Vorläufige Fassung
SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN
TAMARA ĆAPETA
vom 26. Juni 2025(1 )
Rechtssache C ‑767/23 [Remling] (i )
A. M. 
gegen 
Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid 
(Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State [Staatsrat, Niederlande])
„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 267 AEUV – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Umfang der Verpflichtung der in letzter Instanz entscheidenden einzelstaatlichen Gerichte, eine Nichtvorlage zur Vorabentscheidung zu begründen – Nationale Regelung, die es einem in letzter Instanz entscheidenden Gericht erlaubt, Rechtssachen mit abgekürzter Begründung zu entscheiden “
I.      Einleitung 
1.         In Rn. 51 seines Urteils in der Rechtssache Consorzio(2 ) hat der Gerichtshof festgestellt, dass in letzter Instanz entscheidende einzelstaatliche Gerichte(3 ), die beschlossen haben, von der Vorlage einer Frage nach der Auslegung des Unionsrechts gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV abzusehen, verpflichtet sind, die Gründe für eine Nichtvorlage zur Vorabentscheidung unter Berücksichtigung der im Urteil CILFIT dargelegten Situationen anzugeben(4 ).
2.         In der vorliegenden Rechtssache wird der Gerichtshof ersucht, diese Verpflichtung zu präzisieren und zu klären, ob ein letztinstanzliches einzelstaatliches Gericht solche Gründe für die Nichtvorlage stets  ausdrücklich angeben muss, selbst wenn es nach nationalem Recht befugt ist, in der betreffenden Rechtssache eine Entscheidung mit abgekürzter Begründung zu erlassen.
II.    Ausgangsverfahren und Vorlagefrage 
3.         A. M. ist ein Drittstaatsangehöriger (Marokko). Seine Ehefrau und die beiden gemeinsamen minderjährigen Kinder besitzen die niederländische Staatsangehörigkeit.
4.         A. M. stellte bei den zuständigen Behörden einen Antrag auf Ausstellung eines Dokuments, aus dem sich der rechtmäßige Aufenthalt in den Niederlanden ergibt. Er war der Auffassung, dass ihm ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht gemäß Art. 20 AEUV zustehe, wie es der Gerichtshof u. a. in seinem Urteil in der Rechtssache Chavez-Vilchez anerkannt hat(5 ).
5.         Mit Bescheid vom 8. Oktober 2019 lehnte der Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, Niederlande, im Folgenden: Staatssekretär) den von A. M. gestellten Antrag ab. Hiergegen legte A. M. Widerspruch ein.
6.         Mit Bescheid vom 19. Mai 2020 lehnte der Staatssekretär den Widerspruch von A. M. ab.
7.         Gegen diese Entscheidung erhob A. M. Klage bei der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Utrecht (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Utrecht, Niederlande).
8.         Mit Urteil vom 5. März 2021(6 ) wies dieses Gericht die Klage von A. M. als unbegründet ab. Insbesondere habe der Staatssekretär, so das Gericht unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs, davon ausgehen dürfen, dass A. M. kein abgeleitetes Aufenthaltsrecht habe, da er Inhaber eines Aufenthaltstitels in Spanien sei und seine Kinder nicht gezwungen worden seien, das Gebiet der Union zu verlassen.
9.         Gegen dieses Urteil legte A. M. Berufung beim Raad van State (Staatsrat, Niederlande) ein, einem in letzter Instanz entscheidenden Gericht, das das vorlegende Gericht in der vorliegenden Rechtssache ist.
10.       Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass A. M. rügt, die Vorinstanz sei zu Unrecht nicht auf sein Vorbringen eingegangen, demzufolge sie dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen hätte vorlegen müssen, und beantragt beim vorlegenden Gericht eine solche Vorlage. Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass eine Ausnahme von seiner Vorlagepflicht Anwendung findet, da sich die Beantwortung der Frage von A. M. nach der Auslegung des anwendbaren Unionsrechts aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ableiten lasse und somit einen „Acte éclairé “ darstelle.
11.       Das vorlegende Gericht möchte die Berufung von A. M. jedoch mit einer Entscheidung mit abgekürzter Begründung gemäß Art. 91 Abs. 2 der Vreemdelingenwet 2000 (Ausländergesetz 2000, im Folgenden: Vw 2000) zurückweisen. Diese Regelung biete ihm die Möglichkeit, auf die Darlegung der Gründe, weshalb es dem Gerichtshof keine Fragen zur Vorabentscheidung vorlege, zu verzichten. Das vorlegende Gericht äußert jedoch Zweifel, ob diese Regelung gegen seine ihm nach dem Unionsrecht obliegende Pflicht zur Begründung der Nichtvorlage verstoße.
12.       Das vorlegende Gericht führt aus, dass der Raad van State (Staatsrat) nach Art. 91 Abs. 2 Vw 2000 berechtigt sei, seine Entscheidung darauf zu beschränken, dass eine geltend gemachte Rüge nicht zur Nichtigerklärung der Entscheidung der Vorinstanz führen könne, und zwar ohne dies näher zu begründen. In dieser Bestimmung heißt es:
„Ist [der Raad van State (Staatsrat) als Berufungsgericht] der Ansicht, dass eine geltend gemachte Rüge nicht zur Nichtigerklärung führen kann, kann er sich in der Begründung seiner Entscheidung auf diese Würdigung beschränken.“
13.       Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der Raad van State (Staatsrat) bei der Ausübung seiner Befugnis nach Art. 91 Abs. 2 Vw 2000 in seiner Entscheidung grundsätzlich die folgende Standardformel verwende:
„Die Berufung führt nicht zur Aufhebung der Entscheidung des Gerichts. Diese Feststellung bedarf keiner weiteren Begründung.
Die Berufungsschrift enthält keine Fragen, die im Interesse der Rechtseinheit, der Rechtsentwicklung oder des Rechtsschutzes in einem allgemeinen Sinne einer Antwort bedürfen (Art. 91 Abs. 2 Vw 2000).“
14.       Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der Gesetzgeber mit der Einführung der Berufungsmöglichkeit in Ausländersachen beim Raad van State (Staatsrat) diesem Gericht zugleich die Befugnis übertragen habe, solche Rechtssachen mit einer Entscheidung mit abgekürzter Begründung zu erledigen. Der Raad van State (Staatsrat) habe die Aufgabe erhalten, über Fragen zu entscheiden, die im Interesse der Rechtseinheit, der Rechtsentwicklung und des Rechtsschutzes in einem allgemeinen Sinne einer Antwort bedürften. Die Befugnis zur abgekürzten Begründung in Fällen, in denen diese Fragen nicht von Bedeutung seien, gewährleiste die Qualität und die Praktikabilität dieses Systems, da sie dem Raad van State (Staatsrat) eine effiziente Bewältigung der großen Anzahl der Berufungen erlaube.
15.       Das vorlegende Gericht betont insbesondere, dass eine solche abgekürzte Begründung nur abgegeben werde, wenn kein Grund für eine Nichtigerklärung des angefochtenen Urteils bestehe und auch keine Rechtsfragen vorlägen, die ein Vorabentscheidungsersuchen erforderlich machten. Außerdem beeinträchtige eine abgekürzte Begründung den gerichtlichen Rechtsschutz des betreffenden Ausländers nicht, da es eine umfassende Begründung aus der ersten Instanz gebe und die Entscheidung des Raad van State (Staatsrat) auf einer vollständigen inhaltlichen Prüfung der Berufung beruhe, auch wenn diese in der abgekürzten Begründung nicht aufgeführt werde.
16.       Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts steht die gesetzliche Befugnis zur Abgabe einer abgekürzten Begründung gemäß Art. 91 Abs. 2 Vw 2000 im Einklang mit der sich aus Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (im Folgenden: EMRK) ergebenden Begründungspflicht(7 ). Insbesondere leitet das Gericht aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) ab, dass, wenn ein Gericht gesetzlich befugt sei, eine Rechtssache ohne nähere Begründung seiner Entscheidung zu erledigen, die Entscheidung über den Antrag auf Vorlage von Vorabentscheidungsfragen Teil der Gesamtentscheidung der Rechtssache sei und das Gericht keine gesonderten Gründe für die Nichtvorlage angeben müsse(8 ).
17.       Das vorlegende Gericht stellt sich jedoch die Frage, ob die Abgabe einer solchen abgekürzten Begründung mit Art. 267 Abs. 3 AEUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta vereinbar ist, oder ob es auf der Grundlage von Rn. 51 des Urteils Consorzio ausführlicher begründen müsse, weshalb es nicht zu einer Vorlage verpflichtet sei, insbesondere, ob es darlegen müsse, welche Ausnahme von der Vorlagepflicht gegeben sei und warum. Das Gericht erachtet seine Praxis der abgekürzten Begründung als ausreichend, da sie eine solche Ausnahme impliziere.
18.       Unter diesen Umständen hat der Raad van State (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist Art. 267 Abs. 3 AEUV in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen, dass diese Bestimmungen einer nationalen Regelung wie der in Art. 91 Abs. 2 Vw 2000 vorgesehenen entgegenstehen, wonach die Afdeling bestuursrechtspraak van de Raad van State (Abteilung für Verwaltungsstreitsachen des Staatsrats, Niederlande) als einzelstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln angefochten werden können, eine aufgeworfene Frage über die Auslegung des Unionsrechts, gegebenenfalls in Verbindung mit einem ausdrücklichen Antrag auf Einholung einer Vorabentscheidung, mit einer abgekürzten Begründung erledigen kann, ohne zu begründen, welche der drei Ausnahmen von der Vorlagepflicht vorliegt?
III. Verfahren vor dem Gerichtshof 
19.       A. M., die niederländische und die finnische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht.
20.       Das vorliegende Verfahren wurde mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 24. Juli 2024 bis zur Verkündung des Urteils in der Rechtssache KUBERA ausgesetzt(9 ). Das Verfahren vor dem Gerichtshof ist am 18. Oktober 2024 wieder aufgenommen worden.
21.       Am 4. März 2025 fand eine mündliche Verhandlung statt, in der alle Beteiligten sowie die deutsche und die italienische Regierung mündliche Ausführungen gemacht haben.
IV.    Würdigung 
22.       In der vorliegenden Rechtssache wird der Gerichtshof ersucht, den Umfang der Begründungspflicht der in letzter Instanz entscheidenden einzelstaatlichen Gerichte zu klären, wenn diese es ablehnen, dem Gerichtshof eine Frage nach der Auslegung des in der Rechtssache in Rede stehenden Unionsrechts vorzulegen.
23.       Da der Gerichtshof das Bestehen einer solchen Verpflichtung im Unionsrecht erst vor relativ kurzer Zeit festgestellt hat, werde ich mich in meiner Würdigung zunächst mit der Entwicklung und den wichtigsten Merkmalen der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs befassen (A). Im weiteren Verlauf werde ich die Grundlage der  Begründungspflicht unter dem Blickwinkel von Art. 267 AEUV und Art. 47 der Charta erörtern (B). Darauf aufbauend erfolgt die Prüfung der Vorlagefrage in der vorliegenden Rechtssache (C).
A.      Rechtsprechung des Gerichtshofs 
24.       Zunächst ist festzuhalten, dass die in letzter Instanz entscheidenden einzelstaatlichen Gerichte seit der Gründung der Europäischen Union(10 ) und gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV verpflichtet sind, dem Gerichtshof Fragen zur Auslegung und zur Gültigkeit des Unionsrechts vorzulegen, sofern sie mit solchen Fragen befasst werden.
25.       Diese Verpflichtung ist Ausdruck der von den Verfassern der Verträge gewählten Methode zur Gewährleistung der Einheitlichkeit des Unionsrechts. Das Unionsrecht wird durch ein ganzes Spektrum verschiedener Gerichte in den derzeit 27 Mitgliedstaaten angewandt, die als europäische Gerichte fungieren(11 ). Dies birgt die erhebliche Gefahr, dass verschiedene Richter derselben Unionsvorschrift unterschiedliche Bedeutungen zuschreiben. Eine ähnliche Gefahr besteht auch innerhalb der einzelnen nationalen Rechtssysteme der Mitgliedstaaten bei der Anwendung innerstaatlicher Rechtsvorschriften durch verschiedene Gerichte. Daher verfügten die Mitgliedstaaten bereits vor ihrem Beitritt zur Europäischen Union in ihren jeweiligen Rechtsordnungen über Instrumente zur Wahrung der Rechtseinheit, die sich in verfahrensrechtlicher Hinsicht auf ihre obersten Gerichte stützten(12 ). Mit der Einführung der Verpflichtung dieser letztinstanzlichen Gerichte, den Gerichtshof um Auslegung des Unionsrechts zu ersuchen, hat Art. 267 AEUV die in letzter Instanz entscheidenden einzelstaatlichen Gerichte in die Aufgabe einbezogen, die Einheitlichkeit des Unionsrechts zu gewährleisten.
26.       Wie der Gerichtshof anerkannt hat, soll die in Art. 267 Abs. 3 AEUV vorgesehene Pflicht daher insbesondere verhindern, dass sich in einem Mitgliedstaat eine nationale Rechtsprechung herausbildet, die mit den Normen des Unionsrechts nicht im Einklang steht(13 ).
27.       Allerdings waren die letztinstanzlichen Gerichte von Beginn an nicht in allen Fällen verpflichtet, ein Vorabentscheidungsverfahren einzuleiten, sondern nur dann, wenn die Frage nach der Auslegung des Unionsrechts bei ihnen „gestellt“ wurde. Eine Frage gilt als „gestellt“, wenn ein Gericht sie für entscheidungserheblich und auslegungsbedürftig hält. Selbst wenn also ein Verfahrensbeteiligter geltend macht, der Rechtsstreit werfe eine Frage nach der Auslegung des Unionsrechts auf, bedeutet dies nicht, dass eine Frage im Sinne von Art. 267 AEUV „gestellt“ wird(14 ).
28.       Der Gerichtshof hat bereits im Urteil CILFIT ausgeführt, in welchen Fällen ein nationales Gericht, obwohl es in einer Rechtssache in letzter Instanz entscheidet, nicht zur Vorlage verpflichtet ist(15 ). Auch wenn diese Rechtsprechung oftmals so dargestellt wird, als hätte der Gerichtshof bestimmte „Ausnahmen“ von der ansonsten unbedingten Vorlagepflicht eingeführt(16 ), so sind diese „Ausnahmen“ meines Erachtens im Grunde genommen nur eine Präzisierung des Erfordernisses, dass die unionsrechtliche Frage vor dem nationalen Gericht „gestellt“ sein muss. Diese „Ausnahmen“ beschreiben somit lediglich die Fälle, in denen ein letztinstanzliches nationales Gericht davon ausgehen kann, dass eine unionsrechtliche Frage nicht vor ihm „gestellt“ wurde.
29.       Im Urteil Consorzio hat der Gerichtshof die im Urteil CILFIT aufgeführten Fälle wie folgt zusammengefasst: „Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann ein einzelstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, von dieser Pflicht nur dann befreit werden, wenn es festgestellt hat, dass die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich ist, dass die Vorschrift des Unionsrechts bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war oder dass die richtige Auslegung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt(17 ).“
30.       Der erste Fall unterscheidet sich von den beiden anderen insofern, als das letztinstanzliche nationale Gericht nicht nur von seiner Vorlagepflicht befreit ist, sondern gar nicht vorlegen kann, wenn die Antwort auf die Vorlagefrage für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits nicht erheblich ist. Es besteht Einvernehmen darüber, dass der Gerichtshof nur dann Vorabentscheidungen erlassen kann, wenn die Antwort für das vorlegende Gericht zur Erledigung des Rechtsstreits zweckdienlich ist(18 ). Die Auslegung von Unionsrecht, das für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht erheblich ist, fällt somit nicht in die Zuständigkeit des Gerichtshofs. Erachtet also ein letztinstanzliches nationales Gericht im Rahmen der Beurteilung seiner Vorlagepflicht eine von einer Partei aufgeworfene unionsrechtliche Frage als nicht entscheidungserheblich, ist sie nicht im Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV „gestellt“.
31.       Die beiden anderen Fälle lassen sich als Konstellationen verstehen, in denen das Unionsrecht in einem vor einem letztinstanzlichen nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit zwar entscheidungserheblich ist, die Vorlagepflicht jedoch entfällt, da keine vernünftigen Zweifel an der Auslegung des Unionsrechts bestehen. In der ersten Fallgestaltung hat der Gerichtshof das anwendbare Unionsrecht möglicherweise bereits hinreichend präzisiert, so dass kein Zweifel mehr darüber besteht, wie es in dem vor dem letztinstanzlichen Gericht anhängigen Rechtsstreit anzuwenden ist. Bei dieser Situation spricht man gewöhnlich von einem „Acte éclairé “(19 ). In der zweiten Fallgestaltung ist, selbst wenn keine einschlägige Auslegung der anwendbaren unionsrechtlichen Regelung durch den Gerichtshof vorliegt, die Regelung selbst möglicherweise so eindeutig, dass sie keinen vernünftigen Zweifel an ihrer ordnungsgemäßen Auslegung zulässt. Bei dieser Situation spricht man gewöhnlich von einem „Acte clair “(20 ).
32.       Die praktische Schwierigkeit ergibt sich aus dem Umstand, dass die Beurteilung der Frage, ob die anwendbare Vorschrift des Unionsrechts – ungeachtet einer etwaigen Auslegung in der Rechtsprechung des Gerichtshofs – keinen vernünftigen Zweifel an ihrer ordnungsgemäßen Anwendung auf einen bestimmten Sachverhalt zulässt, keine exakte Wissenschaft ist. Im Urteil CILFIT hat der Gerichtshof ausgeführt, dass ein letztinstanzliches Gericht erst dann davon ausgehen darf, dass in einem bestimmten Fall kein vernünftiger Zweifel an der richtigen Auslegung und Anwendung der Regelung besteht, wenn es überzeugt ist, dass die gleiche Gewissheit auch für die letztinstanzlichen Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof besteht(21 ).
33.       Dieses Kriterium verpflichtet die letztinstanzlichen Gerichte im Grunde dazu, sich zu vergewissern, dass es keine abweichende Auslegung derselben unionsrechtlichen Regelung in den übrigen Mitgliedstaaten oder durch den Gerichtshof geben kann. Unter diesen Umständen bestehen keine Bedenken hinsichtlich der Einheitlichkeit des Unionsrechts. Meines Erachtens kommt dieses Kriterium sowohl bei einem „Acte éclairé “ als auch bei einem „Acte clair “ zum Tragen. Im erstgenannten Fall muss ein letztinstanzliches Gericht davon überzeugt sein, dass die letztinstanzlichen Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten die bestehende Rechtsprechung tatsächlich in gleicher Weise auf den jeweils gegebenen Sachverhalt anwenden würden. Konkret bedeutet dies für den vorliegenden Fall, dass sich das vorlegende Gericht fragen sollte, ob die einzig mögliche Auslegung der Rechtsprechung im Urteil Chavez-Vilchez darin besteht, dass A. M. kein abgeleitetes Aufenthaltsrecht genießt, weil er einen Aufenthaltstitel in Spanien besitzt und seine Kinder somit nicht gezwungen wären, das Gebiet der Europäischen Union zu verlassen, selbst wenn sie die Niederlande verlassen müssten.
34.       Im Urteil CILFIT hat der Gerichtshof mehrere Kriterien entwickelt, die von den einzelstaatlichen Gerichten letzter Instanz zu berücksichtigen sind, um das Vorliegen eines „Acte clair “ zu beurteilen(22 ). Diese Kriterien sind seit dem Erlass des Urteils vor mehr als 40 Jahren oft kritisiert worden(23 ).
35.       Selbst wenn man der Auffassung zustimmte, dass bei einer wörtlichen Anwendung der CILFIT‑Kriterien „die Wahrscheinlichkeit, es mit einem ‚wirklichen‘ Acte clair zu tun zu haben, ungefähr so groß [wäre], wie einem Einhorn zu begegnen“(24 ), so bestand der eigentliche Zweck der Festlegung dieser Kriterien darin, nachdrücklich auf die Sorgfalt hinzuweisen, die nationale Gerichte letzter Instanz diesbezüglich walten lassen müssen, bevor sie eine Vorlage ablehnen. In diesem Sinne hat der Gerichtshof ausgeführt, dass „es allein Sache“ der letztinstanzlichen Gerichte „ist, in eigener Verantwortung, unabhängig und mit der gebotenen Sorgfalt zu beurteilen, ob bei ihnen einer der Fälle vorliegt, in denen sie davon absehen können, dem Gerichtshof eine Frage nach der Auslegung des Unionsrechts vorzulegen, die bei ihnen aufgeworfen worden ist“(25 ).
36.       Im Urteil Consorzio hat der Gerichtshof bestätigt, dass sich ein in letzter Instanz entscheidendes nationales Gericht der Vorlagepflicht nur in einem der drei CILFIT‑Fälle entziehen kann(26 ). Der Gerichtshof hat darüber hinaus bekräftigt, dass die Entscheidung, dass die Frage nach der Auslegung des Unionsrechts vor dem letztinstanzlichen Gericht nicht „gestellt“ wurde, letztlich nur von diesem selbst und unter Berücksichtigung der möglichen Folgen für die einheitliche Auslegung des Unionsrechts in der gesamten Union getroffen werden kann(27 ).
37.       Die Neuerung des Urteils Consorzio besteht darin, dass der Gerichtshof den letztinstanzlichen nationalen Gerichten in Rn. 51 dieses Urteils eine weitere, im Urteil CILFIT oder dessen Nachfolge nicht genannte Verpflichtung auferlegt hat: Sie müssen ihre Auffassung, dass sie durch einen der CILFIT‑Fälle von der Vorlagepflicht befreit sind, begründen („Begründungspflicht“)(28 ).
38.       Da es im vorliegenden Fall tatsächlich um die Auslegung des Umfangs der Begründungspflicht geht, ist es angebracht, diese Randnummer aus dem Urteil Consorzio wiederzugeben: „[A]us dem mit Art. 267 AEUV eingeführten System unter Berücksichtigung von Art. 47 Abs. 2 der Charta [ergibt sich], dass dann, wenn ein einzelstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, annimmt, dass es von der in Art. 267 Abs. 3 AEUV vorgesehenen Pflicht, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen, befreit ist, weil bei ihm einer der … drei [CILFIT‑]Fälle vorliegt, die Begründung seiner Entscheidung entweder erkennen lassen muss, dass die aufgeworfene unionsrechtliche Frage für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht erheblich ist oder dass sich die Auslegung der betreffenden Unionsrechtsvorschrift auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs stützt oder – wenn es keine solche Rechtsprechung gibt – dass die Auslegung des Unionsrechts für das in letzter Instanz entscheidende einzelstaatliche Gericht derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt“(29 ).
39.       Im Urteil KUBERA hat sich der Gerichtshof erstmals seit dem Urteil Consorzio mit der Auslegung der Begründungspflicht befasst. Im Anschluss an die Feststellung, dass ein bestimmtes Verfahren zur Zulassung der Revision das letztinstanzliche nationale Gericht nicht von der Prüfung seiner Vorlagepflicht entbindet, hat der Gerichtshof die in Rn. 51 des Urteils Consorzio dargelegte Begründungspflicht bestätigt. Zum Umfang dieser Verpflichtung hat er sich jedoch nicht näher geäußert(30 ).
40.       Folglich müssen letztinstanzliche nationale Gerichte nach geltender Rechtsprechung und unter Berücksichtigung der CILFIT‑Fälle ihre Entscheidung, dem Gerichtshof keine Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, begründen. Meines Erachtens muss eine solche Begründung darauf eingehen, warum das Unionsrecht in einem bestimmten Fall nicht entscheidungserheblich ist, warum die bestehende Rechtsprechung des Gerichtshofs die Umstände des konkreten Falls abdeckt oder warum das letztinstanzliche Gericht der Auffassung ist, dass die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten zu keiner anderen Auslegung gelangen könnten. Mit anderen Worten genügt es nicht, sich auf einen der drei CILFIT‑Fälle zu berufen, das Gericht muss vielmehr erläutern, aus welchen Gründen dieser vorliegt.
41.       Der vorliegende Fall wirft die Frage auf, ob eine solche ausdrückliche Begründung auch dann erforderlich ist, wenn das nationale Recht den Gerichten die Möglichkeit bietet, bestimmte Arten von Rechtssachen mit abgekürzter Begründung zu entscheiden.
42.       Zur Beantwortung dieser Frage halte ich es für geboten, die Gründe für die den letztinstanzlichen nationalen Gerichten auferlegte Begründungspflicht zu untersuchen.
B.      Gründe für die Begründungspflicht 
1.      Rechtfertigung   vor dem Hintergrund von  Art. 267 AEUV 
43.       Zunächst sei daran erinnert, dass die in Art. 267 AEUV vorgesehene Verpflichtung der in letzter Instanz entscheidenden einzelstaatlichen Gerichte, dem Gerichtshof Fragen zur Auslegung des Unionsrechts vorzulegen, die Einheitlichkeit des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten gewährleisten soll(31 ).
44.       Art. 267 Abs. 3 AEUV erlegt den letztinstanzlichen nationalen Gerichten eine Vorlagepflicht also im Interesse der Allgemeinheit auf. Das erklärt, warum diese Vertragsbestimmung dem Einzelnen kein entsprechendes Recht verleiht, von einem letztinstanzlichen Gericht zu verlangen, dass es den Gerichtshof anruft(32 ). Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs haben die Parteien eines Rechtsstreits nämlich keinen Anspruch auf Vorlage einer Frage(33 ).
45.       Da Art. 267 AEUV dem Einzelnen kein Recht auf Vorlage zur Vorabentscheidung verleiht, lässt sich die Begründungspflicht auf dieser Grundlage nicht ableiten(34 ).
46.       In diesem Zusammenhang trägt die deutsche Regierung vor, dass die Begründung einer Nichtvorlage einer doppelten Zielsetzung diene. Erstens solle sichergestellt werden, dass die in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichte ihrer Vorlagepflicht gemäß Art 267 Abs. 3 AEUV nachkämen. Dabei handele es sich um eine rein objektive Verpflichtung, die kein subjektives Recht auf eine Vorabentscheidung verleihe. Zweitens versetze sie die Parteien in die Lage, nachzuvollziehen, warum das nationale Gericht in der betreffenden Rechtssache den Gerichtshof nicht angerufen hat. Dies ergebe sich jedoch nicht aus Art. 267 AEUV, sondern sei Ausdruck des Rechts auf ein faires Verfahren.
47.       Ich schließe mich dieser Auffassung an. Daher kann die Begründungspflicht, wenn man auf den Grundgedanken des mit Art. 267 AEUV verbundenen öffentlichen Interesses abstellt, damit gerechtfertigt werden, dass sie gewährleistet, dass ein letztinstanzliches nationales Gericht die Gründe, aus denen es von seiner Vorlagepflicht befreit sein könnte, sorgfältig und ordnungsgemäß prüft.
48.       Meines Erachtens ist die neuartige – oder zumindest im Unionsrecht neuartige(35 ) – Begründungspflicht, die den letztinstanzlichen nationalen Gerichten mit dem Urteil Consorzio auferlegt wurde, ein geeignetes Instrument, um sicherzustellen, dass diese Gerichte die Erforderlichkeit einer Vorlage angemessen beurteilen und somit zur Einheitlichkeit des Unionsrechts beitragen.
49.       Eine solche Begründungspflicht stellt einen Ausgleich dafür dar, dass es schwierig ist, einfache Regeln dafür festzulegen, wann letztinstanzliche nationale Gerichte von ihrer Vorlagepflicht befreit sind. Es gibt wohl kaum einen Juristen, der nicht schon einmal die Erfahrung gemacht hat, dass die Erläuterung des eigenen Rechtsverständnisses gegenüber Dritten die eigene Argumentation oftmals klarer macht und sie mitunter sogar verändert. Ähnlich verhält es sich bei den letztinstanzlichen nationalen Gerichten, die bei der Darlegung ihrer Gründe für die Nichtvorlage gehalten sind, ihren Standpunkt hinsichtlich der ordnungsgemäßen Anwendung des Unionsrechts im Einzelfall zu bestätigen oder anzupassen.
50.       Fehler bei der Beurteilung sind natürlich weiterhin möglich. Meines Erachtens kann ein letztinstanzliches nationales Gericht jedoch von seiner Haftung, einschließlich der Haftung im Sinne der Köbler-Rechtsprechung(36 ), befreit werden, wenn es die Gründe für die Nichtvorlage hinreichend erläutert.
51.       Aus der Perspektive von Art. 267 Abs. 3 AEUV   basiert die Begründungspflicht im Ergebnis auf dem Grundgedanken, ein letztinstanzliches nationales Gerichts dazu zu veranlassen, ernsthaft zu prüfen, ob in einem Fall eine Frage nach der Auslegung des Unionsrechts aufgeworfen wird, und somit zur Einheitlichkeit des Unionsrechts beizutragen.
2.      Begründung  vor dem Hintergrund  von Art. 47 AEUV 
52.       Art. 47 Abs. 2 der Charta garantiert das Grundrecht auf ein faires Verfahren. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt das Recht auf ein faires Verfahren u. a., dass jede gerichtliche Entscheidung mit Gründen zu versehen ist. Dies ermöglicht es der Partei, nachzuvollziehen, warum ein Urteil ergangen ist, und ein geeignetes Rechtsmittel einzulegen(37 ).
53.       Nach den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte entspricht Art. 47 Abs. 2 der Charta Art. 6 Abs. 1 EMRK. Insoweit ist die Rechtsprechung des EGMR, auf die sich die Beteiligten vor dem Gerichtshof berufen haben, für das Verständnis der Grundlage der Begründungspflicht aus der Perspektive von Art. 47 der Charta von Bedeutung.
54.       In seiner Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 EMRK hat der EGMR klargestellt, dass das Recht auf eine mit Gründen versehene Entscheidung den Einzelnen vor Willkür schütze, indem es den Parteien ermögliche, die ergangene Gerichtsentscheidung zu verstehen. Darüber hinaus solle den Parteien damit vermittelt werden, dass sie gehört wurden, was zu einer größeren Bereitschaft ihrerseits beitragen solle, die Entscheidung zu akzeptieren(38 ). Da die Ablehnung der Vorlage von Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts an den Gerichtshof durch ein letztinstanzliches nationales Gericht auf die CILFIT‑Fälle beschränkt sei, vertrat der EGMR die Auffassung, dass diese Gerichte in diesem Zusammenhang die Gründe angeben müssten, warum sie die Einholung einer Vorabentscheidung für nicht erforderlich hielten(39 ).
55.       Ähnlich wie bei Art. 6 Abs. 1 EMRK entspricht die Verpflichtung der letztinstanzlichen nationalen Gerichte nach Art. 47 Abs. 2 der Charta, die Nichtvorlage unter Berücksichtigung der CILFIT‑Fälle zu begründen, einem subjektiven Recht einer Partei, das im Wesentlichen darin besteht, zu verstehen, warum das Recht in dem konkreten Fall ohne Einholung einer Vorabentscheidung auf eine bestimmte Weise angewandt wurde.
56.       Wichtig ist, dass ein solches Recht, die Gründe für eine Nichtvorlage im Licht der CILFIT‑Fälle zu verstehen, in allen Fällen einer möglichen Anwendung des Unionsrechts als gegeben anzusehen ist, unabhängig davon, ob eine Partei eine Vorlage zur Vorabentscheidung beantragt hat. Dieses Recht unterscheidet sich von dem Recht auf Vorlage einer Frage zur Vorabentscheidung, das einer Partei weder nach Art. 267 AEUV noch nach Art. 47 der Charta zusteht. Es handelt sich vielmehr um das Recht auf Erläuterung der Ablehnung der Vorlage, das die Partei auf der Grundlage von Art. 47 der Charta genießt.
57.       Die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK betraf bisher Fälle, in denen eine Partei die Anrufung des Gerichtshofs beantragt hatte. Der Umstand, dass diese Rechtssachen in einem solchen Kontext entschieden wurden, schließt die Anwendung dieser Rechtsprechung auf Fälle, in denen zwar Unionsrecht betroffen war, eine Partei jedoch kein Vorabentscheidungsersuchen beantragt hat, nicht aus.
58.       Die Vorlagepflicht nach Art. 267 AEUV hängt jedenfalls nicht davon ab, dass eine Partei die Anrufung des Gerichtshofs verlangt. Daher schulden die letztinstanzlichen Gerichte den Parteien gemäß Art. 47 der Charta im Fall einer Nichtvorlage eine Erklärung, auch wenn keine Partei einen entsprechenden Antrag gestellt hatte(40 ).
59.       Der Grund für die Begründungspflicht im Ergebnis aus der Perspektive von Art. 47 Abs. 2 der Charta besteht darin, den Parteien eines Verfahrens die Gründe für die ergangene Entscheidung – einschließlich der Entscheidung, nicht vorzulegen – verständlich zu machen und damit ihr Recht auf ein faires Verfahren zu gewährleisten.
60.       Folglich beruht die Begründungspflicht für letztinstanzliche Gerichte nach Art. 267 AEUV auf anderen Gründen als diejenige nach Art. 47 der Charta. Während die Grundlage aus der Perspektive von Art. 267 AEUV auf objektiven Erwägungen basiert, die darauf abzielen, das öffentliche Interesse an der Einheitlichkeit des Unionsrechts zu gewährleisten, beruht die Grundlage aus der Perspektive von Art. 47 der Charta auf subjektiven Erwägungen, die darauf abzielen, das individuelle Recht einer Partei des Verfahrens zu wahren.
61.       Angesichts der unterschiedlichen Grundlagen können hinsichtlich des erforderlichen Umfangs der Begründung unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen werden.
C.      Begründungspflicht und abgekürzte Begründung 
62.       Es sei daran erinnert, dass die Rechtsprechung in den Urteilen Consorzio und KUBERA bestätigt, dass die letztinstanzlichen Gerichte verpflichtet sind, die Gründe für eine Nichtvorlage zu erläutern. Auf der Grundlage einer solchen Erläuterung sollte nachvollziehbar sein, welche der CILFIT‑Fälle die Gerichte für anwendbar halten und aus welchen Gründen.
63.       Muss diese Begründung immer ausdrücklich erfolgen oder ist auch eine abgekürzte Begründung möglich?
64.       Die im nationalen Recht vorgesehene Befugnis von Gerichten, Rechtssachen mit abgekürzter Begründung zu entscheiden, ist ebenfalls begründbar. Wie das vorlegende Gericht und die niederländische Regierung ausführen, stelle eine abgekürzte Begründung in Fällen wie dem vorliegenden einen notwendigen Kompromiss dar, um die Einführung der Berufungsmöglichkeit in Ausländersachen zu ermöglichen. Ein umfassendes Begründungserfordernis würde das Gleichgewicht stören, das der nationale Gesetzgeber mit der Gewährung von Rechtsschutz für den Einzelnen durch die Ermöglichung der Berufung   in Ausländersachen einerseits und dem Rückgriff auf eine abgekürzte Begründung zur Vermeidung einer Überlastung des Rechtssystems andererseits im System hergestellt habe(41 ).
65.       Zur Beantwortung der in der vorliegenden Rechtssache aufgeworfenen Frage ist es daher erforderlich, das Interesse an einer solchen abgekürzten Begründung in den einzelstaatlichen Rechtsordnungen mit dem sich aus dem Unionsrecht ergebenden Interesse, dass die letztinstanzlichen nationalen Gerichte ihre Entscheidungen, den Gerichtshof nicht anzurufen, begründen, gegeneinander abzuwägen.
66.       In Abschnitt B habe ich erläutert, dass sich die Grundlage der  Begründungspflicht nach Art. 267 AEUV von derjenigen nach Art. 47 der Charta unterscheidet. Das Ergebnis der Abwägung zwischen den Argumenten für eine abgekürzte Begründung einerseits und den Argumenten für eine Begründungspflicht andererseits könnte unterschiedlich ausfallen, je nachdem, ob sich die Begründungspflicht nach Art. 267 AEUV oder nach Art. 47 der Charta richtet.
67.       Insoweit könnte dem öffentlichen Interesse an der Gewährleistung der Einheitlichkeit des Unionsrechts, das der Begründungspflicht nach Art. 267 AEUV zugrunde liegt, Genüge getan werden, wenn das letztinstanzliche nationale Gericht die CILFIT‑Fälle berücksichtigt, seine Entscheidung, keine Vorabentscheidung zu ersuchen, jedoch nicht begründet hat. Um diesem Allgemeininteresse zu genügen, kommt es darauf an, dass sich das Gericht ernsthaft mit den CILFIT‑Fällen auseinandergesetzt hat, und nicht darauf, dass die Verfahrensbeteiligten den Standpunkt des Gerichts nachvollziehen können. Somit steht Art. 267 AEUV einer abgekürzten Begründung nicht entgegen.
68.       Demgegenüber wäre das der Begründungspflicht nach Art. 47 der Charta zugrunde liegende Interesse nicht gewahrt, wenn die Entscheidung des letztinstanzlichen nationalen Gerichts die Gründe für die Nichtvorlage nicht zumindest in hinreichendem Maße darlegt, damit die Verfahrensbeteiligten das Ergebnis der Entscheidung nachvollziehen können.
69.       Daher muss im Hinblick auf Art. 47 Abs. 2 der Charta eine Begründung gegeben werden, selbst wenn diese nur implizit erfolgt. Das schließt eine abgekürzte Begründung nicht automatisch aus, solange sie für die Parteien ausreichend ist, um zu verstehen, warum das Gericht nicht vorgelegt hat.
70.       Wann gilt eine abgekürzte Begründung als ausreichende Begründung im Sinne von Art. 47 der Charta?
71.       Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs und des EGMR richtet sich die Beurteilung, ob die Begründung ausreichend ist, nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls.
72.       Der Gerichtshof hat festgestellt, dass der Umfang der Begründungspflicht je nach Art der in Rede stehenden gerichtlichen Entscheidung variieren kann und im Hinblick auf das Verfahren als Ganzes und unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände zu prüfen ist(42 ).
73.       Diese Schlussfolgerung manifestiert sich ebenfalls in der Rechtsprechung des EGMR(43 ). Dieses Gericht hat entschieden, dass es gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK in bestimmten Fällen hinnehmbar sei, dass ein letztinstanzliches Gericht mit einer abgekürzten Begründung entscheidet, beispielsweise wenn die Gründe für die Ablehnung des Vorabentscheidungsersuchens implizit seien oder sich aus anderen Teilen des Urteils ableiten ließen(44 ).
74.       Insbesondere entschied der EGMR im Urteil Baydar(45 ), dass die abgekürzte Begründung des Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) nicht gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoßen habe. Der EGMR war der Ansicht, dass im Rahmen des beschleunigten Verfahrens nach dem in dieser Rechtssache in Rede stehenden niederländischen Recht(46 ) keine Grundsatzfrage im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK aufgeworfen werde, wenn eine Beschwerde mit einer abgekürzten Begründung zurückgewiesen werde, vorausgesetzt, es ergebe sich aus den Umständen des Falls eindeutig, dass die Entscheidung nicht willkürlich oder anderweitig offensichtlich unangemessen sei. Der EGMR stellte fest, dass die Entscheidung nicht willkürlich oder unangemessen sei, da der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) die schriftlichen Rechtsmittelgründe des Beschwerdeführers, die Schlussanträge des Generalanwalts [am Obersten Gerichtshof der Niederlande] und die schriftliche Erwiderung des Beschwerdeführers darauf ordnungsgemäß geprüft habe.
75.       Im Urteil Harisch(47 ) hat der EGMR festgestellt, dass wegen der abgekürzten Begründung des Bundesgerichtshofs (Deutschland) kein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK vorliege. Der EGMR vertrat die Auffassung, dass es dem Beschwerdeführer möglich sei, die Entscheidung des Bundesgerichtshofs zu verstehen, da das untere Gericht die Ablehnung der Vorlage ausführlich begründet habe. Angesichts des Zwecks der Begründungspflicht der innerstaatlichen Gerichte nach Art. 6 EMRK und bei der Prüfung des Verfahrens als Ganzes kam der EGMR daher zu dem Schluss, dass die Ablehnung der Vorlage unter den Umständen des in Rede stehenden Falls hinreichend begründet   sei.
76.       Insgesamt lässt sich aus der vorstehenden Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK ableiten, dass eine ausdrückliche und konkrete Begründung der Nichtvorlage in der Entscheidung eines letztinstanzlichen Gerichts nicht immer erforderlich ist. Urteile wie Baydar und Harisch lassen den Schluss zu, dass die Rechtsprechung die Möglichkeit einer abgekürzten Begründung durch letztinstanzliche Gerichte anerkennt. Eine solche Begründung ist möglich, wenn den Parteien unter den Umständen des Einzelfalls zweifelsfrei vermittelt wird, dass sie gehört wurden, und wenn sie nachvollziehen können, aus welchen Gründen ihr Antrag auf Vorlage abgelehnt wurde.
77.       Diese Begründung lässt sich meines Erachtens auf die Auslegung von Art. 47 der Charta übertragen. Wie die finnische Regierung ausführt, kann der erforderliche Umfang der nach dieser Bestimmung vorgesehenen Begründung nicht vorgegeben werden, da jeder Fall anders gelagert ist(48 ).
78.       Insofern kann das nationale Recht zwar keine abgekürzte Begründung vorschreiben, den nationalen Gerichten jedoch erlauben, eine solche abzugeben. Das letztinstanzliche einzelstaatliche Gericht muss einen Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Frage haben, ob in einem bestimmten Fall eine abgekürzte Begründung ausreichend ist.
79.       Die in Rede stehenden nationalen Regelungen scheinen diesen Anforderungen zu genügen. Es ist daher Sache des letztinstanzlichen Gerichts, im Einzelfall unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände zu beurteilen, ob die Standardformel für eine abgekürzte Begründung in Ausländersachen hinreichend ist oder ob eine weiter gehende Begründung erforderlich ist, damit die Partei nachvollziehen kann, warum dieses Gericht von einer Vorlage abgesehen hat.
80.       Folgt beispielsweise ein letztinstanzliches nationales Gericht dem Ergebnis und der Begründung eines untergeordneten Gerichts, so kann eine abgekürzte Begründung auf der Grundlage einer Standardformel, wie sie in der Praxis des vorlegenden Gerichts verwendet wird, unter Umständen ausreichen. Dafür muss aus dieser Formel ersichtlich werden, dass das untergeordnete Gericht hinreichend erläutert hat, warum das Unionsrecht für die Entscheidung des Einzelfalls nicht erheblich ist, inwiefern die aufgeworfenen Fragen des Unionsrechts in der Rechtsprechung des Gerichtshofs geklärt wurden oder warum – wenn es keine solche Rechtsprechung gibt – an der ordnungsgemäßen Anwendung des Unionsrechts kein vernünftiger Zweifel aufkommt.
81.       Stimmt das letztinstanzliche Gericht dem Ergebnis der Entscheidung der unteren Instanz zu, jedoch nicht der Begründung, oder lassen sich daraus keine Rückschlüsse auf die Gründe der Nichtvorlage ziehen, dann kann sich das letztinstanzliche Gericht nicht auf eine solche Standardformel stützen, sondern muss seinen Standpunkt ausdrücklich erläutern.
82.       Darüber hinaus wurde von den Beteiligten im Verfahren vor dem Gerichtshof die zusätzliche Frage aufgeworfen, ob es ausreicht, wenn das letztinstanzliche Gericht lediglich auf einen der drei CILFIT‑Fälle verweist.
83.       Aus der vorangegangenen Erörterung ergibt sich, dass die bloße Angabe, welchen dieser Fälle das Gericht bei seiner Ablehnung einer Vorlage zugrunde gelegt hat, für sich genommen nicht ausreicht. Die Verfahrenspartei muss nachvollziehen können, warum dieser Fall als einschlägig erachtet wurde. Eine ausdrückliche Erwähnung des zugrunde gelegten CILFIT‑Falls ist allerdings nicht erforderlich, sofern sich dieser ohne Weiteres aus der Begründung ableiten lässt.
84.       Zusammenfassend steht Art. 267 AEUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Angabe einer abgekürzten Begründung nicht entgegen, sofern die Parteien verstehen, warum das letztinstanzliche Gericht angesichts der CILFIT‑Fälle entschieden hat, nicht vorzulegen.
85.       Es ist Sache des letztinstanzlichen Gerichts, einschließlich des vorlegenden Gerichts im vorliegenden Fall, zu beurteilen, ob eine abgekürzte Begründung ausreicht oder ob unter den Umständen des jeweiligen Falls die Angabe ergänzender Gründe erforderlich ist.
V.      Ergebnis 
86.       Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefrage des Raad van State (Staatsrat, Niederlande) wie folgt zu beantworten:
Art. 267 Abs. 3 AEUV in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
steht einer nationalen Regelung wie der in Art. 91 Abs. 2 der Vreemdelingenwet 2000 (Ausländergesetz 2000) vorgesehenen nicht entgegen, wonach die Afdeling bestuursrechtspraak van de Raad van State (Abteilung für Verwaltungsstreitsachen des Staatsrats, Niederlande) als einzelstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln angefochten werden können, eine aufgeworfene Frage über die Auslegung des Unionsrechts, gegebenenfalls in Verbindung mit einem ausdrücklichen Antrag auf Einholung einer Vorabentscheidung, mit einer abgekürzten Begründung erledigen kann, ohne darzulegen, welche der drei Ausnahmen von der Vorlagepflicht vorliegt, sofern eine solche abgekürzte Begründung es den Parteien ermöglicht, nachzuvollziehen, warum dieses Gericht entschieden hat, dem Gerichtshof die Frage zur Auslegung des Unionsrechts nicht vorzulegen.