Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
19. November 2024(* )
„ Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Art. 20 AEUV – Unionsbürgerschaft – Art. 21 AEUV – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Art. 22 AEUV – Aktives und passives Wahlrecht bei Kommunalwahlen und bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Wohnsitzmitgliedstaat unter denselben Bedingungen wie die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats – Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen – Kein Recht, Mitglied einer politischen Partei zu werden – Art. 2 und 10 EUV – Demokratieprinzip – Art. 4 Abs. 2 EUV – Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten – Art. 12 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Rolle der politischen Parteien beim Ausdruck des Willens der Unionsbürger “
In der Rechtssache C‑808/21
betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 21. Dezember 2021,
Europäische Kommission, vertreten durch P. Ondrůšek, J. Tomkin und A. Szmytkowska als Bevollmächtigte,
Klägerin,
gegen
Tschechische Republik, vertreten durch A. Edelmannová, T. Müller, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
Beklagte,
unterstützt durch
Republik Polen, vertreten durch B. Majczyna, E. Borawska-Kędzierska und A. Siwek-Ślusarek als Bevollmächtigte,
Streithelferin,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten T. von Danwitz, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún, der Kammerpräsidenten A. Kumin und D. Gratsias, des Richters E. Regan, der Richterin I. Ziemele (Berichterstatterin), des Richters Z. Csehi und der Richterin O. Spineanu-Matei,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. September 2023,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. Januar 2024
folgendes
Urteil
1 Mit ihrer Klage begehrt die Europäische Kommission die Feststellung, dass die Tschechische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 22 AEUV verstoßen hat, dass sie Unionsbürgern, die nicht die tschechische Staatsangehörigkeit besitzen, aber in der Tschechischen Republik ihren Wohnsitz haben, das Recht verwehrt, Mitglied einer politischen Partei oder einer politischen Bewegung zu werden.
Rechtlicher Rahmen
Internationales Recht
2 Die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) bestimmt in Art. 11 („Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit“):
„(1) Jede Person hat das Recht, sich frei und friedlich mit anderen zu versammeln und sich frei mit anderen zusammenzuschließen; dazu gehört auch das Recht, zum Schutz ihrer Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten.
(2) Die Ausübung dieser Rechte darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale oder öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Dieser Artikel steht rechtmäßigen Einschränkungen der Ausübung dieser Rechte für Angehörige der Streitkräfte, der Polizei oder der Staatsverwaltung nicht entgegen.“
3 Art. 16 („Beschränkungen der politischen Tätigkeit ausländischer Personen“) EMRK bestimmt:
„Die Artikel 10, 11 und 14 sind nicht so auszulegen, als untersagten sie den Hohen Vertragsparteien, die politische Tätigkeit ausländischer Personen zu beschränken.“
4 Art. 3 („Recht auf freie Wahlen“) des am 20. März 1952 in Paris unterzeichneten Zusatzprotokolls zur EMRK lautet:
„Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, in angemessenen Zeitabständen freie und geheime Wahlen unter Bedingungen abzuhalten, welche die freie Äußerung der Meinung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Körperschaften gewährleisten.“
Unionsrecht
EU-Vertrag und AEU-Vertrag
5 Art. 2 EUV sieht vor:
„Die Werte, auf die sich die [Europäische] Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“
6 Art. 4 Abs. 1 und 2 EUV lautet:
„(1) Alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten verbleiben gemäß Artikel 5 bei den Mitgliedstaaten.
(2) Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt. Sie achtet die grundlegenden Funktionen des Staates, insbesondere die Wahrung der territorialen Unversehrtheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der nationalen Sicherheit. Insbesondere die nationale Sicherheit fällt weiterhin in die alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten.“
7 Art. 5 Abs. 1 und 2 EUV sieht vor:
„(1) Für die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Union gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung. Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union gelten die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit.
(2) Nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung wird die Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben. Alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten verbleiben bei den Mitgliedstaaten.“
8 Art. 10 EUV bestimmt:
„(1) Die Arbeitsweise der Union beruht auf der repräsentativen Demokratie.
(2) Die Bürgerinnen und Bürger sind auf Unionsebene unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten.
Die Mitgliedstaaten werden im Europäischen Rat von ihrem jeweiligen Staats- oder Regierungschef und im Rat [der Europäischen Union] von ihrer jeweiligen Regierung vertreten, die ihrerseits in demokratischer Weise gegenüber ihrem nationalen Parlament oder gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern Rechenschaft ablegen müssen.
(3) Alle Bürgerinnen und Bürger haben das Recht, am demokratischen Leben der Union teilzunehmen. Die Entscheidungen werden so offen und bürgernah wie möglich getroffen.
(4) Politische Parteien auf europäischer Ebene tragen zur Herausbildung eines europäischen politischen Bewusstseins und zum Ausdruck des Willens der Bürgerinnen und Bürger der Union bei.“
9 Art. 18 Abs. 1 AEUV lautet:
„Unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge ist in ihrem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.“
10 In Art. 20 AEUV heißt es:
„(1) Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt diese aber nicht.
(2) Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben die in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten. Sie haben unter anderem
…
b) in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen, wobei für sie dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats;
…
Diese Rechte werden unter den Bedingungen und innerhalb der Grenzen ausgeübt, die in den Verträgen und durch die in Anwendung der Verträge erlassenen Maßnahmen festgelegt sind.“
11 Art. 21 Abs. 1 AEUV lautet:
„Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.“
12 Art. 22 AEUV bestimmt:
„(1) Jeder Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, hat in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen, wobei für ihn dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats. Dieses Recht wird vorbehaltlich der Einzelheiten ausgeübt, die vom Rat einstimmig gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung des Europäischen Parlaments festgelegt werden; in diesen können Ausnahmeregelungen vorgesehen werden, wenn dies aufgrund besonderer Probleme eines Mitgliedstaats gerechtfertigt ist.
(2) Unbeschadet des Artikels 223 Absatz 1 und der Bestimmungen zu dessen Durchführung besitzt jeder Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament, wobei für ihn dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats. Dieses Recht wird vorbehaltlich der Einzelheiten ausgeübt, die vom Rat einstimmig gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung des Europäischen Parlaments festgelegt werden; in diesen können Ausnahmeregelungen vorgesehen werden, wenn dies aufgrund besonderer Probleme eines Mitgliedstaats gerechtfertigt ist.“
Charta
13 Art. 12 („Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit“) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) lautet:
„(1) Jede Person hat das Recht, sich insbesondere im politischen, gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Bereich auf allen Ebenen frei und friedlich mit anderen zu versammeln und frei mit anderen zusammenzuschließen, was das Recht jeder Person umfasst, zum Schutz ihrer Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten.
(2) Politische Parteien auf der Ebene der Union tragen dazu bei, den politischen Willen der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger zum Ausdruck zu bringen.“
14 Art. 39 („Aktives und passives Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament“) der Charta bestimmt:
„(1) Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger besitzen in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament unter denselben Bedingungen wie die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats.
(2) Die Mitglieder des Europäischen Parlaments werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl gewählt.“
15 Art. 40 („Aktives und passives Wahlrecht bei den Kommunalwahlen“) der Charta sieht vor:
„Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger besitzen in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen unter denselben Bedingungen wie die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats.“
Richtlinie 93/109/EG
16 Die Erwägungsgründe 3 bis 7 der Richtlinie 93/109/EG des Rates vom 6. Dezember 1993 über die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Wahlen zum Europäischen Parlament für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen (ABl. 1993, L 329, S. 34), in der durch die Richtlinie 2013/1/EU des Rates vom 20. Dezember 2012 (ABl. 2013, L 26, S. 27) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 93/109) lauten:
„Das in Artikel 8b Absatz 2 [EG] vorgesehene aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Wohnsitzmitgliedstaat stellt eine Anwendung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung zwischen in- und ausländischen Gemeinschaftsbürgern sowie eine Ergänzung des in Artikel 8a [EG] festgeschriebenen Rechts auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt dar.
Artikel 8b Absatz 2 [EG] betrifft nur die Möglichkeit der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Wahlen zum Europäischen Parlament – unbeschadet der Durchführung von Artikel 138 Absatz 3 [EG], der die Einführung eines in allen Mitgliedstaaten einheitlichen Verfahrens für diese Wahlen vorsieht – und zielt vor allem darauf ab, die Bedingung der Staatsangehörigkeit, an die heute in den meisten Mitgliedstaaten die Ausübung dieser Rechte geknüpft ist, aufzuheben.
Die Anwendung von Artikel 8b Absatz 2 [EG] setzt keine Harmonisierung der Wahlrechtsordnungen der Mitgliedstaaten voraus. Mit Rücksicht auf den in Artikel 3b Absatz 3 [EG] festgeschriebenen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit darf zudem der Inhalt der einschlägigen Gemeinschaftsvorschriften nicht über das für die Erreichung des Ziels von Artikel 8b Absatz 2 [EG] erforderliche Maß hinausgehen.
Artikel 8b Absatz 2 [EG] zielt darauf ab, dass alle Unionsbürger, gleich, ob sie Staatsangehörige des Mitgliedstaats ihres Wohnsitzes sind oder nicht, dort ihr aktives und passives Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament unter den gleichen Bedingungen ausüben können. Deshalb müssen für die Unionsbürger, die keine Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats sind, die gleichen Bedingungen, insbesondere bezüglich der Wohnsitzdauer und des Wohnsitznachweises, gelten, wie sie gegebenenfalls für die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats gelten.
Artikel 8b Absatz 2 [EG] sieht das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Wohnsitzmitgliedstaat vor, ohne dieses an die Stelle des aktiven und passiven Wahlrechts im Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt, zu setzen. Es gilt, die freie Entscheidung des Unionsbürgers bezüglich des Mitgliedstaats, in dem er sich an der Europawahl beteiligen möchte, zu respektieren, wobei ein Missbrauch dieser Freiheit durch eine doppelte Stimmabgabe oder eine doppelte Kandidatur auszuschließen ist.“
17 Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 93/109 bestimmt:
„In dieser Richtlinie werden die Einzelheiten festgelegt, nach denen die Unionsbürger, die ihren Wohnsitz in einem Mitgliedstaat haben, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, dort das aktive und das passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament ausüben können.“
18 Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 93/109 sieht vor:
„Bei der Einreichung seiner Kandidaturerklärung hat der passiv Wahlberechtigte der Gemeinschaft die gleichen Nachweise wie ein nationaler passiv Wahlberechtigter beizubringen. Außerdem hat er eine förmliche Erklärung vorzulegen, aus der Folgendes hervorgeht:
a) seine Staatsangehörigkeit, sein Geburtsdatum und [sein] Geburtsort, seine letzte Anschrift im Herkunftsmitgliedstaat sowie seine Anschrift im Wahlgebiet des Wohnsitzmitgliedstaats;
b) dass er nicht gleichzeitig in einem anderen Mitgliedstaat bei den Wahlen zum Europäischen Parlament kandidiert;
c) im Wählerverzeichnis welcher Gebietskörperschaft oder welchen Wahlkreises des Herkunftsmitgliedstaats er gegebenenfalls zuletzt eingetragen gewesen ist;
d) dass er in seinem Herkunftsmitgliedstaat nicht infolge einer Einzelfallentscheidung einer Justizbehörde oder einer Einzelfallentscheidung einer Verwaltungsbehörde, die vor Gericht angefochten werden kann, des passiven Wahlrechts verlustig gegangen ist.“
19 Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 93/109 lautet:
„Bei Ablehnung des Antrags auf Eintragung in das Wählerverzeichnis oder bei Ablehnung der Kandidatur kann der Betreffende den Rechtsbehelf einlegen, den die Rechtsvorschriften des Wohnsitzmitgliedstaats in gleichen Fällen für die nationalen aktiv und passiv Wahlberechtigten vorsehen.“
Richtlinie 94/80/EG
20 Die Erwägungsgründe 4, 5 und 14 der Richtlinie 94/80/EG des Rates vom 19. Dezember 1994 über die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen (ABl. 1994, L 368, S. 38), lauten:
„Die Anwendung von Artikel 8b Absatz 1 [EG] setzt keine globale Harmonisierung der Wahlrechtsordnungen der Mitgliedstaaten voraus. Er zielt im Wesentlichen darauf ab, die Bedingung der Staatsangehörigkeit aufzuheben, an die zur Zeit in den meisten Mitgliedstaaten die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts geknüpft ist. Mit Rücksicht auf den in Artikel 3b Absatz 3 [EG] festgeschriebenen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit darf zudem der Inhalt der einschlägigen Gemeinschaftsvorschriften nicht über das für die Erreichung des Ziels von Artikel 8b Absatz 1 [EG] erforderliche Maß hinausgehen.
Artikel 8b Absatz 1 [EG] zielt darauf ab, dass alle Unionsbürger, unabhängig davon, ob sie Staatsangehörige des Wohnsitzmitgliedstaats sind oder nicht, dort ihr aktives und passives Wahlrecht bei den Kommunalwahlen unter den gleichen Bedingungen ausüben können. Deshalb müssen für die Unionsbürger, die nicht Staatsangehörige des betreffenden Mitgliedstaats sind, insbesondere bezüglich der Wohnsitzdauer und des Wohnsitznachweises die gleichen Bedingungen gelten, wie sie gegebenenfalls für die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats gelten. Die Unionsbürger, die keine Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats sind, dürfen keinen besonderen Voraussetzungen unterworfen sein, es sei denn, die unterschiedliche Behandlung von in- und ausländischen Staatsangehörigen wäre durch besondere Umstände Letzterer gerechtfertigt, die sie von den Ersteren unterscheiden.
…
Die Unionsbürgerschaft zielt darauf ab, die Unionsbürger in ihrem Aufnahmeland besser zu integrieren; in diesem Zusammenhang entspricht es den Absichten der Verfasser des Vertrags, jede Polarisierung zwischen den Listen von in- und ausländischen Kandidaten zu vermeiden.“
21 Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 94/80 lautet:
„In dieser Richtlinie werden die Einzelheiten festgelegt, nach denen die Unionsbürger, die ihren Wohnsitz in einem Mitgliedstaat haben, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, dort das aktive und das passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen ausüben können.“
22 In Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 94/80 heißt es:
„Aktiv Wahlberechtigte …, die in das Wählerverzeichnis eingetragen worden sind, bleiben unter den gleichen Bedingungen wie inländische aktiv Wahlberechtigte so lange eingetragen, bis sie von Amts wegen aus diesem Wählerverzeichnis gestrichen werden, weil sie die Voraussetzungen für die Ausübung des aktiven Wahlrechts nicht mehr erfüllen.
Aktiv Wahlberechtigte, die auf ihren Antrag hin in das Wählerverzeichnis eingetragen worden sind, können auf Antrag auch wieder aus dem Wählerverzeichnis gestrichen werden.
Im Fall der Verlegung des Wohnsitzes in eine andere lokale Gebietskörperschaft der Grundstufe desselben Mitgliedstaats werden diese aktiv Wahlberechtigten in das Wählerverzeichnis dieser Gebietskörperschaft unter denselben Voraussetzungen wie ein inländischer aktiv Wahlberechtigter eingetragen.“
23 Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 94/80 bestimmt:
„Bei Einreichung der Erklärung über seine Kandidatur hat der passiv Wahlberechtigte im Sinne des Artikels 3 die gleichen Nachweise beizubringen wie ein inländischer Kandidat. Der Wohnsitzmitgliedstaat kann verlangen, dass er eine förmliche Erklärung mit der Angabe seiner Staatsangehörigkeit und seiner Anschrift im Wohnsitzmitgliedstaat vorlegt.“
24 Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 94/80 sieht vor:
„Bei Nichteintragung in das Wählerverzeichnis, bei Ablehnung des Antrags auf Eintragung in das Wählerverzeichnis oder bei Ablehnung der Kandidatur kann der Betreffende die Rechtsbehelfe einlegen, die die Rechtsvorschriften des Wohnsitzmitgliedstaats in vergleichbaren Fällen für die inländischen aktiv und passiv Wahlberechtigten vorsehen.“
Tschechisches Recht
25 § 1 des Zákon č. 424/1991 Sb., o sdružování v politických stranách a v politických hnutích (Gesetz Nr. 424/1991 über die Vereinigung in politischen Parteien und politischen Bewegungen), in der durch den Zákon č. 117/1994 Sb. (Gesetz Nr. 117/1994) geänderten Fassung (im Folgenden: Gesetz über politische Parteien und Bewegungen) sieht in Abs. 1 vor:
„Die Bürger haben das Recht, sich in politischen Parteien und politischen Bewegungen (im Folgenden: ‚Parteien und Bewegungen‘) zusammenzuschließen. Die Ausübung dieses Rechts ermöglicht es den Bürgern, am politischen Leben der Gesellschaft teilzunehmen, insbesondere an der Bildung der Gesetzgebungsorgane und der Organe der regionalen und örtlichen Gebietskörperschaften …“
26 § 2 Abs. 3 des Gesetzes über politische Parteien und Bewegungen bestimmt:
„Jeder Bürger, der das 18. Lebensjahr vollendet hat, kann Mitglied einer Partei oder Bewegung sein, aber nur einer Partei oder Bewegung angehören.“
27 In § 20 Abs. 1 des Zákon č. 491/2001 Sb., o volbách do zastupitelstev obcí a o změně některých zákonů (Gesetz Nr. 491/2001 über die Wahlen zu den Gemeinderäten und zur Änderung bestimmter Gesetze) in seiner für die vorliegende Klage maßgebenden Fassung (im Folgenden: Gesetz über die Kommunalräte) heißt es:
„Eingetragene politische Parteien und politische Bewegungen, deren Tätigkeit nicht ausgesetzt wurde …, deren Koalitionen sowie unabhängige Kandidaten, Vereinigungen unabhängiger Kandidaten oder Vereinigungen politischer Parteien oder politischer Bewegungen und unabhängiger Kandidaten können eine Wahlpartei im Sinne dieses Gesetzes sein.“
28 § 21 Abs. 1 des Zákon č. 62/2003 Sb., o volbách do Evropského parlamentu a o změně některých zákonů (Gesetz Nr. 62/2003 über die Wahlen zum Europäischen Parlament und zur Änderung bestimmter Gesetze) in seiner für die vorliegende Klage maßgebenden Fassung (im Folgenden: Gesetz über die Wahlen zum Europäischen Parlament) sieht vor, dass Kandidatenlisten für die Wahlen zum Europäischen Parlament von eingetragenen politischen Parteien und Bewegungen, deren Tätigkeit nicht ausgesetzt wurde, sowie von ihren Koalitionen eingereicht werden können.
29 § 22 Abs. 2 und 3 des Gesetzes über die Wahlen zum Europäischen Parlament bestimmt:
„(2) Der Kandidatenliste sind ein Nachweis über die Staatsangehörigkeit des Kandidaten und eine vom Kandidaten unterzeichnete Erklärung beizufügen, dass er seiner Kandidatur zustimmt, dass ihm keine Hindernisse für seine Wählbarkeit bekannt sind, dass diese Hindernisse gegebenenfalls am Tag der Wahl zum Europäischen Parlament nicht mehr bestehen und dass er nicht darin eingewilligt hat, auf einer anderen Kandidatenliste für die Wahlen zum Europäischen Parlament geführt zu werden, und zwar auch in keinem anderen Mitgliedstaat. Der Kandidat gibt in seiner Erklärung auch seinen ständigen Wohnsitz oder, wenn es sich um einen Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats handelt, seinen Aufenthaltsort und sein Geburtsdatum an. Die Erklärung des Kandidaten kann gemäß § 4 in tschechischer Sprache oder in einer der Arbeitssprachen der Europäischen Union abgefasst werden.
(3) Ist der Kandidat Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats, hat er in seiner Erklärung zusätzlich zu den in Abs. 2 genannten Angaben den Geburtsort und die Anschrift seines letzten Aufenthaltsorts in seinem Herkunftsmitgliedstaat anzugeben, eine Erklärung beizufügen, in der er angibt, dass ihm in seinem Herkunftsmitgliedstaat das passive Wahlrecht nicht durch eine gerichtliche oder behördliche Entscheidung entzogen wurde, und der Kandidatenliste die in Abs. 2 Satz 1 genannten Unterlagen beizufügen.“
Vorverfahren und Verfahren vor dem Gerichtshof
30 Im Jahr 2010 teilte die Kommission der Tschechischen Republik im Rahmen des EU-Pilot-Systems mit, dass sie Zweifel habe, ob es mit Art. 22 AEUV vereinbar sei, dass nur tschechische Staatsangehörige Mitglied einer politischen Partei werden könnten.
31 Da die von der Tschechischen Republik vorgelegten Informationen diese Zweifel der Kommission nicht ausgeräumt hatten und da sie der Ansicht war, dass die Tschechische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 22 AEUV verstoßen habe, dass sie nur tschechischen Staatsangehörigen gestatte, Mitglied einer politischen Partei zu werden, richtete die Kommission am 22. November 2012 ein Aufforderungsschreiben an diesen Mitgliedstaat. Dieser bestritt in seiner Antwort vom 22. Januar 2013 jeden Verstoß gegen das Unionsrecht.
32 Am 22. April 2014 gab die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der sie daran festhielt, dass die Tschechische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 22 AEUV verstoßen habe, dass sie Unionsbürgern, die nicht die tschechische Staatsangehörigkeit besäßen, aber in ihrem Hoheitsgebiet wohnten, das Recht verwehre, eine politische Partei oder Bewegung zu gründen und Mitglied einer solchen Partei oder Bewegung zu werden. Sie forderte die Tschechische Republik daher auf, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um der mit Gründen versehenen Stellungnahme binnen zwei Monaten nach ihrem Erhalt nachzukommen.
33 In ihrer am 20. Juni 2014 übermittelten Antwort führte die Tschechische Republik im Wesentlichen aus, dass die von ihr ergriffenen Maßnahmen als verhältnismäßig und mit dem Unionsrecht vereinbar anzusehen seien.
34 Mit Schreiben vom 2. Dezember 2020 ersuchte der Europäische Justizkommissar die Tschechische Republik um Informationen darüber, ob sie ihren Standpunkt geändert habe oder ob es Gesetzesänderungen gegeben habe, um die entsprechenden Rechte für Unionsbürger mit Wohnsitz in ihrem Hoheitsgebiet, die nicht die tschechische Staatsangehörigkeit besäßen, zu gewährleisten.
35 Da die Kommission auf dieses Schreiben keine Antwort erhielt, beschloss sie, die vorliegende Klage zu erheben, wobei sie deren Gegenstand darauf beschränkte, dass die Tschechische Republik gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 22 AEUV verstoßen habe, weil sie das Recht, Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung zu werden, tschechischen Staatsangehörigen vorbehalte.
36 Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 19. Mai 2022 ist die Republik Polen als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Tschechischen Republik zugelassen worden.
Zur Klage
Zur Zulässigkeit der Klage
Vorbringen der Parteien
37 Die Tschechische Republik hält die vorliegende Vertragsverletzungsklage für unzulässig, da die gerügte Vertragsverletzung nicht aus Art. 22 AEUV abgeleitet werden könne. Mit dieser Bestimmung werde lediglich das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit auf das aktive und passive Wahlrecht angewandt; die Mitgliedschaft in einer politischen Partei oder einer politischen Bewegung sei aber ein anderer Aspekt der Voraussetzungen für die Ausübung dieses Rechts. Die Kommission stütze ihre Klage somit de facto auf einen Verstoß gegen Art. 18 AEUV sowie, durch die Bezugnahme auf Einschränkungen des Vereinigungsrechts, auf die Verletzung dieses in Art. 12 Abs. 1 der Charta gewährleisteten Rechts.
38 Insoweit gehe aus der Klageschrift nicht in nachvollziehbarer Weise hervor, auf welche rechtlichen Umstände die Klage gestützt werde und ob die Kommission ihr neben dem gerügten Verstoß gegen Art. 22 AEUV auch einen Verstoß gegen Art. 18 AEUV und Art. 12 Abs. 1 der Charta vorwerfe.
39 Die Kommission habe somit die der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entnehmenden Anforderungen nicht beachtet, wonach sie verpflichtet sei, die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf die die Klage gestützt werde, zusammenhängend und verständlich darzulegen, wobei diese Umstände denen entsprechen müssten, die sie im Rahmen des Vorverfahrens vorgebracht habe. Die Kommission könne in ihrer Klageschrift eine angebliche Verletzung des Unionsrechts durch einen Mitgliedstaat nicht auf Vorschriften stützen, die in den Klageanträgen nicht genannt seien und deren Verletzung im Vorverfahren nicht geltend gemacht worden sei.
40 Die Kommission hält dieses Vorbringen für nicht stichhaltig.
Würdigung durch den Gerichtshof
41 Nach Art. 258 AEUV wird der Gegenstand einer Vertragsverletzungsklage durch die mit Gründen versehene Stellungnahme der Kommission festgelegt, so dass die Klage auf die gleichen Gründe und das gleiche Vorbringen gestützt sein muss wie diese Stellungnahme (Urteil vom 28. Juni 2022, Kommission/Spanien [Verstoß des Gesetzgebers gegen das Unionsrecht], C‑278/20, EU:C:2022:503, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Zudem muss nach ständiger Rechtsprechung zu Art. 120 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs die Klageschrift den Streitgegenstand klar und deutlich angeben und eine kurze Darstellung der geltend gemachten Klagegründe enthalten, damit der Beklagte sein Verteidigungsvorbringen vorbereiten und der Gerichtshof seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann. Daraus folgt, dass sich die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf die eine solche Klage gestützt wird, zusammenhängend und verständlich unmittelbar aus der Klageschrift ergeben müssen und dass die Klageanträge eindeutig formuliert sein müssen, um zu verhindern, dass der Gerichtshof ultra petita entscheidet oder eine Rüge übergeht (Urteil vom 8. März 2022, Kommission/Vereinigtes Königreich [Bekämpfung von Betrug durch Unterbewertung], C‑213/19, EU:C:2022:167, Rn. 132 und die dort angeführte Rechtsprechung).
43 Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass eine nach Art. 258 AEUV erhobene Klage eine zusammenhängende und genaue Darstellung der Rügen enthalten muss, damit der Mitgliedstaat und der Gerichtshof die Tragweite des gerügten Verstoßes gegen das Unionsrecht richtig erfassen können, was notwendig ist, damit der betreffende Staat sich sachgerecht verteidigen und der Gerichtshof überprüfen kann, ob die behauptete Vertragsverletzung vorliegt (Urteil vom 8. März 2022, Kommission/Vereinigtes Königreich [Bekämpfung von Betrug durch Unterbewertung], C‑213/19, EU:C:2022:167, Rn. 133 und die dort angeführte Rechtsprechung).
44 Insbesondere muss die Klage der Kommission eine zusammenhängende und detaillierte Darlegung der Gründe enthalten, aus denen sie zu der Überzeugung gelangt ist, dass der betreffende Mitgliedstaat gegen eine der ihm nach dem Unionsrecht obliegenden Verpflichtungen verstoßen hat (Urteil vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen [Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern], C‑204/21, EU:C:2023:442, Rn. 190 und die dort angeführte Rechtsprechung).
45 Was erstens den Gegenstand der vorliegenden Vertragsverletzungsklage betrifft, hat die Kommission in den Anträgen der Klageschrift ausgeführt, dass sie der Tschechischen Republik einen Verstoß gegen Art. 22 AEUV vorwerfe, der darin bestehe, dass dieser Mitgliedstaat Unionsbürgern, die nicht die tschechische Staatsangehörigkeit besäßen, aber im tschechischen Hoheitsgebiet ihren Wohnsitz hätten, das Recht verwehre, Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung zu werden.
46 Diese Rüge war jedoch im Aufforderungsschreiben und in der mit Gründen versehenen Stellungnahme enthalten.
47 Was zweitens das Vorbringen der Tschechischen Republik betrifft, wonach die Klageschrift nicht zusammenhängend und verständlich formuliert sei und es ihr nicht ermögliche, die Tragweite des gerügten Verstoßes gegen das Unionsrecht richtig zu erfassen, ist darauf hinzuweisen, dass aus den Anträgen in der Klageschrift eindeutig hervorgeht, dass die Kommission der Tschechischen Republik vorwirft, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 22 AEUV verstoßen zu haben, genauer gesagt gegen das Erfordernis, dass die Mitgliedstaaten gewährleisten müssen, dass Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, das passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen und den Wahlen zum Europäischen Parlament unter denselben Bedingungen wie die Angehörigen dieses Mitgliedstaats ausüben können. Da die Kommission in ihrer Klageschrift nicht auf Art. 18 AEUV Bezug genommen hat, kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie diesem Mitgliedstaat einen Verstoß gegen Art. 18 AEUV und nicht gegen Art. 22 AEUV vorwirft. Die Frage, ob Art. 22 AEUV tatsächlich eine Verpflichtung enthält, Unionsbürgern mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, zu gestatten, in diesem Staat Mitglied politischer Parteien und Bewegungen zu werden, ist im Übrigen eine materiell-rechtliche Frage, die im Rahmen der Prüfung der Begründetheit der gerügten Vertragsverletzung zu beurteilen ist.
48 Was Art. 12 der Charta betrifft, geht aus der Klageschrift ebenso klar hervor, dass die Kommission geltend macht, Art. 22 AEUV sei im Licht dieser Bestimmung der Charta auszulegen, ohne einen eigenständigen Verstoß gegen die Charta geltend zu machen.
49 Folglich kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Klageschrift mehrdeutig formuliert ist und insoweit nicht den oben in den Rn. 42 und 43 angeführten Anforderungen der Rechtsprechung genügt.
50 In Anbetracht dessen ist die Einrede der Unzulässigkeit zurückzuweisen.
Zur Begründetheit
Vorbringen der Parteien
51 Die Kommission macht geltend, dass Art. 22 AEUV einem Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitze, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen sowie bei Wahlen zum Europäischen Parlament unter denselben Bedingungen garantiere wie den Angehörigen dieses Mitgliedstaats. Folglich habe die Tschechische Republik gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 22 AEUV verstoßen, da das Gesetz über politische Parteien und Bewegungen das Recht, Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung zu werden, tschechischen Staatsangehörigen vorbehalte, so dass Unionsbürger, die im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnten, aber nicht dessen Staatsangehörigkeit besäßen, das passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen und den Wahlen zum Europäischen Parlament nicht unter denselben Bedingungen ausüben könnten wie tschechische Staatsangehörige.
52 Art. 22 AEUV stelle eine allgemeine Verpflichtung zur Gleichbehandlung auf und impliziere, dass das Erfordernis der Staatsangehörigkeit als Voraussetzung für das aktive und passive Wahlrecht bei diesen Wahlen sowie alle Maßnahmen abgeschafft würden, die geeignet seien, Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besäßen, daran zu hindern, ihr passives Wahlrecht unter denselben Bedingungen auszuüben wie die Angehörigen dieses Mitgliedstaats. Diese Unionsbürger müssten daher in den Genuss aller in der nationalen Rechtsordnung vorhandenen Mittel kommen, die den nationalen Kandidaten bei den genannten Wahlen zur Verfügung stünden.
53 Erstens spielten die politischen Parteien in den Wahlsystemen der Mitgliedstaaten eine grundlegende Rolle, da sie die wesentliche Form der Teilnahme am politischen Leben und das derzeit am häufigsten genutzte Mittel für die Teilnahme an Wahlen als Kandidaten darstellten. Außerdem bestehe ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zu einer politischen Partei und der Möglichkeit, erfolgreich und wirkungsvoll bei Wahlen aufzutreten. Angesichts dessen wäre der Umstand, dass Unionsbürger, die ihren Wohnsitz in der Tschechischen Republik hätten, ohne deren Staatsangehörigkeit zu besitzen, nicht Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung werden und so in den Genuss zahlreicher Vorteile einer solchen Mitgliedschaft, insbesondere in Bezug auf Bekanntheit, personelle und finanzielle Ressourcen, organisatorische Infrastruktur und Zugang zu den Medien, kommen könnten, ihrer Befähigung abträglich, unter denselben Bedingungen wie tschechische Staatsangehörige bei Wahlen zu kandidieren.
54 Auch wenn ein Unionsbürger mit Wohnsitz in der Tschechischen Republik, der deren Staatsangehörigkeit nicht besitze, als unabhängiger Bewerber in die Liste einer politischen Partei oder Bewegung aufgenommen werden könne, wäre er gleichwohl schlechter gestellt als Kandidaten, die Mitglied der betreffenden Partei oder Bewegung seien. Ein solcher Unionsbürger hätte nämlich nicht die gleichen Chancen, auf dieser Liste einen aussichtsreichen Platz einzunehmen, und müsste sich einem Programm anschließen, an dessen Ausarbeitung er im Prinzip nicht beteiligt gewesen sei. Schon der bloße Umstand, dass er auf dieser Liste nur als unabhängiger Kandidat erscheinen könne, tschechische Staatsangehörige hingegen als Mitglied dieser Partei oder Bewegung, zeuge davon, dass Unionsbürger mit Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat, die dessen Staatsangehörigkeit nicht besäßen, nicht unter denselben Bedingungen wie tschechische Staatsangehörige als Kandidaten bei den Wahlen auftreten könnten.
55 Zweitens könnten der Inhalt und der materielle Anwendungsbereich von Art. 22 AEUV nicht auf die in den Richtlinien 93/109 und 94/80, die auf der Grundlage dieses Artikels erlassen worden seien, geregelten formalen Aspekte reduziert werden. Eine solche Auslegung komme weder im Wortlaut dieser Bestimmung noch im Wortlaut der Richtlinien 93/109 und 94/80 zum Ausdruck und würde Art. 22 AEUV seiner praktischen Wirksamkeit berauben. Das Urteil vom 12. September 2006, Eman und Sevinger (C‑300/04, EU:C:2006:545), spreche keineswegs für eine restriktive Auslegung der Tragweite der Verpflichtung der Mitgliedstaaten nach Art. 22 AEUV, sondern hebe die entscheidende Bedeutung des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit bei dessen Auslegung und Anwendung hervor. Die Art. 22 AEUV zu entnehmende Pflicht, die Gleichbehandlung zu gewährleisten, werde auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass diese Bestimmung keine abschließende Liste der dabei zu erfüllenden Voraussetzungen enthalte.
56 Drittens sei es zwar derzeit Sache der Mitgliedstaaten, die auf Unionsebene nicht harmonisierten Aspekte der Kommunalwahlen und der Wahlen zum Europäischen Parlament zu regeln, doch müssten sie ihre Befugnisse unter Beachtung des Unionsrechts ausüben. Eine nationale Maßnahme, die geeignet sei, die Ausübung eines der Rechte, die sich wie das passive Wahlrecht bei diesen Wahlen aus dem Unionsbürgerstatus ergäben, zu beschränken, könne nur dann mit dem Allgemeininteresse gerechtfertigt werden, wenn sie mit den durch das Unionsrecht garantierten Grundrechten vereinbar sei; dies sei hier nicht der Fall.
57 Viertens seien Art. 20 Abs. 2 Buchst. b und Art. 22 AEUV im Licht der Bestimmungen der Charta und insbesondere ihres Art. 12 Abs. 1, dessen Wortlaut dem von Art. 11 EMRK entspreche, auszulegen.
58 Die Versagung des Rechts, Mitglied einer politischen Partei zu werden, sei eine Einschränkung des Grundrechts auf Vereinigungsfreiheit und dürfe gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta nicht über die nach der EMRK zulässigen Einschränkungen hinausgehen. Die in Art. 11 Abs. 2 EMRK genannten Gründe, die eine Einschränkung des Rechts auf Vereinigungsfreiheit rechtfertigen könnten, seien im vorliegenden Fall nicht einschlägig. Außerdem gehe aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 27. April 1995, Piermont/Frankreich (CE:ECHR:1995:0427JUD001577389, § 64), hervor, dass sich die Mitgliedstaaten nicht auf Art. 16 EMRK berufen könnten, wenn Angehörige anderer Mitgliedstaaten Rechte geltend machten, die ihnen durch die Verträge verliehen worden seien, zumal der Begriff „Unionsbürgerschaft“ nunmehr ausdrücklich in den Verträgen definiert werde und den Unionsbürgern Rechte verleihe.
59 Fünftens gestatte die wesentliche Rolle der politischen Parteien und Bewegungen bei den nationalen Parlamentswahlen keine restriktive Auslegung von Art. 22 AEUV, und das Verbot, Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung zu werden, könne nicht mit dem Ziel gerechtfertigt werden, jede Einmischung in nationale Angelegenheiten und jede Beeinträchtigung der nationalen Identität zu verhindern.
60 Zum einen seien die politischen Rechte in die Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Unionsbürgerschaft aufgenommen worden, um sicherzustellen, dass Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besäßen, sich in diesem Mitgliedstaat im Rahmen von Kommunalwahlen und Wahlen zum Europäischen Parlament integrieren und eine aktive politische Rolle spielen könnten. Die tschechischen Rechtsvorschriften über politische Parteien und Bewegungen beschränkten sich jedoch darauf, solchen Unionsbürgern denselben Status zu verleihen wie Drittstaatsangehörigen.
61 Zum anderen stehe es den Mitgliedstaaten frei, das passive Wahlrecht bei nationalen oder in bestimmten Fällen bei regionalen Wahlen ihren Staatsangehörigen vorzubehalten oder Sonderregeln zu erlassen, die zu einer Einschränkung der Mitgliedschaftsrechte von Unionsbürgern mit Wohnsitz in diesen Mitgliedstaaten, die nicht deren Staatsangehörigkeit besäßen, in einer politischen Partei oder Bewegung führten, wobei die Tragweite dieser Maßnahmen nicht so groß sein dürfe, dass die Gleichheit der Bedingungen ihrer Teilnahme an den Kommunalwahlen und den Wahlen zum Europäischen Parlament beeinträchtigt werde. Dagegen erstrecke sich ein allgemeines Verbot für solche Unionsbürger, Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung zu werden, die aktiv sowohl an Kommunalwahlen als auch an Parlaments- oder Europawahlen teilnehme, offenkundig auch auf Bereiche, für die das Recht auf Gleichbehandlung gelte, und es sei restriktiver als eine Beschränkung ihrer Teilnahme an bestimmten Entscheidungen der betreffenden politischen Partei oder Bewegung.
62 Die von ihr vertretene Auslegung von Art. 22 AEUV verstoße nicht gegen den Grundsatz der Achtung der nationalen Identität, denn zum einen sei Art. 4 Abs. 2 EUV im Einklang mit den übrigen Bestimmungen der Verträge, einschließlich Art. 22 AEUV, auszulegen und zum anderen gelte Art. 22 AEUV nur für Kommunalwahlen und Wahlen zum Europäischen Parlament, nicht aber für nationale Parlamentswahlen. Die Tragweite von Art. 22 AEUV könne nicht auf der Grundlage von Art. 4 Abs. 2 EUV eingeschränkt werden und eine unmittelbare Diskriminierung von Unionsbürgern aus Gründen ihrer Staatsangehörigkeit ermöglichen.
63 Jedenfalls habe die Tschechische Republik keinen Beweis dafür erbracht, dass es eine Bedrohung für ihre nationale Identität darstellen würde, wenn Unionsbürger mit Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat, die nicht dessen Staatsangehörigkeit besäßen und dort bei Kommunalwahlen und Wahlen zum Europäischen Parlament kandidieren wollten, Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung werden könnten.
64 Sechstens sei die Kommission im Rahmen einer Klage, die einen Verstoß nationaler Rechtsvorschriften gegen das Unionsrecht betreffe und nicht dessen fehlerhafte Anwendung, nicht verpflichtet, dem Gerichtshof statistische Daten über die Zahl der Unionsbürger vorzulegen, die in der Praxis durch diese Rechtsvorschriften einen Nachteil erlitten hätten, wobei der Nachweis negativer Auswirkungen einer diskriminierenden Abschreckungsmaßnahme im Übrigen praktisch unmöglich sei.
65 Die von der Tschechischen Republik vorgelegten statistischen Daten, mit denen dargetan werden solle, dass die tatsächliche Situation in diesem Mitgliedstaat mit Art. 22 AEUV im Einklang stehe, seien aus diesem Grund ebenfalls unerheblich.
66 Jedenfalls bezögen sich die von der Tschechischen Republik vorgelegten statistischen Daten allgemein auf „Personen ohne politische Zugehörigkeit“, ohne dass sich ermitteln ließe, wie viele von ihnen Unionsbürger mit Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat seien, ohne dessen Staatsangehörigkeit zu besitzen. Letztere befänden sich in einer speziellen Situation, weil sie in ihrem Aufnahmemitgliedstaat definitionsgemäß weniger bekannt seien und daher ein größeres Interesse daran hätten, Mitglied etablierter politischer Parteien oder Bewegungen zu werden, deren Werte und politische Ausrichtung bekannt seien und die eine eingespielte Infrastruktur für Wahlkampagnen hätten. Diesen Daten könne auch nicht entnommen werden, wie viele Anträge solcher Unionsbürger auf Aufnahme in die Listen von Parteien oder Koalitionen von Parteien abgelehnt worden seien.
67 Die genannten Daten relativierten oder konterkarierten das Vorbringen der Tschechischen Republik, dass die Wahlchancen eines Bewerbers, der sich auf einer Liste einer politischen Partei oder Bewegung befinde, unabhängig davon völlig vergleichbar seien, ob es sich um einen unabhängigen Bewerber oder um ein Mitglied dieser Partei oder Bewegung handele. Aus den Daten gehe nämlich hervor, dass bei den Wahlen zum Europäischen Parlament, die zwischen 2004 und 2019 stattgefunden hätten, die große Mehrheit der Kandidaten Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung gewesen sei und dass bei drei der vier in diesem Zeitraum durchgeführten Wahlen zum Europäischen Parlament der Anteil der gewählten Mitglieder einer solchen Partei oder Bewegung höher gewesen sei als der Anteil der Nichtmitglieder. Bei den in das Europäische Parlament gewählten unabhängigen Kandidaten habe es sich sehr oft um außergewöhnlich bekannte und beliebte Persönlichkeiten gehandelt; der einzige Fall, in dem ein Unionsbürger mit Wohnsitz in der Tschechischen Republik, der nicht dessen Staatsangehörigkeit besessen habe, in das Europäische Parlament gewählt worden sei, sei nicht repräsentativ und könne am Vorliegen einer De-iure- Diskriminierung nichts ändern.
68 In Bezug auf die Kommunalwahlen sei der Tschechischen Republik zwar beizupflichten, dass die Wähler angesichts der lokalen Dimension dieser Wahlen dazu neigten, örtlich bekannte Personen zu bevorzugen, was deren Interesse, sich als Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung statt als unabhängiger Kandidat zu bewerben, etwas verringere, doch sei eine solche Erwägung nur dann relevant, wenn diese Personen Angehörige des betreffenden Mitgliedstaats seien. Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besäßen, seien nämlich definitionsgemäß auf lokaler Ebene weniger bekannt und hätten gerade dann größere Chancen, gewählt zu werden, wenn sie als Mitglieder einer politischen Partei kandidieren könnten.
69 Schließlich stünden die Kommunalwahlen in der Tschechischen Republik zwar auch Gruppierungen von Kandidaten ohne politische Zugehörigkeit sowie Gruppierungen von politischen Parteien und Kandidaten ohne politische Zugehörigkeit offen, und nach den Wahlmodalitäten habe jeder Wähler so viele Stimmen, wie es Gemeinderatsmitglieder gebe, was die Wahlchancen der verschiedenen Kandidaten erhöhe, doch beseitige dies keineswegs die Benachteiligung von Unionsbürgern mit Wohnsitz in der Tschechischen Republik, die nicht deren Staatsangehörigkeit besäßen. Darüber hinaus müssten nach § 21 Abs. 4 des Gesetzes über die Wahlen zu den Gemeinderäten unabhängige Kandidaten – anders als Bewerber, die von politischen Parteien und Bewegungen aufgestellt würden – eine von einer bestimmten, von der Größe der Gemeinde, in der sie sich zur Wahl stellten, abhängende Zahl von Wählern unterzeichnete Petition zur Unterstützung ihrer Kandidatur einreichen.
70 Die Tschechische Republik, unterstützt durch die Republik Polen, macht erstens geltend, dass die Frage des Erwerbs der Mitgliedschaft in einer politischen Partei nicht unter Art. 22 AEUV falle. Das ergebe sich aus dessen Wortlaut, der nicht auf die Voraussetzungen für die Mitgliedschaft in einer politischen Partei abstelle und nicht den Schluss zulasse, dass dieser Artikel das Recht von Unionsbürgern mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besäßen, auf Mitgliedschaft in politischen Parteien umfasse. Bestätigt werde dies durch die historische, systematische und teleologische Auslegung von Art. 22 AEUV sowie durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs und insbesondere das Urteil vom 12. September 2006, Eman und Sevinger (C‑300/04, EU:C:2006:545, Rn. 53), aus dem hervorgehe, dass sich dieser Artikel auf die Anwendung des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit auf das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament beschränke und keine anderen nationalen Maßnahmen im Zusammenhang mit Wahlen betreffe.
71 Die Wendung „vorbehaltlich der Einzelheiten …, die vom Rat … festgelegt werden“ in Art. 22 AEUV impliziere, dass die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament vom Erlass von Bestimmungen des abgeleiteten Rechts abhänge, so dass dieser Artikel nicht autonom, losgelöst vom Rahmen des einschlägigen abgeleiteten Rechts, angewandt werden könne. Der Unionsgesetzgeber sei, als er die Richtlinien 93/109 und 94/80 auf der Grundlage von Art. 22 AEUV erlassen habe, davon ausgegangen, dass die durch sie geregelten Aspekte für die Einhaltung dieses Artikels erforderlich seien. Da in diesen Richtlinien von der Regelung weiterer Aspekte wie dem Erwerb der Mitgliedschaft in einer politischen Partei durch Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besäßen, abgesehen worden sei, bestätige ihr jeweiliger materieller Anwendungsbereich eindeutig, dass diese weiteren Aspekte nicht zu „denselben Bedingungen“ im Sinne von Art. 22 AEUV gehörten, in deren Genuss diese Unionsbürger im Verhältnis zu den Angehörigen ihres Wohnsitzmitgliedstaats kommen müssten. Aus den Erwägungsgründen der Richtlinien 93/109 und 94/80 ergebe sich, dass der Unionsgesetzgeber nur das Staatsangehörigkeitserfordernis bei der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts habe verbieten wollen, und die Richtlinien enthielten keinen Anhaltspunkt dafür, dass das in Art. 22 AEUV vorgesehene Recht Einfluss auf die Voraussetzungen haben könne, unter denen solche Unionsbürger Mitglied einer politischen Partei werden könnten.
72 Im Unterschied zu Art. 18 AEUV, in dem das allgemeine Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verankert sei, sei Art. 22 AEUV als Sondervorschrift erst dann auf einen Unionsbürger anwendbar, nachdem er gegebenenfalls den Status des Wählers oder Kandidaten bei einer Wahl erlangt habe. Dass eine Person Mitglied einer politischen Partei werden könne, bedeute aber nicht, dass sie bei Kommunalwahlen oder Wahlen zum Europäischen Parlament kandidieren oder als Kandidat auf den Listen der politischen Partei aufgeführt werde; deshalb könne die allgemeine Frage des Erwerbs der Mitgliedschaft in einer politischen Partei nicht unter Art. 22 AEUV fallen.
73 Art. 22 AEUV stelle eine Ausnahme von den auch in Art. 16 EMRK anerkannten möglichen Beschränkungen der politischen Tätigkeit ausländischer Staatsangehöriger durch die Mitgliedstaaten dar.
74 In diesem Kontext wäre ein Mitgliedstaat, selbst wenn man der Kommission beipflichten würde, dass Art. 16 EMRK nicht herangezogen werden könne, um die politischen Tätigkeiten der Unionsbürger im Rahmen der Ausübung der ihnen durch die Verträge zuerkannten Rechte zu beschränken, nicht daran gehindert, die Teilnahme ausländischer Staatsangehöriger an weit über die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts hinausgehenden politischen Tätigkeiten zu beschränken.
75 Folglich könne Art. 22 AEUV nicht weit ausgelegt werden, um die Tragweite von Art. 4 Abs. 2 EUV zu verringern. Die Regelung in Bezug auf die Arbeitsweise der politischen Parteien sei der Eckpfeiler der politischen und verfassungsmäßigen Strukturen der Mitgliedstaaten, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erkenne die tragende Rolle der politischen Parteien im Rahmen nationaler Parlamentswahlen an. Da das Unionsrecht es einem Mitgliedstaat nicht verbiete, die Möglichkeit, bei diesen Wahlen anzutreten, allein den eigenen Staatsangehörigen vorzubehalten, sei es logisch, dass das Unionsrecht es einem Mitgliedstaat auch nicht verbiete, in gleicher Weise die Möglichkeit der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten zu beschränken, an der „Schlüsselplattform“ für politische Tätigkeiten auf nationaler Ebene – den politischen Parteien – teilzunehmen, Dies ergebe sich auch aus dem in Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 94/80 vorgesehenen Recht der Mitgliedstaaten, Stellen bei den kommunalen Exekutivorganen ihren eigenen Staatsangehörigen vorzubehalten.
76 Die Republik Polen fügt insoweit hinzu, die von der Kommission vertretene Auslegung von Art. 22 AEUV würde dazu führen, dass Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besäßen, das ihnen durch diesen Artikel nicht verliehene Recht hätten, dauerhaft und uneingeschränkt am politischen Leben dieses Mitgliedstaats teilzunehmen. Die Mitgliedstaaten seien für die Festlegung der Regeln für die Arbeitsweise, die Struktur und die Ziele der in ihrem Hoheitsgebiet tätigen politischen Parteien grundsätzlich ausschließlich zuständig. Folglich liefe die von der Kommission vorgeschlagene Auslegung von Art. 22 AEUV dem in Art. 5 Abs. 2 EUV niedergelegten Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung zuwider. Eine solche Auslegung würde zudem zur Anwendung der Bestimmungen der Verträge im Bereich der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten führen, was gegen Art. 4 Abs. 1 und 2 EUV verstieße.
77 Zweitens macht die Tschechische Republik, unterstützt durch die Republik Polen, hilfsweise geltend, im tschechischen Recht würden die durch Art. 22 AEUV garantierten Rechte vollständig umgesetzt, auch wenn es Unionsbürgern mit Wohnsitz in der Tschechischen Republik, deren Staatsangehörigkeit sie nicht besäßen, nicht gestattet sei, Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung zu werden.
78 Der Ausdruck „dieselben Bedingungen“ im Sinne dieser Bestimmung bedeute, dass Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besäßen, die Möglichkeit haben müssten, ihr aktives und passives Wahlrecht unter denselben Bedingungen wie die Angehörigen dieses Mitgliedstaats auszuüben, und dass sie dort über die gleichen Rechtsbehelfe verfügen müssten. Eine solche Auslegung ergebe sich zum einen aus dem sechsten Erwägungsgrund sowie aus Art. 10 Abs. 1 und Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 93/109 und zum anderen aus dem fünften Erwägungsgrund sowie aus Art. 8 Abs. 3, Art. 9 Abs. 1 und Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 94/80. Sie werde vollständig in tschechisches Recht umgesetzt.
79 Ob eine Person bei Wahlen auf Listen politischer Parteien oder Koalitionen politischer Parteien kandidiere, hänge nicht von ihrer Mitgliedschaft in einer politischen Partei oder Bewegung ab; dies entspreche ständiger Praxis in der Tschechischen Republik.
80 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs müsse die Kommission nachweisen, dass sich Wahlbewerber, die nicht von einer politischen Partei oder Bewegung aufgestellt würden, in einer ungünstigeren Lage befänden als die übrigen Kandidaten und dass ihre Chancen, gewählt zu werden, geringer seien; dabei könne sie sich nicht auf irgendeine Vermutung stützen.
81 Das Vorbringen der Kommission stehe jedenfalls in Widerspruch zu den Tatsachen, wie die von der Tschechischen Republik vorgelegten statistischen Daten belegten. Diese statistischen Daten zeigten, dass es in der Tschechischen Republik zahlreiche Kandidaten ohne politische Zugehörigkeit gebe, dass sie bei den Wahlen nicht benachteiligt seien, dass ihr Status nicht von ihrer Staatsangehörigkeit abhänge und dass sie den Listen politischer Parteien oder ihrer Koalitionen u. a. als Spitzenkandidat angehören und so in vollem Umfang vom Ansehen dieser Parteien profitieren könnten. Der Erfolg eines Wahlbewerbers hänge nicht von seiner Mitgliedschaft in einer politischen Partei oder einer politischen Bewegung ab, sondern von Faktoren wie seinen Ansichten und seiner Persönlichkeit.
82 So hätten bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in der Tschechischen Republik in den Jahren 2004, 2009, 2014 und 2019 die Listen politischer Parteien, einschließlich der großen politischen Parteien, oder von Koalitionen politischer Parteien mindestens 30 % Kandidaten ohne politische Zugehörigkeit enthalten. Diese Kandidaten hätten oft an der Spitze einer Liste gestanden und hinreichend starke Unterstützung erhalten, um gewählt zu werden; dies belege auch ihren Einfluss auf die Aufstellung und Verwirklichung der Prioritäten des Programms dieser Parteien oder Koalitionen von Parteien. Bei den im Jahr 2004 in der Tschechischen Republik durchgeführten Wahlen zum Europäischen Parlament sei dort ein deutscher Staatsangehöriger aufgestellt und gewählt worden.
83 Bei den Kommunalwahlen, die in den Jahren 2006, 2010, 2014 und 2018 in der Tschechischen Republik stattgefunden hätten, sei die große Mehrheit der Kandidaten und gewählten Mitglieder ohne politische Zugehörigkeit gewesen und sei insbesondere in hohem Maß auf den ersten Listenplätzen der großen politischen Parteien vertreten gewesen. Auch in Großstädten, etwa in Prag in den Jahren 2010 und 2014, seien die Spitzenkandidaten Bewerber ohne politische Zugehörigkeit gewesen.
84 Außerdem könnten gemäß § 20 Abs. 1 des Gesetzes über die Wahlen zu den Gemeinderäten bei Kommunalwahlen u. a. unabhängige Kandidaten, Gruppierungen unabhängiger Kandidaten oder Gruppierungen politischer Parteien oder Bewegungen und unabhängiger Kandidaten auftreten. Nach § 34 dieses Gesetzes habe ein Wähler eine der Zahl zu wählender Gemeinderäte entsprechende Zahl von Stimmen und könne für einzelne Kandidaten auf verschiedenen Listen stimmen. Ein Wähler sei also nicht verpflichtet, für nur eine Liste zu stimmen, sondern habe die Möglichkeit, seine Stimme einzelnen Bewerbern zu geben, unabhängig von der Liste, auf der sie stünden. Bei Kommunalwahlen stehe die Persönlichkeit der verschiedenen Kandidaten im Vordergrund, so dass es weniger wichtig sei, ob sie Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung seien.
85 Die Kommission könne den Erfolg der Kandidaten ohne politische Zugehörigkeit bei den Kommunalwahlen in der Tschechischen Republik nicht mit dem Vorbringen relativieren, dass es sich um führende Persönlichkeiten gehandelt habe, oder geltend machen, dass Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besäßen, möglicherweise weniger bekannt seien, was es umso mehr rechtfertige, ihnen die Möglichkeit zu verschaffen, bei diesen Wahlen als Mitglied einer politischen Partei aufzutreten, damit sie eine Chance hätten, gewählt zu werden. Die Persönlichkeit eines Kandidaten sei nicht nur bei Kommunalwahlen, bei denen die Repräsentanten mit dem größten Näheverhältnis zu den Bürgern gewählt würden, ein besonders wichtiger Faktor, sondern auch bei den Wahlen zum Europäischen Parlament, vor allem im Fall von Mitgliedstaaten mit einer geringeren Zahl von Abgeordneten im Europäischen Parlament. Ein Unionsbürger mit Wohnsitz in der Tschechischen Republik, deren Staatsangehörigkeit er nicht besitze, habe genau die gleiche Chance, seine persönlichen Eigenschaften zur Geltung zu bringen, wie ein Angehöriger dieses Mitgliedstaats, und der Umstand, dass ein Unionsbürger, der vor seiner Wahl dort nicht sehr bekannt gewesen sei, ins Europäische Parlament gewählt worden sei, könne entgegen dem Vorbringen der Kommission nicht als „Einzelfall“ eingestuft werden. Er zeige vielmehr, dass solche Unionsbürger ohne Weiteres in der Lage seien, bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament zu kandidieren und gewählt zu werden, auch ohne Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung zu sein.
86 Drittens dienten die nationalen Rechtsvorschriften, die verhinderten, dass Unionsbürger mit Wohnsitz in der Tschechischen Republik, deren Staatsangehörigkeit sie nicht besäßen, Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung würden, zur Gewährleistung des Schutzes des politischen und verfassungsmäßigen Systems dieses Mitgliedstaats und damit zur Gewährleistung der Achtung der nationalen Identität im Sinne von Art. 4 Abs. 2 EUV, indem tschechischen Bürgern das Recht vorbehalten bleibe, an einer „Schlüsselplattform“ für die nationale politische Tätigkeit mitzuwirken. Die zur Gewährleistung der Achtung dieser Identität gewählte Maßnahme sei sowohl im Hinblick auf das Hauptziel politischer Parteien und Bewegungen, das darin bestehe, die Politik des Staates auf höchstmöglicher Ebene zu beeinflussen, kohärent als auch im Hinblick darauf, dass bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament die Mitgliedschaft in einer politischen Partei oder Bewegung keine Voraussetzung dafür sei, bei der Wahl zu kandidieren, und erst recht keine Garantie dafür, gewählt zu werden. Eine solche Maßnahme sei angemessen und beeinträchtige nicht den Wesensgehalt des aktiven und passiven Wahlrechts, auf das sich Art. 22 AEUV beziehe. Sie ermögliche es in der Praxis den Unionsbürgern mit Wohnsitz in der Tschechischen Republik, deren Staatsangehörigkeit sie nicht besäßen, dieses Recht in vollem Umfang auszuüben.
87 Das mit den tschechischen Rechtsvorschriften verfolgte legitime Ziel könne nicht durch ein milderes Mittel erreicht werden. Es komme nicht in Betracht, den Unionsbürgern mit Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besäßen, die Mitgliedschaft in einer politischen Partei oder Bewegung zu gestatten, ihre Mitgliedsrechte aber auf die Mitwirkung an Entscheidungen im Zusammenhang mit Kommunalwahlen oder Wahlen zum Europäischen Parlament zu beschränken, denn dies würde bedeuten, dass sie nur an einem ganz geringen Teil der Tätigkeit dieser Partei oder Bewegung mitwirken könnten und von allen anderen Aspekten ihrer Tätigkeit ausgeschlossen wären. Zum einen würde eine solche Regelung gegen den fundamentalen Grundsatz der Gleichbehandlung der Mitglieder einer politischen Partei verstoßen, und zum anderen böte sie den Unionsbürgern nicht die von der Kommission – zu Unrecht – für erforderlich erachtete starke Position in der politischen Partei. Die Kommission habe im Übrigen in ihrer mit Gründen versehenen Stellungnahme auch nicht präzisiert, welche weniger restriktiven Maßnahmen die Tschechische Republik insoweit hätte ergreifen können.
88 Schließlich macht die Tschechische Republik, unterstützt durch die Republik Polen, geltend, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sei es in Ermangelung spezifischer Bestimmungen des AEU-Vertrags über das Recht der Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besäßen, Mitglied politischer Parteien zu werden, Sache der Mitgliedstaaten, die ihrem Verfassungssystem am besten angepassten Vorschriften zu erlassen.
Würdigung durch den Gerichtshof
89 Mit ihrer Klage begehrt die Kommission die Feststellung, dass die Tschechische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 22 AEUV verstoßen hat, dass sie Unionsbürgern mit Wohnsitz in ihrem Hoheitsgebiet, die nicht ihre Staatsangehörigkeit besitzen, das Recht verwehrt, Mitglied einer politischen Partei oder einer politischen Bewegung zu werden.
90 Zur Prüfung der Begründetheit dieser Klage ist die Tragweite von Art. 22 AEUV zu klären, bevor beurteilt wird, ob diese Bestimmung die damit durch die tschechischen Rechtsvorschriften eingeführte Ungleichbehandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit hinsichtlich der Möglichkeit, Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung zu werden, verbietet oder ob sie möglicherweise durch Gründe gerechtfertigt werden kann, die mit der Achtung der nationalen Identität eines Mitgliedstaats zusammenhängen.
– Zur Tragweite von Art. 22 AEUV
91 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut und die mit ihr verfolgten Ziele zu berücksichtigen, sondern auch ihr Kontext. Die Entstehungsgeschichte einer Bestimmung des Unionsrechts kann ebenfalls relevante Anhaltspunkte für ihre Auslegung liefern (Urteil vom 14. Juli 2022, Italien und Comune di Milano/Rat [Sitz der Europäischen Arzneimittel-Agentur], C‑59/18 und C‑182/18, EU:C:2022:567, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).
92 Was den ersten Aspekt angeht, haben nach dem Wortlaut von Art. 22 AEUV Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament unter denselben Bedingungen wie die Angehörigen des letztgenannten Mitgliedstaats; diese Rechte werden vorbehaltlich der vom Rat festgelegten Einzelheiten ausgeübt.
93 Der Wortlaut von Art. 22 AEUV enthält keine Bezugnahme auf die Bedingungen für den Erwerb der Mitgliedschaft in einer politischen Partei oder einer politischen Bewegung.
94 Dagegen geht aus seinem Wortlaut zunächst hervor, dass das aktive und passive Wahlrecht von Unionsbürgern mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, die Kommunalwahlen und die Wahlen zum Europäischen Parlament in diesem Mitgliedstaat betrifft.
95 Sodann ergibt sich aus ihm, dass den Unionsbürgern dieses Recht unter „denselben Bedingungen“ zusteht wie den Angehörigen des Mitgliedstaats, in dem sie wohnen. Durch den Verweis auf die für die Angehörigen des Wohnsitzmitgliedstaats eines solchen Unionsbürgers geltenden Bedingungen für das aktive und passive Wahlrecht verbietet Art. 22 AEUV diesem Mitgliedstaat, die Ausübung dieses Rechts durch den Unionsbürger anderen Bedingungen zu unterwerfen als denjenigen, die für seine eigenen Staatsangehörigen gelten.
96 Diese Bestimmung stellt somit ein besonderes Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit auf, das für die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament gilt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. September 2006, Spanien/Vereinigtes Königreich, C‑145/04, EU:C:2006:543, Rn. 66, vom 12. September 2006, Eman und Sevinger, C‑300/04, EU:C:2006:545, Rn. 53, und vom 6. Oktober 2015, Delvigne, C‑650/13, EU:C:2015:648, Rn. 42) und folglich für jede nationale Maßnahme, die eine die wirksame Ausübung dieser Rechte möglicherweise beeinträchtigende Ungleichbehandlung schafft.
97 Außerdem ist dieses Diskriminierungsverbot nur der spezifische Ausdruck des allgemeinen Gleichheitssatzes, der zu den tragenden Grundsätzen des Unionsrechts gehört (vgl. entsprechend Urteil vom 20. Februar 2024, X [Keine Angabe von Kündigungsgründen], C‑715/20, EU:C:2024:139, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).
98 Nach ständiger Rechtsprechung soll Art. 18 Abs. 1 AEUV eigenständig nur bei unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen zur Anwendung kommen, für die der AEU-Vertrag keine besonderen Diskriminierungsverbote vorsieht (Urteil vom 15. Juli 2021, The Department for Communities in Northern Ireland, C‑709/20, EU:C:2021:602, Rn. 65).
99 Die Tschechische Republik kann daher nicht mit Erfolg geltend machen, dass die in der Klageschrift der Kommission genannten nationalen Rechtsvorschriften unter Art. 18 Abs. 1 AEUV fielen und nicht unter Art. 22 AEUV, der auf einen Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitze, erst ab dem Zeitpunkt anwendbar sei, zu dem er den Status eines Wählers oder eines Kandidaten bei einer Wahl erlangt habe.
100 Schließlich ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 22 AEUV, dass das aktive und das passive Wahlrecht vorbehaltlich der vom Rat festgelegten Einzelheiten ausgeübt werden.
101 Insoweit werden in den Richtlinien 93/109 und 94/80, die auf der Grundlage von Art. 8b EG, jetzt Art. 22 AEUV, erlassen wurden, die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Wahlen zum Europäischen Parlament bzw. bei den Kommunalwahlen festgelegt.
102 Diese Richtlinien, die, wie sich aus dem fünften Erwägungsgrund der Richtlinie 93/109 und dem vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 94/80 ergibt, keine abschließende Harmonisierung der Wahlrechtsordnungen der Mitgliedstaaten bewirken, enthalten zwar keine Bestimmungen über die Bedingungen, unter denen Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, die Mitgliedschaft in einer politischen Partei oder einer politischen Bewegung erlangen können.
103 Der Anwendungsbereich dieser Richtlinien kann jedoch nicht, auch nicht implizit, die Tragweite der Rechte und Pflichten beschränken, die sich aus Art. 22 AEUV ergeben. Das besondere Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit in dieser Bestimmung ist nämlich allgemein formuliert, und schon nach dem Wortlaut von Art. 22 AEUV unterliegt nur die Ausübung des darin verankerten aktiven und passiven Wahlrechts den vom Rat festgelegten Einzelheiten. In diesen Einzelheiten können zwar „Ausnahmeregelungen vorgesehen werden, wenn dies aufgrund besonderer Probleme eines Mitgliedstaats gerechtfertigt ist“, doch dürfen sie, abgesehen von diesem besonderen Fall, nicht dazu führen, dass die praktische Wirksamkeit dieser Rechte allgemein beeinträchtigt wird.
104 In Ermangelung spezifischer Bestimmungen über die Bedingungen, unter denen Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, in diesem Mitgliedstaat Mitglied politischer Parteien oder politischer Bewegungen werden können, fällt die Festlegung dieser Bedingungen zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, doch müssen sie bei deren Ausübung die Verpflichtungen einhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben (vgl. entsprechend Urteile vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung, vom 14. Dezember 2021, Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“, C‑490/20, EU:C:2021:1008, Rn. 38, vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen [Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern], C‑204/21, EU:C:2023:442, Rn. 63, und vom 5. September 2023, Udlændinge- og Integrationsministeriet [Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit], C‑689/21, EU:C:2023:626, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
105 Unter Einhaltung der in den genannten Richtlinien festgelegten Einzelheiten darf ein Mitgliedstaat somit einen Unionsbürger mit Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat, der nicht dessen Staatsangehörigkeit besitzt, außerhalb der durch die Richtlinien geregelten Bereiche keinen nationalen Bestimmungen unterwerfen, die zu einer Ungleichbehandlung bei der Ausübung der ihm durch Art. 22 AEUV verliehenen Rechte führen, denn sonst würde die praktische Wirksamkeit des in diesem Artikel enthaltenen Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Frage gestellt (vgl. entsprechend zu Art. 21 Abs. 1 AEUV, Urteile vom 12. März 2014, O. und B., C‑456/12, EU:C:2014:135, Rn. 54, und vom 27. Juni 2018, Altiner und Ravn, C‑230/17, EU:C:2018:497, Rn. 26).
106 Folglich lassen weder das Fehlen von Bestimmungen in den Richtlinien 93/109 und 94/80 über die Bedingungen, unter denen Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, in diesem Mitgliedstaat Mitglied politischer Parteien oder Bewegungen werden können, noch der in Art. 4 Abs. 1 und in Art. 5 Abs. 2 EUV verankerte Grundsatz, dass alle Zuständigkeiten, die der Union nicht durch die Verträge übertragen wurden, bei den Mitgliedstaaten verbleiben, den Schluss zu, dass die Festlegung der Bedingungen für den Erwerb der Mitgliedschaft in einer politischen Partei oder Bewegung nicht in den Anwendungsbereich von Art. 22 AEUV fällt.
107 Was den zweiten Aspekt – den Kontext, in dem Art. 22 AEUV steht – betrifft, sind sowohl die übrigen Bestimmungen des AEU-Vertrags als auch die u. a. im EU-Vertrag und in der Charta enthaltenen gleichrangigen Bestimmungen heranzuziehen.
108 Hierzu ist erstens festzustellen, dass Art. 22 AEUV zum Zweiten Teil des AEU-Vertrags gehört, der die Bestimmungen über die Nichtdiskriminierung und die Unionsbürgerschaft enthält.
109 Art. 20 AEUV verleiht jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, den Status eines Unionsbürgers, der nach ständiger Rechtsprechung dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (Urteile vom 20. September 2001, Grzelczyk, C‑184/99, EU:C:2001:458, Rn. 31, vom 18. Januar 2022, Wiener Landesregierung [Widerruf einer Einbürgerungszusicherung], C‑118/20, EU:C:2022:34, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers und Institut national de la statistique et des études économiques, C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 49).
110 Nach Art. 22 AEUV in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 AEUV knüpft das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament an den Unionsbürgerstatus an (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers und Institut national de la statistique et des études économiques, C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 49 bis 51 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 18. April 2024, Préfet du Gers und Institut national de la statistique et des études économiques, C‑716/22, EU:C:2024:339, Rn. 40 und 41).
111 Das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament wird somit durch die Unionsbürgerschaft verliehen und kann daher entgegen dem Vorbringen der Tschechischen Republik nicht als Ausnahme von einer vermeintlichen Regel verstanden werden, wonach nur die Angehörigen eines Mitgliedstaats am politischen Leben dieses Staates teilnehmen können, so dass eine enge Auslegung von Art. 22 AEUV geboten sei. Eine solche Auslegung liefe dem grundlegenden Status zuwider, den die Unionsbürgerschaft für die Angehörigen der Mitgliedstaaten haben soll.
112 Überdies verleiht die Unionsbürgerschaft nach Art. 20 Abs. 2 und Art. 21 AEUV jedem Unionsbürger ein elementares und individuelles Recht, sich vorbehaltlich der im AEU-Vertrag vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen und der Maßnahmen zu ihrer Durchführung frei im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten (Urteil vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers und Institut national de la statistique et des études économiques, C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 50).
113 Somit besteht ein Zusammenhang zwischen dem Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht einerseits und dem aktiven und passiven Wahlrecht der Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament andererseits. Wie der Generalanwalt in den Nrn. 68 und 69 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, wurde ein solcher Zusammenhang bereits mit der Anerkennung dieses aktiven und passiven Wahlrechts durch den Vertrag von Maastricht hergestellt, indem es mit dem Recht verknüpft wurde, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.
114 Zweitens beruht nach Art. 10 Abs. 1 EUV die Arbeitsweise der Union auf der repräsentativen Demokratie, die den Wert der Demokratie konkretisiert. Dieser stellt nach Art. 2 EUV einen der Werte dar, auf die sich die Union gründet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Dezember 2019, Puppinck u. a./Kommission, C‑418/18 P, EU:C:2019:1113, Rn. 64, und vom 19. Dezember 2019, Junqueras Vies, C‑502/19, EU:C:2019:1115, Rn. 63).
115 In Art. 10 Abs. 2 und 3 EUV wird das Recht der Unionsbürger anerkannt, unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten zu sein und am demokratischen Leben der Union teilzunehmen.
116 Wie der Generalanwalt in Nr. 74 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, wird durch Art. 10 EUV in Bezug auf die Wahlen zum Europäischen Parlament der Zusammenhang zwischen dem Grundsatz der repräsentativen Demokratie innerhalb der Union und dem mit der Unionsbürgerschaft verbundenen, durch Art. 22 Abs. 2 AEUV garantierten aktiven und passiven Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament klar zum Ausdruck gebracht.
117 Drittens ist in Art. 12 Abs. 1 der Charta das Recht jeder Person verankert, sich insbesondere im politischen, gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Bereich auf allen Ebenen frei mit anderen zusammenzuschließen.
118 Dieses Recht entspricht dem durch Art. 11 Abs. 1 EMRK garantierten Recht, so dass ihm gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite wie dem letztgenannten Recht beizumessen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juni 2020, Kommission/Ungarn [Transparenz von Vereinigungen], C‑78/18, EU:C:2020:476, Rn. 111), was der Gewährung eines weiter gehenden Schutzes durch das Unionsrecht nicht entgegensteht (Urteil vom 22. Juni 2023, K. B. und F. S. [Prüfung von Amts wegen im Strafverfahren], C‑660/21, EU:C:2023:498, Rn. 41).
119 In diesem Kontext geht aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hervor, dass das Recht auf Vereinigungsfreiheit eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft darstellt, weil es den Bürgern erlaubt, in Bereichen von gemeinsamem Interesse kollektiv tätig zu werden und dadurch zum ordnungsgemäßen Funktionieren des öffentlichen Lebens beizutragen (vgl. in diesem Sinne EGMR, 17. Februar 2004, Gorzelik u. a./Polen, CE:ECHR:2004:0217JUD004415898, §§ 88, 90 und 92).
120 Die vorrangige Rolle der politischen Parteien beim Ausdruck des Willens der Unionsbürger wird in Bezug auf die politischen Parteien auf europäischer Ebene in Art. 10 Abs. 4 EUV und in Art. 12 Abs. 2 der Charta anerkannt.
121 Politische Parteien, zu deren Aufgaben es gehört, Kandidaten für die Wahlen aufzustellen (vgl. entsprechend EGMR, 8. Juli 2008, Georgische Arbeiterpartei/Georgien, CE:ECHR:2008:0708JUD000910304, § 142), nehmen somit eine wesentliche Funktion im System der repräsentativen Demokratie wahr, auf dem gemäß Art. 10 Abs. 1 EUV die Arbeitsweise der Union beruht.
122 Folglich trägt die Mitgliedschaft in einer politischen Partei oder Bewegung erheblich zur wirksamen Ausübung des durch Art. 22 AEUV verliehenen passiven Wahlrechts bei.
123 Was den dritten Aspekt angeht, besteht das Ziel von Art. 22 AEUV erstens darin, Unionsbürgern mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, das Recht zu verleihen, am demokratischen Wahlprozess dieses Mitgliedstaats teilzunehmen. Es erstreckt sich, wie oben in Rn. 94 ausgeführt, auf die Teilnahme an diesem Prozess durch das aktive und passive Wahlrecht auf europäischer und lokaler Ebene.
124 Zweitens soll dieser Artikel die Gleichbehandlung der Unionsbürger gewährleisten; dies impliziert, damit das passive Wahlrecht von Unionsbürgern mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, wirksam ausgeübt werden kann, einen gleichen Zugang zu den Mitteln, über die die Angehörigen dieses Mitgliedstaats nach der nationalen Rechtsordnung für die Ausübung dieses Rechts bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament verfügen.
125 Drittens ergibt sich aus dem oben in Rn. 113 angesprochenen Zusammenhang zwischen der Freizügigkeit und dem Aufenthaltsrecht einerseits und dem aktiven und passiven Wahlrecht bei diesen Wahlen andererseits, dass das letztgenannte Recht u. a. die schrittweise Integration des betreffenden Unionsbürgers in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats fördern soll (Urteile vom 14. November 2017, Lounes, C‑165/16, EU:C:2017:862, Rn. 56, und vom 18. Januar 2022, Wiener Landesregierung [Widerruf einer Einbürgerungszusicherung], C‑118/20, EU:C:2022:34, Rn. 42).
126 Wie der Generalanwalt in Nr. 75 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, soll Art. 22 AEUV somit die Repräsentativität der Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, als Folge ihrer Integration in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats gewährleisten.
127 Infolgedessen ist davon auszugehen, dass Art. 22 AEUV bei einer Auslegung im Licht der Art. 20 und 21 AEUV, von Art. 10 EUV und von Art. 12 der Charta zur Ermöglichung einer wirksamen Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament in einem Mitgliedstaat durch Unionsbürger mit Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, verlangt, dass die Unionsbürger einen gleichen Zugang zu den Mitteln haben, über die die Angehörigen dieses Mitgliedstaats für die wirksame Ausübung dieser Rechte verfügen.
– Zum Vorliegen einer gegen Art. 22 AEUV verstoßenden Ungleichbehandlung
128 Wie aus Rn. 90 des vorliegenden Urteils hervorgeht, sehen die tschechischen Rechtsvorschriften eine Ungleichbehandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit hinsichtlich der Möglichkeit vor, Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung zu werden.
129 Die Tschechische Republik, unterstützt durch die Republik Polen, vertritt jedoch, hilfsweise, die Auffassung, dass diese Ungleichbehandlung nicht gegen Art. 22 AEUV verstoße, denn erstens gebe das tschechische Recht Unionsbürgern, die ihren Wohnsitz in der Tschechischen Republik hätten, ohne deren Staatsangehörigkeit zu besitzen, die Möglichkeit, auf alle verfügbaren Formen der Kandidatur zurückzugreifen, einschließlich der Kandidatur auf der Liste einer politischen Partei oder politischen Bewegung, wobei die Aufnahme in eine solche Liste nicht davon abhänge, dass die Person einer politischen Partei oder Bewegung angehöre.
130 Zweitens habe die Kommission weder dargetan, dass das Verbot für solche Unionsbürger, Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung zu werden, die Ausübung ihres passiven Wahlrechts bei Kommunalwahlen und Wahlen zum Europäischen Parlament beschränke, noch, dass sich Kandidaten ohne politische Zugehörigkeit in einer ungünstigeren Lage befänden als Kandidaten, die Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung seien; dies werde im Übrigen durch die von der Tschechischen Republik vorgelegten statistischen Daten widerlegt.
131 Zum letztgenannten Punkt ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Kommission obliegt, das Vorliegen der von ihr gerügten Vertragsverletzungen nachzuweisen, wobei sie sich nicht auf eine Vermutung gleich welcher Art stützen kann (Urteil vom 18. Juni 2020, Kommission/Ungarn [Transparenz von Vereinigungen], C‑78/18, EU:C:2020:476, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
132 Das Vorliegen einer Vertragsverletzung kann jedoch, wenn sie auf dem Erlass einer Maßnahme in Form eines Gesetzes oder einer Verordnung, deren Vorliegen und Anwendung nicht bestritten werden, beruht, durch eine rechtliche Analyse der Bestimmungen dieser Maßnahme nachgewiesen werden (Urteile vom 18. Juni 2020, Kommission/Ungarn [Transparenz von Vereinigungen], C‑78/18, EU:C:2020:476, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 16. November 2021, Kommission/Ungarn [Pönalisierung der Unterstützung von Asylbewerbern], C‑821/19, EU:C:2021:930, Rn. 106).
133 Im vorliegenden Fall geht die der Tschechischen Republik von der Kommission zur Last gelegte Vertragsverletzung auf den Erlass einer gesetzgeberischen Maßnahme und insbesondere auf § 1 und § 2 Abs. 3 des Gesetzes über politische Parteien und Bewegungen zurück, dessen Vorliegen und Anwendung dieser Mitgliedstaat nicht bestreitet und dessen Bestimmungen Gegenstand einer rechtlichen Analyse in der Klageschrift sind.
134 Daher ist die Stichhaltigkeit dieser Analyse zu prüfen, indem geklärt wird, ob die durch § 1 und § 2 Abs. 3 des Gesetzes über politische Parteien und Bewegungen geschaffene Ungleichbehandlung dazu führt, dass Unionsbürger mit Wohnsitz in der Tschechischen Republik, deren Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, unter Verstoß gegen Art. 22 AEUV keinen gleichen Zugang zu den Mitteln haben, über die die Angehörigen dieses Mitgliedstaats für die wirksame Ausübung ihres passiven Wahlrechts verfügen.
135 In Bezug auf die Wahlen zum Europäischen Parlament sieht § 21 Abs. 1 des Gesetzes über die Wahlen zum Europäischen Parlament vor, dass die Listen der Kandidaten für diese Wahlen von eingetragenen politischen Parteien und Bewegungen sowie von ihren Koalitionen vorgelegt werden können. Nach § 22 Abs. 2 und 3 dieses Gesetzes können Angehörige eines anderen Mitgliedstaats als der Tschechischen Republik in die eingereichte Kandidatenliste aufgenommen werden.
136 Bei Kommunalwahlen können nach § 20 Abs. 1 des Gesetzes über die Wahlen zu den Gemeinderäten eingetragene politische Parteien und Bewegungen, deren Koalitionen, unabhängige Kandidaten, Vereinigungen unabhängiger Kandidaten oder Vereinigungen politischer Parteien oder Bewegungen und unabhängiger Kandidaten eine Wahlpartei im Sinne dieses Gesetzes sein.
137 Daraus folgt, dass bei den Wahlen zum Europäischen Parlament allein die politischen Parteien und Bewegungen sowie ihre Koalitionen Kandidaten aufstellen können und dass sie bei den Kommunalwahlen zu den Gruppierungen gehören, die befugt sind, Kandidaten für diese Wahlen aufzustellen.
138 Gemäß § 22 Abs. 2 und 3 des Gesetzes über die Wahlen zum Europäischen Parlament können Angehörige eines anderen Mitgliedstaats als der Tschechischen Republik in die Liste der Kandidaten aufgenommen werden, die von eingetragenen politischen Parteien und Bewegungen sowie ihren Koalitionen eingereicht werden. Die Tschechische Republik trägt, ohne dass dies von der Kommission bestritten würde, vor, dass eine solche Kandidatur auch bei Kommunalwahlen auf einer von einer politischen Partei oder Bewegung oder ihrer Koalition vorgelegten Liste möglich sei und dass unabhängige Kandidaten jedenfalls eine Wahlpartei bilden könnten, um bei diesen Wahlen aufzutreten.
139 Ein Kandidat, der nicht Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung ist, kann somit zwar, wie die Tschechische Republik geltend macht, in eine Kandidatenliste aufgenommen werden, die von einer politischen Partei oder Bewegung oder ihrer Koalition eingereicht wird, doch ist zum einen darauf hinzuweisen, dass ein Unionsbürger mit Wohnsitz in der Tschechischen Republik, deren Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, gemäß § 1 und § 2 Abs. 3 des Gesetzes über politische Parteien und Bewegungen nicht Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung werden kann, wenn er an diesen Wahlen teilnehmen möchte, so dass er Gefahr läuft, nicht oder zumindest nur in beschränktem Umfang an dem Beschluss der Partei oder Bewegung über seine Aufnahme in die Kandidatenliste sowie über seinen etwaigen Listenplatz mitwirken zu können.
140 Bei potenziellen Kandidaten, die die politischen Vorstellungen einer politischen Partei oder Bewegung teilen, macht das Verbot, Mitglied einer solchen Partei oder Bewegung zu werden, ihre Aufnahme in die Liste einer politischen Partei oder Bewegung zwar nicht unmöglich, erschwert sie aber zumindest, da im Prinzip die Mitglieder einer politischen Partei oder Bewegung darüber entscheiden, welche Kandidaten in ihre Listen aufgenommen werden und welchen Listenplatz sie erhalten, was Einfluss auf ihre Wahlchancen haben kann.
141 Dieser Umstand bringt Unionsbürger mit Wohnsitz in der Tschechischen Republik, deren Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, im Verhältnis zu tschechischen Staatsangehörigen, die in diesem Mitgliedstaat einer politischen Partei oder Bewegung angehören, hinsichtlich der Möglichkeit, auf der Liste einer solchen politischen Partei oder Bewegung oder ihrer Koalition bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament zu kandidieren, in eine ungünstigere Lage.
142 Zum anderen ist, wie der Generalanwalt in Nr. 109 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, der Umstand, dass tschechische Staatsangehörige die Wahl haben, entweder als Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung oder als unabhängige Kandidaten zu kandidieren, während Unionsbürger mit Wohnsitz in der Tschechischen Republik, deren Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, nur die letztgenannte Möglichkeit haben, ein Beleg dafür, dass diese Unionsbürger ihr passives Wahlrecht bei diesen Wahlen nicht unter denselben Bedingungen ausüben können wie tschechische Staatsangehörige.
143 Die durch § 1 und § 2 Abs. 3 des Gesetzes über politische Parteien und Bewegungen geschaffene unterschiedliche Behandlung führt somit dazu, dass Unionsbürger mit Wohnsitz in der Tschechischen Republik, deren Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, keinen gleichen Zugang zu den Mitteln haben, über die die Angehörigen dieses Mitgliedstaats für die wirksame Ausübung ihres passiven Wahlrechts bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament verfügen.
144 Die Tschechische Republik macht jedoch geltend, dass es zahlreiche Kandidaten ohne politische Zugehörigkeit gebe, dass sie nicht benachteiligt seien und dass die Mitgliedschaft in einer politischen Partei oder Bewegung keinen Einfluss auf ihre Wahlchancen habe, denn dafür seien ihre Aktivität und Persönlichkeit ausschlaggebend. Die von ihr vorgelegten statistischen Daten bestätigten, dass die fraglichen Rechtsvorschriften für Unionsbürger mit Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat, die dessen Staatsangehörigkeit nicht besäßen und bei Kommunalwahlen und Wahlen zum Europäischen Parlament kandidieren wollten, keine negativen Auswirkungen hätten.
145 Statistische Daten zum Anteil unabhängiger Kandidaten bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament im Allgemeinen sind aber nicht geeignet, die oben in Rn. 143 getroffene Feststellung in Frage zu stellen, wonach die durch die tschechischen Rechtsvorschriften, auf die sich die Klage der Kommission bezieht, geschaffene Ungleichbehandlung Unionsbürgern mit Wohnsitz in der Tschechischen Republik, deren Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, einen gleichen Zugang zu den Mitteln verwehrt, über die die Angehörigen dieses Mitgliedstaats für die wirksame Ausübung ihres passiven Wahlrechts bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament verfügen.
146 Diesen Daten kann zwar entnommen werden, dass bei den Wahlen zum Europäischen Parlament die meisten Kandidaten und gewählten Abgeordneten Mitglied einer politischen Partei oder einer politischen Bewegung waren, auch wenn ein nicht unerheblicher Teil der Kandidaten und gewählten Abgeordneten bei diesen Wahlen als Unabhängige kandidiert hatten. Außerdem lässt sich in Bezug auf die Kommunalwahlen aus diesen Daten ableiten, dass bei den vier Wahlen, die sie betreffen, der Anteil der Kandidaten und gewählten Abgeordneten, die politischen Parteien angehörten, geringer war als der Anteil unabhängiger Kandidaten und gewählter Abgeordneter.
147 Wie die Kommission geltend macht, lassen diese Feststellungen jedoch keinen entscheidenden Schluss auf die besondere Situation von Unionsbürgern mit Wohnsitz in der Tschechischen Republik, deren Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, hinsichtlich der wirksamen Ausübung ihres passiven Wahlrechts bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament zu.
148 Zum einen haben diese Bürger im Allgemeinen einen geringeren Bekanntheitsgrad als die Angehörigen ihres Wohnsitzmitgliedstaats und können daher ein größeres Interesse als Letztere daran haben, von den Strukturen und dem Image einer Partei zu profitieren, um ihren Bekanntheitsgrad und ihre Chancen, gewählt zu werden, zu erhöhen. Zum anderen bieten die von der Tschechischen Republik vorgelegten Statistiken keinen Vergleich zwischen den Unionsbürgern mit Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, und seinen eigenen Staatsangehörigen hinsichtlich ihrer jeweiligen Chancen, als unabhängige Kandidaten in die von einer politischen Partei oder einer politischen Bewegung eingereichten Listen aufgenommen zu werden.
149 Das Vorbringen, mit dem das Interesse, bei Kommunalwahlen auf einer Liste einer politischen Partei oder Bewegung zu kandidieren, in Anbetracht der Wahlmodalitäten, die den Wählern eine Stimmabgabe für Bewerber auf verschiedenen Listen ermöglichen, relativiert werden soll, lässt keinen Schluss auf den Zugang von Unionsbürgern mit Wohnsitz in der Tschechischen Republik, deren Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, zur Kandidatur auf der Liste einer politischen Partei oder Bewegung zu.
150 Außerdem macht die Kommission, wie der Generalanwalt in Nr. 111 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, zu Recht geltend, ohne dass ihr die Tschechische Republik in diesem Punkt widersprochen hätte, dass der Zugang zu einer unabhängigen Kandidatur der rechtlichen Verpflichtung unterliegt, eine von den Wählern unterzeichnete Petition einzureichen, wobei sich die Zahl der Unterschriften nach der Größe der Gemeinde richtet, in der sich der Kandidat zur Wahl stellt, während für die Kandidaten politischer Parteien oder Bewegungen keine solche Verpflichtung besteht.
151 Schließlich darf zwar die Wirkung der Persönlichkeit der Wahlbewerber und ihrer Aktivitäten auf die Wähler nicht unterschätzt werden, doch ist ihre Zugehörigkeit zu einer politischen Partei oder Bewegung, die wesensgemäß bestrebt ist, für ihre Kandidaten ein günstiges Ergebnis bei den Wahlen zu erzielen, und deren organisatorische Strukturen sowie personelle, administrative und finanzielle Ressourcen zur Verfolgung dieses Ziels dienen, geeignet, die Wahl dieser Kandidaten zu begünstigen.
152 In Anbetracht dessen ist festzustellen, dass die durch § 1 und § 2 Abs. 3 des Gesetzes über politische Parteien und Bewegungen geschaffene Ungleichbehandlung dazu führt, dass Unionsbürger mit Wohnsitz in der Tschechischen Republik, deren Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, keinen gleichen Zugang zu den Mitteln haben, über die die Angehörigen dieses Mitgliedstaats für die wirksame Ausübung ihres passiven Wahlrechts bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament verfügen, so dass sie eine grundsätzlich nach Art. 22 AEUV verbotene Ungleichbehandlung darstellt.
– Zur Achtung der nationalen Identität
153 Zu prüfen ist noch das Vorbringen der Tschechischen Republik, wonach § 1 und § 2 Abs. 3 des Gesetzes über politische Parteien und Bewegungen darauf abzielten, den Schutz des politischen und verfassungsmäßigen Systems auf nationaler Ebene zu gewährleisten, und damit die Achtung der nationalen Identität im Sinne von Art. 4 Abs. 2 EUV garantierten, indem sie tschechischen Bürgern das Recht vorbehielten, Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung zu werden, da Letztere als „Schlüsselplattform“ für die politische Tätigkeit auf nationaler Ebene anzusehen seien.
154 Hierzu ist erstens festzustellen, dass die Organisation des nationalen politischen Lebens, zu der die politischen Parteien und Bewegungen beitragen, Teil der nationalen Identität im Sinne von Art. 4 Abs. 2 EUV ist.
155 Zweitens impliziert Art. 22 AEUV, indem er Unionsbürgern mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, dort das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament verleiht, jedoch weder, dass dieser Mitgliedstaat verpflichtet ist, den Unionsbürgern das aktive und passive Wahlrecht bei nationalen Wahlen zuzuerkennen, noch ein Verbot für diesen Mitgliedstaat, besondere Regeln für die Entscheidungsfindung innerhalb einer politischen Partei oder Bewegung in Bezug auf die Aufstellung von Kandidaten bei den nationalen Wahlen zu erlassen, die es ausschließen, dass Mitglieder der Partei oder Bewegung, die keine Angehörigen dieses Staates sind, bei einer solchen Entscheidungsfindung mitwirken.
156 Dem Vorbringen der Tschechischen Republik, es komme nicht in Betracht, die Aktivität oder die Beteiligung von Unionsbürgern mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besäßen, auf Aspekte zu beschränken, die ausschließlich mit Kommunalwahlen oder Wahlen zum Europäischen Parlament zusammenhingen, da eine solche Regelung gegen den tragenden Grundsatz der Gleichbehandlung der Mitglieder einer politischen Partei oder Bewegung verstieße, kann nicht gefolgt werden.
157 Aus Art. 22 AEUV ergibt sich nämlich, dass Unionsbürger mit Wohnsitz in der Tschechischen Republik, deren Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, sich in Bezug auf die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei nationalen Wahlen nicht in einer Situation befinden, die mit der der Angehörigen dieses Mitgliedstaats vergleichbar ist, was es zu rechtfertigen vermag, Erstere und Letztere unterschiedlich zu behandeln.
158 Drittens ist Art. 4 Abs. 2 EUV unter Berücksichtigung der gleichrangigen Bestimmungen, insbesondere der Art. 2 und 10 EUV, zu verstehen und kann die Mitgliedstaaten nicht von der Einhaltung der sich aus diesen Vorschriften ergebenden Erfordernisse befreien (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen [Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern], C‑204/21, EU:C:2023:442, Rn. 72).
159 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Demokratieprinzip und der Grundsatz der Gleichbehandlung Werte darstellen, auf die sich die Union gemäß Art. 2 EUV gründet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Juni 2021, Ungarn/Parlament, C‑650/18, EU:C:2021:426, Rn. 94).
160 Art. 2 EUV stellt keine bloße Aufzählung politischer Leitlinien oder Absichten dar, sondern enthält Werte, die der Union als Rechtsgemeinschaft schlechthin ihr Gepräge geben, wobei sich diese Werte in Grundsätzen niederschlagen, die rechtlich verbindliche Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten beinhalten (Urteile vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat, C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 232, und vom 16. Februar 2022, Polen/Parlament und Rat, C‑157/21, EU:C:2022:98, Rn. 264).
161 Außerdem beruht, wie sich aus Rn. 114 des vorliegenden Urteils ergibt, die Arbeitsweise der Union nach Art. 10 Abs. 1 EUV auf dem Grundsatz der repräsentativen Demokratie, der den in Art. 2 EUV genannten Wert der Demokratie konkretisiert (Urteil vom 19. Dezember 2019, Junqueras Vies, C‑502/19, EU:C:2019:1115, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).
162 Indem Art. 22 AEUV den Unionsbürgern mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen sowie bei Wahlen zum Europäischen Parlament in diesem Mitgliedstaat unter denselben Bedingungen wie den Angehörigen dieses Mitgliedstaats garantiert, konkretisiert er die Grundsätze der Demokratie sowie der Gleichbehandlung der Unionsbürger (siehe oben, Rn. 97), die zur Identität und zu den gemeinsamen Werten der Union gehören, denen die Mitgliedstaaten beipflichten und deren Achtung sie in ihrem Hoheitsgebiet gewährleisten müssen.
163 Folglich kann der Umstand, dass solchen Unionsbürgern in ihrem Wohnsitzmitgliedstaat gestattet wird, Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung werden, damit die Grundsätze der Demokratie und der Gleichbehandlung vollständig umgesetzt werden, nicht als Beeinträchtigung der nationalen Identität dieses Mitgliedstaats angesehen werden.
164 Nach alledem ist festzustellen, dass die Tschechische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 22 AEUV verstoßen hat, dass sie Unionsbürgern, die nicht die tschechische Staatsangehörigkeit besitzen, aber in der Tschechischen Republik ihren Wohnsitz haben, das Recht verwehrt, Mitglied einer politischen Partei oder einer politischen Bewegung zu werden.
Kosten
165 Gemäß Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Tschechische Republik im Rahmen der vorliegenden Klage unterlegen ist, sind ihr neben ihren eigenen Kosten gemäß dem Antrag der Kommission deren Kosten aufzuerlegen.
166 Nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten und die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Folglich trägt die Republik Polen ihre eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Tschechische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 22 AEUV verstoßen, dass sie Unionsbürgern, die nicht die tschechische Staatsangehörigkeit besitzen, aber in der Tschechischen Republik ihren Wohnsitz haben, das Recht verwehrt, Mitglied einer politischen Partei oder einer politischen Bewegung zu werden.
2. Die Tschechische Republik trägt neben ihren eigenen Kosten die Kosten der Europäischen Kommission.
3. Die Republik Polen trägt ihre eigenen Kosten.
Unterschriften