C-86/24 – CS STEEL

C-86/24 – CS STEEL

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2025:745

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

2. Oktober 2025(*)

„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Zollunion – Verordnung (EU) Nr. 952/2013 – Bestimmung des Warenursprungs – Delegierte Verordnung (EU) 2015/2446 – Unterposition 7304 41 des Harmonisierten Systems zur Bezeichnung und Codierung der Waren – Rohre und Hohlprofile, nahtlos, aus Eisen (ausgenommen Gusseisen) oder Stahl – Gültigkeit der Ursprungsregel für Stahlrohre – Warmgefertigte Rohre, die später kaltgewalzt wurden “

In der Rechtssache C‑86/24

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Krajský soud v Ostravě – pobočka v Olomouci (Regionalgericht Ostrava – Zweigstelle Olomouc, Tschechische Republik) mit Entscheidung vom 23. Januar 2024, beim Gerichtshof eingegangen am 2. Februar 2024, in dem Verfahren

CS STEEL a.s.

gegen

Generální ředitelství cel,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten S. Rodin (Berichterstatter) sowie der Richter N. Piçarra und N. Fenger,

Generalanwalt: R. Norkus,

Kanzler: R. Stefanova-Kamisheva, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. März 2025,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der CS STEEL a.s., vertreten durch D. Urbanec, Advokát,

–        der Generální ředitelství cel, vertreten durch P. Polák,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch L. Březinová, L. Halajová, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

–        der spanischen Regierung, vertreten durch M. Morales Puerta und P. Pérez Zapico als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch B. Eggers und J. Hradil als Bevollmächtigte,

aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit der Primärregel für Waren der Unterposition 7304 41 (im Folgenden: Primärregel) des Harmonisierten Systems zur Bezeichnung und Codierung der Waren (im Folgenden: HS) in Anhang 22-01 der Delegierten Verordnung (EU) 2015/2446 der Kommission vom 28. Juli 2015 zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates mit Einzelheiten zur Präzisierung von Bestimmungen des Zollkodex der Union (ABl. 2015, L 343, S. 1).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der CS STEEL a.s., einer tschechischen Gesellschaft, und dem Generální ředitelství cel (Generaldirektion Zoll, Tschechische Republik) (im Folgenden: nationale Zollbehörde) wegen einer gegen diese Gesellschaft verhängten Nacherhebung von Zöllen.

 Rechtlicher Rahmen

 Völkerrecht

3        Das HS wurde mit dem am 14. Juni 1983 in Brüssel im Rahmen der Weltzollorganisation (WZO) geschlossenen Internationalen Übereinkommen über das Harmonisierte System zur Bezeichnung und Codierung der Waren (United Nations Treaty Series, Bd. 1503, S. 4, Nr. 25910 [1988]) eingeführt und mit dem dazugehörigen Änderungsprotokoll vom 24. Juni 1986 durch den Beschluss 87/369/EWG des Rates vom 7. April 1987 (ABl. 1987, L 198, S. 1) im Namen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft genehmigt. Die Erläuterungen zum HS werden in der WZO nach den Bestimmungen dieses Übereinkommens ausgearbeitet.

4        In den Erläuterungen zu Position 7304 HS heißt es:

„Rohre und Hohlprofile dieser Position können durch folgende Verfahren hergestellt werden:

B)      Warmstrangpressen eines Rundstahls in einer Presse, unter Verwendung von Glas (Ungine-Séjournet-Verfahren) oder eines anderen Schmiermittels. Dieses Verfahren umfasst die folgenden Arbeitsgänge: Lochen, gegebenenfalls Aufweiten und Ziehen.

Den beschriebenen Vorgängen folgen verschiedene Fertigbearbeitungen:

–        beim Warmfertigbearbeiten wird der Rohling nach dem Wiedererwärmen einem Maßwalzwerk zugeführt, gegebenenfalls gestreckt und anschließend gerichtet;

–        beim Kaltfertigbearbeiten auf einem Dorn, durch Ziehen auf der Ziehbank oder durch Walzen auf dem Pilgerschritt-Walzwerk (Mannesmann- oder Megaval-Verfahren). Diese Verfahren ermöglichen, aus warmgewalzten oder warmstranggepressten Rohrluppen Rohre mit geringerem Durchmesser und geringerer Wanddicke zu erhalten als dies bei den Warmverformungsverfahren möglich ist (beim Transval-Verfahren können Rohre mit geringerer Wanddicke direkt hergestellt werden), oder Rohre mit engeren Toleranzen hinsichtlich Durchmesser oder Wanddicke herzustellen. Die Kaltbearbeitungsverfahren umfassen auch Ziehschleifen und Rollenglätten, um polierte Oberflächen zu erhalten (Rohre mit geringer Rauigkeit), die z. B. für pneumatische Hebeböcke und Hydraulikzylinder benötigt werden.

…“

 Unionsrecht

 Zollkodex

5        Art. 60 („Ursprungserwerb“) Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union (ABl. 2013, L 269, S. 1, berichtigt in ABl. 2016, L 267, S. 2, im Folgenden: Zollkodex) sieht vor:

„Waren, an deren Herstellung mehr als ein Land oder Gebiet beteiligt ist, gelten als Ursprungswaren des Landes oder Gebiets, in dem sie der letzten wesentlichen, wirtschaftlich gerechtfertigten Be- oder Verarbeitung unterzogen wurden, die in einem dazu eingerichteten Unternehmen vorgenommen wurde und zur Herstellung eines neuen Erzeugnisses geführt hat oder eine bedeutende Herstellungsstufe darstellt.“

6        Art. 62 („Befugnisübertragung“) des Zollkodex bestimmt:

„Die [Europäische] Kommission wird ermächtigt, delegierte Rechtsakte gemäß Artikel 284 zu erlassen, in denen die Regeln festgelegt werden, nach denen Waren, deren Bestimmung des nichtpräferenziellen Ursprungs für die Anwendung der in Artikel 59 genannten [Maßnahmen der Europäischen Union] erforderlich ist, gemäß Artikel 60 als in einem einzigen Land oder Gebiet vollständig gewonnen oder hergestellt oder als in einem Land oder Gebiet der letzten wesentlichen, wirtschaftlich gerechtfertigten Be- oder Verarbeitung, die in einem dazu eingerichteten Unternehmen vorgenommen wurde und zur Herstellung eines neuen Erzeugnisses geführt hat oder eine bedeutende Herstellungsstufe darstellt, unterzogen angesehen werden.“

7        Art. 284 („Ausübung der Befugnisübertragung“) des Zollkodex legt die Bedingungen für diese Ausübung fest.

 Delegierte Verordnung 2015/2446

8        In Ausübung ihrer Befugnisse aus Art. 62 des Zollkodex hat die Kommission die Delegierte Verordnung 2015/2446 erlassen.

9        Anhang 22-01 dieser Delegierten Verordnung ist mit „Einleitende Anmerkungen und Liste der wesentlichen Be- oder Verarbeitungsprozesse, aus denen sich ein nichtpräferenzieller Ursprung ergibt“ überschrieben. Dieser Anhang enthält einen Abschnitt mit der Überschrift „Einleitende Anmerkungen“, dessen Nrn. 2 und 3 vorsehen:

„2.      Anwendung der Regeln in diesem Anhang

2.1.      Die in diesem Anhang aufgeführten Regeln sind auf die Waren auf Grundlage ihrer Einreihung in das [HS] sowie weiterer Kriterien, die gegebenenfalls speziell für die Zwecke dieses Anhangs zusätzlich zu den Positionen oder Unterpositionen des HS vorgegeben werden, anzuwenden. Eine Position oder Unterposition des [HS], die aufgrund solcher Kriterien weiter untergliedert wurde, wird in diesem Anhang als ‚Teilposition‘ oder ‚Teilunterposition‘ bezeichnet. …

Die Einreihung von Waren in Positionen und Unterpositionen des [HS] erfolgt nach Maßgabe der Allgemeinen Vorschriften für die Auslegung des HS und der jeweiligen Anmerkungen zu den Abschnitten, Kapiteln und Unterpositionen des HS. Diese Vorschriften und Anmerkungen sind Teil der Kombinierten Nomenklatur, die in Anhang I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates [vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif (ABl. 1987, L 256, S. 1)], enthalten ist. Für die Bestimmung einer korrekten Teilposition oder Unterposition für bestimmte Waren dieses Anhangs sind die Allgemeinen Vorschriften für die Auslegung des HS und die jeweiligen Anmerkungen zu den Abschnitten, Kapiteln und Unterpositionen des HS sinngemäß anzuwenden, soweit in diesem Anhang nichts anderes bestimmt ist.

3.      Glossar

Die Primärregeln auf Untergliederungsebene können, wenn sie auf einer Änderung der zolltariflichen Einreihung basieren, durch folgende Kürzel wiedergegeben werden:

CTH:      Wechsel zu der betreffenden Position von jeder anderen Position

…“

10      Kapitel 73 dieses Anhangs enthält eine Tabelle mit den Primärregeln, die bei der Bestimmung des Ursprungslands oder des Ursprungsgebiets der dort aufgeführten und nach ihrer Position oder Unterposition im HS bezeichneten Waren anzuwenden sind, u. a. die Primärregel für kaltgezogene oder kaltgewalzte Rohre aus nicht rostendem Stahl mit kreisförmigem Querschnitt der HS-Unterposition 7304 41. In der Tabelle heißt es:

„HS-Code 2012

Warenbezeichnung

Primärregeln

7304

Rohre und Hohlprofile, nahtlos, aus Eisen (ausgenommen Gusseisen) oder Stahl

Wie für die Unterpositionen angegeben

– Rohre von der für Öl- oder Gasfernleitungen verwendeten Art (line pipe):

7304 11

– – aus nicht rostendem Stahl

CTH

– andere, mit kreisförmigem Querschnitt, aus nicht rostendem Stahl:

– andere, mit kreisförmigem Querschnitt, aus nicht rostendem Stahl:

7304 41

– – kaltgezogen oder kaltgewalzt

CTH; oder Wechsel von Hohlprofilen der Unterposition 7304 49

7304 49

– – andere

CTH“

 Ausgangsrechtsstreit, Vorlagefrage und Verfahren vor dem Gerichtshof

11      Die Maxim Tubes Company Pvt. Ltd, ein Unternehmen mit Sitz in Indien, führte warmgefertigte Stahlrohre der Unterposition 7304 11, die der Norm ASTM A312 entsprachen, aus China nach Indien ein. Diese Rohre wurden später in Indien kaltgewalzt, d. h. gewalzt, gebeizt, passiviert, geglüht, gerichtet und geschnitten, was eine Veränderung ihrer Abmessungen zur Folge hatte. Die so verarbeiteten Rohre, die noch immer der Norm ASTM A312 entsprachen, wurden in die Union an CS STEEL ausgeführt.

12      Im Zeitraum von Januar 2016 bis Dezember 2017 nahm der Celní úřad pro Olomoucký kraj (Zollamt für die Region Olomouc, Tschechische Republik) sechs von CS STEEL eingereichte Zollanmeldungen zur Überführung von Rohren aus nicht rostendem Stahl mit kreisförmigem Querschnitt der HS-Unterposition 7304 41 in den zollrechtlich freien Verkehr an, für die als nicht präferenzieller Ursprung Indien angemeldet wurde.

13      Im Anschluss an eine Kontrolle stellte die nationale Zollbehörde fest, dass diese Rohre chinesischen Ursprungs seien, und nahm daher gemäß der Durchführungsverordnung (EU) 2018/330 der Kommission vom 5. März 2018 zur Einführung eines endgültigen Antidumpingzolls auf die Einfuhren bestimmter nahtloser Rohre aus rostfreiem Stahl mit Ursprung in der Volksrepublik China im Anschluss an eine Überprüfung wegen des bevorstehenden Außerkrafttretens der Maßnahmen nach Art. 11 Abs. 2 der Verordnung (EU) 2016/1036 des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. 2018, L 63, S. 15) eine Nacherhebung der geschuldeten Zölle vor.

14      Eine Änderung des Ursprungs dieser Rohre wäre nur möglich gewesen, wenn die Rohre aus Waren anderer HS-Positionen wie Abfällen und Schrott aus Stahl der Position 7204 oder Hohlprofilen der Unterposition 7304 49 hergestellt worden wären.

15      Der mit einer Klage von CS STEEL gegen die Entscheidungen der nationalen Zollbehörde über diese Nacherhebung befasste Krajský soud v Ostravě – pobočka v Olomouci (Regionalgericht Ostrava – Zweigstelle Olomouc, Tschechische Republik), das vorlegende Gericht, hat Zweifel an der Gültigkeit der in Anhang 22-01 der Delegierten Verordnung 2015/2446 aufgeführten Primärregel über die Bestimmung des Ursprungs von Waren der Unterposition 7304 41 HS, da nach dieser Regel solchen Waren, die aus einer Kaltwalzung von Erzeugnissen der Unterposition 7304 49 HS hervorgegangen sind, die Eigenschaft von Waren mit Ursprung in dem Land verliehen wird, in dem diese Vorgänge stattgefunden haben, während eine entsprechende Verarbeitung von Erzeugnissen der Unterposition 7304 11 HS diesen Waren keinen solchen Ursprung verleiht.

16      Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, dass sich aus der Primärregel für die Bestimmung des Ursprungs von in die Unterposition 7304 41 HS eingereihten Waren vor dem Hintergrund des Urteils vom 21. September 2023, Stappert Deutschland (C‑210/22, EU:C:2023:693), ergebe, dass eine Ursprungsänderung im Wesentlichen entweder durch einen Wechsel der Tarifposition oder durch die Kaltwalzung eines Erzeugnisses der Unterposition 7304 49 HS zustande komme. Da der einzige relevante Unterschied zwischen der Unterposition 7304 49 und der Unterposition 7304 11 offenbar in der Art und Weise bestehe, in der die Rohre verwendet würden, könne diese Primärregel zu einer diskriminierenden Unterscheidung zwischen Verarbeitungserzeugnissen führen, die vor der Verarbeitung unter die Unterposition 7304 11 HS fielen.

17      Unter diesen Umständen hat der Krajský soud v Ostravě – pobočka v Olomouci (Regionalgericht Ostrava – Zweigstelle Olomouc) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist die in Anhang 22-01 der Delegierten Verordnung 2015/2446 enthaltene Primärregel zur Ursprungsbestimmung für die Unterposition 7304 41 HS insoweit gültig, als sie es ausschließt, dass für eine Ursprungsänderung von warmgefertigten Rohren der Unterposition 7304 11, die der Norm ASTM A312 entsprechen, deren Kaltverarbeitung (Kaltwalzung) ausreicht?

18      Auf ein Auskunftsersuchen des Gerichtshofs, das sich u. a. auf die Auswirkungen der Kaltverarbeitung der betreffenden Rohre bezog, hat das vorlegende Gericht ausgeführt, dass Größe, Struktur und Eigenschaften des Materials dieser Rohre erheblich verändert worden seien, und dass es nicht wisse, ob diese Rohre Merkmale aufwiesen, die sie als Öl- oder Gasfernleitungen verwendbar machten.

 Zur Vorlagefrage

19      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Primärregel im Hinblick auf Art. 60 Abs. 2 des Zollkodex gültig ist, soweit sie nicht vorsieht, dass aus Rohren der Unterposition 7304 11 HS hergestellte kaltgefertigte Rohre der Unterposition 7304 41 HS als Ursprungswaren des Landes oder Gebiets angesehen werden können, in dem sie der letzten Be- oder Verarbeitung unterzogen wurden.

20      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach dem Wortlaut der Primärregel Rohre der Unterposition 7304 41 HS als Ursprungswaren des Landes gelten, in dem sie entweder aus Waren einer anderen HS-Position oder durch Kaltumformung von „Hohlprofilen der Unterposition 7304 49“ HS hergestellt worden sind. Der Gerichtshof hat jedoch im Urteil vom 21. September 2023, Stappert Deutschland (C‑210/22, EU:C:2023:693, Rn. 66), für Recht erkannt, dass diese Regel ungültig ist, soweit sie es ausschließt, dass der Wechsel der Tarifposition, der sich aus der Verarbeitung von Rohren der Unterposition 7304 49 HS zu kaltgezogenen oder kaltgewalzten Rohren und Hohlprofilen, nahtlos, aus Eisen (ausgenommen Gusseisen) oder Stahl der Unterposition 7304 41 HS, ergibt, diesen die Eigenschaft von Erzeugnissen mit Ursprung in dem Land verleiht, in dem dieser Wechsel stattgefunden hat.

21      Wie das vorlegende Gericht im Wesentlichen ausführt, sieht die Primärregel, gelesen im Licht dieses Urteils, offensichtlich bei der Bestimmung des Ursprungs zwischen einer Kaltverarbeitung von Rohren der Unterposition 7304 11 HS und einer Kaltverarbeitung von Rohren der Unterposition 7304 49 HS eine Ungleichbehandlung vor.

22      Nach Art. 62 des Zollkodex wird die Kommission ermächtigt, delegierte Rechtsakte zu erlassen, in denen die Regeln festgelegt werden, nach denen Waren gemäß Art. 60 des Zollkodex als in einem Land oder Gebiet der letzten wesentlichen, wirtschaftlich gerechtfertigten Be- oder Verarbeitung, die in einem dazu eingerichteten Unternehmen vorgenommen wurde und zur Herstellung eines neuen Erzeugnisses geführt hat oder eine bedeutende Herstellungsstufe darstellt, unterzogen angesehen werden. Mit diesen Rechtsakten soll genauer bestimmt werden, wie die in Art. 60 des Zollkodex genannten abstrakten Kriterien in konkreten Situationen auszulegen und anzuwenden sind (Urteil vom 21. September 2023, Stappert Deutschland, C‑210/22, EU:C:2023:693, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

23      Die Ausübung dieser Befugnis der Kommission unterliegt jedoch, wie sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, bestimmten Anforderungen. Die mit einer delegierten Verordnung verfolgten Ziele müssen geeignet sein, ihren Erlass zu rechtfertigen, die Verordnung muss dem für einen solchen Rechtsakt vorgeschriebenen Begründungserfordernis genügen, und die Beurteilungen der Kommission zur Bestimmung des Ursprungslands der Waren, auf die diese Verordnung anwendbar ist, dürfen in Anbetracht von Art. 60 Abs. 2 des Zollkodex nicht mit einem Rechtsfehler oder mit einem offensichtlichen Beurteilungsfehler behaftet sein (Urteil vom 21. September 2023, Stappert Deutschland, C‑210/22, EU:C:2023:693, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

24      Der Ursprung der betreffenden Waren ist jedenfalls anhand des entscheidenden Kriteriums der „letzten wesentlichen Be- oder Verarbeitung“ der Waren zu bestimmen. Dieser Ausdruck ist so zu verstehen, dass er auf den Schritt des Herstellungsverfahrens verweist, in dem diese Waren ihre künftige Verwendung sowie besondere Eigenschaften und eine spezifische Beschaffenheit erlangen, die sie vorher nicht hatten und die nicht dazu bestimmt sind, später erhebliche qualitative Änderungen zu erfahren (Urteil vom 21. September 2023, Stappert Deutschland, C‑210/22, EU:C:2023:693, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25      Die gerichtliche Prüfung der Begründetheit einer Bestimmung eines Rechtsakts wie Anhang 22-01 der Delegierten Verordnung 2015/2446, der die Primärregel vorsieht, kann sich auf die Frage erstrecken, ob der Kommission unabhängig von einem Rechtsfehler unter Berücksichtigung der Umstände der betreffenden konkreten Situation bei der Durchführung von Art. 60 Abs. 2 des Zollkodex ein offensichtlicher Beurteilungsfehler unterlaufen ist (Urteil vom 21. September 2023, Stappert Deutschland, C‑210/22, EU:C:2023:693, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs muss eine unterschiedliche Behandlung ähnlicher Verarbeitungen, wie sie in Rn. 21 des vorliegenden Urteils festgestellt wurde, von der Kommission objektiv gerechtfertigt werden, damit festgestellt werden kann, dass ihr kein solcher Fehler unterlaufen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. März 1983, Cousin u. a., 162/82, EU:C:1983:93, Rn. 21, und vom 21. September 2023, Stappert Deutschland, C‑210/22, EU:C:2023:693, Rn. 56).

27      Im vorliegenden Fall macht die Kommission geltend, die Übereinstimmung der aus China nach Indien eingeführten und unter die Unterposition 7304 11 HS fallenden Rohre der Norm ASTM A312 zeige, dass es sich bei diesen Waren bereits um Fertigerzeugnisse gehandelt habe, die keiner wesentlichen, wirtschaftlich gerechtfertigten Verarbeitung hätten unterzogen werden können, die zu einer Änderung des Ursprungs geführt hätte.

28      Ferner führt nach Ansicht der Kommission die Kaltverarbeitung von Rohren der Unterposition 7304 11 HS, in deren Folge sie derart verändert würden, dass sie in die Unterposition 7304 41 HS einzureihen seien, nicht dazu, dass sie eine künftige Verwendung und eine Beschaffenheit erlangten, die sie zuvor nicht gehabt hätten, da sie ihre letzten qualitativen Änderungen bei ihrer Warmverarbeitung, die zu ihrer Einreihung in die erstgenannte Unterposition geführt habe, erfahren hätten. In der Tat würde eine solche Kaltverarbeitung dieser Rohre zwar zu irreversiblen Veränderungen dieser Erzeugnisse führen, hauptsächlich durch eine Verringerung ihrer Größe; sie schlösse es jedoch nicht aus, die Rohre als Gas- oder Ölleitungen zu verwenden und die Norm ASTM A312 einzuhalten, wie alle Beteiligten, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, übereinstimmend vortragen. Somit würde sich diese Kaltverarbeitung von der Kaltverarbeitung der vom Urteil vom 21. September 2023, Stappert Deutschland (C‑210/22, EU:C:2023:693), erfassten Rohrluppen unterscheiden, bei denen es sich um Halbzeug handelt und die zur Unterposition 7304 49 HS gehören.

29      Hierzu ist festzustellen, dass die Waren der Unterpositionen 7304 11 HS als Rohre, nahtlos, von der für Öl- oder Gasfernleitungen verwendeten Art (line pipe), aus nicht rostendem Stahl, und die Waren der Unterposition 7304 41 HS als andere Rohre, nahtlos, mit kreisförmigem Querschnitt, aus nicht rostendem Stahl, kaltgezogen oder kaltgewalzt, bezeichnet werden.

30      Daher sind Rohre nicht mehr in die Unterposition 7304 11 HS, sondern in die Unterposition 7304 41 HS einzureihen, wenn sie die typischen Eigenschaften von Rohren für Öl- und Gasfernleitungen verlieren, was nicht notwendigerweise zu einem Verlust der Eigenschaften führt, die sie für diesen Zweck verwendbar machen.

31      Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass eine Kaltverarbeitung von Rohren der Unterposition 7304 11 HS, durch die sie derart verändert werden, dass sie in die Unterposition 7304 41 HS einzureihen sind, selbst wenn ihre Eigenschaften erheblich verändert werden, nicht allein aus diesem Grund zu einer Änderung ihrer ursprünglichen Verwendung und Beschaffenheit führt.

32      Diese Beurteilung wird durch die Antwort des vorlegenden Gerichts auf das in Rn. 18 des vorliegenden Urteils angeführte Auskunftsersuchen des Gerichtshofs nicht entkräftet, wonach eine Kaltverarbeitung von Rohren der Unterposition 7304 11 HS erhebliche Auswirkungen auf die Abmessungen, die Struktur und die Merkmale dieser Rohre haben kann. Aus dieser Antwort geht nämlich weder hervor, dass die Kaltverarbeitung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rohre so erheblich war, dass diese Rohre nicht mehr für den Transport von Erdöl und Gas verwendet werden konnten, noch, dass ihre Beschaffenheit verändert worden wäre. Eine solche Beurteilung wird vielmehr dadurch bestätigt, dass die Rohre nach der Verarbeitung noch immer der Norm ASTM A312 entsprechen. Wie die Kommission geltend macht, ohne dass ihr die anderen Beteiligten widersprochen hätten, belegt diese Normkonformität die Verwendbarkeit der Rohre als Erdöl- und Gasleitungen.

33      Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass die durch die Primärregel eingeführte unterschiedliche Behandlung bei der Bestimmung des Ursprungs zwischen einer Kaltverarbeitung von Rohren der Unterposition 7304 11 HS und einer Kaltverarbeitung von Rohren der Unterposition 7304 49 HS objektiv gerechtfertigt ist. Daher hat die Kommission mit dem Erlass dieser Primärregel keinen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen.

34      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass deren Prüfung nichts ergeben hat, was die Gültigkeit der Primärregel berühren könnte.

 Kosten

35      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

Die Prüfung der Vorlagefrage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit der Primärregel für Waren der Unterposition 7304 41 des Harmonisierten Systems zur Bezeichnung und Codierung der Waren in Anhang 22-01 der Delegierten Verordnung (EU) 2015/2446 der Kommission vom 28. Juli 2015 zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates mit Einzelheiten zur Präzisierung von Bestimmungen des Zollkodex der Union berühren könnte.

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