Vorläufige Fassung
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
JEAN RICHARD DE LA TOUR
vom 18. September 2025(1 )
Rechtssache C ‑95/24 [Khuzdar] (i )
ATAU
Strafverfahren
Beteiligte:
Procura generale presso la Corte d’appello di Napoli
(Vorabentscheidungsersuchen der Corte di appello di Napoli [Berufungsgericht Neapel, Italien])
„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl – Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Gründe, aus denen die Vollstreckung abgelehnt werden kann – Art. 4 Nr. 6 – Verpflichtung des Vollstreckungsmitgliedstaats, die Strafe nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken – Rahmenbeschluss 2008/909/JI – Gründe für die Versagung der Anerkennung und Vollstreckung einer Verurteilung – Art. 9 Abs. 1 Buchst. i – Person, die zu der Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat, nicht persönlich erschienen ist – Ausnahmen – Voraussetzung der Kenntnis von der anberaumten Verhandlung – Unterrichtung über den vorgesehenen Termin und Ort der Verhandlung – Flucht der betroffenen Person – Freiwilliger und unmissverständlicher Verzicht der betroffenen Person auf Anwesenheit in ihrer Verhandlung – Wertungsspielraum der zuständigen Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats – Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung “
I. Einleitung
1. Das Recht auf ein faires Verfahren ist eines der Grundprinzipien einer demokratischen Gesellschaft. Das Recht von Verdächtigen und beschuldigten Personen, in der Verhandlung anwesend zu sein, beruht auf diesem Recht und sollte in der gesamten Europäischen Union sichergestellt werden(2 ). Dieses Recht gilt allerdings nicht absolut. Unter bestimmten Voraussetzungen sollten Verdächtige und beschuldigte Personen ausdrücklich oder stillschweigend, aber unmissverständlich erklären können, auf dieses Recht zu verzichten(3 ).
2. Vor diesem Hintergrund betrifft das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen die Auslegung von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten(4 ) sowie von Art. 9 Abs. 1 Buchst. i und von Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union(5 ) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung(6 ).
3. Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens zur Vollstreckung eines in der Slowakei erlassenen Urteils, mit dem eine vor ihrer Verhandlung untergetauchte Person zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, in Italien.
4. In der vorliegenden Rechtssache wird der Gerichtshof um Klärung ersucht, was unter dem Ausdruck „in Kenntnis der anberaumten Verhandlung“ in Art. 9 Abs. 1 Buchst. i Ziff. ii des Rahmenbeschlusses 2008/909 zu verstehen ist, und über welchen Wertungsspielraum die zuständigen Behörden bei der Geltendmachung des in Art. 9 Abs. 1 Ziff. i dieses Rahmenbeschlusses vorgesehenen Grundes, aus dem die Anerkennung und die Vollstreckung versagt werden kann, verfügen. Insoweit weise ich darauf hin, dass diese Rechtssache einen Sachverhalt betrifft, der gewisse Unterschiede zu dem Sachverhalt in der Rechtssache Höldermann (C‑447/24) aufweist, in der ich heute ebenfalls meine Schlussanträge vorlege(7 ). Insbesondere betrifft die vorliegende Rechtssache im Gegensatz zu dieser Rechtssache die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
1. Rahmenbeschluss 2002/584
5. Art. 4 („Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann“) Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestimmt:
„Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern,
…
6. wenn der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden ist, sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat und dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe oder die Maßregel der Sicherung nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken[.]“
6. Art. 4a („Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die Person nicht persönlich erschienen ist“) Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses sieht vor:
„Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten Europäischen Haftbefehls auch verweigern, wenn die Person nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die zu der Entscheidung geführt hat, es sei denn, aus dem Europäischen Haftbefehl geht hervor, dass die Person im Einklang mit den weiteren verfahrensrechtlichen Vorschriften des einzelstaatlichen Rechts des Ausstellungsmitgliedstaats
a) rechtzeitig
i) entweder persönlich vorgeladen wurde und dabei von dem vorgesehenen Termin und Ort der Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, die zu der Entscheidung geführt hat, oder auf andere Weise tatsächlich offiziell von dem vorgesehenen Termin und Ort dieser Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, und zwar auf eine Weise, dass zweifelsfrei nachgewiesen wurde, dass sie von der anberaumten Verhandlung Kenntnis hatte,
und
ii) davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass eine Entscheidung auch dann ergehen kann, wenn sie zu der Verhandlung nicht erscheint;
oder
b) in Kenntnis der anberaumten Verhandlung ein Mandat an einen Rechtsbeistand, der entweder von der betroffenen Person oder vom Staat bestellt wurde, erteilt hat, sie bei der Verhandlung zu verteidigen, und bei der Verhandlung von diesem Rechtsbeistand tatsächlich verteidigt worden ist;
oder
c) nachdem ihr die Entscheidung zugestellt und sie ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt worden ist, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann:
i) ausdrücklich erklärt hat, dass sie die Entscheidung nicht anficht;
oder
ii) innerhalb der geltenden Frist keine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. kein Berufungsverfahren beantragt hat;
oder
d) die Entscheidung nicht persönlich zugestellt erhalten hat, aber
i) sie unverzüglich nach der Übergabe persönlich zugestellt erhalten wird und ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt werden wird, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann;
und
ii) von der Frist in Kenntnis gesetzt werden wird, über die sie gemäß dem einschlägigen Europäischen Haftbefehl verfügt, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. ein Berufungsverfahren zu beantragen.“
2. Rahmenbeschluss 2008/909
7. Art. 9 („Gründe für die Versagung der Anerkennung und der Vollstreckung“) Abs. 1 Buchst. i sieht vor:
„Die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats kann die Anerkennung des Urteils und die Vollstreckung der Sanktion versagen, wenn
…
i) laut der Bescheinigung gemäß Artikel 4 die betroffene Person zu der Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat, nicht persönlich erschienen ist, es sei denn, aus der Bescheinigung geht hervor, dass die betroffene Person im Einklang mit weiteren verfahrensrechtlichen Vorschriften des einzelstaatlichen Rechts des Entscheidungsstaates
i) rechtzeitig
– entweder persönlich vorgeladen wurde und dabei von dem vorgesehenen Termin und Ort der Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, die zu der Entscheidung geführt hat, oder auf andere Weise tatsächlich offiziell von dem vorgesehenen Termin und Ort dieser Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, und zwar auf eine Weise, dass zweifelsfrei nachgewiesen wurde, dass sie von der anberaumten Verhandlung Kenntnis hatte;
und
– davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass eine Entscheidung auch dann ergehen kann, wenn sie zu der Verhandlung nicht erscheint;
oder
ii) in Kenntnis der anberaumten Verhandlung ein Mandat an einen Rechtsbeistand, der entweder von der betroffenen Person oder vom Staat bestellt wurde, erteilt hat, sie bei der Verhandlung zu verteidigen, und bei der Verhandlung von diesem Rechtsbeistand tatsächlich verteidigt worden ist;
oder
iii) nachdem ihr die Entscheidung zugestellt und sie ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt worden ist, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann:
– ausdrücklich erklärt hat, dass sie die Entscheidung nicht anficht;
oder
– innerhalb der geltenden Frist keine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. kein Berufungsverfahren beantragt hat[.]“
8. Art. 25 dieses Rahmenbeschlusses hat folgenden Wortlaut:
„Zwecks Vermeidung der Straflosigkeit der betreffenden Person gelten die Bestimmungen des vorliegenden Rahmenbeschlusses, unbeschadet des Rahmenbeschlusses [2002/584] und soweit sie mit diesem vereinbar sind, sinngemäß für die Vollstreckung von Sanktionen in Fällen, in denen ein Mitgliedstaat sich zur Vollstreckung der Sanktion in Fällen gemäß Artikel 4 Absatz 6 jenes Rahmenbeschlusses verpflichtet, oder in denen er gemäß Artikel 5 Absatz 3 jenes Rahmenbeschlusses die Bedingung gestellt hat, dass die betreffende Person zur Verbüßung der Sanktion in den betreffenden Mitgliedstaat rücküberstellt wird.“
B. Italienisches Recht
9. Art. 6 Abs. 1bis Buchst. b der Legge n. 69 – Disposizioni per conformare il diritto interno alla decisione quadro 2002/584/GAI del Consiglio, del 13 giugno 2002, relativa al mandato d’arresto europeo e alle procedure di consegna tra Stati membri (Gesetz Nr. 69 – Bestimmungen zur Anpassung des innerstaatlichen Rechts an den Rahmenbeschluss [2002/584])(8 ) vom 22. April 2005 bestimmt in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung:
„Wenn der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt wurde, die im Anschluss an eine Verhandlung verhängt wurde, zu der die betreffende Person nicht persönlich erschienen ist, muss dieser … eine Angabe über mindestens eine der folgenden Bedingungen enthalten:
…
b) die betroffene Person wurde, nachdem sie über das gegen sie eingeleitete Verfahren unterrichtet worden war, in der Verhandlung, die zu der genannten Entscheidung geführt hat, von einem Rechtsbeistand vertreten, der entweder von der betroffenen Person oder von Amts wegen bestellt worden war“.
10. In Art. 18bis Abs. 2 dieses Gesetzes heißt es:
„Wenn der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt wurde, kann die Corte di appello [Berufungsgericht, Italien] die Übergabe eines italienischen Staatsangehörigen oder einer Person, die rechtmäßig und tatsächlich seit mindestens fünf Jahren ununterbrochen im italienischen Hoheitsgebiet wohnt oder sich aufhält, … verweigern, wenn es die Vollstreckung dieser Strafe oder Maßregel der Sicherung in Italien nach seinem innerstaatlichen Recht anordnet.“
11. Art. 13 Abs. 1 Buchst. i des Decreto Legislativo n. 161 – Disposizioni per conformare il diritto interno alla Decisione quadro 2008/909/GAI relativa all’applicazione del principio del reciproco riconoscimento alle sentenze penali che irrogano pene detentive o misure privative della libertà personale, ai fini della loro esecuzione nell’Unione europea (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 161/2010 – Bestimmungen zur Anpassung des innerstaatlichen Rechts an den Rahmenbeschluss [2008/909])(9 ) vom 7. September 2010 bestimmt in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 161/2010):
„Das Berufungsgericht versagt die Anerkennung der Verurteilung in einem der folgenden Fälle:
…
i) wenn die betroffene Person zu der Verhandlung, die zu der zu vollstreckenden Entscheidung geführt hat, nicht persönlich erschienen ist, es sei denn, aus der Bescheinigung geht hervor, dass:
1) sie rechtzeitig persönlich vorgeladen und dabei über den vorgesehenen Termin und Ort der Verhandlung unterrichtet wurde oder dass sie tatsächlich auf andere Weise offiziell unterrichtet wurde, und zwar auf eine Weise, dass zweifelsfrei nachgewiesen wurde, dass sie davon Kenntnis hatte und ihr mitgeteilt wurde, dass eine Entscheidung ergehen kann, wenn sie nicht zu der Verhandlung erscheint; oder
2) in Kenntnis der anberaumten Verhandlung ein Mandat an einen Rechtsbeistand, der entweder von der betroffenen Person oder vom Staat bestellt wurde, erteilt hat, sie bei der Verhandlung zu verteidigen, und bei der Verhandlung von diesem Rechtsbeistand tatsächlich verteidigt worden ist; oder
3) nachdem ihr die Entscheidung zugestellt und sie ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt worden ist, an dem die Person teilnehmen und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden kann, ausdrücklich erklärt hat, dass sie die Entscheidung nicht anficht oder innerhalb der dafür gesetzten Frist keine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. kein Berufungsverfahren beantragt hat.“
12. Art. 24 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 161/2010 sieht vor, dass das Berufungsgericht in Fällen, in denen es die mit einem Europäischen Haftbefehl auf der Grundlage einer strafrechtlichen Verurteilung beantragte Übergabe verweigert und die Vollstreckung der Strafe im italienischen Hoheitsgebiet anordnet, zugleich die ausländische strafrechtliche Verurteilung, die dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegt, zur Vollstreckung in Italien anerkennen muss, sofern die Voraussetzungen hierfür erfüllt sind.
III. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen
13. Am 5. Oktober 2015, erließ der Okresný súd Dunajská Streda (Bezirksgericht Dunajská Streda, Slowakei) einen Europäischen Haftbefehl zur Vollstreckung eines Strafurteils dieses Gerichts vom 23. August 2010 gegen ATAU(10 ), mit dem dieser zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt worden war. Am 19. Juni 2023 wurde ATAU in Italien aufgegriffen und festgenommen.
14. Die Corte di appello di Napoli (Berufungsgericht Neapel, Italien), das vorlegende Gericht, ist mit der Prüfung der von den slowakischen Justizbehörden mit diesem Europäischen Haftbefehl ersuchten Übergabe befasst. Nach eigenen Angaben hat es die vorsorgliche Zwangsmaßnahme des Hausarrests, die ATAU am 20. Juni 2023 auferlegt worden war, aufgehoben.
15. Im Rahmen des Verfahrens vor dem vorlegenden Gericht erklärte und belegte ATAU, dass er seit mehr als fünf Jahren tatsächlich und rechtmäßig in Italien wohne. Deshalb beantragte er bei diesem Gericht, die Übergabe zu verweigern und mittels Anerkennung des Urteils vom 23. August 2010 die Vollstreckung der gegen ihn verhängten Strafe in Italien anzuordnen.
16. Zur Beurteilung dieses Antrags forderte das vorlegende Gericht die slowakischen Behörden auf, die zuvor übermittelte Bescheinigung unter Angabe der ATAU gewährten Verfahrensgarantien auszufüllen.
17. Mit Schreiben vom 2. November 2023 antwortete der Okresný súd Dunajská Streda (Bezirksgericht Dunajská Streda), dass ATAU nicht persönlich an der Verhandlung, die zu dem Urteil vom 23. August 2010 geführt habe, teilgenommen habe. Er sei jedoch während der Verhandlung von einem Anwalt vertreten und verteidigt worden. Außerdem habe er, auch wenn er die Mitteilung, an welchem Tag und an welchem Ort die Verhandlung stattfinden würde, nie erhalten habe, gleichwohl von dem gegen ihn anhängigen Verfahren Kenntnis gehabt. Denn er sei am 28. September 2009 in der Slowakei wegen derselben Straftat festgenommen und in Untersuchungshaft genommen worden, dann am 15. Dezember 2009 aus der Untersuchungshaft entlassen und in einem Flüchtlingslager im slowakischen Hoheitsgebiet untergebracht worden. Daraufhin sei er untergetaucht, ohne zurückzukehren und ohne eine Zustellungsadresse anzugeben, so dass es weder möglich gewesen sei, ihm Termin und Ort der anberaumten Verhandlung mitzuteilen, noch ihn darüber zu belehren, dass eine Entscheidung auch im Fall seines Nichterscheinens ergehen würde.
18. Das vorlegende Gericht erläutert als Erstes, dass das Berufungsgericht ein ausländisches Strafurteil nach dem italienischen Recht anerkennen müsse, wenn es die Übergabe verweigere und die Vollstreckung dieses Urteils anordne, wofür die Anerkennungsvoraussetzungen erfüllt sein müssten. Dies sei vorliegend jedoch nicht der Fall. Es erinnert insoweit daran, dass ATAU die Informationen nach Art. 13 Abs. 1 Buchst. i des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 161/2010, insbesondere den anberaumten Termin und Ort seiner Verhandlung, nicht erhalten habe.
19. Als Zweites hebt das vorlegende Gericht hervor, dass im italienischen Recht die Übergabe der verurteilten Person auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls unter der einfachen Voraussetzung zulässig sei, dass diese Person von der bloßen Tatsache unterrichtet worden sei, dass ein Verfahren gegen sie anhängig sei, und dass sie im Prozess von einem Rechtsbeistand vertreten worden sei. Die Anerkennung einer Verurteilung in Italien sei hingegen nur unter der strengeren Voraussetzung zulässig, dass die verurteilte Person, die von einem Rechtsbeistand vertreten worden sei, von dem für die Verhandlung anberaumten Termin unterrichtet worden sei.
20. Mithin führe das italienische Recht dazu, dass ATAU an die slowakischen Behörden übergeben werden könne, da er über das gegen ihn anhängige Verfahren unterrichtet und von einem Rechtsbeistand vertreten worden sei, es jedoch, obwohl er seit mehr als fünf Jahren tatsächlich im italienischen Hoheitsgebiet wohne und die Vollstreckung seiner Strafe in Italien beantragt habe, nicht möglich sei, seine Übergabe zu verweigern und die Vollstreckung der Strafe im italienischen Hoheitsgebiet anzuordnen, weil er nicht über den anberaumten Verhandlungstermin informiert worden sei.
21. Dies habe die paradoxe Folge, dass sich der Umstand, dass die Verfahrensgarantie für die verurteilte Person bei der Anerkennung einer Verurteilung weiter reiche als die Verfahrensgarantie für die verurteilte Person bei der Übergabe zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, eher gegen sie als zu ihren Gunsten auswirke. Die im italienischen Recht getroffene Unterscheidung führe außerdem zu dem paradoxen Ergebnis, dass dieselbe Verurteilung in Italien nicht zum Zweck ihrer Vollstreckung anerkannt werden könne, während auf ihrer Grundlage ein Europäischer Haftbefehl erlassen werden könne, der vollstreckt werden müsse.
22. Das vorlegende Gericht fragt sich daher, ob das Unionsrecht dahin ausgelegt werden kann, dass die Übergabe nach der Anerkennung des Urteils zwecks Verbüßung der Strafe im Vollstreckungsmitgliedstaat verweigert werden kann, wenn zwar nicht die für diese Anerkennung vorgesehene Verfahrensgarantie (Unterrichtung über den anberaumten Verhandlungstermin), aber die für die Übergabe aufgrund des Europäischen Haftbefehls vorgesehene Verfahrensgarantie (Unterrichtung darüber, dass ein Verfahren anhängig ist) gewährt wurde.
23. Wie das vorlegende Gericht ferner anmerkt, „versagt “(11 ) das nationale Gericht nach dem italienischem Recht, insbesondere Art. 13 Abs. 1 Buchst. i des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 161/2010 „die Anerkennung des Urteils“, wenn die verurteilte Person nicht über den Verhandlungstermin unterrichtet wurde. Nach dem Unionsrecht, insbesondere Art. 9 Abs. 1 Buchst. i des Rahmenbeschlusses 2008/909, hingegen „kann “ das Gericht des Vollstreckungsstaats in einem solchen Fall „die Anerkennung des Urteils …versagen “(12 ). Folglich hätte das Berufungsgericht, während es nach dem italienischen Recht verpflichtet wäre, die Anerkennung des Urteils zu versagen, nach dem Unionsrecht die Befugnis, aber nicht die Pflicht, sie zu versagen.
24. Demnach sei es im vorliegenden Fall bei Anwendung des italienischen Rechts nicht möglich, das Urteil vom 23. August 2010 zum Zweck seiner Vollstreckung in Italien anzuerkennen, weil ATAU nicht über den für die Verhandlung anberaumten Termin unterrichtet worden sei, so dass das vorlegende Gericht ihn an die Slowakische Republik übergeben müsste, obwohl er berechtigt sei, seine Strafe in Italien zu verbüßen, und er dies beantragt habe. Bei Anwendung des Unionsrechts verfüge das vorlegende Gericht hingegen über einen Wertungsspielraum, um zu beurteilen, ob es die ausländische Verurteilung anerkenne, und die Übergabe zu verweigern und die Vollstreckung der Strafe in Italien anzuordnen.
25. Unter diesen Umständen hat die Corte di appello di Napoli (Berufungsgericht Neapel) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in Verbindung mit Art. 9 Abs. 1 Buchst. i und Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909 dahin auszulegen, dass
a) das Gericht des Vollstreckungsstaats, das um Anerkennung eines vollstreckbaren ausländischen Strafurteils ersucht wird, die Befugnis, aber nicht die Pflicht hat, die Anerkennung des Urteils zu versagen, wenn sich herausstellt, dass das Verfahren, das zu diesem Urteil geführt hat, dem Angeklagten keine der in Art. 9 Abs. 1 Buchst. i des Rahmenbeschlusses 2008/909 vorgesehenen Verfahrensgarantien geboten hat;
b) das Gericht des Vollstreckungsstaats, das aufgrund eines zur Vollstreckung eines Urteils erlassenen Europäischen Haftbefehls um Übergabe ersucht wird, bei Vorliegen der Voraussetzungen für die Anordnung der Übergabe der verurteilten Person an den Urteilsstaat und der Voraussetzungen für die Verweigerung der Übergabe bei gleichzeitiger Anordnung der Vollstreckung der Sanktion im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaats die Befugnis hat, die Übergabe zu verweigern, das Urteil anzuerkennen und seine Vollstreckung im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaats anzuordnen, auch wenn in dem Verfahren, das zu dem anerkannten Urteil geführt hat, dem Angeklagten keine der Verfahrensgarantien nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. i des Rahmenbeschlusses 2008/909 gewährt wurden?
26. ATAU, die italienische und die rumänische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht und an der mündlichen Verhandlung vom 15. Mai 2025 teilgenommen, in der sie die vom Gerichtshof zur mündlichen Beantwortung gestellten Fragen beantwortet haben.
IV. Würdigung
A. Zur Zulässigkeit
27. Die italienische Regierung ist der Ansicht, dass das Vorabentscheidungsersuchen wegen seines hypothetischen Charakters unzulässig sei, da ATAU, indem er die Anerkennung der Verurteilung in Italien beantragt habe, die in seiner Abwesenheit verhängte Sanktion akzeptiert habe. Das zuständige Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats sei daher verpflichtet, dieses Urteil zum Zweck der Vollstreckung der Strafe in Italien anzuerkennen. Sie verweist in dieser Hinsicht auf Art. 13 Abs. 1 Buchst. i Nr. 3 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 161/2010, der Art. 9 Abs. 1 Buchst. i Ziff. iii des Rahmenbeschlusses 2008/909 in italienisches Recht umsetze. Aus dieser Bestimmung ergebe sich, dass die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats die Anerkennung der Verurteilung und die Vollstreckung der Strafe nicht versagen könne, wenn die betroffene Person, nachdem ihr die Entscheidung zugestellt und sie ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt worden sei, an dem sie teilnehmen könne und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden könne, ausdrücklich erklärt habe, dass sie die Entscheidung nicht anfechte, oder innerhalb der geltenden Frist keine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. kein Berufungsverfahren beantragt habe.
28. Bei der Frage, ob der Umstand, dass die verurteilte Person den Urteilsmitgliedstaat um Vollstreckung ihrer Strafe in einem anderen Mitgliedstaat ersucht hat, dem Tatbestand von Art. 9 Abs. 1 Buchst. i Ziff. iii des Rahmenbeschlusses 2008/909 entspricht, handelt es sich nicht um eine Frage der Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens, sondern um eine materielle Frage. Im Übrigen weise ich darauf hin, dass diese Frage vom vorlegenden Gericht in der Rechtssache Höldermann (C‑447/24) gestellt wurde. Ich verweise daher, was diesen Punkt anbelangt, auf meine heutigen Schlussanträge in dieser Rechtssache.
B. Zur Beantwortung der Vorlagefragen
29. Mit seinen Fragen, deren gemeinsame Prüfung ich vorschlage, möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 sowie Art. 9 Abs. 1 Buchst. i und Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909 dahin auszulegen sind, dass die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats im Rahmen der Anwendung des in der ersten dieser Bestimmungen genannten Grundes, aus dem die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann, wenn die Person, gegen die dieser Haftbefehl ergangen ist, zu ihrer Verhandlung nicht persönlich erschienen ist, die Befugnis, aber nicht die Pflicht hat, die Anerkennung des Urteils und die Vollstreckung der Sanktion zu versagen, wenn keine der Ausnahmen nach der zweiten der genannten Bestimmungen einschlägig ist.
30. Ich weise darauf hin, dass Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 als einen der Gründe, aus denen die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann, nennt, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verweigern kann, wenn dieser zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden ist, sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat und dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe oder die Maßregel der Sicherung nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken.
31. Der Gerichtshof hat entschieden, dass sich aus der Verwendung des Verbs „können“ ergibt, dass die vollstreckende Justizbehörde über einen Wertungsspielraum verfügen muss, insbesondere um dem Ziel dieser Bestimmung Rechnung zu tragen, das darin besteht, die Resozialisierungschancen der gesuchten Person nach Verbüßung der gegen sie verhängten Strafe zu erhöhen(13 ).
32. Die Anwendung des in dieser Bestimmung vorgesehenen Grundes, aus dem die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann, hängt somit von zwei Voraussetzungen ab, nämlich zum einen, dass sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat, und zum anderen, dass sich dieser Staat verpflichtet, die Strafe oder die Maßregel der Sicherung, für die der Europäische Haftbefehl ausgestellt worden ist, nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken(14 ).
33. Was die erste Voraussetzung anbelangt, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass eine gesuchte Person „ihren Wohnsitz“ im Vollstreckungsmitgliedstaat hat, wenn sie dort ihren tatsächlichen Wohnsitz begründet hat, und sich dort „aufhält“, wenn sie infolge eines beständigen Verweilens von gewisser Dauer in diesem Mitgliedstaat Bindungen zu diesem Staat von ähnlicher Intensität aufgebaut hat, wie sie sich aus einem Wohnsitz ergeben(15 ).
34. Was die zweite Voraussetzung betrifft, geht aus dem Wortlaut von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 hervor, dass die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls voraussetzt, dass sich der Vollstreckungsmitgliedstaat tatsächlich verpflichtet, die gegen die gesuchte Person verhängte Freiheitsstrafe zu vollstrecken. Wenn diese Person im Ausstellungsmitgliedstaat verurteilt wurde, bedeutet dies zwangsläufig, dass die Behörden des Vollstreckungsmitgliedstaats das die Verurteilung der Person aussprechende Urteil gemäß den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2008/909 anerkennen(16 ). Daher kann der bloße Umstand, dass dieser Staat seine „Bereitschaft“ erklärt, die Strafe vollstrecken zu lassen, zur Rechtfertigung einer solchen Verweigerung nicht ausreichen. Folglich muss die vollstreckende Justizbehörde vor jeder Verweigerung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls prüfen, ob es nach ihrem innerstaatlichen Recht überhaupt möglich ist, die Strafe tatsächlich zu vollstrecken(17 ).
35. Also muss gewährleistet sein, dass die vollstreckende Justizbehörde von ihrer Befugnis, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls zu verweigern, nur dann Gebrauch macht, wenn die wirksame Vollstreckung der gegen die gesuchte Person verhängten Strafe im Vollstreckungsmitgliedstaat sichergestellt ist, so dass man zu einem Ergebnis gelangt, das mit dem vom Rahmenbeschluss 2002/584 verfolgten Ziel im Einklang steht(18 ).
36. In dieser Hinsicht ist daran zu erinnern, dass nach dem Wortlaut von Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909 „[z]wecks Vermeidung der Straflosigkeit der betreffenden Person … die Bestimmungen des vorliegenden Rahmenbeschlusses, unbeschadet des Rahmenbeschlusses [2002/584] und soweit sie mit diesem vereinbar sind, sinngemäß für die Vollstreckung von Sanktionen in Fällen [gelten], in denen ein Mitgliedstaat sich zur Vollstreckung der Sanktion in Fällen gemäß Artikel 4 Absatz 6 jenes Rahmenbeschlusses verpflichtet, oder in denen er gemäß Artikel 5 Absatz 3 jenes Rahmenbeschlusses die Bedingung gestellt hat, dass die betreffende Person zur Verbüßung der Sanktion in den betreffenden Mitgliedstaat rücküberstellt wird“. Der Gerichtshof hat insbesondere darauf hingewiesen, dass das vom Unionsgesetzgeber vorgesehene Zusammenspiel zwischen dem Rahmenbeschluss 2002/584 und dem Rahmenbeschluss 2008/909 dazu beitragen soll, das Ziel zu erreichen, die Resozialisierung des Betroffenen zu erleichtern, und dass diese Resozialisierung nicht nur im Interesse des Verurteilten, sondern auch im Interesse der Europäischen Union insgesamt liegt(19 ).
37. Im Hinblick darauf heißt es im zwölften Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2008/909, dass dieser „sinngemäß auch für die Vollstreckung von Sanktionen in Fällen gemäß Artikel 4 Absatz 6 und Artikel 5 Absatz 3 des Rahmenbeschlusses [2002/584 gelten sollte]. Dies bedeutet unter anderem, dass der Vollstreckungsstaat unbeschadet des genannten Rahmenbeschlusses als Voraussetzung für die Anerkennung und Vollstreckung des Urteils im Hinblick auf die Prüfung, ob die Person übergeben oder die Strafe vollstreckt wird in Fällen gemäß Artikel 4 Absatz 6 des … Rahmenbeschlusses [2002/584] prüfen könnte, ob Gründe für die Versagung der Anerkennung und der Vollstreckung gemäß Artikel 9 dieses Rahmenbeschlusses vorliegen …“. Der Unionsgesetzgeber hebt somit beispielhaft die Prüfung durch den Vollstreckungsmitgliedstaat hervor, ob Gründe für die Versagung der Anerkennung und der Vollstreckung nach Art. 9 des Rahmenbeschlusses 2008/909 vorliegen.
38. Im Rahmen der vorliegenden Rechtssache betrifft diese Prüfung den in Art. 9 Abs. 1 Buchst. i dieses Rahmenbeschlusses vorgesehenen Grund für die Versagung der Anerkennung und der Vollstreckung. Wenn ein solcher Grund vorliegt, könnte dies nämlich der Anwendung des in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Grundes, aus dem die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann, entgegenstehen. Mit anderen Worten setzt die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls auf der Grundlage von Art. 4 Nr. 6 dieses Rahmenbeschlusses voraus, dass die Strafe im Vollstreckungsmitgliedstaat vollstreckt werden kann, was nicht der Fall ist, wenn die vollstreckende Justizbehörde der Ansicht ist, dass der Grund für die Versagung der Anerkennung und der Vollstreckung nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. i des Rahmenbeschlusses 2008/909 einschlägig ist. Vor diesem Hintergrund muss die Auslegung von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 darauf gerichtet sein, sowohl das Ziel der Erleichterung der Resozialisierung der verurteilten Person als auch das Ziel der Bekämpfung der Straflosigkeit zu gewährleisten. Zugleich muss die Berücksichtigung des in Art. 9 Abs. 1 Buchst. i des Rahmenbeschlusses 2008/909 genannten Grundes für die Versagung der Anerkennung und der Vollstreckung auch dazu führen, dem Recht der betroffenen Person, persönlich zu ihrer Verhandlung zu erscheinen, Rechnung zu tragen.
39. Diese Bestimmung benennt nämlich einen fakultativen Grund für die Versagung der Anerkennung eines von einem anderen Mitgliedstaat übermittelten Urteils und der Vollstreckung der mit diesem verhängten Strafe, wenn die verurteilte Person nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die zu der Verurteilung geführt hat. Von dieser Möglichkeit bestehen allerdings drei, in den Ziff. i bis iii dieser Bestimmung aufgezählte Ausnahmen, bei denen die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats nicht die Wahl hat, die Anerkennung und Vollstreckung des ihr übermittelten Urteils zu versagen.
40. Die Fragen des vorlegenden Gerichts beruhen auf mehreren Erwägungen.
41. Erstens habe die Italienische Republik Art. 4a Abs. 1 Buchst. b des Rahmenbeschlusses 2002/584 und Art. 9 Abs. 1 Buchst. i Ziff. ii des Rahmenbeschlusses 2008/909 in ihrem nationalen Recht unterschiedlich umgesetzt, obwohl diese Bestimmungen identisch formuliert seien. Während nämlich im italienischen Recht im ersten Fall erforderlich sei, dass die betroffene Person über das gegen sie eingeleitete Verfahren unterrichtet worden sei, sei im zweiten Fall erforderlich, dass sie Kenntnis von der anberaumten Verhandlung gehabt habe.
42. Zweitens sei angesichts dieses letztgenannten Erfordernisses die Ausnahme, die es der zuständigen Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats verwehren würde, sich auf den Grund für die Versagung der Anerkennung und der Vollstreckung nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. i Ziff. ii des Rahmenbeschlusses 2008/909 zu berufen, im vorliegenden Fall nicht einschlägig. Denn ATAU habe keine Kenntnis von dem anberaumten Termin und Ort seiner Verhandlung gehabt.
43. Drittens sei die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats, soweit diese Ausnahme nicht einschlägig sei, nach dem italienischen Recht verpflichtet, die Anerkennung des Urteils und die Vollstreckung der Sanktion zu versagen. Da demnach der fakultative Ablehnungsgrund hinsichtlich der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nicht anwendbar sei, müsste ATAU den slowakischen Behörden zur Vollstreckung seiner Strafe übergeben werden.
44. In Anbetracht dieser Erwägungen des vorlegenden Gerichts ist als Erstes zu prüfen, ob die Voraussetzung der Kenntnis von der anberaumten Verhandlung, die in Art. 9 Abs. 1 Buchst. i Ziff. ii des Rahmenbeschlusses 2008/909 vorgesehen ist, die Unterrichtung der betroffenen Person über den für ihre Verhandlung festgesetzten Termin und Ort erfordert. Als Zweites ist zu prüfen, ob das nationale Recht, wenn diese Voraussetzung nicht erfüllt ist, die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats verpflichten kann, die Anerkennung des Urteils und die Vollstreckung der Sanktion zu versagen.
1. Die Kenntnis von der anberaumten Verhandlung erfordert die Unterrichtung der betroffenen Person über Termin und Ort der Verhandlung
45. Aus den Gründen, die ich in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Höldermann (C‑447/24) dargelegt habe, die am heutigen Tag vorgelegt werden und auf die ich hiermit verweise, bin ich der Ansicht, dass die Voraussetzung der Kenntnis von der anberaumten Verhandlung, die in Art. 9 Abs. 1 Buchst. i Ziff. ii des Rahmenbeschlusses 2008/909 aufgeführt ist, die Unterrichtung des Betroffenen über den für die Verhandlung vorgesehenen Termin und Ort erfordert. Angesichts der unterschiedlichen Umsetzung dieser Bestimmung und von Art. 4a Abs. 1 Buchst. b des Rahmenbeschlusses 2002/584 im italienischen Recht stelle ich klar, dass für diesen Unterschied meines Erachtens kein Grund besteht, da der Wortlaut dieser beiden Bestimmungen identisch und letztere Bestimmung aus meiner Sicht daher in gleicher Weise auszulegen ist.
2. Die Prüfung der Voraussetzungen nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. i Ziff. ii des Rahmenbeschlusses 2008/909
a) Zur ersten Voraussetzung: Fälle, in denen die betroffene Person als hin reichend unterrichtet gilt
46. Bei der Prüfung, ob die erste Voraussetzung nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. i Ziff. ii des Rahmenbeschlusses 2008/909 erfüllt ist, erscheint es mir zweckmäßig, die Rechtsprechung zur Richtlinie 2016/343 heranzuziehen. Denn in diesem Kontext hat der Gerichtshof die Fälle herausgearbeitet, in denen davon auszugehen ist , dass die betroffene Person über ihre Verhandlung unterrichtet wurde .
47. So hat der Gerichtshof zu der Prüfung, ob die erste in Art. 8 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2016/343 genannte Voraussetzung erfüllt ist, ausgeführt, dass, wie sich aus dem 38. Erwägungsgrund dieser Richtlinie ergibt, dabei in besonderem Maß darauf zu achten ist, welche Sorgfalt zum einen die Behörden bei der Unterrichtung der betroffenen Person über diese Verhandlung an den Tag gelegt haben und welche Sorgfalt zum anderen diese Person im Zusammenhang mit der Entgegennahme der entsprechenden Informationen an den Tag gelegt hat . Folglich sind dem Gerichtshof zufolge für die Beurteilung dieser Voraussetzung etwaige genaue und objektive Indizien dafür relevant, dass diese Person zwar amtlich über den Vorwurf, eine Straftat begangen zu haben, in Kenntnis gesetzt wurde und somit wusste, dass eine Verhandlung gegen sie durchgeführt werden sollte, sich aber dennoch absichtlich so verhalten hat, sich einer offiziellen Entgegennahme von Informationen über Termin und Ort dieser Verhandlung zu entziehen . Das Vorliegen solcher genauen und objektiven Indizien kann beispielsweise dann festgestellt werden, wenn diese Person den zuständigen Behörden absichtlich eine falsche Anschrift mitgeteilt hat oder nicht mehr unter der Anschrift, die sie ihnen mitgeteilt hat, anzutreffen ist(20 ). Daher stellt die Tatsache, dass die betroffene Person den Staat absichtlich daran gehindert hat, sie zu unterrichten, einen für die Beurteilung, ob die ihr übermittelten Informationen ausreichend waren, relevanten Umstand dar.
48. Der Gerichtshof hat entschieden, dass bei einer in Abwesenheit verurteilten Person insbesondere davon ausgegangen werden kann, dass sie über ausreichende Informationen verfügte, um davon ausgehen zu können, dass eine Verhandlung gegen sie durchgeführt werden sollte, wenn sie eine Verfügung über die vorläufige Beschuldigung erhalten hat, deren Inhalt im Hinblick auf den zur Last gelegten Sachverhalt und seine rechtliche Würdigung dem der endgültigen Anklageschrift entspricht, die letztlich gegen sie erhoben wurde(21 ).
49. Daraus folgt, dass die Mitgliedstaaten, wenn die betroffene Person nach Erhalt einer solchen Verfügung über die vorläufige Beschuldigung die Flucht ergriffen hat, davon ausgehen dürfen, dass die rechtzeitige Übermittlung eines amtlichen Dokuments durch die zuständigen Behörden über den Termin und den Ort einer Verhandlung an die Anschrift, die die Person diesen Behörden im Ermittlungsverfahren der Strafsache mitgeteilt hat, und der Nachweis, dass dieses Dokument tatsächlich an dieser Anschrift abgegeben wurde, als Unterrichtung dieser Person über diesen Termin und diesen Ort im Sinne von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 gelten. Dies gilt jedoch nur unter der Voraussetzung, dass sich diese Behörden angemessen bemüht haben, diese Person ausfindig zu machen und sie persönlich zu laden oder auf anderem Wege amtlich über den Termin und den Ort der Verhandlung zu unterrichten, wie dies im 36. Erwägungsgrund dieser Richtlinie vorgesehen ist. In diesem Fall wird davon ausgegangen, dass sie über die Verhandlung unterrichtet wurde (22 ). Die mangelnde Sorgfalt der betroffenen Person aufgrund ihrer Flucht kann somit zu der rechtlichen Fiktion führen, dass sie ordnungsgemäß über den Termin und den Ort ihrer Verhandlung unterrichtet wurde.
50. Demnach ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob ATAU als über den Termin und den Ort seiner Verhandlung unterrichtet anzusehen ist. Hierzu wird es etwaige genaue und objektive Indizien dafür festzustellen haben, dass sich ATAU, obwohl er amtlich über den Vorwurf, eine Straftat begangen zu haben, in Kenntnis gesetzt worden war und wusste, dass eine Verhandlung gegen ihn durchgeführt werden sollte, dennoch absichtlich so verhalten hat, sich einer offiziellen Entgegennahme von Informationen über Termin und Ort dieser Verhandlung zu entziehen.
51. Im Hinblick darauf erinnere ich daran, dass ATAU nach den Angaben des vorlegenden Gerichts, wenngleich er nie über den Termin und den Ort, an denen die Verhandlung stattfinden würde, unterrichtet worden war, Kenntnis von dem gegen ihn anhängigen Verfahren hatte. Er war nämlich am 28. September 2009 wegen derselben Straftat in der Slowakei festgenommen und in Untersuchungshaft genommen worden, dann war er am 15. Dezember 2009 aus der Untersuchungshaft entlassen und in einem Flüchtlingslager im slowakischen Hoheitsgebiet untergebracht worden. Daraufhin war er untergetaucht, ohne zurückzukehren und ohne eine Zustellungsadresse anzugeben, so dass es weder möglich war, ihm Termin und Ort der anberaumten Verhandlung mitzuteilen, noch ihn darüber zu belehren, dass eine Entscheidung auch im Fall seines Nichterscheinens ergehen würde.
52. Ausgehend hiervon wird das vorlegende Gericht, gegebenenfalls nach Einholung von Auskünften bei der ausstellenden Justizbehörde, zu prüfen haben, ob ATAU nach Kenntniserlangung von dem gegen ihn erhobenen Vorwurf untergetaucht ist, ohne zurückzukehren und ohne eine Zustellungsadresse anzugeben. Da ATAU in der Slowakei festgenommen und in Untersuchungshaft genommen worden war, ist es wahrscheinlich – dies wird das vorlegende Gericht zu prüfen haben –, dass er diese Information in diesem Stadium der strafrechtlichen Ermittlungen erhalten hat. Es scheint somit ein genaues und objektives Indiz dafür zu bestehen, dass sich ATAU, obwohl er wusste, dass eine Verhandlung gegen ihn durchgeführt werden sollte, absichtlich so verhalten hat, sich einer offiziellen Entgegennahme von Informationen über Termin und Ort dieser Verhandlung zu entziehen. Damit davon ausgegangen werden kann, dass ATAU diese Informationen erhalten hat, müssen sich die slowakischen Behörden allerdings angemessen bemüht haben, ihn ausfindig zu machen und persönlich zu laden oder ihn auf anderem Wege amtlich über den Termin und den Ort der Verhandlung zu unterrichten.
b) Zur zweiten Voraussetzung: Mandat serteilung an einen Rechtsbeistand, der die betroffene Person in der Verhandlung verteidigt hat
53. Was die Vertretung durch einen bevollmächtigten Rechtsanwalt betrifft, hat der Gerichtshof klargestellt, dass das Vorliegen einer „Bevollmächtigung“ im Sinne von Art. 8 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2016/343 voraussetzt, dass die betroffene Person selbst einen Rechtsanwalt, gegebenenfalls den ihr von Amts wegen bestellten, beauftragt hat, sie in ihrer Verhandlung in Abwesenheit zu vertreten(23 ). Folglich reicht der bloße Umstand, dass eine in Abwesenheit verurteilte Person während des gesamten in ihrer Abwesenheit geführten Gerichtsverfahrens durch einen von Amts wegen bestellten Rechtsanwalt vertreten wurde, nicht aus, um die zweite in dieser Bestimmung genannte Voraussetzung zu erfüllen(24 ).
54. Vielmehr kann die Vertretung durch einen Anwalt nur dann als Beweis dafür dienen, dass die in ihrer Abwesenheit verurteilte Person freiwillig und unmissverständlich auf ihr Recht auf Anwesenheit in ihrer Verhandlung verzichtet hat, wenn diese Person es bewusst dem Anwalt überlassen hat, ihre Verteidigung vor dem erkennenden Gericht zu übernehmen, was voraussetzt, dass sie ihn speziell bestellt hat, um sie in ihrer Abwesenheit in der Verhandlung zu vertreten(25 ). Folglich können Kontakte zwischen der in Abwesenheit verurteilten Person und einem Pflichtverteidiger, die ausschließlich während des vorgerichtlichen Ermittlungsverfahrens stattgefunden haben, nicht als ausreichend für den Nachweis angesehen werden, dass diese Person bei ihrer Verhandlung in Abwesenheit im Sinne von Art. 8 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2016/343 „von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt“ vertreten wurde(26 ). Es ist daher Sache des zuständigen Gerichts, zu prüfen, ob sich aus den ihm vorliegenden Informationen ergibt, dass die betroffene Person dem Pflichtverteidiger unmissverständlich ein Mandat erteilt hat, sie in ihrer Abwesenheit vor dem erkennenden Gericht zu vertreten(27 ).
55. Auf der Grundlage dieser Aspekte, die aus meiner Sicht die Prüfung der zweiten Voraussetzung von Art. 9 Abs. 1 Buchst. i Ziff. ii des Rahmenbeschlusses 2008/909 leiten müssen, wird das vorlegende Gericht zu prüfen haben, ob diese Voraussetzung erfüllt ist. Im Hinblick darauf erinnere ich daran, dass ATAU nach den Angaben des vorlegenden Gerichts zwar nicht persönlich an der Verhandlung teilgenommen hatte, die zu dem Urteil vom 23. August 2010 geführt hat, jedoch in der Verhandlung von einem Anwalt vertreten und verteidigt worden war.
56. Sollte das vorlegende Gericht zu dem Ergebnis gelangen, dass die Anwendungsvoraussetzungen der in Art. 9 Abs. 1 Buchst. i Ziff. ii des Rahmenbeschlusses 2008/909 vorgesehenen Ausnahme erfüllt sind, könnten die Anerkennung des Urteils und die Vollstreckung der Sanktion in Italien nicht versagt werden. Einer Erklärung Italiens im Rahmen der Anwendung des fakultativen Ablehnungsgrundes nach Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584, sich zur Vollstreckung der gegen ATAU verhängten Freiheitsstrafe zu verpflichten, stünde mithin nichts im Wege.
57. Selbst wenn das vorlegende Gericht zu der Feststellung gelangen sollte, dass diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind, ist zu betonen, dass es jedenfalls nicht aufgrund seines nationalen Rechts verpflichtet sein kann, die Anerkennung des Urteils und die Vollstreckung der Sanktion zu versagen. Vielmehr würde es hinsichtlich der Entscheidung, ob von dem Grund für die Versagung der Anerkennung und der Vollstreckung nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. i des Rahmenbeschlusses 2008/909 Gebrauch gemacht wird, über ein Ermessen verfügen.
58. In diesem Kontext und auf der Grundlage der vorstehenden Erwägungen soll nun direkter auf die Fragen des vorlegenden Gerichts eingegangen werden.
3. Zum fakultativen Charakter des Grundes für die Versagung der Anerkennung und der Vollstreckung nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. i des Rahmenbeschlusses 2008/909 und zu dem Wertungs spielraum , über den die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats verfügen muss
59. Das vorlegende Gericht fragt den Gerichtshof, ob Art. 9 Abs. 1 Buchst. i des Rahmenbeschlusses 2008/909 von der zuständigen Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats verlangt, die Anerkennung und Vollstreckung einer Verurteilung zu versagen, wenn sie feststellt, dass keine der in dieser Bestimmung vorgesehenen Ausnahmen einschlägig ist. Mit anderen Worten fragt es sich, ob diese Feststellung eine Ermessensausübung hinsichtlich der Entscheidung, ob die Anerkennung der Verurteilung zu versagen ist, ausschließt.
60. Zur Beantwortung dieser Frage ist darauf hinzuweisen, dass der Unionsgesetzgeber in gleicher Weise wie bei Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 entschieden hat, dem Recht des Beschuldigten, persönlich zu seiner Verhandlung zu erscheinen, im Rahmen des Mechanismus der Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen in Strafsachen besondere Bedeutung beizumessen, indem er in Art. 9 Abs. 1 Buchst. i des Rahmenbeschlusses 2008/909 einen speziell dem Schutz dieses Rechts gewidmeten fakultativen Grund für die Versagung der Anerkennung und der Vollstreckung geschaffen hat(28 ). Außerdem ist ein solcher Versagungsgrund im Einklang mit den Anforderungen auszulegen, die sich aus Art. 47 Abs. 2 und 3 sowie aus Art. 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergeben(29 ).
61. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass sich aus dem Wortlaut von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 ergibt, dass diese Bestimmung einen Grund vorsieht, aus dem die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann, wenn der Betroffene nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die zu seiner Verurteilung geführt hat. Von dieser Möglichkeit bestehen jedoch vier, in den Buchst. a bis d dieser Bestimmung aufgezählte Ausnahmen, bei denen die betreffende vollstreckende Justizbehörde nicht die Wahl hat, die Vollstreckung des ihr übermittelten Europäischen Haftbefehls abzulehnen(30 ).
62. Eine vollstreckende Justizbehörde kann somit die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten Europäischen Haftbefehls verweigern, wenn der Betroffene nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die zu der betreffenden Entscheidung geführt hat, es sei denn, aus dem Europäischen Haftbefehl geht hervor, dass die in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten Voraussetzungen erfüllt sind(31 ). Insoweit hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass dieser Art. 4a damit die Möglichkeit einschränkt, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls zu verweigern, indem er in genauer und einheitlicher Weise aufzählt, unter welchen Voraussetzungen die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen ist, zu der der Betroffene nicht persönlich erschienen war, nicht verweigert werden dürfen(32 ).
63. Folglich ist eine vollstreckende Justizbehörde verpflichtet, einen Europäischen Haftbefehl ungeachtet der Abwesenheit des Betroffenen in der Verhandlung, die zu der betreffenden Entscheidung geführt hat, zu vollstrecken, wenn nachweislich einer der in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d dieses Rahmenbeschlusses genannten Fälle vorliegt(33 ).
64. Der Gerichtshof hat bereits klargestellt, dass eine vollstreckende Justizbehörde, da dieser Art. 4a einen fakultativen Ablehnungsgrund vorsieht, auch dann, wenn sie feststellt, dass die Situation der Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl erlassen wurde, unter keinen der in der vorstehenden Nummer der vorliegenden Schlussanträge angeführten Tatbestände fällt, jedenfalls andere Umstände berücksichtigen kann, die es ihr erlauben, sich zu vergewissern, dass die Übergabe des Betroffenen nicht zu einer Verletzung seiner Verteidigungsrechte führt(34 ).
65. In dieser Hinsicht hat der Gerichtshof aus dem Wortlaut von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584, insbesondere daraus, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern „kann“, geschlossen, dass sie über ein Ermessen hinsichtlich der Frage verfügen muss, ob seine Vollstreckung zu verweigern ist oder nicht, wenn der Europäische Haftbefehl keine der in den Buchst. a bis d dieser Bestimmung genannten Angaben enthält(35 ).
66. Nach den Ausführungen des Gerichtshofs wird diese Auslegung durch die Systematik dieses Rahmenbeschlusses bestätigt. Die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls stellt nämlich den im Rahmenbeschluss aufgestellten Grundsatz dar, während die Gründe für die Ablehnung der Anerkennung und Vollstreckung Ausnahmen sind. Würde der vollstreckenden Justizbehörde die Möglichkeit genommen, besondere Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu berücksichtigen, die sie zu der Annahme veranlassen könnten, dass die Voraussetzungen für die Ablehnung der Übergabe nicht erfüllt sind, würde dies dazu führen, dass die in Art. 4a des Rahmenbeschlusses vorgesehene bloße Befugnis durch eine echte Verpflichtung ersetzt würde, so dass die Ausnahme in Form einer Ablehnung der Übergabe zur Grundregel gemacht würde(36 ).
67. Wenn keine der in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten Voraussetzungen erfüllt sind, kann die vollstreckende Justizbehörde folglich nicht verpflichtet sein, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls zu verweigern, ohne die Möglichkeit zu haben, die besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu berücksichtigen(37 ).
68. Daher kann die vollstreckende Justizbehörde aus diesem Blickwinkel andere Umstände berücksichtigen, die es ihr ermöglichen, sich Gewissheit darüber zu verschaffen, dass die Übergabe des Betroffenen nicht zu einer Verletzung seiner Verteidigungsrechte führt, und ihn daraufhin an den Ausstellungsmitgliedstaat zu übergeben. Dabei kann u. a. das Verhalten des Betroffenen eine Rolle spielen, insbesondere der Umstand, dass er versucht hat, sich der Zustellung der an ihn gerichteten Informationen zu entziehen oder jeden Kontakt mit seinen Anwälten zu vermeiden(38 ).
69. Daraus ergibt sich, dass eine vollstreckende Justizbehörde bei der Prüfung, ob eine der in Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt ist, nicht daran gehindert werden kann, sich der Achtung der Verteidigungsrechte der betroffenen Person zu vergewissern und dabei alle Umstände des Falles, mit dem sie befasst ist, einschließlich der Informationen, über die sie möglicherweise selbst verfügt, gebührend zu berücksichtigen(39 ).
70. Im Anschluss an diese Klarstellungen weise ich darauf hin, dass die in den Rahmenbeschlüssen 2002/584 und 2008/909 enthaltenen Regelungen über Verhandlungen in Abwesenheit denselben Ursprung haben – den Rahmenbeschluss 2009/299 – und dasselbe Ziel verfolgen – sie sollen insbesondere die Verteidigungsrechte der Betroffenen dadurch stärken, dass ihr Grundrecht auf ein faires Strafverfahren gewährleistet wird(40 ) und zugleich die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten verbessern(41 ). Darüber hinaus stimmen der aktuelle Wortlaut von Art. 9 Abs. 1 Buchst. i des Rahmenbeschlusses 2008/909 und derjenige von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der jeweils durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten und eingeführten Fassung überein, worin, wie aus den Erwägungsgründen 4 und 6 des Rahmenbeschlusses 2009/299 hervorgeht, der Wille des Unionsgesetzgebers zum Ausdruck kommt, präzise und einheitlich die Bedingungen festzulegen, unter denen die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen ist, zu der die betroffene Person nicht persönlich erschienen ist, nicht verweigert werden dürfen(42 ).
71. Aus diesen Gründen sind die Erkenntnisse aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, die zu Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 ergangen ist, meines Erachtens sinngemäß auf den in Art. 9 Abs. 1 Buchst. i des Rahmenbeschlusses 2008/909 vorgesehenen fakultativen Grund für die Versagung der Anerkennung und der Vollstreckung zu übertragen.
72. Dies bedeutet, dass die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats, wenn die Anwendungsvoraussetzungen der in dieser Bestimmung vorgesehenen Ausnahmen nicht erfüllt sind, über ein Ermessen verfügt, um im Einzelfall zu beurteilen, ob von diesem Grund für die Versagung der Anerkennung und der Vollstreckung Gebrauch zu machen ist. In diesem Fall gelangt der Grundsatz der fakultativen Vollstreckungsversagung zur Anwendung. Somit kann die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats jedenfalls andere Umstände berücksichtigen, die es ihr ermöglichen, sich zu vergewissern, dass die Anerkennung eines Urteils und die Vollstreckung einer Strafe nicht zu einer Verletzung der Verteidigungsrechte der betroffenen Person führen. Sie muss daher die Möglichkeit haben, das Verhalten des Betroffenen zu berücksichtigen, einschließlich von Umständen, die belegen, dass er versucht hat, sich der Zustellung der an ihn gerichteten Informationen zu entziehen, oder dass er jeden Kontakt mit seinen Anwälten vermieden hat.
73. Indem die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats ihr Ermessen ausübt, kann sie so einen Ausgleich zwischen den Zielen der Bekämpfung der Straflosigkeit, der Erleichterung der Resozialisierung der verurteilten Person und der Gewährleistung der Verteidigungsrechte letzterer Person schaffen. Meines Erachtens ist im Rahmen der Interessenabwägung auch der Umstand zu berücksichtigen, dass die verurteilte Person die Vollstreckung ihrer Strafe im Vollstreckungsmitgliedstaat beantragt hat(43 ).
74. Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den vom vorlegenden Gericht erteilten Informationen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende italienische Regelung die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats verpflichtet, die Anerkennung eines in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Urteils und die Vollstreckung einer dort verhängten Sanktion zu versagen, wenn keine der in Art. 9 Abs. 1 Buchst. i des Rahmenbeschlusses 2008/909 vorgesehenen Ausnahmen einschlägig ist. Diese Regelung belässt dieser Behörde somit keinen Wertungsspielraum, um auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalles zu prüfen, ob die Verteidigungsrechte der betroffenen Person als gewahrt angesehen werden können, und infolgedessen die Entscheidung zu treffen, die betreffende Verurteilung anzuerkennen und zu vollstrecken.
75. Vor diesem Hintergrund ist festzustellen, dass eine solche nationale Regelung gegen Art. 9 Abs. 1 Buchst. i des Rahmenbeschlusses 2008/909 verstößt.
76. In Anbetracht dieser festgestellten Unvereinbarkeit ist daran zu erinnern, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs dahin auszulegen ist, dass er ein nationales Gericht nicht verpflichtet, eine Bestimmung des nationalen Rechts, die mit den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2002/584 oder des Rahmenbeschlusses 2008/909 unvereinbar ist, unangewendet zu lassen, da diese Bestimmungen keine unmittelbare Wirkung haben. Allerdings sind die Behörden der Mitgliedstaaten, einschließlich der Gerichte, verpflichtet, ihrem nationalen Recht so weit wie möglich eine rahmenbeschlusskonforme Auslegung beizumessen, die es ihnen ermöglicht, ein Ergebnis zu gewährleisten, das mit dem Zweck vereinbar ist, der mit diesen Rahmenbeschlüssen verfolgt wird(44 ).
77. Die Rahmenbeschlüsse können zwar keine unmittelbare Wirkung haben, ihr zwingender Charakter hat für die nationalen Behörden aber gleichwohl eine Verpflichtung zu rahmenbeschlusskonformer Auslegung ihres innerstaatlichen Rechts ab dem Zeitpunkt des Ablaufs der Frist für die Umsetzung dieser Rahmenbeschlüsse zur Folge. Diese Behörden müssen ihr nationales Recht bei seiner Anwendung daher so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks des betreffenden Rahmenbeschlusses auslegen, um das darin festgelegte Ziel zu erreichen, wobei eine Auslegung des nationalen Rechts contra legem allerdings ausgeschlossen ist. Somit gebietet der Grundsatz der rahmenbeschlusskonformen Auslegung die Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und die Anwendung der nach diesem anerkannten Auslegungsmethoden, um die volle Wirksamkeit des Rahmenbeschlusses zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das im Einklang mit dem mit ihm verfolgten Zweck steht(45 ).
78. Folglich wird das vorlegende Gericht die im Ausgangsverfahren in Frage stehende nationale Regelung unter Berücksichtigung seines gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der nach diesem anerkannten Auslegungsmethoden so weit wie möglich im Licht des Wortlauts und des Zwecks der Rahmenbeschlüsse 2002/584 und 2008/909 auszulegen haben.
V. Ergebnis
79. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen der Corte di appello di Napoli (Berufungsgericht Neapel, Italien) wie folgt zu beantworten:
Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten sowie Art. 9 Abs. 1 Buchst. i und Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung
sind dahin auszulegen, dass
die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats, wenn die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, zu ihrer Verhandlung nicht persönlich erschienen ist, im Rahmen der Anwendung des in der ersten dieser Bestimmungen vorgesehenen fakultativen Ablehnungsgrundes die Befugnis, aber nicht die Pflicht hat, die Anerkennung des Urteils und die Vollstreckung der Sanktion zu versagen, sofern keine der Ausnahmen nach der zweiten der vorgenannten Bestimmungen einschlägig ist.
Es ist Sache des nationalen Gerichts, seine nationale Regelung unter Berücksichtigung seines gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der nach diesem anerkannten Auslegungsmethoden so weit wie möglich im Licht des Wortlauts und des Zwecks der Rahmenbeschlüsse 2002/584 und 2008/909 in geänderter Fassung auszulegen.