestellt habe, dass die fehlende Zurverfügungstellung der nach der Verordnung von 2018 vorgesehenen „im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen“ rechtswidrig sei und die Rechte des Antragstellers aus Art. 1 der Charta verletze. Der Minister legte gegen dieses Urteil kein Rechtsmittel ein. SY machte jedoch keinen Schadensersatzanspruch geltend.

II.    Sachverhalt

13.      S. A., ein afghanischer Staatsangehöriger, und R. J., ein indischer Staatsangehöriger, beantragten am 15. Februar bzw. am 20. März 2023 internationalen Schutz in Irland.

14.      Sie hatten nach der Verordnung von 2018 Anspruch auf im Rahmen der Aufnahme gewährte materielle Leistungen. Eine Unterkunft wurde ihnen jedoch nicht zur Verfügung gestellt. Die Antragsteller erhielten einen Einzelgutschein über 25 Euro. Zum Zeitpunkt der Antragstellung hatten sie keinen Anspruch auf Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs für Asylbewerber, da dieser Anspruch nach Ansicht der irischen Behörden vom Aufenthalt in einem Aufnahmezentrum für Asylbewerber abhängig war.

15.      Die Antragsteller schliefen bei oft nassem und eisigem Wetter in den Straßen von Dublin und gelegentlich in unsicheren Unterkünften.

16.      S. A. gibt an, dass er von einer Nichtregierungsorganisation, dem Irish Refugee Council (Irischer Flüchtlingsrat, IRC), unterstützt worden sei, der ihm eine Liste von Wohltätigkeitsorganisationen in Dublin und Möglichkeiten für Mahlzeiten und Zugang zu sanitären Einrichtungen für Obdachlose zur Verfügung gestellt habe. Er sei Zeuge und Opfer von Gewalt geworden, habe Angst gehabt, angegriffen zu werden, und habe befürchtet, dass man ihn bestehlen würde. Nachdem er einige Wochen auf der Straße geschlafen habe, sei er in ein mehrstöckiges Parkhaus in dem Dorf Skerries in der Nähe von Dublin gezogen. Gelegentlich sei er eingeladen worden, bei afghanischen Mitbürgern zu schlafen. Manchmal habe er zwei Tage lang ohne richtige Mahlzeiten auskommen müssen, weil er es sich nicht habe leisten können, ins Stadtzentrum zu fahren, um sich bei Wohltätigkeitsorganisationen mit Lebensmitteln zu versorgen oder um Lebensmittel zu kaufen. Oft habe er fünf oder sechs Tage lang nicht duschen oder sich waschen können, weil es sehr schwierig gewesen sei, Zugang zu den entsprechenden Einrichtungen zu bekommen. In seinen Aussagen beschrieb er, dass ihm kalt gewesen sei und er sich hungrig, gedemütigt und verängstigt gefühlt habe. Er sei wegen Verletzungen, die er sich bei einem Verkehrsunfall in Ungarn auf dem Weg nach Irland zugezogen habe, notärztlich versorgt worden. Er habe ärztliche Berichte erhalten, in denen die Gehirnerschütterung und die Schmerzen, die er erlitten habe, detailliert beschrieben worden seien, und habe sie dem Minister übersandt, um eine vorrangige Unterbringung aufgrund besonderer Hilfsbedürftigkeit zu erlangen.

17.      R. J. gibt an, dass er, während er in den Straßen von Dublin geschlafen habe, von einer Wohltätigkeitsorganisation ein Zelt, Lebensmittel und Kleidung erhalten habe. Er sei oft hungrig gewesen, habe aber manchmal von Wohltätigkeitsorganisationen Essen bekommen. Er habe jede Nacht befürchtet, dass sein Zelt von Leuten angezündet werden könnte, die es bereits auf andere internationale Schutzsuchende abgesehen gehabt hätten. Er sei nicht in der Lage gewesen, seine hygienischen Bedürfnisse zu erfüllen. Er habe gesundheitliche Probleme bekommen, während er auf der Straße gelebt habe. Er sei verzweifelt gewesen und habe Angst um seine Zukunft und sein Wohlergehen gehabt. Er habe sich allein gefühlt und Angst gehabt.

18.      Die Antragsteller beantragten bei den irischen Behörden, als besonders hilfsbedürftig eingestuft zu werden, ihren Anträgen wurde jedoch nicht stattgegeben.

19.      Nachdem sich die Anspruchsvoraussetzungen für die Unterhaltsbeihilfe geändert hatten, wurde den Antragstellern am 5. bzw. 20. April 2023 rückwirkend ab dem Tag der Einreichung ihrer Anträge auf internationalen Schutz eine Geldleistung zur Deckung des täglichen Bedarfs in Höhe von 38,80 Euro pro Woche gewährt. Zudem hatten sie die Möglichkeit, Zahlungen zur Deckung eines zusätzlichen Ad-hoc-Bedarfs zu beantragen.

20.      S. A. und R. J. wurde am 27. April bzw. 22. Mai 2023 eine Unterkunft zur Verfügung gestellt. Sie waren zu diesem Zeitpunkt seit 71 bzw. 64 Tagen obdachlos.

21.      In der Folge erhoben die Antragsteller beim High Court (Hohes Gericht), dem vorlegenden Gericht, jeweils Klage gegen die irischen Behörden auf Schadensersatz wegen der fehlenden Zurverfügungstellung von Unterkunft, Nahrung, Wasser und anderen im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen, um ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen.

22.      Vor dem High Court (Hohes Gericht) stellen die irischen Behörden nicht in Abrede, dass dem in den Verfahren gestellten Antrag der Antragsteller auf Feststellung eines Verstoßes gegen die nationalen Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 2013/33 und gegen Art. 1 der Charta stattzugeben sei. Sie lehnen jedoch einen Schadensersatzanspruch der Antragsteller ab, weil die Verstöße gegen das Unionsrecht durch Umstände verursacht worden seien, die höherer Gewalt gleichkämen und daher nicht „hinreichend qualifiziert“ im Sinne des zweiten Teils der im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame vorgenommenen Prüfung gewesen seien.

23.      Die irischen Behörden haben sich nicht auf fehlende finanzielle Mittel berufen. Sie machen jedoch geltend, dass aufgrund des noch nie dagewesenen Zustroms von Drittstaatsangehörigen, die in Irland um vorübergehenden oder internationalen Schutz nachgesucht hätten, die Unterbringungskapazitäten der Behörden erschöpft gewesen seien, so dass alleinstehenden, nicht besonders hilfsbedürftigen männlichen Erwachsenen über einen Zeitraum von viereinhalb Monaten von den nationalen Behörden keine Unterkünfte angeboten worden seien. Die Behörden hätten jedoch alle zumutbaren Anstrengungen unternommen, um den Betroffenen eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen und andere Bedürfnisse im Rahmen der Aufnahme zu befriedigen. Somit sei der in Rede stehende Verstoß gegen das Unionsrecht nicht vorsätzlich begangen worden.

24.      Die irischen Behörden argumentieren ferner, dass höhere Gewalt in jedem Fall als eigenständiger Einwand nach Unionsrecht geltend gemacht werden könne.

25.      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass in einem im Jahr 2020 veröffentlichten Bericht Irland geraten worden sei, sich auf die Aufnahme von Antragstellern im Rahmen von etwa 3 500 neuen Anträgen auf internationalen Schutz pro Jahr vorzubereiten. Nach der russischen Invasion in der Ukraine seien jedoch zwischen Februar 2022 und Mai 2023 fast 100 000 Drittstaatsangehörige, die um vorübergehenden oder internationalen Schutz nachgesucht hätten, in Irland angekommen, von denen mehr als 80 000 von den irischen Behörden hätten aufgenommen werden müssen.

26.      Vor diesem Hintergrund stellt sich das vorlegende Gericht die Frage, ob ein Mitgliedstaat höhere Gewalt geltend machen kann, um sich seiner Haftung im Fall eines Verstoßes gegen das Unionsrecht zu entziehen, insbesondere, wenn sich die fraglichen Verpflichtungen aus unverletzlichen Rechten der Charta ableiten und in der Richtlinie 2013/33 in zwingenden, nicht abdingbaren Begriffen abgebildet sind.

27.      Sollte diese Möglichkeit anerkannt werden, sei sodann zu prüfen, ob höhere Gewalt geltend gemacht werden könne, wenn es unmöglich gewesen sei, den jeweiligen Umständen ohne „unverhältnismäßiges Opfer“ zu begegnen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden seien oder wenn es objektiv unmöglich gewesen sei, das Unionsrecht einzuhalten. Die Art der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vorschriften könne eine strenge Prüfung rechtfertigen, zumal der Bedarf an zusätzlichen ständigen Unterbringungskapazitäten ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr unvorhersehbar gewesen sei. Es habe daher erwartet werden können, dass die irischen Behörden, die über ausreichende finanzielle Mittel verfügt hätten, Anstrengungen unternehmen würden, um für die betroffenen Personen Privatunterkünfte zu beschaffen, sei es durch Unterbringungsgutscheine oder höhere finanzielle Unterstützung oder die Errichtung von Notunterkünften.

28.      Vor diesem Hintergrund hat der High Court (Hohes Gericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist die Berufung auf „höhere Gewalt“ als Einwand gegen eine Schadensersatzforderung nach Francovich wegen der Verletzung einer Verpflichtung aus dem Unionsrecht, die dem Einzelnen Rechte verleiht, die sich aus dem in Art. 1 der Charta enthaltenen Grundrecht auf Menschenwürde ableiten (sei es als Einwand im Rahmen des zweiten Teils der Prüfung nach Brasserie du pêcheur/Factortame oder auf andere Weise), zulässig, wenn „höhere Gewalt“ in der einschlägigen Richtlinie oder in der einschlägigen Verordnung zur Umsetzung der Richtlinie nicht als Einwand vorgesehen ist?

2.      Wenn die erste Frage bejaht wird, wie lauten die Voraussetzungen und der korrekte Anwendungsbereich dieses Einwands der höheren Gewalt?

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

29.      Die Antragsteller, der Minister, die italienische Regierung, der United Nations High Commissioner for Refugees (Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen) und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Die Antragsteller, der Minister, die italienische Regierung und die Kommission haben in der Sitzung vom 5. Februar 2025 mündlich verhandelt.

IV.    Würdigung

30.      Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob ein Mitgliedstaat im Rahmen einer Schadensersatzklage, die auf Staatshaftungsansprüche wegen der Verletzung von unionsrechtlichen Verpflichtungen aus der Richtlinie 2013/33 gestützt ist, die Teil des in Art. 1 der Charta verankerten Grundrechts auf Menschenwürde sind, den Einwand der höheren Gewalt  geltend machen kann. Sollte dies der Fall sein, ersucht das vorlegende Gericht ferner um Klärung des Begriffs des „hinreichend qualifizierten“ Verstoßes im Sinne des Unionsrechts und der Voraussetzungen, unter denen ein solcher Einwand geltend gemacht werden kann.

31.      Bevor auf die Frage eingegangen wird, ob im Rahmen einer Schadensersatzklage nach der FrancovichRechtsprechung der Einwand der höheren Gewalt zulässig ist, ist darauf hinzuweisen, dass die vom vorlegenden Gericht gestellte Frage offenbar auf der Annahme beruht, dass der in Rede stehende Sachverhalt nicht unter Art. 18 Abs. 9 Buchst. b der Richtlinie 2013/33 fällt, der die Fälle regelt, in denen die üblicherweise verfügbaren Unterbringungskapazitäten vorübergehend erschöpft sind. Daher ist zunächst zu prüfen, ob diese Vorschrift auf den vorliegenden Sachverhalt anwendbar sein kann.

32.      Fällt der in Rede stehende Sachverhalt unter Art.18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33, so legt diese Vorschrift einen Rahmen fest, innerhalb dessen die Mitgliedstaaten handeln müssen. In diesem Fall stellt sich die Frage der höheren Gewalt nur, wenn die Umstände des vorliegenden Falles vom Gesetzgeber nicht bedacht wurden.

33.      Insoweit hat der Gerichtshof im Urteil vom 8. Juni 2023, UFC – Que choisir und CLCV(10), im Zusammenhang mit der Pauschalreiserichtlinie(11) festgestellt, dass der Begriff „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ eine konkrete Ausprägung des Begriffs der höheren Gewalt im Rahmen der Richtlinie darstellt, auch wenn dieser Ausdruck in der Richtlinie nicht vorkommt(12). In einem anderen Zusammenhang hat der Gerichtshof im Urteil vom 26. September 2013, ÖBB-Personenverkehr, entschieden, dass in der Verordnung über die Rechte der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr bewusst keine Befreiung von der Entschädigungspflicht aufgrund unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände vorgesehen wird(13). In Anlehnung an diese Rechtsprechung könnte man argumentieren, dass der Unionsgesetzgeber mit der Ausnahmeregelung in Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33 die Angelegenheit bereits geregelt hat und damit keine Notwendigkeit zur Prüfung eines allgemeinen Einwands der höheren Gewalt besteht. Dies würde die Diskussion über die Zulässigkeit dieses Einwands in einer auf der Francovich-Rechtsprechung beruhenden Klage überflüssig machen.

34.      Aus diesem Grund sind die vorliegenden Schlussanträge in zwei Teile gegliedert. Erstens werde ich die Definition des Begriffs der höheren Gewalt untersuchen und prüfen, ob Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33 in Fällen, in denen die Unterbringungskapazitäten aufgrund eines Massenzustroms von Personen, die internationalen Schutz benötigen, nach Irland erschöpft sind, eine spezifische Ausprägung dieses Begriffs darstellen kann (Abschnitt A). Zweitens werde ich den Einwand der  höheren Gewalt im Rahmen des zweiten Teils der im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame vorgenommenen Prüfung untersuchen und seine Auswirkungen für die Feststellung des Vorliegens eines hinreichend qualifizierten Verstoßes prüfen (Abschnitt B).

A.      Zur Anwendbarkeit von Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33

1.      Anwendungsbereich des Einwands der höheren Gewalt

35.      Zunächst ist festzustellen, dass der Begriff der höheren Gewalt bereits in verschiedenen Bereichen des Unionsrechts vor dem Gerichtshof geltend gemacht worden ist und dass darunter nach der Rechtsprechung „ungewöhnliche und unvorhersehbare Ereignisse zu verstehen [sind], auf die derjenige, der sich darauf beruft, keinen Einfluss hat und deren Folgen trotz Anwendung der gebotenen Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können“(14). Da der Begriff der höheren Gewalt auf den verschiedenen Anwendungsgebieten des Unionsrechts nicht den gleichen Inhalt hat, ist seine Bedeutung anhand des rechtlichen Rahmens zu bestimmen, innerhalb dessen er seine Wirkungen entfalten soll(15).

36.      Im Rahmen von Vertragsverletzungsklagen nach Art. 258 AEUV hat der Gerichtshof anerkannt, dass höhere Gewalt eine Rechtfertigung dafür sein kann, dass ein Mitgliedstaat seinen Verpflichtungen aus dem Unionsrecht nicht nachkommt. Es wurde nämlich anerkannt, dass sich ein Mitgliedstaat, der zeitweise auf unüberwindliche Schwierigkeiten stößt, die ihn an der Erfüllung seiner Verpflichtungen aus dem Unionsrecht hindern, auf höhere Gewalt berufen kann(16).

37.      Aus der Rechtsprechung ergibt sich jedoch, dass die Schwelle für den Nachweis von Umständen, die höherer Gewalt gleichkommen, hoch ist. Selbst bei ungewöhnlichen und unvorhersehbaren Umständen ist ein Mitgliedstaat verpflichtet, alle in seiner Macht stehenden Maßnahmen zu ergreifen, um das Unionsrecht einzuhalten(17). Im Urteil Vilkas im Zusammenhang mit einem Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl wurde der insoweit anzulegende Maßstab dahin gehend formuliert, dass die Folgen unvorhergesehener und unvorhersehbarer Ereignisse trotz Anwendung der gebotenen Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können(18), was ein eng auszulegender Begriff ist(19). Diese Formulierung wurde zuletzt im Urteil UFC – Que choisir und CLCV übernommen(20). Wie aus der Formulierung „zeitweise … unüberwindliche Schwierigkeiten“(21) deutlich wird, hat die enge Auslegung des Begriffs der höheren Gewalt außerdem zur Folge, dass die unionsrechtliche Verpflichtung nur für die Dauer des Ereignisses und für einen angemessen kurzen Zeitraum ausgesetzt werden kann, wenn das Ereignis, das die Unmöglichkeit ihrer Erfüllung verursacht, vorübergehend ist.

38.      Es ist ferner allgemein anerkannt, dass interne Schwierigkeiten die Nichteinhaltung der aus dem Unionsrecht folgenden Verpflichtungen nicht rechtfertigen können(22). Darüber hinaus kann sich höhere Gewalt  nicht auf Schwierigkeiten interner Art beziehen, die sich aus der politischen oder administrativen Organisation eines Mitgliedstaats ergeben oder auf fehlende Befugnisse, Kenntnisse oder Mittel zurückzuführen sind(23).

39.      In der Rechtsprechung, zuletzt während der Covid‑19-Pandemie, haben sich einige Mitgliedstaaten wegen der beispiellosen Gesundheitskrise auf höhere Gewalt berufen(24). Der Gerichtshof hat jedoch entschieden, dass diese Pandemie zwar unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände darstellte, aber nicht automatisch eine allgemeine Aussetzung der Verpflichtungen aus dem Unionsrecht rechtfertigte. Der Gerichtshof verlangte einen konkreten Nachweis darüber, wie die Pandemie den betreffenden Mitgliedstaat unmittelbar an der Einhaltung der in Rede stehenden Richtlinie gehindert hat und warum keine alternativen Maßnahmen hätten ergriffen werden können, um die Verpflichtungen aus dem Unionsrecht zu erfüllen(25).

40.      Nach alledem kann sich ein Mitgliedstaat, der zeitweise auf unüberwindliche Schwierigkeiten stößt, die ihn an der Erfüllung seiner spezifischen Verpflichtungen aus dem Unionsrecht hindern, also auf höhere Gewalt berufen, allerdings nur für den Zeitraum, der zur Ausräumung dieser Schwierigkeiten erforderlich ist.

2.      Ist Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33 eine spezifische Ausprägung des Begriffs der höheren Gewalt?

41.      Die Richtlinie 2013/33 legt Mindestnormen für die Aufnahme fest(26). Art. 17 der Richtlinie enthält allgemeine Bestimmungen zu materiellen Leistungen im Rahmen der Aufnahme und zur medizinischen Versorgung(27). Nach Art. 17 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2013/33 tragen die Mitgliedstaaten insbesondere dafür Sorge, dass Antragsteller ab Stellung des Antrags auf internationalen Schutz im Rahmen der Aufnahme materielle Leistungen in Anspruch nehmen können. Die Mitgliedstaaten müssen ferner dafür sorgen, dass die zu diesem Zweck ergriffenen Maßnahmen einem angemessenen Lebensstandard entsprechen, der den Lebensunterhalt sowie den Schutz der physischen und psychischen Gesundheit von Antragstellern gewährleistet. In Art. 18 der Richtlinie 2013/33 sind die Modalitäten der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen festgelegt.

42.      Art. 18 Abs. 9 Buchst. b der Richtlinie 2013/33 sieht vor, dass „[i]n begründeten Ausnahmefällen … die Mitgliedstaaten für einen angemessenen Zeitraum, der so kurz wie möglich sein sollte, andere Modalitäten der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen festlegen [können] als in diesem Artikel vorgesehen, wenn … die üblicherweise verfügbaren Unterbringungskapazitäten vorübergehend erschöpft sind“. Damit wird den Mitgliedstaaten gestattet, ausnahmsweise von den standardmäßig im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen abzuweichen, sofern eine solche Abweichung begründet ist und nur für einen angemessenen Zeitraum, der so kurz wie möglich ist, gilt.

43.      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Ausnahmeregelungen sieht diese Bestimmung eine konkrete und gezielte Anwendung vor, um bestimmten Erfordernissen und besonderen Situationen Rechnung zu tragen(28). Darüber hinaus ist Art. 18 Abs. 9 Buchst. b der Richtlinie 2013/33 als Ausnahmeregelung eng auszulegen, und die Beweislast für das Vorliegen der erforderlichen Voraussetzungen für jede Ausnahme muss die Stelle treffen, die über sie entscheidet(29). Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind.

44.      Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33 soll den Mitgliedstaaten ein gewisses Maß an Flexibilität bieten, um in außergewöhnlichen Situationen handlungsfähig zu sein. In dieser Bestimmung wird der Begriff „höhere Gewalt“ zwar nicht ausdrücklich verwendet, sie enthält aber die Formulierungen „in begründeten Ausnahmefällen“ und „angemessener Zeitraum“. Diese Elemente können als spezifische Ausprägung der Voraussetzungen für höhere Gewalt verstanden werden, die ungewöhnlichen, unvorhersehbaren Umständen entsprechen, sofern das Ereignis, das die mangelnde Unterbringungskapazität verursacht, einem ungewöhnlichen, unvorhersehbaren Ereignis entspricht. Diese Bestimmung könnte daher als spezifische gesetzgeberische Anerkennung außergewöhnlicher Umstände ausgelegt werden, die eine zeitlich begrenzte Befreiung von den in Art. 18 der Richtlinie 2013/33 festgelegten Verpflichtungen rechtfertigen. Eine dieser Ausnahmesituationen ist die vorübergehende Erschöpfung der üblicherweise verfügbaren Unterbringungskapazitäten, sofern das Ereignis, das die mangelnde Unterbringungskapazität verursacht, nachweislich unvorhersehbar und ungewöhnlich ist.

45.      Daraus folgt, dass Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33 so ausgelegt werden kann, dass er Fälle regelt, in denen außergewöhnliche Umstände vorliegen, und somit dem Begriff der höheren Gewalt eine konkrete Ausprägung gibt. Wenn die ungewöhnlichen, unvorhersehbaren Umstände zu einer Erschöpfung der Unterbringungskapazitäten führen, so dass die üblichen Aufnahmestandards nicht mehr gewährleistet werden können(30), fällt die Situation für den Zeitraum, der zur Ausräumung dieser Schwierigkeiten erforderlich ist, unter Art. 18 Abs. 9 Buchst. b der Richtlinie.

46.      Insoweit stellte der Gerichtshof in seinem Urteil Kommission/Ungarn (Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen)(31) fest, dass „der Unionsgesetzgeber … beim Erlass der [Richtlinie 2013/33] auch dem Fall Rechnung getragen [hat], dass ein Mitgliedstaat einen ganz erheblichen Anstieg der Zahl von Personen, die internationalen Schutz beantragen, bewältigen muss“, und fügte hinzu, dass „Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33 [gestattet], teilweise von den Bestimmungen der Richtlinie abzuweichen, wenn … die Unterbringungskapazitäten der Aufnahmeeinrichtungen erschöpft sind“(32). Aus diesem Urteil lässt sich ableiten, dass Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33 das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände regelt, unter denen die Unterbringungskapazitäten für Personen, die internationalen Schutz beantragen, erschöpft sind. Insbesondere die Bezugnahme auf einen „ganz erheblichen Anstieg“ der Zahl von Personen, die internationalen Schutz beantragen, macht deutlich, dass diese Bestimmung außergewöhnliche Situationen regeln soll und nicht bloße normale Schwierigkeiten.

47.      Zudem kann in Anbetracht dessen, dass ein Ereignis wie die Covid‑19-Pandemie als ein Ereignis angesehen wurde, das potenziell in den Anwendungsbereich einer Richtlinie wie der Pauschalreiserichtlinie fällt, entsprechend auch ein Ereignis wie der Massenzustrom von Flüchtlingen vom Gesetzgeber geregelt werden und somit in den Rahmen einer Richtlinie fallen. Wenn der Gerichtshof darüber hinaus anerkennt, dass außergewöhnliche Umstände durch sekundärrechtliche Vorschriften im Bereich des Verbraucherrechts nach der Pauschalreiserichtlinie spezifisch geregelt werden können, kann vernünftigerweise davon ausgegangen werden, dass auch soziale Grundrechte – wie die in der Richtlinie 2013/33 vorgesehenen – in Extremsituationen wie einem Massenzustrom von Flüchtlingen, der zur Erschöpfung der vorhandenen Unterbringungskapazitäten führt, einer Regelung durch den Gesetzgeber unterliegen können, sofern die Situation unvorhersehbar war, weil sie über alle vernünftigen Prognosen hinausging.

48.      Ein solcher Massenzustrom von Flüchtlingen kann jedoch zeitlich nicht unbegrenzt als Ausnahmesituation angesehen werden, da sie ab einem bestimmten Zeitpunkt ihren Charakter als ungewöhnliches, unvorhersehbares Ereignis verliert. Der Verweis auf einen „angemessenen Zeitraum“ in Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33 stützt diese Auslegung. Darüber hinaus enthält diese Bestimmung das Erfordernis eines „begründeten Ausnahmefalls“, das nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs einen konkreten Nachweis dafür voraussetzt, dass ein Massenzustrom von um Schutz nachsuchenden Personen den Mitgliedstaat an der Einhaltung der in Rede stehenden Richtlinie gehindert hat. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind.

49.      Das legt den Schluss nahe, dass im vorliegenden Fall die Berufung auf Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33 als zulässiger Einwand angesehen werden sollte, sofern die Ausräumung der Schwierigkeiten einen angemessenen Zeitraum in Anspruch nimmt. Daraus folgt, dass sich der Mitgliedstaat nach Ablauf dieses Zeitraums nicht mehr auf diese Bestimmung berufen kann. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass Art. 18 Abs. 9 Buchst. a und b dieser Richtlinie zwei ganz besonders gelagerte Fälle regelt, nämlich die Beurteilung der spezifischen Bedürfnisse des Antragstellers (a) und die vorübergehende Erschöpfung der Unterbringungskapazitäten (b). Daraus folgt, dass Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33 keine anderen Fälle (wie z. B. Naturkatastrophen oder Kriege, die in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof erörtert worden sind) regelt, in denen aufgrund unüberwindlicher Schwierigkeiten, die in dem betreffenden Mitgliedstaat oder in dessen naher Umgebung auftreten, Unterbringungsmöglichkeiten nicht vorhanden sind oder fehlen. Daher schließt die Auslegung von Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33 als spezifische Ausprägung des Begriffs der höheren Gewalt nicht aus, dass sich Mitgliedstaaten in anderen Fällen auf höhere Gewalt als allgemeinen Einwand berufen können.

50.      Abschließend ist somit festzustellen, dass Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33 angesichts seiner eindeutigen Funktion als begrenzte Ausnahmeregelung für außergewöhnliche Umstände als spezifische Ausprägung des Begriffs der höheren Gewalt anzusehen ist. Folglich kann ein Massenzustrom von Personen, die internationalen Schutz beantragen, nicht als eigenständiger Einwand höherer Gewalt gelten, da diese Bestimmung bereits einen Rahmen für die Bewältigung eines solchen Zustroms vorsieht. Im vorliegenden Fall können sich die Behörden eines Mitgliedstaats außerhalb des Rahmens von Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33 nicht auf höhere Gewalt als Rechtfertigung dafür berufen, dass sie nicht für die Erfüllung der Grundbedürfnisse einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, gesorgt haben(33).

51.      Handelt es sich jedoch nicht um eine vorübergehende Erschöpfung der Unterbringungskapazitäten aufgrund einer großen Zahl von Anträgen auf internationalen Schutz, könnte höhere Gewalt – als eigenständiger und allgemeiner Entschuldigungsgrund – im Rahmen des zweiten Teils der im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame vorgenommenen Prüfung einschlägig sein.

52.      Daraus folgt, dass eine Situation der vorübergehenden Erschöpfung der Unterbringungskapazitäten aufgrund eines Massenzustroms von Flüchtlingen unter Art. 18 Abs. 9 Buchst. b der Richtlinie 2013/33 fällt, sofern das nationale Gericht feststellt, dass die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Bestimmung erfüllt sind. In diesem Fall sollten die vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen umformuliert werden, da die Voraussetzungen für die Anwendung der im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame vorgenommenen Prüfung  in der Annahme untersucht werden, dass Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33 auf die in Rede stehende Situation anwendbar ist.

3.      Umformulierung der Vorlagefragen

53.      Sollte der Gerichtshof zu dem Befund kommen, dass Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33 auf den Fall eines Massenzustroms von Personen, die internationalen Schutz beantragen, anwendbar ist, der zur Erschöpfung der üblicherweise verfügbaren Unterbringungskapazitäten im Aufnahmemitgliedstaat führt, sollten die Vorlagefragen dahin umformuliert werden, dass das vorlegende Gericht den Gerichtshof fragt, ob Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33 im Licht des in Art. 1 der Charta verankerten Rechts auf Menschenwürde angesichts seiner eindeutigen Funktion als begrenzte Ausnahmeregelung für außergewöhnliche Umstände dahin auszulegen ist, dass er es diesem Mitgliedstaat im Rahmen einer Schadensersatzklage verwehrt, sich wegen der Erschöpfung der Unterbringungskapazitäten aufgrund eines solchen Zustroms auf höhere Gewalt zu berufen.

4.      Durchführung der im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame vorgenommenen Prüfung

a)      Verst gegen das Unionsrecht

54.      Da in den Art. 17 und 18 der Richtlinie 2013/33 die allgemeine Verpflichtung zur Bereitstellung der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen, einschließlich der Unterbringung, festgelegt ist, würde eine Nichteinhaltung dieser Bestimmungen grundsätzlich einen Verstoß darstellen. Wenn Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33 jedoch eine Ausnahme für den Fall einer vorübergehenden Erschöpfung der Unterbringungskapazitäten zulässt und als eine Ausprägung des Begriffs der höheren Gewalt ausgelegt wird, wäre die fehlende Bereitstellung einer Unterbringung durch den Mitgliedstaat nicht zwangsläufig als rechtswidrig anzusehen, sofern die Voraussetzungen für die Berufung auf diese Bestimmung erfüllt sind. In diesem Fall würde sich der Verstoß im Sinne der im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame vorgenommenen Prüfung  nicht unmittelbar aus den Art. 17 und 18 der Richtlinie 2013/33 ergeben, sondern vielmehr aus einer möglichen fehlerhaften Anwendung oder missbräuchlichen Berufung auf Art. 18 Abs. 9 dieser Richtlinie. Wenn sich ein Mitgliedstaat zu Unrecht auf höhere Gewalt  nach Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33 beruft, ohne dass die dafür erforderlichen Voraussetzungen erfüllt sind, würde der Verstoß diese Bestimmung selbst betreffen.

55.      Folglich kann der Mitgliedstaat bei einer fehlerhaften Anwendung von Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33 – z. B. wenn die Voraussetzungen für eine Ausnahme nicht erfüllt sind – immer noch gegen seine Verpflichtungen aus dieser Richtlinie verstoßen. In einem solchen Fall könnte eine Staatshaftung entstehen, sofern der Verstoß nach Unionsrecht hinreichend qualifiziert ist.

b)      Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen das Unionsrecht

1)      In der Rechtsprechung festgelegte Prüfung

56.      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs liegt in Fällen, in denen der Mitgliedstaat über einen Wertungsspielraum verfügt, ein hinreichend qualifizierter Verstoß vor, wenn eine offenkundige, erhebliche Überschreitung der Grenzen dieses Wertungsspielraums erfolgt ist(34). Aus diesem Grund werden die Kriterien der im Urteil  Brasserie du pêcheur und Factortame vorgenommenen Prüfung  als „vom Wertungsspielraum abhängig“ bezeichnet(35).

57.      In Rn. 55 des Urteils Brasserie du pêcheur und Factortame stellte der Gerichtshof fest, dass das entscheidende Kriterium für die Beurteilung der Frage, ob ein Verstoß gegen das Unionsrecht als hinreichend qualifiziert anzusehen ist, darin besteht, dass ein Mitgliedstaat oder ein Unionsorgan die Grenzen, die seinem Wertungsspielraum gesetzt sind, offenkundig und erheblich überschritten hat. Zur Beurteilung der Frage, ob ein Mitgliedstaat die Grenzen, die seinem Wertungsspielraum gesetzt sind, offenkundig und erheblich überschritten hat, hat der Gerichtshof bestimmte Gesichtspunkte aufgeführt, die gegebenenfalls zu berücksichtigen sind(36). In Rn. 56 des oben genannten Urteils führte der Gerichtshof aus, dass zu den Gesichtspunkten, die das zuständige Gericht gegebenenfalls zu berücksichtigen hat, das Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift, der Umfang des Wertungsspielraums, den die verletzte Vorschrift den nationalen oder Unionsbehörden belässt, die Frage, ob der Verstoß vorsätzlich oder nicht vorsätzlich begangen oder der Schaden vorsätzlich oder nicht vorsätzlich zugefügt wurde, die Entschuldbarkeit oder Unentschuldbarkeit eines etwaigen Rechtsirrtums(37) und der Umstand gehören, dass das Verhalten eines Unionsorgans möglicherweise dazu beigetragen hat, dass nationale Maßnahmen oder Praktiken in unionsrechtswidriger Weise unterlassen, eingeführt oder aufrechterhalten wurden(38). Jedenfalls ist ein Verstoß gegen das Unionsrecht offenkundig qualifiziert, wenn er trotz des Erlasses eines Urteils, in dem der zur Last gelegte Verstoß festgestellt wird, eines Urteils im Vorabentscheidungsverfahren oder einer gefestigten einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, woraus sich die Pflichtwidrigkeit des fraglichen Verhaltens ergibt, fortbestanden hat(39).

58.      Verfügte der Mitgliedstaat jedoch nur über einen erheblich verringerten oder gar auf null reduzierten Wertungsspielraum, kann die bloße Verletzung des Unionsrechts ausreichen, um einen hinreichend qualifizierten Verstoß anzunehmen(40).

2)      Räumt Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33 den Mitgliedstaaten einen Wertungsspielraum ein?

59.      Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33 räumt den Mitgliedstaaten offensichtlich einen gewissen Wertungsspielraum im Umgang mit Situationen ein, in denen die Unterbringungskapazitäten erschöpft sind. Die Bestimmung gestattet den Mitgliedstaaten insoweit, in Ausnahmefällen andere Modalitäten der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen festzulegen, wenn die Unterbringungskapazitäten vorübergehend erschöpft sind. Das legt nahe, dass die Mitgliedstaaten über eine gewisse Flexibilität bei der Entscheidung verfügen, wie sie die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen bereitstellen, wenn keine Unterbringungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33 nicht exakt vorgibt, wie die Mitgliedstaaten mit Kapazitätsengpässen umzugehen haben, was bedeutet, dass sie über einen gewissen Wertungsspielraum bei der Entscheidung darüber verfügen, welche konkreten Maßnahmen zu ergreifen sind – ob es sich um Notunterkünfte, vorübergehende Unterbringung, finanzielle Unterstützung oder andere Lösungen handelt. Diese Schlussfolgerung wird durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs gestützt, aus der klar hervorgeht, dass die Verpflichtung, im Rahmen der Aufnahme gewährte materielle Leistungen zur Verfügung zu stellen, zwingend ist, die Mitgliedstaaten jedoch über einen gewissen Wertungsspielraum verfügen, wie genau dies sicherzustellen ist(41).

60.      So hat der Gerichtshof beispielsweise in seinem Urteil Saciri anerkannt, dass die Mitgliedstaaten in Bezug auf die Frage, wie sie die materiellen Aufnahmebedingungen gewähren – entweder durch direkte Unterbringung oder durch Geldleistungen – über einen gewissen Beurteilungsspielraum verfügen. Wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung jedoch zu Recht ausgeführt hat, bezieht sich dieser Beurteilungsspielraum auf die eingesetzten Mittel, nicht aber auf das grundsätzliche Erfordernis der Gewährung. In diesem Urteil ging es zwar um allgemeine Verpflichtungen im Rahmen der Aufnahme und nicht um Ausnahmefälle im Sinne von Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33, aber der Grundsatz, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen der unionsrechtlichen Vorgaben über eine gewisse Flexibilität bei der Umsetzung verfügen, ist auch für den vorliegenden Fall von Bedeutung.

61.      Es ist zu berücksichtigen, dass Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33 sowohl die Grundlage als auch die Grenzen der Befugnis der Mitgliedstaaten festlegt, von Art. 18 Abs. 1 bis Abs. 8 abzuweichen – und nicht von den weiteren Verpflichtungen aus der Richtlinie oder aus dem Asylrecht der Union insgesamt. Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33 räumt den Mitgliedstaaten nur einen sehr begrenzten Wertungsspielraum ein, da er nur von der Festlegung anderer Modalitäten der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen spricht. Zudem legt Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33 unmissverständlich eine Verpflichtung zur Deckung der „Grundbedürfnisse“ von Personen, die internationalen Schutz beantragen, fest. Daraus folgt, dass die Mitgliedstaaten zwar die Methode für die Gewährung der Aufnahmebedingungen wählen können, sich aber nicht ihrer Verpflichtung aus dem Unionsrecht entziehen können, für die Erfüllung der Grundbedürfnisse wie eine angemessene Unterbringung von Personen, die internationalen Schutz beantragen, zu sorgen(42), um sicherzustellen, dass die Grundrechte dieser Personen geachtet werden.

62.      Insoweit ist zu beachten, dass die Richtlinie 2013/33 die uneingeschränkte Achtung des Grundrechts auf Menschenwürde gewährleisten soll, das in Art. 1 der Charta verankert ist, der eng mit Art. 4 der Charta verbunden ist(43). Das Recht auf Menschenwürde ist ein absolutes und nicht abdingbares Recht(44), das die Grundlage für andere Grundrechte bildet und nicht eingeschränkt werden kann.

63.      Dementsprechend hat der Gerichtshof wiederholt bekräftigt, dass die allgemeine Systematik und der Zweck der Richtlinie 2013/33 wie auch die Wahrung der Menschenwürde nach Art. 1 der Charta es den Mitgliedstaaten absolut verbieten, einem Asylbewerber die in dieser Richtlinie festgelegten im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen zu entziehen, und sei es nur zeitweilig(45). Was die Qualität der von den Mitgliedstaaten zu erfüllenden Mindestnormen angeht, so heißt es im elften Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/33, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, ein „menschenwürdiges Leben“ ermöglicht werden muss(46).

64.      Insbesondere im Urteil Saciri betonte der Gerichtshof, dass Leistungen, unabhängig davon, ob die materiellen Aufnahmebedingungen als Sachleistungen oder in Form von Geldleistungen oder Gutscheinen gewährt werden, hoch genug sein müssen, um „die Grundbedürfnisse der Asylbewerber zu decken“(47), d. h. dass sie für ein menschenwürdiges Leben ausreichen müssen, bei dem die Gesundheit und der Lebensunterhalt der Antragsteller gewährleistet sind, indem sie in die Lage versetzt werden, eine Unterkunft zu finden, gegebenenfalls auf dem privaten Wohnungsmarkt(48). Für den vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof ausdrücklich festgestellt hat, dass die Mitgliedstaaten darauf achten müssen, dass die nationalen Behörden die Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern einhalten, und dass die Vollauslastung der Aufnahmenetze keinerlei Abweichung von diesen Normen rechtfertigt(49).

65.      Ferner hat der Gerichtshof entschieden, dass die Achtung der Menschenwürde im Sinne von Art. 1 der Charta verlangt, dass der Betroffene nicht in eine Situation extremer materieller Not gerät, die es ihm nicht erlaubt, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie etwa eine Unterkunft zu finden, sich zu ernähren, zu kleiden und zu waschen, und die seine physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder ihn in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre(50). Außerdem hat der Gerichtshof festgestellt, dass Art. 4 der Charta verletzt ist, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre(51).

66.      Insoweit hat der Gerichtshof in einer Rechtssache, in der es um den Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen ging, bekräftigt, dass der Entzug sämtlicher im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen oder der in diesem Rahmen gewährten Leistungen in Bezug auf Unterkunft, Verpflegung und Kleidung, und sei es nur zeitweilig, mit der Verpflichtung, einen würdigen Lebensstandard für den Antragsteller zu gewährleisten, unvereinbar wäre, weil sie ihm die Möglichkeit nähme, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie etwa eine Unterkunft zu finden, sich zu ernähren, zu kleiden und zu waschen(52).

67.      Vor diesem Hintergrund bin ich der Ansicht, dass Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33 im Licht des Rechts auf Menschenwürde und des Schutzes vor unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, die in den Art. 1 und 4 der Charta verankert sind, dahin auszulegen ist, dass er erstens eine spezifische Ausprägung des Begriffs der höheren Gewalt darstellt, angesichts seiner eindeutigen Funktion als begrenzte Ausnahmeregelung für außergewöhnliche Umstände, dass er zweitens auf den Fall eines Massenzustroms von Personen, die internationalen Schutz beantragen, der zur Erschöpfung der üblicherweise verfügbaren Unterbringungskapazitäten im Aufnahmemitgliedstaat führt, anwendbar ist, und dass er drittens diesen Mitgliedstaat im Rahmen einer Schadensersatzklage daran hindert, sich wegen der Erschöpfung der Unterbringungskapazitäten aufgrund eines solchen Zustroms auf höhere Gewalt zu berufen.

68.      Für den Fall, dass der Gerichtshof zu dem Schluss kommen sollte, dass die Rechtssache nicht auf der Grundlage von Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33 entschieden werden kann, und es für erforderlich halten sollte, die Zulässigkeit der Berufung auf höhere Gewalt als eigenständigen Einwand zu prüfen, mache ich hilfsweise die nachfolgenden Ausführungen.

B.      Höhere Gewalt als eigenständiger Einwand

69.      Ausgehend von der Annahme, dass höhere Gewalt als eigenständiger Einwand gegen einen Schadensersatzanspruch wegen Verstoßes eines Mitgliedstaats gegen die Richtlinie 2013/33 geltend gemacht werden kann, fragt das vorlegende Gericht, ob dieser Einwand unter den Umständen des vorliegenden Falles zulässig ist.

1.      Bestimmung der durch den betreffenden Mitgliedstaat verletzten Vorschrift

70.      Vorab ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht nicht dargelegt hat, gegen welche Vorschrift der Richtlinie 2013/33 der betreffende Mitgliedstaat verstoßen haben soll. Stattdessen beruft es sich auf einen Verstoß gegen „unionsrechtliche Verpflichtungen“, die sich aus „unverletzlichen Rechten der Charta (hier Art. 1)“ ableiten, „in [dieser] Richtlinie in zwingenden, nicht abdingbaren Begriffen abgebildet sind, und die sich auf die grundlegendsten Bedürfnisse beziehen, die für einen Mindeststandard an Menschenwürde erforderlich sind“.

71.      Meines Erachtens ist vor der Durchführung des zweiten Teils der im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame vorgenommenen Prüfung zu bestimmen, gegen welche Vorschrift der betreffende Mitgliedstaat verstoßen haben soll.

72.      Nach den diesbezüglichen Ausführungen in der dem Gerichtshof vorgelegten Akte dient die höhere Gewalt, wenn sie als Grund für die Nichteinhaltung der Richtlinie 2013/33 geltend gemacht wird, als „pauschaler Rechtfertigungsgrund“, da sie die Nichteinhaltung aller Bestimmungen dieser Richtlinie rechtfertigen könne. Die Prüfung der Ansprüche der Antragsteller hat jedoch ergeben, dass die Bestimmungen, gegen die Irland verstoßen haben soll, in den Art. 17 und 18 der Richtlinie 2013/33 enthalten sind. Auch wenn es Sache des vorlegenden Gerichts ist, die konkrete Bestimmung, gegen die verstoßen worden sein soll, zu benennen, wird für die vorliegenden Zwecke davon ausgegangen, dass die fragliche Bestimmung in diesen beiden Artikeln der Richtlinie 2013/33 enthalten ist.

2.      Zweiter Teil der im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame vorgenommenen Prüfung und Würdigung des Wertungsspielraums

73.      Der Minister macht geltend, dass das nationale Gericht hinsichtlich des Vorliegens eines hinreichend qualifizierten Verstoßes u. a. berücksichtigen müsse, ob der Verstoß vorsätzlich oder nicht vorsätzlich begangen worden sei, ob ein entschuldbarer oder unentschuldbarer Rechtsfehler vorgelegen habe und welches Verhalten die Unionsorgane an den Tag gelegt hätten. Er macht im Wesentlichen geltend, dass der Massenzustrom ukrainischer Flüchtlinge nach Beginn des Krieges im Jahr 2022 und der Anstieg der Zahl der Personen, die internationalen Schutz beantragt hätten, nach der Covid‑19-Pandemie einen Fall höherer Gewalt dargestellt hätten, so dass die Verletzung der Rechte der Antragsteller nicht vorsätzlich gewesen sei.

74.      Wie oben ausgeführt, ist der zweite Teil der im Urteil  Brasserie du pêcheur und Factortame vorgenommenen Prüfung vom Wertungsspielraum abhängig(53). Insoweit ist zu unterscheiden zwischen einem Verstoß gegen die Verpflichtung zur Deckung der „Grundbedürfnisse“ im Sinne von Art.18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33 einerseits und einem Verstoß gegen die in den Art. 17 und 18 dieser Richtlinie enthaltenen anderen Verpflichtungen andererseits, da die Mitgliedstaaten im Rahmen der Umsetzung dieser Bestimmungen nicht in beiden Fällen über denselben Wertungsspielraum verfügen. Anders als bei dem Begriff „Grundbedürfnisse“ in Art. 18 Abs. 9 letzter Satz der Richtlinie 2013/33(54) wird hinsichtlich der in den Art. 17 und 18 der Richtlinie 2013/33 festgelegten anderen Verpflichtungen in einigen Bereichen ein Wertungsspielraum eingeräumt, etwa bei den Mitteln zur Deckung der materiellen Bedürfnisse der Person, die internationalen Schutz beantragt, die über die Deckung ihrer Grundbedürfnisse hinausgehen können.

75.      Art. 18 Abs. 9 in fine der Richtlinie 2013/33 legt nämlich eine nicht abdingbare Mindestnorm für „Grundbedürfnisse“ im weiteren Rahmen der Art. 17 und 18 der Richtlinie fest. Damit soll sichergestellt werden, dass die Mitgliedstaaten an ein absolutes Erfordernis gebunden bleiben, die Erfüllung der Grundbedürfnisse der Antragsteller zu gewährleisten, womit im Grunde jeglicher Wertungsspielraum der Mitgliedstaaten entfällt, wenn sie die Deckung der Grundbedürfnisse von Personen, die internationalen Schutz beantragen, nicht sicherstellen. Wenn es um die Anforderungen geht, die sich aus dem im Licht von Art. 1 der Charta ausgelegten Begriff „Grundbedürfnisse“ ergeben, ist klar, dass den Mitgliedstaaten kein Wertungsspielraum in Bezug darauf zusteht, ob sie diese Grundbedürfnisse zu decken haben oder nicht. Dementsprechend reicht die bloße Nichterfüllung dieser Grundbedürfnisse für sich genommen aus, um einen hinreichend qualifizierten Verstoß zu begründen, ohne dass im Rahmen des zweiten Teils der im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame vorgenommenen Prüfung zusätzliche Faktoren berücksichtigt werden müssen.

76.      Eine solches Verständnis dieser Prüfung steht im Übrigen im Einklang mit der Charta, da der Begriff „Grundbedürfnisse“ untrennbar mit der Menschenwürde verbunden ist, die, wie ich oben dargelegt habe, ein absolutes und nicht abdingbares Recht ist, das die Grundlage für andere Grundrechte bildet und nicht eingeschränkt werden kann(55). Das bedeutet, dass der bloße Verstoß gegen eine Verpflichtung aus Art. 1 der Charta stets qualifiziert ist. Die Unantastbarkeit im Sinne von Art. 1 der Charta bedeutet, dass auf diesen Schutz niemals verzichtet werden kann, auch nicht in Notsituationen(56).

77.      Im Rahmen des zweiten Teils der im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame vorgenommenen Prüfung stellt demnach die Nichterfüllung der Verpflichtung zur Deckung der Grundbedürfnisse eine Verletzung der Menschenwürde der betroffenen Person und damit automatisch einen hinreichend qualifizierten Verstoß dar.

78.      Im vorliegenden Fall geht es um die Frage, ob höhere Gewalt die Nichterfüllung der Verpflichtung zur Deckung der „Grundbedürfnisse“ von Personen, die internationalen Schutz beantragen, rechtfertigen kann, die untrennbar mit dem Grundrecht auf Menschenwürde verbunden ist. Meiner Ansicht nach kann man sich schwerlich auf höhere Gewalt berufen, wenn die Verletzung absolute Rechte wie die Menschenwürde betrifft – eben weil diese Rechte nicht abdingbar sind.

79.      Da die Richtlinie 2013/33 grundrechtliche Verpflichtungen umsetzt, ist sie im Einklang mit den Art. 1 und 4 der Charta auszulegen, die gemäß der Verpflichtung aus Art. 52 Abs. 3 der Charta im Licht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK zu lesen sind. Diese Rechtsprechung ist bei der Beantwortung der Frage zu berücksichtigen, ob ein Mitgliedstaat die „Grundbedürfnisse“ im Sinne von Art. 18 Abs. 9 dieser Richtlinie von Personen, die internationalen Schutz beantragen, nicht gedeckt hat.

80.      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der EGMR in seinem Urteil vom 2. Juli 2020, N. H. u. a./Frankreich(57), festgestellt hat, dass Frankreich gegen Art. 3 EMRK verstoßen habe, da Asylbewerbern Grundbedürfnisse wie Unterkunft und Zugang zu sanitären Einrichtungen vorenthalten worden seien. Der EGMR stützte sich im Rahmen seiner Prüfung auf mehrere Schlüsselkriterien, darunter erstens die materiellen Lebensbedingungen der Personen, die internationalen Schutz beantragt hatten, während sie auf das Ergebnis ihrer Asylanträge warteten, zweitens die Dauer, während der die Antragsteller diese Bedingungen erduldeten, und das Fehlen angemessener Unterstützung während dieser Zeit(58), drittens das Bestehen einer Handlungspflicht des Staates(59), viertens die besondere Hilfsbedürftigkeit der Antragsteller als Asylbewerber und fünftens die Frage, ob die nationalen Behörden die erforderlichen Schritte unternommen hatten, um sicherzustellen, dass die Antragsteller Zugang zu einer Unterkunft oder anderen Formen der Sozialhilfe erhielten. Das Versäumnis, rechtzeitig und effektiv zu handeln, trug zur Feststellung eines Verstoßes bei(60).

81.      Insoweit legt das Urteil des EGMR im Fall N. H. u. a./Frankreich die Schwelle fest, unterhalb derer die materiellen Bedingungen unmenschlich oder erniedrigend werden. Das bedeutet, dass das Unionsrecht nicht in einer Weise ausgelegt werden darf, die es den Mitgliedstaaten ermöglicht, niedrigere nationale Standards anzuwenden. Bei der Auslegung der Richtlinie 2013/33 dürfen daher die Anforderungen an eine angemessene Unterkunft, an ausreichende Mittel zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Lebens und an den Zugang zu medizinischer Versorgung nicht niedriger sein als die von Art. 1 der Charta geforderten Standards. Andernfalls würden diese niedrigeren Standards die Gefahr bergen, dass Asylbewerber Bedingungen ausgesetzt würden, die einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichkommen. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Urteil Ibrahim u. a. die Schwelle der Erheblichkeit nicht unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK, sondern unter Bezugnahme auf die im Urteil Jawo angenommene Schwelle, d. h. als „eine Situation extremer materieller Not“, definiert hat(61). Darüber hinaus scheint der Grad des Leidens von Einzelpersonen, der erforderlich ist, um die Anwendung von Art. 1 der Charta auszulösen, das Hauptkriterium für die Qualifizierung des Verstoßes zu sein und nicht ein etwaiger Vorsatz oder ein etwaiges Verschulden des Staates.

82.      Daraus folgt, dass ein Mitgliedstaat, der keine den Grundbedürfnissen entsprechende Unterkunft, keine entsprechenden Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts oder keine entsprechende medizinische Versorgung bereitstellt, gegen die Art. 17 und 18 der Richtlinie 2013/33 sowie gegen die Art. 1 und 4 der Charta verstößt. Somit kann sich ein Mitgliedstaat nicht auf höhere Gewalt berufen, um sein Versäumnis, für die Grundbedürfnisse von Personen, die internationalen Schutz beantragen, zu sorgen, zu rechtfertigen. Selbst wenn man anerkennen würde, dass ein Mitgliedstaat bestimmte Bestimmungen der Richtlinie aufgrund höherer Gewalt nicht einhalten kann, hätte er dennoch eine aktive Pflicht, die Menschenwürde zu schützen(62).

83.      Daraus folgt ferner, dass im Rahmen des zweiten Teils der im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame vorgenommenen Prüfungsofern der Gerichtshof diese noch vornehmen sollte – die Mitgliedstaaten nicht die Befugnis haben, das Schutzniveau unter die von den Art. 1 und 4 der Charta geforderten Mindeststandards zu senken, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung verhindern sollen. Zwar verfügen die Mitgliedstaaten über einen gewissen Wertungsspielraum bei der Ausgestaltung und Umsetzung der Aufnahmebedingungen, doch sind sie verpflichtet, bei der Umsetzung der Richtlinie 2013/33 diese Mindestschwelle des Schutzes der Grundrechte einzuhalten. Sollte Irland dies nicht getan haben, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat, kann das Vorbringen des Ministers, dass der Einwand der höheren Gewalt im vorliegenden Fall gerechtfertigt sei, da der Verstoß nicht vorsätzlich begangen und der daraus resultierende Schaden nicht vorsätzlich zugefügt worden sei und der in Rede stehende Irrtum entschuldbar gewesen sei, im Rahmen des zweiten Teils der im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame vorgenommenen Prüfung nicht berücksichtigt werden.

84.      Schließlich macht der Minister geltend, dass die Bemühungen auf Unionsebene zur Verabschiedung des Migrations- und Asylpakts, der auf eine gerechtere Verteilung der Anträge auf internationalen Schutz abziele, ein „Verhalten eines [Unions‑]Organs“ im Sinne der im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame vorgenommenen Prüfung darstellten. Dem Minister zufolge spiegelt dieser Pakt die Erkenntnis der Europäischen Union wider, dass der derzeitige Rechtsrahmen keine gerechte Verteilung der Asylanträge gewährleiste. Insoweit ist zu betonen, dass dieser Pakt die Bestimmungen der Richtlinie 2013/33 nicht rückwirkend ersetzt, ändert oder aussetzt. Bis zur Annahme und zum Inkrafttreten von etwaigen Gesetzesänderungen bleiben die Mitgliedstaaten an die bestehenden Vorschriften gebunden und müssen deren Einhaltung sicherstellen. Daraus folgt, dass sich der Minister nicht auf die Annahme des Migrations- und Asylpakts berufen kann, um zu rechtfertigen, dass Irland die Grundbedürfnisse von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, nicht gedeckt hat. Auch wenn dieser Pakt die Mängel des derzeitigen Rechtsrahmens des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems anerkennt, bedeutet dies nicht, dass er ein Eingeständnis eines rechtlichen Fehlverhaltens auf Unionsebene darstellt. Ein solches Anerkenntnis ist nicht mit einem Verhalten eines Organs gleichzusetzen, durch das die Mitgliedstaaten von der Haftung für in der Vergangenheit begangene Grundrechtsverletzungen freigestellt würden.

85.      Daraus folgt, dass ein Mitgliedstaat, der die Grundbedürfnisse einer Person, die internationalen Schutz beantragt, nicht befriedigt, gegen die Art. 17 und 18 der Richtlinie 2013/33 sowie gegen die Art. 1 und 4 der Charta verstößt und sich nicht auf höhere Gewalt berufen kann, um dieses Versäumnis zu rechtfertigen.

V.      Ergebnis

86.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, wie folgt zu entscheiden:

Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, ist im Licht des Rechts auf Menschenwürde und des Schutzes vor unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, die in den Art. 1 und 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert sind,

dahin auszulegen, dass er erstens eine spezifische Ausprägung des Begriffs der höheren Gewalt darstellt, angesichts seiner eindeutigen Funktion als begrenzte Ausnahmeregelung für außergewöhnliche Umstände, dass er zweitens auf den Fall eines Massenzustroms von Personen, die internationalen Schutz beantragen, der zur Erschöpfung der üblicherweise verfügbaren Unterbringungskapazitäten im Aufnahmemitgliedstaat führt, anwendbar ist, und dass er drittens diesen Mitgliedstaat im Rahmen einer Schadensersatzklage daran hindert, sich wegen der Erschöpfung der Unterbringungskapazitäten aufgrund eines solchen Zustroms auf höhere Gewalt zu berufen.
































































Leave a Comment

Schreibe einen Kommentar