C-767/22 – 1Dream u.a.

C-767/22 – 1Dream u.a.

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2024:608

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PRIIT PIKAMÄE

vom 11. Juli 2024(1)

Rechtssachen C767/22, C49/23 und C161/23

1Dream OÜ,

DS,

DL,

VS,

JG (C767/22);

AZ,

1Dream OÜ,

Produktech Engineering AG,

BBP,

Polaris Consulting Ltd (C49/23);

VL,

ZS,

Lireva Investments Limited,

VI,

FORTRESS FINANCE Inc. (C161/23),

andere Verfahrensbeteiligte:

Latvijas Republikas Saeima

(Vorabentscheidungsersuchen der Latvijas Republikas Satversmes tiesa (Verfassungsgericht, Lettland)]

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2014/42/EU – Sicherstellung und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten in der Europäischen Union – Anwendungsbereich – Einziehung unrechtmäßig erworbener Vermögensgegenstände – Nationales Strafverfahren zur Einziehung von Vermögensgegenständen, das nicht auf eine Verurteilung gestützt ist – Art. 4 – Recht der mit den Vermögensgegenständen in Verbindung stehenden Personen auf Akteneinsicht – Beweisregelung in Bezug auf die Herkunft der Vermögensgegenstände – Wirksamer Rechtsbehelf – Art. 8 – Richtlinie 2012/13/EU – Richtlinie (EU) 2016/343 – Art. 17, 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“

1.        In einem Bericht vom 2. Juni 2020 über die Einziehung durch Straftaten erlangter Vermögenswerte, der sich auf Daten von Europol stützt, stellte die Europäische Kommission fest, dass sich die jährlichen Erträge aus der organisierten Kriminalität in der Europäischen Union auf etwa 110 Mrd. Euro belaufen und dass lediglich etwa 2 % der Erträge aus Straftaten sichergestellt und 1 % der Erträge eingezogen werden(2). Vor diesem zumindest beunruhigenden Hintergrund sind die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen zu sehen, die dem Gerichtshof erstmals Gelegenheit geben, sich zur Anwendbarkeit der Richtlinie 2014/42/EU(3) auf eine nationale Regelung zu äußern, die ein Strafverfahren zur Einziehung unrechtmäßig erworbener Vermögensgegenstände vorsieht, das nicht auf einer Verurteilung beruht und parallel zu einem Verfahren zur Feststellung der Schuld des mutmaßlichen Täters durchgeführt wird. Eine positive Antwort des Gerichtshofs auf die Frage seiner Zuständigkeit würde dazu führen, dass er die Vereinbarkeit der nationalen Vorschriften über die Einsicht der in Verbindung mit den Vermögensgegenständen stehenden Personen in die Akten des Einziehungsverfahrens, über die für die Herkunft der Vermögensgegenstände geltende Beweisregelung und über die gerichtliche Kontrolle der Einziehungsentscheidung prüfen müsste.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

2.        Im Rahmen der vorliegenden Rechtssachen sind die Art. 2 bis 4 und 8 der Richtlinie 2014/42 sowie die Art. 17, 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) relevant.

B.      Lettisches Recht

3.        Art. 626 Abs. 1 des Kriminālprocesa likums (Strafprozessordnung) vom 21. April 2005 (Latvijas Vēstnesis, 2005, Nr. 74) in der vom 1. September 2018 bis zum 2. November 2022 geltenden Fassung sah vor:

„(1)      Im Interesse einer schnellen Klärung der im Vorverfahren des Strafverfahrens aufgeworfenen vermögensrechtlichen Fragen und im Interesse der Verfahrensökonomie kann der Ermittler mit Zustimmung des für die Leitung der Ermittlungen zuständigen Staatsanwalts oder der Staatsanwalt die Aktenbestandteile, die sich auf unrechtmäßig erworbene Vermögensgegenstände beziehen, von der Strafakte trennen und Verfolgungsmaßnahmen einleiten, sofern folgende Voraussetzungen erfüllt sind:

1)      Die Beweise deuten insgesamt darauf hin, dass die entzogenen oder beschlagnahmten Vermögensgegenstände unrechtmäßig erworben wurden oder mit einer Straftat in Zusammenhang stehen;

2)      die Verweisung der Strafsache an ein Gericht in naher Zukunft (d. h. innerhalb einer angemessenen Frist) ist aus objektiven Gründen nicht möglich oder kann zu ungerechtfertigt hohen Kosten führen.

(2)      Stellt der Ermittler ein Strafverfahren aus anderen Gründen als der Entlassung einer Person aus diesem Verfahren ein, kann er mit Zustimmung des die Ermittlungen leitenden Staatsanwalts die Aktenbestandteile, die sich auf die unrechtmäßig erworbenen Vermögensgegenstände beziehen, von der Strafakte trennen und Verfolgungsmaßnahmen einleiten, wenn die Beweise insgesamt darauf hindeuten, dass die entzogenen oder beschlagnahmten Vermögensgegenstände unrechtmäßig erworben wurden(4).

(3)      Stellt der Staatsanwalt ein Strafverfahren aus anderen Gründen als der Entlassung einer Person aus diesem Verfahren ein, kann er die Aktenbestandteile, die sich darauf beziehen, dass ein Vermögensgegenstand, bei dem die daran bestehenden Rechte im öffentlichen Register eingetragen sind und dort infolge der Straftat geändert wurden, als unrechtmäßig erworben eingestuft wird, von der Strafakte trennen und Verfolgungsmaßnahmen einleiten.“

4.        Art. 627 Abs. 1 bis 5 der Strafprozessordnung in der vom 1. September 2018 bis zum 2. November 2022 geltenden Fassung sah vor:

„(1)      Liegen die in Art. 626 dieses Gesetzes genannten Bedingungen vor, trifft der Leiter des Verfahrens die Entscheidung, Verfolgungsmaßnahmen wegen unrechtmäßigen Erwerbs von Vermögensgegenständen einzuleiten und dem Gericht die Angaben zu den unrechtmäßig erworbenen Vermögensgegenständen zu übermitteln.

(2)      In seiner Entscheidung gibt der Verfahrensleiter Folgendes an:

1)      Informationen über die Tatsachen, die eine Verbindung zwischen den Vermögensgegenständen und der Straftat oder der unrechtmäßigen Herkunft der Vermögensgegenstände herstellen können, sowie über die den unrechtmäßigen Erwerb der Vermögensgegenstände betreffenden Aktenbestandteile, die in der Ermittlungsphase eines Strafverfahrens von der Akte getrennt wurden;

2)      die mit den Vermögensgegenständen in Verbindung stehenden Personen;

3)      die Maßnahmen, die er in Bezug auf die unrechtmäßig erworbenen Vermögensgegenstände vorschlägt;

4)      das Opfer, falls vorhanden.

(3)      Die Entscheidung und die Anlagen werden an die rajona (pilsētas) tiesa (Bezirksgericht [Stadtgericht]) weitergeleitet.

(4)      Der Inhalt der Akte eines Verfahrens über rechtswidrig erlangte Vermögensgegenstände unterliegt dem Ermittlungsgeheimnis und kann von der das Verfahren leitenden Person, der Staatsanwaltschaft und dem mit der Rechtssache befassten Gericht eingesehen werden. Die in Art. 628 des vorliegenden Gesetzes genannten Personen können mit Genehmigung der das Verfahren leitenden Person und in dem von ihm festgelegten Umfang Einsicht in die Verfahrensakte erhalten.

(5)      Eine Entscheidung der das Verfahren leitenden Person, mit der ein Antrag auf Einsicht in die Verfahrensakte abgelehnt wird, kann vor der rajona (pilsētas) tiesa (Bezirksgericht [Stadtgericht]), die mit dem Verfahren über die rechtswidrig erlangten Vermögensgegenstände befasst ist, angefochten werden. Das Gericht entscheidet,  ob es der Klage ganz oder teilweise stattgibt oder sie abweist. Diese Entscheidung kann nicht angefochten werden. Um beurteilen zu können, ob die Einsicht in die Verfahrensakte die Grundrechte anderer Personen oder das öffentliche Interesse gefährdet oder die Verwirklichung des Ziels des Strafverfahrens beeinträchtigt, kann das Gericht die Akte des Strafverfahrens anfordern und Einsicht nehmen.“

II.    Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

5.        Zwischen 2012 und 2020 wurden in Lettland gegen verschiedene in Drittstaaten und – in einem Fall – in Estland eingetragene Unternehmen sowie gegen mehrere natürliche Personen, die Drittstaatsangehörige waren, Strafverfahren wegen groß angelegter Geldwäsche von Erträgen aus Straftaten eingeleitet, die mit Hilfe ihrer lettischen Bankkonten begangen worden waren. Im Rahmen dieser Strafverfahren, die sich noch im Stadium der Ermittlungen befinden, wurden auf diese Konten eingezahlte Gelder sowie Immobilien beschlagnahmt.

6.        Nach den Beschlagnahmemaßnahmen und parallel zu den oben genannten Verfahren beschloss die Verfolgungsbehörde, gemäß Art. 626 und 627 der Strafprozessordnung Verfahren wegen unrechtmäßigen Erwerbs von Vermögensgegenständen einzuleiten und zu diesem Zweck das zuständige erstinstanzliche Gericht anzurufen. Während einige dieser Verfahren derzeit ausgesetzt sind, führten andere zu Entscheidungen, entweder die beschlagnahmten Vermögensgegenstände, soweit sie als unrechtmäßig erachtet wurden, zugunsten des Staates einzuziehen oder das Verfahren ohne Einziehung einzustellen, soweit es sich um Vermögensgegenstände handelte, deren unrechtmäßige Herkunft nach Ansicht dieses Gerichts nicht erwiesen war. Auf Rechtsmittel der Anklagebehörde wurden die erstinstanzlichen Entscheidungen, die das Verfahren beendeten, vom Gericht der zweiten Instanz aufgehoben, das nach einer erneuten Prüfung der vorgelegten Beweismittel die Einziehung der betroffenen Vermögensgegenstände anordnete, da diese unrechtmäßig erworben worden seien.

7.        Das vorlegende Gericht, die Latvijas Republikas Satversmes tiesa (Verfassungsgericht, Lettland), wurde von den Personen, die in Verbindung mit den Vermögensgegenständen standen, die Gegenstand der oben genannten Verfahren und Maßnahmen waren, mit Beschwerden befasst, in denen es um die Vereinbarkeit mehrerer Bestimmungen der Strafprozessordnung, die das Verfahren zur Einziehung unrechtmäßig erworbener Vermögensgegenstände regeln, mit der nationalen Verfassung ging.

8.        Im Rahmen der von ihm vorzunehmenden Beurteilung und der zu diesem Zweck gebotenen Berücksichtigung des Unionsrechts fragt sich das vorlegende Gericht erstens, ob die beanstandete nationale Regelung in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/42 und des Rahmenbeschlusses 2005/212/JI(5) fällt (Rechtssachen C‑767/22, C‑49/23 und C‑161/23). Es weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das durchgeführte Verfahren zur Einziehung von Vermögensgegenständen insofern eine Besonderheit darstellt, als es strafrechtlicher Natur ist und die angeordnete Einziehung nicht auf eine Verurteilung der Person folgt, die zuvor einer Straftat für schuldig befunden wurde, eine Situation, die der Gerichtshof in den Rechtssachen, die die Auslegung der oben genannten Rechtsakte betreffen, noch nicht untersucht hat.

9.        Für den Fall, dass einer dieser Rechtsakte als auf den vorliegenden Fall anwendbar angesehen werden sollte, stellt sich nach Ansicht des vorlegenden Gerichts zweitens die Frage der Vereinbarkeit der nationalen Vorschriften über den Zugang der mit den Vermögensgegenständen in Verbindung stehenden Personen zu den Verfahrensakten mit dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein faires Verfahren, das diesen Personen in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2014/42 im Licht von Art. 47 der Charta zuerkannt wird (Rechtssache C‑767/22). Es weist darauf hin, dass diese Personen nur mit Genehmigung der Verfolgungsbehörde und in dem von ihr bestimmten Umfang Kenntnis von den Aktenbestandteilen erhalten können, die ihrerseits aus dem Hauptstrafverfahren stammen, das auf die Feststellung einer individuellen Verantwortung gerichtet ist, wobei die Entscheidung der Verfolgungsbehörde einer gerichtlichen Überprüfung unterzogen werden kann.

10.      Das vorlegende Gericht fragt sich drittens auch, ob die nationalen Vorschriften, die die Regelung für den Nachweis der Herkunft der Vermögensgegenstände festlegen, mit dem in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2014/42 garantierten Recht auf ein faires Verfahren und auf die Unschuldsvermutung im Licht der Art. 47 und 48 der Charta vereinbar sind (Rechtssache C‑161/23). Es weist darauf hin, dass nach dieser Beweisregelung die verfahrensführende Behörde nicht verpflichtet ist, die unrechtmäßige Herkunft der Güter über jeden vernünftigen Zweifel hinaus nachzuweisen, und es der mit den Vermögensgegenständen in Verbindung stehenden Person obliegt, die Rechtmäßigkeit der Herkunft dieser Güter zu beweisen.

11.      Die Latvijas Republikas Satversmes tiesa (Verfassungsgericht) fragt sich viertens, ob gegen die Entscheidung über die Einziehung eines Vermögensgegenstands, die erstmals im Stadium der Entscheidung über das Rechtsmittel gegen eine erstinstanzliche Entscheidung, mit der das Verfahren ohne die Anordnung einer solchen Maßnahme beendet wurde, getroffen wurde, ein Rechtsbehelf zugelassen werden muss, den die nationale Regelung nicht vorsieht. Sie betont, dass die Entscheidung, die am Ende des Einziehungsverfahrens getroffen wird, die vermögensrechtliche Frage abschließend regelt. Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass die Antwort auf diese Frage eine Auslegung von Art. 8 Abs. 6 Satz 2 der Richtlinie 2014/42 im Licht von Art. 47 der Charta erfordert (Rechtssache C‑49/23).

12.      Fünftens weist das vorlegende Gericht für den Fall, dass die in Rede stehenden nationalen Bestimmungen infolge des Urteils des Gerichtshofs als mit der lettischen Verfassung und dem Unionsrecht unvereinbar angesehen werden sollten, darauf hin, dass diese Bestimmungen für nichtig erklärt werden müssten, was sich negativ auf die Stabilität des Staatshaushalts und die Rechtssicherheit auswirken würde, wenn mit dieser Nichtigkeit eine Rückwirkung verbunden wäre. Es fragt sich daher, ob es in dem von ihm zu erlassenden Urteil selbst das Datum festlegen kann, an dem diese Bestimmungen ihre Wirkung verlieren, wobei dieses Datum demjenigen entsprechen könnte, an dem die Gültigkeit dieser Bestimmungen endet, weil sie nicht mehr in Kraft sind.

13.      Unter diesen Umständen hat die Latvijas Republikas Satversmes tiesa (Verfassungsgericht) beschlossen, das Verfahren in allen drei betroffenen Rechtssachen auszusetzen und dem Gerichtshof in der Rechtssache C‑767/22 die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Fällt eine nationale Regelung, wonach die Entscheidung über die Einziehung von Erträgen aus Straftaten von einem nationalen Gericht in einem gesonderten Verfahren über die rechtswidrig erlangten Vermögensgegenstände getroffen wird, das vom Hauptstrafverfahren abgetrennt wird, bevor die Begehung einer Straftat festgestellt und eine Person dieser für schuldig befunden wurde, und wonach die Einziehung auf der Grundlage von Unterlagen aus der Strafverfahrensakte erfolgt, in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/42, insbesondere deren Art. 4, und des Rahmenbeschlusses 2005/212, insbesondere dessen Art. 2?

2.      Falls die erste Frage bejaht wird: Ist die Regelung der Einsicht in die Akte des Verfahrens über die rechtswidrig erlangten Vermögensgegenstände mit dem in Art. 47 der Charta und Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2014/42 verankerten Recht auf ein faires Verfahren vereinbar?

3.      Ist der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen, dass er es dem Verfassungsgericht eines Mitgliedstaats, bei dem eine Verfassungsbeschwerde gegen eine nationale Regelung anhängig ist, die als mit dem Unionsrecht unvereinbar erklärt worden ist, verwehrt, zu entscheiden, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit zur Anwendung kommt und dass die Rechtswirkungen dieser Regelung für den Zeitraum, in dem sie in Kraft war, aufrechterhalten werden?

14.      Neben der ersten und der dritten Vorlagefrage, die bereits in der Rechtssache C‑767/22 aufgeworfen wurden, hat die Latvijas Republikas Satversmes tiesa (Verfassungsgericht) dem Gerichtshof in der Rechtssache C‑161/23 die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

2.      Falls die erste Frage bejaht wird: Ist eine nationale Regelung betreffend den Nachweis des kriminellen Ursprungs von Vermögensgegenständen in einem Verfahren betreffend rechtswidrig erlangte Vermögensgegenstände, wie sie in den streitigen Bestimmungen vorgesehen ist, als mit dem in den Art. 47 und 48 der Charta und in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2014/42 verankerten Recht auf ein faires Verfahren vereinbar anzusehen?

15.      Neben der ersten und der dritten Vorlagefrage, die bereits in der Rechtssache C‑767/22 aufgeworfen wurden, hat die Latvijas Republikas Satversmes tiesa (Verfassungsgericht) dem Gerichtshof in der Rechtssache C‑49/23 die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

2.      Falls die erste Frage bejaht wird: Ist davon auszugehen, dass der Begriff „Einziehungsentscheidung“ im Sinne der Richtlinie 2014/42, insbesondere ihres Art. 8 Abs. 6 Satz 2, nicht nur gerichtliche Entscheidungen umfasst, mit denen festgestellt wird, dass die Vermögensgegenstände rechtswidrig erlangt wurden, und ihre Einziehung angeordnet wird, sondern auch solche, mit denen das Verfahren über die rechtswidrig erlangten Vermögensgegenstände beendet wird?

3.      Falls die zweite Frage verneint wird: Ist eine Regelung, wonach mit den Vermögensgegenständen in Verbindung stehende Personen Einziehungsentscheidungen nicht anfechten können, mit Art. 47 der Charta und Art. 8 Abs. 6 Satz 2 der Richtlinie 2014/42 vereinbar?

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

16.      Einige Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens, die lettische und die tschechische Regierung sowie die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Die Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens, die lettische Regierung und die Kommission haben in der mündlichen Verhandlung am 15. April 2024 mündliche Ausführungen gemacht.

IV.    Würdigung

17.      Wie sich aus den Vorabentscheidungsersuchen ergibt, ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass es den Gerichtshof um eine Auslegung der Richtlinie 2014/42 und des Rahmenbeschlusses 2005/212 sowie der Art. 47 und 48 der Charta ersuchen müsse, da es Zweifel an der Vereinbarkeit von Bestimmungen der nationalen Regelung über die Einziehung unrechtmäßig erworbener Vermögensgegenstände hegt, die die Akteneinsicht, die Regeln für den Nachweis der Herkunft der Vermögensgegenstände und die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen die Einziehungsentscheidung betreffen. Diesen inhaltlichen Zweifeln stellt das vorlegende Gericht die Frage der Anwendbarkeit dieser Rechtsakte auf den vorliegenden Fall voraus, was uns dazu veranlassen muss, die Frage der Zuständigkeit des Gerichtshofs zu prüfen.

A.      Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

18.      Nach gefestigter Rechtsprechung ist der Gerichtshof für die Beantwortung einer Vorlagefrage nicht zuständig, wenn die Vorschrift des Unionsrechts, um deren Auslegung er ersucht wird, offensichtlich nicht anwendbar ist(6). Wird eine rechtliche Situation nicht vom Unionsrecht erfasst, ist der Gerichtshof nicht zuständig, über diese zu entscheiden, und die möglicherweise angeführten Bestimmungen der Charta können als solche keine neue Zuständigkeit begründen(7). Die Kommission und die tschechische Regierung sind der Ansicht, dass diese Rechtsakte in Anbetracht der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/42 und des Rahmenbeschlusses 2005/212 keine Anwendung auf die in Rede stehende nationale Regelung finden können.

1.      Zur Anwendbarkeit der Richtlinie 2014/42 und des Rahmenbeschlusses 2005/212

a)      Zum strafrechtlichen Charakter des in den Ausgangsverfahren durchgeführten Einziehungsverfahrens

19.      Angesichts der Ziele und des Wortlauts der Bestimmungen der Richtlinie 2014/42 sowie des Kontexts, in dem sie erlassen wurde, ist davon auszugehen, dass es sich bei dieser Richtlinie wie beim Rahmenbeschluss 2005/212, dessen Bestimmungen sie gemäß ihrem neunten Erwägungsgrund erweitern soll, um ein Instrument handelt, das die Mitgliedstaaten verpflichten soll, gemeinsame Mindestvorschriften für die Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten einzuführen, um insbesondere die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Einziehungsentscheidungen im Rahmen von Strafverfahren zu erleichtern(8).

20.      Zum materiellen Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/42 und des Rahmenbeschlusses 2005/212 hat der Gerichtshof entschieden, dass diese Rechtsakte nicht auf eine Regelung eines Mitgliedstaats anwendbar sind, nach der die Einziehung illegal erlangten Vermögens von einem nationalen Gericht „in“ einem oder im Anschluss an ein Verfahren angeordnet wird, das nicht die Feststellung einer oder mehrerer Straftaten betrifft(9). In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 2 Nr. 4 der Richtlinie 2014/42(10) eine Einziehung eine von einem Gericht „in Bezug auf eine Straftat“ angeordnete endgültige Entziehung von Vermögensgegenständen darstellt. So hat der Gerichtshof festgestellt, dass ein Einziehungsverfahren verwaltungsrechtlicher(11) oder zivilrechtlicher Natur nicht in den sachlichen Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/42 und des Rahmenbeschlusses 2005/212 fällt. Zur Unterstützung dieser Schlussfolgerung hatte der Gerichtshof festgestellt, dass das zuletzt genannte Einziehungsverfahren im innerstaatlichen Recht neben einer strafrechtlichen Einziehungsregelung bestand, sich ausschließlich auf die angeblich illegal erworbenen Vermögenswerte konzentrierte und unabhängig von einem etwaigen Strafverfahren gegen den mutmaßlichen Straftäter sowie vom Ausgang eines solchen Verfahrens, insbesondere von einer etwaigen Verurteilung des Täters, durchgeführt wurde(12).

21.      Es muss festgestellt werden, dass die lettische Regelung im Vergleich zu den in der oben angeführten Rechtsprechung erwähnten nationalen Vorschriften insoweit eine offensichtliche Besonderheit aufweist, als das Verfahren zur Einziehung der in Rede stehenden unrechtmäßig erworbenen Vermögensgegenstände weder verwaltungs- noch zivilrechtlich, sondern strafrechtlich geregelt ist. Sämtliche für dieses Verfahren geltenden Regeln finden sich in der Strafprozessordnung und hauptsächlich in deren Art. 626 bis 631. Daraus geht hervor, dass die Einleitung des besonderen Einziehungsverfahrens notwendigerweise während der Vorphase einer strafrechtlichen Ermittlung zur Feststellung einer individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit erfolgt, und zwar auf Beschluss des zuständigen Ermittlers – mit Zustimmung des für die Leitung der Ermittlungen zuständigen Staatsanwalts – oder des Staatsanwalts selbst. Diese Entscheidung zur „Verfolgung wegen unrechtmäßigen Erwerbs von Vermögensgegenständen“ bezieht sich auf entzogene oder beschlagnahmte Vermögenswerte, bei denen alle Beweise darauf hindeuten, dass sie unrechtmäßig erworben wurden oder mit einer Straftat in Verbindung stehen(13), wobei diese Beweise aus der Akte des sogenannten Hauptstrafverfahrens stammen, mit dem die Schuld der betreffenden Person festgestellt werden soll. Diese Beweise fallen unter das Untersuchungsgeheimnis und die mit den betreffenden Vermögensgegenständen in Verbindung stehenden Personen dürfen nur mit Genehmigung des Verantwortlichen und in dem von ihm bestimmten Umfang Kenntnis von diesen Beweisen erhalten, wobei gegen eine Verweigerung ein Rechtsbehelf eingelegt werden kann, bei dem im Rahmen der Beurteilung seiner Begründetheit die Erreichung des Ziels des Hauptstrafverfahrens, das gleichzeitig und parallel zum Einziehungsverfahren durchgeführt wird, berücksichtigt werden muss. Darüber hinaus ist die Regelung für den Nachweis der Herkunft der Vermögensgegenstände in mehreren Bestimmungen der Strafprozessordnung festgelegt. Schließlich wird die Einziehungsentscheidung vom Strafrichter getroffen, der anschließend in der Sache selbst entscheidet, indem er die strafrechtliche Verantwortung festlegt(14), wobei diese Entscheidung vor einem zweitinstanzlichen Strafgericht angefochten werden kann, das die gleichen Befugnisse hat wie das Gericht der ersten Instanz(15).

22.      Das besondere Verfahren zur Einziehung der in Rede stehenden Vermögensgegenstände ist zwar formal vom Hauptstrafverfahren zur Feststellung der Schuld des Angeklagten getrennt, aber unbestreitbar und durch mehrere Aspekte eng mit dem Hauptstrafverfahren verbunden und stellt ein Anhängsel dieses Verfahrens dar. Ihm liegen dieselben Tatsachen zugrunde, und es ist dieselbe Person, die im Zusammenhang mit einer bestimmten Straftat strafrechtlich verfolgt wird und deren Vermögensgegenstände beschlagnahmt werden, bevor gegen sie „Verfolgungsmaßnahmen“ wegen unrechtmäßigen Erwerbs von Vermögensgegenständen eingeleitet werden. Wie die lettische Regierung betont, kann das erste Verfahren nur im Rahmen des zweiten eingeleitet werden und ist daher nicht völlig unabhängig von einem „möglichen“ Strafverfahren, das gegen den mutmaßlichen Straftäter durchgeführt wird.

23.      Schließlich ist festzustellen, dass die Straftat, die den Personen vorgeworfen wird, die strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden sollen und die gleichzeitig Gegenstand der Verfahren zur besonderen Einziehung von Vermögensgegenständen sind, im vorliegenden Fall die Geldwäsche, einer der Straftaten entspricht, die von den in Art. 3 der Richtlinie 2014/42, insbesondere in dessen Buchst. d, abschließend aufgeführten Rechtsinstrumenten erfasst werden, so dass der Gegenstand des nationalen Einziehungsverfahrens auch deshalb in den sachlichen Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt.

24.      Abgesehen davon steht fest, dass der zuständige Strafrichter, der vom Ermittler oder Staatsanwalt auf der Grundlage der Art. 626 ff. der Strafprozessordnung angerufen wird, nur über die Herkunft der Vermögensgegenstände befindet, bevor über die Schuld der betreffenden Person entschieden wird, und somit unabhängig von jeder Entscheidung über deren Verurteilung im Rahmen des parallel geführten Hauptverfahrens. Diese Situation schließt die Anwendung von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/42 aus, wirft aber die Frage nach der Anwendung von Art. 4 Abs. 2 dieser Richtlinie in Verbindung mit ihrem Art. 2 Nr. 4 auf. Es handelt sich um eine neue Rechtsfrage, auf die die oben angeführte Rechtsprechung des Gerichtshofs keine klare Antwort geben kann, weil Art. 4 Abs. 2 dieses Rechtsakts noch nie erwähnt und somit in eine die Auslegung des Begriffs „Einziehung“ betreffende Erwägung einbezogen wurde(16).

b)      Zur Auslegung von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2014/42

25.      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden. Auch die Entstehungsgeschichte einer Vorschrift des Unionsrechts kann relevante Anhaltspunkte für deren Auslegung liefern(17).

1)      Wörtliche Auslegung

26.      Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2014/42 bestimmt, dass die Mitgliedstaaten, wenn eine Einziehung auf der Grundlage von Abs. 1 dieses Artikels nicht möglich ist – zumindest wenn dies auf Krankheit oder Flucht der verdächtigten oder beschuldigten Person beruht – alle erforderlichen Maßnahmen treffen, um sicherzustellen, dass Tatwerkzeuge und Erträge dann eingezogen werden können, wenn ein Strafverfahren in Bezug auf eine Straftat, die direkt oder indirekt zu einem wirtschaftlichen Vorteil führen kann, eingeleitet wurde und dieses Verfahren zu einer strafrechtlichen Verurteilung hätte führen können, wenn die verdächtigte oder beschuldigte Person vor Gericht hätte erscheinen können.

27.      Was zunächst die wörtliche Auslegung betrifft, definiert Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2014/42 eine der beiden in diesem Artikel vorgesehenen Arten der Einziehung in negativer Form, da er sich im Gegensatz zur anderen auf eine Einziehung bezieht, die „auf der Grundlage des Absatzes 1“ dieses Artikels nicht möglich ist, der eine Einziehung betrifft, die vorbehaltlich einer rechtskräftigen Verurteilung des mutmaßlichen Täters wegen einer Straftat erfolgt. Die Mitgliedstaaten müssen daher eine Regelung zur Einziehung von unrechtmäßig erworbenen Vermögensgegenständen vorsehen, die keine solche Verurteilung voraussetzt.

28.      Ist diese Regelung so zu verstehen, dass sie notwendigerweise nur auf Situationen beschränkt ist, in denen die betroffene Person krank oder auf der Flucht ist, wobei der Ausdruck „zumindest“ den Minimalcharakter der Harmonisierungsregeln zum Ausdruck bringt? Ist es nicht vielmehr angemessener, diesen Ausdruck als bloße Angabe eines in keiner Weise erschöpfenden Beispiels für eine Unmöglichkeit zu verstehen, weil die durch Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2014/42 eingeführte Mindestharmonisierung in dem Erfordernis einer nationalen Regelung für die Einziehung von Vermögensgegenständen ohne Verurteilung zum Ausdruck kommt, die auf der Feststellung beruht, dass es nicht möglich ist, eine solche Verurteilung unter normalen Bedingungen zu erwirken(18)? Der Wortlaut der in Rede stehenden Bestimmung entbehrt somit nicht einer gewissen Mehrdeutigkeit, was das Verständnis ihrer Tragweite und des Zusammenhangs zwischen den beiden Absätzen von Art. 4 der Richtlinie 2014/42 erschwert(19).

29.      Dies vorausgeschickt, weise ich darauf hin, dass das hier in Rede stehende besondere Einziehungsverfahren im lettischen Recht neben dem herkömmlicheren Verfahren besteht, das mit der Verurteilung des Straftäters einhergeht, und dass seine Einleitung u. a. voraussetzt, dass „die Verweisung der Strafsache an ein Gericht in naher Zukunft (d. h. innerhalb einer angemessenen Frist) … aus objektiven Gründen nicht möglich [ist] oder … zu ungerechtfertigten hohen Kosten führen [kann]“(20). In dieser Formulierung findet sich der Gedanke der praktischen Unmöglichkeit der Durchführung des klassischen Einziehungsverfahrens wieder, die aus demselben zeitlichen Blickwinkel betrachtet wird wie in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2014/42(21).

30.      Eine solche Situation kann auf die Krankheit oder Flucht des Verdächtigen oder Beschuldigten zurückzuführen sein, aber auch darauf, dass sich ein Strafverfahren als sehr komplex erweist, weil es eine Vielzahl von Personen – Unternehmen und natürliche Personen – betrifft, diese in einem anderen Staat als dem der mit dem Verfahren betrauten Behörden ansässig sind, die kriminellen Handlungen eine internationale und organisierte Dimension aufweisen, die Schwierigkeiten bei der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit nach sich zieht, oder die Art der angeklagten Straftat oder Straftaten sehr kompliziert ist. All dies muss im Verhältnis zur Größe des nationalen Strafverfolgungsapparats und seiner Fähigkeit gesehen werden, ein solches Verfahren unter Einhaltung der strengen Verjährungsvorschriften durchzuführen und sich dabei zugleich mit der gewöhnlichen und allgemeinen Kriminalität zu befassen. Diese Konstellation scheint mir derjenigen eines vom vorlegenden Gericht beschriebenen nationalen Strafverfahrens zu entsprechen, in dem es um die groß angelegte Wäsche von Erträgen aus Straftaten mit Hilfe von Konten bei verschiedenen lettischen Bankinstituten geht, die von in Estland, der Schweiz und Belize eingetragenen Unternehmen und Staatsangehörigen der Ukraine, Usbekistans, der Volksrepublik China und der Russischen Föderation eröffnet wurden. Die Einleitung des in Rede stehenden Einziehungsverfahrens gehorcht einer Situation, in der diese Personen Gegenstand eines Strafverfahrens wegen einer Straftat sind, im vorliegenden Fall einer Geldwäsche, die direkt oder indirekt zu einem wirtschaftlichen Vorteil führen kann, und in der dieses Verfahren zu einer strafrechtlichen Verurteilung hätte führen können, wenn diese Personen in der Lage gewesen wären, unter normalen Bedingungen vor dem Gericht des Hauptverfahrens zu erscheinen.

31.      Es ist darauf hinzuweisen, dass der Richtlinienvorschlag(22) eine spezielle Bestimmung mit der Überschrift „Einziehung ohne vorherige Verurteilung“ enthielt, in der die Fälle, in denen eine solche Maßnahme erfolgen kann, ausdrücklich und erschöpfend aufgeführt waren. Bekanntlich hatten die Mitgesetzgeber unterschiedliche Ansichten zu dieser Bestimmung geäußert, wobei der Wunsch des Europäischen Parlaments nach einer allgemein gehaltenen Bestimmung über die nicht auf einer Verurteilung beruhende Einziehung auf den Widerstand des Rates stieß, was sich in der weniger präzisen Kompromissformulierung von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2014/42 und der Verwendung des Ausdrucks „zumindest“ vor der Erwähnung von Fällen der Unmöglichkeit aufgrund von Krankheit oder Flucht der betreffenden Person niederschlug(23).

2)      Systematische Auslegung

32.      Die systematische Auslegung bedeutet erstens, dass die in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2014/42 vorgesehene Einziehungsentscheidung im Zusammenhang mit der Maßnahme der Sicherstellung von Vermögensgegenständen, der Möglichkeit der Einziehung von Vermögensgegenständen Dritter und den wirksamen Verfahrensgarantien zu sehen ist, die diese Richtlinie den von diesen Sicherstellungs- oder Einziehungsmaßnahmen betroffenen Personen gewährt.

33.      Es ist darauf hinzuweisen, dass die in Art. 47 der Charta genannten Grundrechte durch die Richtlinie 2014/42 selbst bestätigt werden, deren Art. 8 Abs. 1 bestimmt, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen treffen, um sicherzustellen, dass alle Personen, die von den in dieser Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen betroffen sind, zur Wahrung ihrer Rechte über das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf ein faires Verfahren verfügen(24). Der Gerichtshof hat wiederholt den allgemeinen Charakter des Wortlauts dieser Bestimmung hervorgehoben, der sich nicht auf Verdächtige oder Beschuldigte oder auf Personen bezieht, die einer Straftat für schuldig befunden wurden. Im Hinblick auf diesen Wortlaut von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2014/42 und dessen 33. Erwägungsgrund hat der Gerichtshof entschieden, dass die Personen, denen die Mitgliedstaaten wirksame Rechtsbehelfe und ein faires Verfahren garantieren müssen, nicht nur diejenigen sind, die einer Straftat für schuldig befunden werden, sondern auch Dritte, deren Vermögensgegenstände von der Sicherstellungs- oder Einziehungsentscheidung betroffen sind(25).

34.      Diese umfassende Auslegung, die auf dem effektiven gerichtlichen Schutz jeder Person beruht, deren Rechte durch die Durchführung einer Sicherstellungs- oder Einziehungsmaßnahme erheblich beeinträchtigt werden, ist mit einem sachlichen Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/42, der das in den Ausgangsverfahren in Rede stehende strafrechtliche Verfahren zur Einziehung der Vermögensgegenstände einbezieht, voll und ganz vereinbar. Die oben angeführte Rechtsprechung des Gerichtshofs kann den Personen, die Gegenstand dieses Verfahrens sind, zugutekommen und muss ihnen meines Erachtens sogar zugutekommen können, weil jedes gegenteilige Ergebnis zu zumindest paradoxen und unerwünschten Situationen führen würde.

35.      Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass Guthaben bei lettischen Bankkonten sowie Immobilien im Besitz von juristischen und natürlichen Personen, die mutmaßlich die Straftat der Geldwäsche begangen haben, im Rahmen des gegen sie wegen dieses Vorwurfs eingeleiteten Strafverfahrens beschlagnahmt wurden, bevor das Verfahren zur Einziehung der Vermögensgegenstände eingeleitet wurde. Da die beschlagnahmten Beträge und Immobilien der Kontrolle der Behörden unterstellt wurden und somit für die genannten Personen nicht mehr verfügbar waren, ist davon auszugehen, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beschlagnahmen Maßnahmen der „Sicherstellung“ im Sinne von Art. 2 Nr. 5 der Richtlinie 2014/42 darstellen. Da die Vermögensgegenstände dieser Personen zum Zeitpunkt der Sicherstellung nach lettischem Recht später eingezogen werden konnten, wird der Fall dieser Personen außerdem vom Anwendungsbereich des Art. 7 dieser Richtlinie erfasst. Daher sind diese Personen von einer in der Richtlinie 2014/42 vorgesehenen Maßnahme im Sinne von Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie betroffen, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein faires Verfahren sicherzustellen, damit die betreffenden Personen ihre Rechte wahren können(26).

36.      Eine Auslegung von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2014/42, die das in den Ausgangsverfahren in Rede stehende Einziehungsverfahren von ihrem Anwendungsbereich ausnimmt, würde zu einer Aufspaltung des in dieser Richtlinie vorgesehenen gerichtlichen Rechtsschutzes in dem Sinne führen, dass dieser Schutz den von einer Sicherstellungsmaßnahme betroffenen Personen zugutekäme, ihnen dann aber bei Einleitung des oben genannten Verfahrens wieder entzogen würde. Dies wäre umso inkohärenter, als die Maßnahmen der Sicherstellung und der Einziehung, wie im 27. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/42 ausgeführt wird, eng miteinander verbunden sind, weil sie Teil desselben Mechanismus sind, der auf die Neutralisierung der Erträge aus Straftaten abzielt.

37.      Beachtung verdient auch, dass angesichts des in Art. 626 der Strafprozessordnung besonders weit gefassten Anwendungsbereichs des Verfahrens zur Einziehung von Vermögensgegenständen(27) eine von diesem Verfahren betroffene Person nicht nur der mutmaßliche Täter der in einem gesonderten Verfahren verfolgten Straftat ist, sondern auch eine Person sein kann, die unter die Kategorie der Dritten im Sinne der Richtlinie 2014/42 fällt, deren Vermögensgegenstände unter den in Art. 6 der Richtlinie 2014/42 genannten Voraussetzungen eingezogen werden können(28), wobei beide von demselben Verfahren betroffen sein können. Auch hier würde eine restriktive Auslegung von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2014/42 zu einer schockierenden Dichotomie führen, bei der im Rahmen ein und desselben Verfahrens Dritte – die als Personen, die im Sinne von Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie von einer in dieser vorgesehenen Einziehungsmaßnahme betroffen sind, effektiven Rechtsschutz genießen müssen – den mutmaßlichen Tätern der Straftat gegenüberstehen würden, denen dieser Schutz verwehrt wäre, obwohl die Richtlinie 2014/42 diese beiden Kategorien von Personen hinsichtlich der Beeinträchtigung ihrer Rechte durch die Durchführung dieser Maßnahme auf die gleiche Ebene stellt.

38.      Zweitens halte ich es für angebracht, Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2014/42 in einen breiteren normativen Kontext zu stellen, der auch das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption einschließt, dessen Art. 54 Abs. 1 Buchst. c die Vertragsstaaten ermutigt, zur Erleichterung der internationalen Zusammenarbeit bei der Einziehung zu erwägen, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit Korruptionserträge ohne strafrechtliche Verurteilung eingezogen werden können, wenn der Täter nicht verfolgt werden kann, weil er verstorben, geflohen oder abwesend ist oder weil „andere entsprechende Umstände vorliegen“(29). Ich stelle fest, dass Art. 1 Buchst. d des Übereinkommens des Europarats über Geldwäsche sowie Ermittlung, Beschlagnahme und Einziehung von Erträgen aus Straftaten und über die Finanzierung des Terrorismus besagt, dass der Begriff „Einziehung“ eine Strafe oder Maßnahme bezeichnet, die von einem Gericht im Anschluss an ein „eine Straftat oder mehrere Straftaten betreffendes“ Verfahren angeordnet wurde und die „zur endgültigen Entziehung des Vermögensgegenstands führt“. Art. 23 Abs. 5 dieses Übereinkommens fordert die Vertragsparteien auch zur Unterstützung bei der Vollstreckung von Einziehungsentscheidungen auf, die nicht auf einer strafrechtlichen Verurteilung beruhen, sofern sie u. a. „wegen einer Straftat“ angeordnet wurden.

39.      Ferner ist auf die Verordnung 2018/1805 hinzuweisen, deren Art. 2 Nr. 2, in dem die „Einziehungsentscheidung“ definiert wird(30), im Licht ihres 13. Erwägungsgrundes zu lesen ist, wonach dieser Rechtsakt für alle Sicherstellungs- und Einziehungsentscheidungen im Zusammenhang mit einer Straftat gelten sollte, nicht aber für solche, die im Rahmen von Verfahren in Zivilsachen oder Verwaltungssachen ergehen. Somit erfasst diese Verordnung die Einziehung unabhängig davon, ob sie aufgrund einer Verurteilung angeordnet wird oder nicht, sofern die Einziehungsentscheidungen im Rahmen von Strafverfahren erlassen werden(31). Schließlich weise ich darauf hin, dass am 24. April 2024 die Richtlinie 2024/1260 angenommen wurde, die die Richtlinie 2014/42 ersetzt und im Wesentlichen deren Unzulänglichkeiten aufzeigt, die die Möglichkeiten der Mitgliedstaaten beeinträchtigen, u. a. unrechtmäßig erworbenes Vermögen sicherzustellen und einzuziehen. Bemerkenswert ist, dass dieser neue Rechtsakt zwei Arten von Einziehungsentscheidungen ohne Verurteilung vorsieht: Die eine entspricht einer Liste genau definierter Situationen(32), während die andere eingreift, wenn eine Einziehung nach anderen Bestimmungen dieser Richtlinie nicht möglich ist und wenn das nationale Gericht davon überzeugt ist, dass die sichergestellten Vermögensgegenstände aus Straftaten stammen, die im Rahmen einer kriminellen Vereinigung begangen wurden, wobei alle Umstände des Falles berücksichtigt werden, wie etwa die Tatsache, dass der Wert der Vermögensgegenstände in einem erheblichen Missverhältnis zum rechtmäßigen Einkommen des Eigentümers der betreffenden Vermögensgegenstände steht(33).

3)      Teleologische Auslegung

40.      In Anbetracht der Ziele und des Wortlauts der Bestimmungen der Richtlinie 2014/42 sowie des Kontexts, in dem diese angenommen wurde, ist davon auszugehen, dass diese Richtlinie ebenso wie der Rahmenbeschluss 2005/212, dessen Bestimmungen sie gemäß ihrem neunten Erwägungsgrund erweitern soll, ein Rechtsakt ist, der die Mitgliedstaaten dazu verpflichten soll, gemeinsame Mindestvorschriften für die Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen im Zusammenhang mit Straftaten festzulegen, um insbesondere die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Einziehungsentscheidungen in Strafverfahren zu erleichtern(34). Wie bereits dargelegt, erfasst die Verordnung 2018/1805 alle Einziehungsentscheidungen, unabhängig davon, ob sie auf einer Verurteilung beruhen oder nicht, sofern sie im Rahmen von Strafverfahren erlassen werden(35), was meines Erachtens bei Entscheidungen, die am Ende des in Rede stehenden nationalen Verfahrens ergehen, der Fall ist. Folglich fallen die zuletzt genannten Entscheidungen selbst dann in den Anwendungsbereich dieser Verordnung, wenn davon auszugehen wäre, dass Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2014/42 im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist(36).

41.      Gleichwohl muss bei der teleologischen Auslegung von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2014/42 ein weiteres Ziel berücksichtigt werden, das im 41. Erwägungsgrund dieser Richtlinie erwähnt wird, in dem es eindeutig heißt, dass die Richtlinie die Einziehung von Vermögensgegenständen in Strafsachen „erleichtern“ soll. Diese Maßnahme wird zusammen mit der Sicherstellung zu Recht als eines der wirksamsten Mittel zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität bezeichnet, weil sie den finanziellen Anreizen für das Begehen von Straftaten entgegengewirkt(37). Dieses mehr als legitime Bemühen um Effizienz spricht meines Erachtens für eine dynamische Auslegung von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2014/42, die ein strafrechtliches Einziehungsverfahren der Art, wie es in den Ausgangsverfahren durchgeführt wurde, in ihren Anwendungsbereich einbezieht, wobei darauf hinzuweisen ist, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bei mehreren möglichen Auslegungen einer unionsrechtlichen Vorschrift derjenigen der Vorzug zu geben ist, die die praktische Wirksamkeit der Vorschrift zu wahren geeignet ist(38).

42.      Wie die Kommission in einer Arbeitsunterlage(39) im Wesentlichen ausführt, sehen sich die Strafverfolgungsbehörden im Bereich der organisierten Kriminalität häufig mit komplexen Finanzströmen konfrontiert, durch die die unrechtmäßige Herkunft von Vermögensgegenständen verschleiert werden soll, sowie mit Vorgehensweisen (Scheingesellschaften, Strohmänner usw.), die vom Täter der Straftat ablenken. Selbst wenn illegale Gelder aufgedeckt werden, kann es unüberwindliche Probleme bereiten, sie mit einer Straftat und einem Täter in Verbindung zu bringen. Das Verfahren der nicht auf einer Verurteilung beruhenden Einziehung von Vermögensgegenständen ist die angemessene Antwort auf dieses Phänomen.

43.      Ein solches Verfahren ermöglicht eine schnelle Lösung der vermögensrechtlichen Frage, was auch einem Ziel der Richtlinie 2014/42 entspricht, deren Art. 8 Abs. 3 vorsieht, dass die Sicherstellungsentscheidung nur so lange in Kraft bleibt, wie dies zur Erhaltung der Vermögensgegenstände im Hinblick auf ihre etwaige spätere Einziehung erforderlich ist. Der Grund für dieses Beschleunigungsbestreben liegt in der Beeinträchtigung der Rechte der betroffenen Person(40) und der objektiven Schwierigkeit für die Mitgliedstaaten, die sich aus der Verpflichtung ergibt, die sichergestellten Vermögensgegenstände zu verwalten, um ihren wirtschaftlichen Wert zu erhalten. Es liegt auf der Hand, dass die Sicherung und Erhaltung von Vermögensgegenständen wie Villen, Jachten, Flugzeugen oder Kunstwerken mit erheblichen Kosten verbunden ist und die Verwertung dieser Vermögensgegenstände durch ihre Veräußerung(41) an Dritte keine rechtlich einfache und risikofreie Lösung darstellt. Eine von der Bestimmung der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit unabhängige Regelung der Einziehung von Vermögensgegenständen erscheint voll und ganz geeignet, das oben genannte Ziel zu erreichen.

44.      Darüber hinaus zielt die Richtlinie 2014/42, wie bereits dargelegt, darauf ab, die Rechte der von Sicherstellungs- und Einziehungsmaßnahmen betroffenen Personen zu schützen, was im Fall eines Verfahrens zur Einziehung von Vermögensgegenständen ohne Beurteilung dieser Verantwortlichkeit von herausragender Bedeutung ist. Zur Vereinheitlichung des Ablaufs dieser Verfahren halte ich es für wünschenswert, dass sie unter Art. 8 der Richtlinie 2014/42 fallen können, in dem das Recht der von Sicherstellungs- und Einziehungsmaßnahmen betroffenen Personen auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf ein faires Verfahren zur Wahrung ihrer Rechte verankert ist(42).

45.      Um die umfassende Kohärenz der Rechtsordnung der Union im Kernbereich der Bekämpfung der organisierten Kriminalität und ihre Kohärenz mit den einschlägigen internationalen Rechtsinstrumenten zu gewährleisten, erscheint es in diesem Zusammenhang sachgerecht, davon auszugehen, dass Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2014/42 Anwendung auf ein strafrechtliches Verfahren findet, das der Einziehung unrechtmäßiger Vermögensgegenstände dient, die im Zuge von Ermittlungen wegen einer Straftat beschlagnahmt wurden, und das auf der Unmöglichkeit beruht, die mutmaßlichen Täter dieser Straftat innerhalb einer angemessenen Frist in einem gesonderten, parallel geführten Verfahren vor Gericht zu stellen und gegebenenfalls strafrechtlich zu verurteilen.

46.      Wäre Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2014/42 hingegen so auszulegen, dass die in der in Rede stehenden nationalen Regelung vorgesehene Einziehung nicht den Mindestvorschriften unterliegt, die diese Richtlinie gemäß ihrem Art. 1 Abs. 1 festlegt, würde diese Regelung in die im 22. Erwägungsgrund dieser Richtlinie angesprochene Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, in ihrem nationalen Recht weiter gehende Befugnisse vorzusehen(43). Diese Schlussfolgerung würde die Erörterung der Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Beantwortung der vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen aber nicht beenden können. Die dem Generalanwalt übertragene Aufgabe, den Gerichtshof zu unterstützen, bringt es mit sich, auch andere Ansätze zu diesem Punkt in Betracht zu ziehen.

2.      Zur Umsetzung der Richtlinie 2014/42 durch die in Rede stehende nationale Regelung

47.      Der Gerichtshof hat wiederholt seine Zuständigkeit für die Entscheidung über Vorabentscheidungsersuchen bejaht, die Unionsvorschriften in Fällen betrafen, in denen der betreffende Sachverhalt nicht unter das Unionsrecht fiel, diese Bestimmungen aber ohne Änderung ihres Gegenstands oder ihrer Tragweite – durch das nationale Recht mittels eines darin enthaltenen unmittelbaren und unbedingten Verweises auf ihren Inhalt für anwendbar erklärt worden waren. Der Gerichtshof hat überdies in ständiger Rechtsprechung befunden, dass in derartigen Fällen ein offensichtliches Interesse der Unionsrechtsordnung daran besteht, dass die aus dem Unionsrecht übernommenen Bestimmungen einheitlich ausgelegt werden, um künftige Auslegungsunterschiede zu vermeiden(44).

48.      Im vorliegenden Fall geht aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte hervor, dass 2005 in den lettischen Rechtsvorschriften ein Verfahren zur Einziehung unrechtmäßig erworbener Vermögensgegenstände eingeführt wurde, das nicht auf einer Verurteilung beruht. In ihren schriftlichen Erklärungen und in der mündlichen Verhandlung hat die lettische Regierung angegeben, dass die Richtlinie 2014/42 u. a. durch Rechtsvorschriften zur Änderung des Strafgesetzbuchs und der Strafprozessordnung umgesetzt wurde. Die Begründung des vom Justizministerium der Republik Lettland ausgearbeiteten Gesetzentwurfs zur Änderung des Strafrechts(45) enthält eine Tabelle, in der die verschiedenen Artikel dieser Richtlinie und alle nationalen Bestimmungen zu ihrer Umsetzung zusammengestellt sind, was auch für Art. 8 der Richtlinie gilt, der vollständig in die Strafprozessordnung umgesetzt wurde. Somit steht fest, dass die harmonisierte Bestimmung, die Gegenstand mehrerer Vorabentscheidungsfragen ist, auf das nicht auf einer Verurteilung beruhende Verfahren zur Einziehung unrechtmäßig erworbener Vermögensgegenstände – das einem Postulat zufolge nicht in den sachlichen Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/42 fallen soll – für anwendbar erklärt worden ist(46). Die Tatsache, dass dieser eindeutige Verweis in einem Dokument über vorbereitende gesetzgeberische Arbeiten und nicht im Wortlaut des nationalen Rechts selbst enthalten ist, ist unerheblich(47), und aus der Vorlageentscheidung geht eindeutig hervor, dass jede Auslegung der Bestimmungen dieser Richtlinie durch den Gerichtshof für die Entscheidung der Ausgangsverfahren durch das vorlegende Gericht bindend wäre, was es rechtfertigt, diesen Verweis als „unbedingt“ einzustufen(48).

49.      Unter diesen Umständen müsste sich der Gerichtshof, nachdem er die Unanwendbarkeit von Art. 4 der Richtlinie 2014/42 festgestellt hat, gleichwohl für zuständig erklären, die in den Rechtssachen C‑767/22, C‑161/23 und C‑49/23 gestellten Fragen zur Akteneinsicht, zur Regelung für den Nachweis der Herkunft der Vermögensgegenstände und zu den Rechtsbehelfen zu beantworten, d. h. zu all den Zweifelsfragen, die die Auslegung von Art. 8 dieser Richtlinie im Licht der Art. 47 und 48 der Charta betreffen. Da der Gegenstand der in Rede stehenden nationalen Vorschriften in engem Zusammenhang mit dem Gegenstand der Bestimmungen des Unionsrechts steht, auf die sie verweisen, besteht ein offensichtliches Interesse daran, dass sehr ähnliche Situationen, von denen die eine durch das nationale Recht und die andere durch das Unionsrecht geregelt wird, gleichbehandelt werden.

3.      Zur Anwendbarkeit der Richtlinien 2012/13/EU und (EU) 2016/343

50.      In ihren schriftlichen Erklärungen hat die Kommission vorgeschlagen, die jeweils zweite Frage in den Rechtssachen C‑767/22 und C‑161/23 anhand der Richtlinien 2012/13/EU(49) und (EU) 2016/343(50) zu prüfen, auch wenn keine ihrer Bestimmungen in den dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen erwähnt wird. Zudem müssen die Vorabentscheidungsfragen nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs im Licht sämtlicher Bestimmungen des Vertrags und des abgeleiteten Rechts, die für die aufgeworfene Problematik von Bedeutung sein können, beantwortet werden(51). Im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof ist es dessen Aufgabe, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Verfahrens sachdienliche Antwort zu geben. Auch wenn das vorlegende Gericht formal nur auf den Rahmenbeschluss 2005/212 und die Richtlinie 2014/42 Bezug genommen hat, hindert dies demnach den Gerichtshof nicht daran, dem Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei seiner Fragestellung darauf Bezug genommen hat(52). Der Gerichtshof hat insoweit aus dem gesamten von dem einzelstaatlichen Gericht vorgelegten Material, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen(53).

51.      Auch wenn die Frage, die in diesem Stadium zu prüfen ist, diejenige ist, ob auf die Ausgangsverfahren gegebenenfalls ausschließlich die Richtlinien 2012/13 und 2016/343 anwendbar sind, sofern diese Verfahren vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/42 ausgenommen sein sollten, stelle ich fest, dass der 40. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/42 und dessen Art. 8 Abs. 7 vorsehen, dass bei ihrer Umsetzung die Bestimmungen der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (ABl. 2010, L 280, S. 1), der Richtlinie 2012/13 und der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs (ABl. 2013, L 294, S. 1) zu berücksichtigen sind und dass unbeschadet der Richtlinie 2012/13 und der Richtlinie 2013/48 Personen, gegen deren Vermögen sich die Einziehungsentscheidung richtet, zur Wahrnehmung ihrer Rechte im Einziehungsverfahren ein Recht auf Rechtsbeistand in Bezug auf die Bestimmung der Tatwerkzeuge und der Erträge haben und über dieses Recht unterrichtet werden. Somit ist festzustellen, dass der Unionsgesetzgeber eindeutig einen Zusammenhang zwischen dem Ablauf von Verfahren zur Einziehung von Vermögensgegenständen in Strafsachen, unabhängig davon, ob diese Verfahren auf einer Verurteilung beruhen oder nicht, und der Achtung der Verfahrensrechte, die Verdächtigen und Beschuldigten in Strafverfahren zuerkannt werden, hergestellt hat. Wie bereits dargelegt, ist das Verfahren zur Einziehung der in Rede stehenden Vermögensgegenstände unzweifelhaft strafrechtlicher Natur.

52.      Der gemeinsame Gegenstand der Richtlinien 2012/13 und 2016/343 besteht darin, Mindestvorschriften in Bezug auf bestimmte Rechte von Verdächtigen und beschuldigten Personen im Rahmen von Strafverfahren festzulegen. Die Richtlinie 2012/13 betrifft speziell das Recht auf Rechtsbelehrung, während sich die Richtlinie 2016/343 hinsichtlich derselben Personen auf die Unschuldsvermutung und das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung bezieht. Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die Entscheidung zur Einleitung der Verfolgungsmaßnahmen wegen unrechtmäßigen Erwerbs von Vermögensgegenständen gemäß Art. 628 der Strafprozessordnung „dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person und der Person, deren Eigentum entzogen oder beschlagnahmt wurde, wenn diese Personen Gegenstand des betreffenden Strafverfahrens sind, oder einer anderen Person, die das Eigentumsrecht an dem betreffenden Vermögensgegenstand hat“, übermittelt wurde(54).

53.      Die jeweiligen Anwendungsbereiche der Richtlinien 2012/13 und 2016/343 sind in Art. 2 dieser beiden Richtlinien nahezu wortgleich definiert. Im Wesentlichen geht aus diesen Bestimmungen hervor, dass diese Richtlinien ab dem Zeitpunkt, zu dem Personen von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind, bis zum Abschluss des Verfahrens gelten. Die zusätzliche Klarstellung in Art. 2 der jüngeren dieser Richtlinien, nämlich der Richtlinie 2016/343, dass sie für „alle Abschnitte des Strafverfahrens“ gilt, ist als auf die Richtlinie 2012/13 anwendbar anzusehen. Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass alle natürlichen und juristischen Personen, um die es in den Rechtssachen C‑767/22, C‑49/23 und C‑161/23 geht, wegen des Straftatbestands der Geldwäsche strafrechtlich verfolgt werden und dass die Gelder auf ihren lettischen Bankkonten und in einigen Fällen auch ihre Immobilien von den Verfolgungsbehörden beschlagnahmt wurden, wobei diese Handlungen belegen, dass diese Personen von einer zuständigen Behörde verdächtigt werden und zumindest implizit, aber zwingend von diesem Verdacht in Kenntnis gesetzt wurden(55).

54.      Sollten diese Personen, obwohl sie somit in den Anwendungsbereich der Richtlinien 2012/13 und 2016/343 fallen, letztlich von der Anwendung dieser Richtlinien ausgeschlossen werden, weil gegen sie ein Verfahren eingeleitet wurde, das mit dem Verfahren zur Feststellung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit zusammenhängt, um nicht zu sagen mit diesem verflochten ist, und das möglicherweise mit der Einziehung von Vermögensgegenständen endet? Eine positive Antwort auf diese Frage könnte der Rechtsprechung des Gerichtshofs und seiner dynamischen Auslegung der diesen Anwendungsbereich betreffenden Bestimmungen zuwiderlaufen, die dadurch gerechtfertigt ist, dass sich diese Richtlinien insbesondere auf die in den Art. 47 und 48 der Charta genannten Rechte stützen und dazu beitragen sollen, dass diese Rechte bei Verdächtigen oder beschuldigten Personen im Rahmen von Strafverfahren gewahrt werden(56). So hat der Gerichtshof entschieden, dass sich der Begriff „Strafverfahren“ im Sinne der genannten Richtlinien auch auf Verfahren zur psychiatrischen Unterbringung einer Person erstreckt,  die nach einem vorangegangenen Strafverfahren als Täter einer Straftat eingestuft wurde, obwohl weder die Richtlinie 2012/13 noch die Richtlinie 2016/343 ausdrücklich vorsieht, dass zu den von ihnen geregelten Strafverfahren auch Verfahren gehören, die zu einer psychiatrischen Unterbringung führen können. Das Fehlen ausdrücklicher Bestimmungen bedeutet jedoch nicht, dass ein solches Verfahren der psychiatrischen Unterbringung vom Anwendungsbereich der Richtlinien ausgenommen ist, weil es nicht zur „Verurteilung“ zu einer Strafe führt(57).

55.      Eine entsprechende Anwendung dieser Lösung könnte vom Gerichtshof im vorliegenden Fall aus Gründen der Kohärenz der Rechtsordnung der Union herangezogen werden. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung 2018/1805 auf Sicherstellungs- oder Einziehungsentscheidungen Anwendung findet, die im Rahmen von „Verfahren in Strafsachen“ erlassen wurden, einem autonomen Begriff des Unionsrechts, der alle Arten von Sicherstellungs- und Einziehungsentscheidungen erfasst, die im Anschluss an ein Verfahren im Zusammenhang mit einer Straftat ergehen, was bei den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verfahren der Fall ist. Der 18. Erwägungsgrund dieser Verordnung fügt hinzu, dass die Verfahrensrechte, die in den Richtlinien 2010/64, 2012/13, 2013/48, 2016/343 sowie in der Richtlinie (EU) 2016/800 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2016 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind (ABl. 2016, L 132, S. 1) und in der Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (ABl. 2016, L 297, S. 1) verankert sind, innerhalb des Geltungsbereichs dieser Richtlinien bei den unter diese Verordnung fallenden Strafverfahren für die Mitgliedstaaten gelten, die an diese Richtlinien gebunden sind. Darin wird Folgendes klargestellt: „In jedem Fall sollten die gemäß der Charta gewährleisteten Garantien für alle unter diese Verordnung fallenden Verfahren gelten. Insbesondere sollten die in der Charta verankerten grundlegenden Garantien für Strafverfahren auf die unter diese Verordnung fallenden Verfahren in Strafsachen, die keine Strafverfahren sind, Anwendung finden.“ Was die Richtlinie 2024/1260 betrifft, heißt es in deren 51. Erwägungsgrund, dass die Umsetzung dieser Richtlinie alle oben genannten, die Verfahrensrechte betreffenden Richtlinien unberührt lässt. Die Anerkennung der Anwendbarkeit dieser Rechtsakte, insbesondere der Richtlinien 2012/13 und 2016/343, auf das nicht auf einer Verurteilung beruhende lettische Einziehungsverfahren bedeutet zugleich, dass der Gerichtshof dafür zuständig ist, zumindest die relevanten Bestimmungen dieser Rechtsakte im Licht der Charta auszulegen.

B.      Zur Beantwortung der Vorlagefragen

1.      Vorbemerkungen

56.      Die folgenden Ausführungen zur Beantwortung der dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen beruhen auf der Annahme, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/42 fällt, was zwangsläufig zur Anwendbarkeit der Charta führt. Im vorliegenden Fall ersucht das vorlegende Gericht um eine Auslegung von Art. 8 Abs. 1 und 6 dieser Richtlinie im Licht der Art. 47 und 48 der Charta, da es Zweifel an der Vereinbarkeit dieser für das Verfahren der Einziehung unrechtmäßig erworbener Vermögensgegenstände geltenden Regelung hegt, insbesondere hinsichtlich der Vorschriften, die die Akteneinsicht, die Beweisregelung für den Nachweis der Herkunft der Vermögensgegenstände und den Rechtsbehelf gegen die Einziehungsentscheidung betreffen.

57.      Ich halte es für erforderlich, als Erstes die Rechtsnatur der Maßnahme der Einziehung von Vermögensgegenständen zu beurteilen. Wie dargelegt, stellt die besondere Einziehung von Vermögensgegenständen, bei der es sich um die zwangsweise und entschädigungslose Veräußerung von Vermögensgegenständen, die unrechtmäßig erworben wurden, Gegenstand einer Straftat sind oder im Zusammenhang mit einer Straftat stehen, zugunsten des Staates handelt, gemäß Art. 70.10 der Strafprozessordnung keine Strafe dar. Der Inhalt der dem Gerichtshof vorgelegten Akten erlaubt es nicht, ihre im lettischen Recht vorgenommene Einstufung als Sicherungsmaßnahme abzulehnen oder zu bestätigen. Jedenfalls beschränkt sich die Anwendung der einschlägigen Bestimmungen der Charta, insbesondere des Art. 48, nicht allein auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die im nationalen Recht als „strafrechtlich“ eingestuft werden, sondern erstreckt sich – unabhängig von einer solchen innerstaatlichen Einordnung – auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die aufgrund der Art der Zuwiderhandlung und des Schweregrads der dem Betroffenen drohenden Sanktion als strafrechtlicher Natur anzusehen sind. Was das Kriterium betrifft, das sich auf die Art der Zuwiderhandlung bezieht, erfordert es die Prüfung, ob mit der fraglichen Maßnahme u. a. eine repressive Zielsetzung verfolgt wird, ohne dass der bloße Umstand, dass mit ihr auch eine präventive Zielsetzung verfolgt wird, ihr ihre Einstufung als strafrechtliche Sanktion nehmen kann(58).

58.      Auch wenn es letztlich Sache des vorlegenden Gerichts ist, zu beurteilen, ob die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Einziehungsmaßnahmen als „strafrechtliche Sanktionen“ eingestuft werden können, könnte darauf hinzuweisen sein, dass sich diese Maßnahmen gegen das Vermögen und nicht gegen die Person richten und „Schwarzgeld“ oder unrechtmäßig erworbenes bewegliches und unbewegliches Vermögen aus dem offiziellen Wirtschafts- und Finanzkreislauf entfernen sollen, wobei das Ziel darin besteht, kriminelle Aktivitäten zu verhindern, indem ihnen Mittel entzogen werden, und die Solidität sowie die Integrität des Wirtschafts- und Finanzsystems zu gewährleisten. Diese Gesichtspunkte erlauben es jedoch nicht, die oben genannte Einstufung eindeutig abzulehnen.

59.      Ich weise darauf hin, dass die Einziehungsmaßnahmen aufgrund von Verfahren angeordnet wurden, die gemäß Art. 627 Abs. 1 der Strafprozessordnung vor einem Strafgericht wegen „unrechtmäßigen Erwerbs von Vermögensgegenständen“ gegen juristische und natürliche Personen eingeleitet wurden, die gleichzeitig Gegenstand getrennter Verfahren zur Feststellung ihrer strafrechtlichen Verantwortlichkeit für die Straftat der Geldwäsche sind. Die mit dem Erlass der in Rede stehenden Maßnahme verbundenen Verfahren sind jedoch ein unbestreitbar relevanter Aspekt für die Einstufung dieser Maßnahme(59). Darüber hinaus bezieht sich der Wortlaut der oben genannten Bestimmung selbst eindeutig auf ein individuelles Verhalten, das zu unterbinden notwendig erscheint, was den zu ihrem präventiven Zweck hinzutretenden Sanktionscharakter der Einziehungsmaßnahme gegenüber den Personen, die im Besitz der Vermögensgegenstände sind, zum Ausdruck bringt. Hingegen soll die Einziehung der unrechtmäßig erworbenen Vermögensgegenstände, die zu deren Übertragung in das Staatsvermögen führt, offenbar nicht der spezifischen Verfolgung eines Wiedergutmachungsziels dienen, das für eine zivilrechtliche Maßnahme charakteristisch ist. Jedenfalls können die Ziele der Prävention und der Wiedergutmachung mit dem Ziel der Repression in Einklang gebracht und als Bestandteile des eigentlichen Begriffs der Strafe betrachtet werden. Schließlich ist festzustellen, dass die lettischen Rechtsvorschriften unter bestimmten Voraussetzungen eine Vermutung der unrechtmäßigen Herkunft von Vermögensgegenständen vorsehen und den Strafgerichten eine umfassende Einziehungsbefugnis einräumen, die auf einem Grad der Überzeugung beruht, der ein bloßes Kriterium der Wahrscheinlichkeit widerspiegelt(60). Auch die Schwere der Einziehungssanktion kann die Analyse stützen, dass diese Maßnahme strafrechtlicher Natur ist, da es sich um die vollständige, endgültige und entschädigungslose Entziehung dieser Vermögensgegenstände zugunsten des Staates handelt(61). Unter diesen Umständen muss die Maßnahme der Einziehung als eine Sanktion strafrechtlicher Natur angesehen werden.

60.      Als Zweites ist darauf hinzuweisen, dass sich die Richtlinie 2014/42 gemäß ihrem 33. Erwägungsgrund nicht nur erheblich auf die Rechte verdächtiger oder beschuldigter Personen auswirkt, sondern auch auf die Rechte strafrechtlich nicht verfolgter Dritter, und deshalb besondere Garantien und gerichtliche Rechtsbehelfe vorgesehen werden müssen, damit ihre Grundrechte bei der Umsetzung dieser Richtlinie gewahrt bleiben. Im 38. Erwägungsgrund dieser Richtlinie heißt es, dass diese die Grundrechte wahrt und die in der Charta und in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) verankerten Grundsätze beachtet, wie sie in der Rechtsprechung des EGMR ausgelegt werden, und dass diese Richtlinie im Einklang mit diesen Rechten und Grundsätzen umzusetzen ist.

61.      In Bezug auf die im Rahmen der vorliegenden Rechtssachen relevanten Grundrechte ist Art. 17 Abs. 1 der Charta zu berücksichtigen, der u. a. vorsieht, dass jede Person das Recht hat, ihr rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen, zu nutzen und darüber zu verfügen. Darüber hinaus ergibt sich aus Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2014/42, dass der Unionsgesetzgeber den Personen, die wie die Parteien der Ausgangsverfahren von den insbesondere in Art. 2 Nr. 4 dieser Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen betroffen sind, einen verfahrensrechtlichen Schutzstatus zuerkannt hat, wobei die erstgenannte Bestimmung eine allgemeine Verpflichtung für jeden Mitgliedstaat vorsieht, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass diese Personen zur Wahrung ihrer Rechte über das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf ein faires Verfahren verfügen. Neben Art. 47 der Charta erscheint auch deren Art. 48 Abs. 1 und 2, in dem die Unschuldsvermutung und der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte verankert sind, für die Erteilung einer sachdienlichen Antwort an das vorlegende Gericht relevant.

62.      Zusätzlich zu der oben genannten allgemeinen Verpflichtung ist festzustellen, dass Art. 8 der Richtlinie 2014/42 spezifische Bestimmungen enthält, die sicherstellen sollen, dass der Erlass einer Einziehungsentscheidung mit den für den Erlass gerichtlicher Entscheidungen typischen Garantien einhergeht, insbesondere mit denen, die die Achtung der Grundrechte der betroffenen Person und insbesondere ihres Anspruchs auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz betreffen. So muss gemäß Art. 8 Abs. 6 und 7 dieser Richtlinie jede Einziehungsentscheidung ordnungsgemäß begründet und der betroffenen Person mitgeteilt werden, die zudem darüber unterrichtet wird, dass sie ein Recht auf Rechtsbeistand in Bezug auf die Bestimmung der Erträge und der Tatwerkzeuge sowie das Recht hat, einen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung einzulegen. Diese Richtlinie enthält jedoch weder Beweisregeln für den Nachweis der Herkunft des Vermögensgegenstands, der Gegenstand des Einziehungsverfahrens ohne Verurteilung ist, noch Bestimmungen, die den Zugang der mit den Vermögensgegenständen in Verbindung stehenden Personen zu den Akten dieses Verfahrens regeln, und lässt daher den Mitgliedstaaten einen Ermessensspielraum für die Festlegung der spezifischen Verfahren, die insoweit Anwendung finden.

63.      Obwohl Art. 8 der Richtlinie 2014/42 den Mitgliedstaaten beim Erlass der für die Zwecke dieser Bestimmung erforderlichen Maßnahmen einen Ermessensspielraum belässt, sollte, wie sich aus dem 38. Erwägungsgrund dieser Richtlinie ergibt, das durch die Mitgliedstaaten gewährte Schutzniveau im Einklang mit Art. 51 Abs. 1 der Charta nie unter den von der Charta und der EMRK vorgesehenen Standards liegen(62). Das Verfahren zur Einziehung unrechtmäßig erworbener Vermögensgegenstände ohne vorherige Verurteilung muss so gestaltet sein, dass die mit diesen Vermögensgegenständen in Verbindung stehenden Personen ihre Grundrechte in diesem Verfahren geltend machen können. Dies ist umso wichtiger in einem System, in dem, wie im vorliegenden Fall, die vom zuständigen Gericht am Ende dieses Verfahrens getroffene Entscheidung, mit der die Vermögensgegenstände gegebenenfalls eingezogen werden, die vermögensrechtliche Frage endgültig regelt.

64.      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass, wie aus den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) hervorgeht, Art. 47 Abs. 1 und 2 der Charta, in dem das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht verankert ist, dem Recht auf ein faires Verfahren entspricht, wie es sich insbesondere aus Art. 6 Abs. 1 EMRK ergibt, während Art. 48 Abs. 1 und 2 der Charta über die Unschuldsvermutung und die Wahrung der Verteidigungsrechte Art 6 Abs. 2 und 3 EMRK entspricht. Folglich ist Art. 6 EMRK nach Art. 52 Abs. 3 der Charta bei der Auslegung der Art. 47 und 48 der Charta als Mindestschutzstandard zu berücksichtigen(63). Darüber hinaus muss jede Einschränkung der Ausübung dieser Rechte sowie des Eigentumsrechts(64) durch eine nach der Richtlinie 2014/42 angeordnete Maßnahme die Anforderungen des Art. 52 Abs. 1 der Charta erfüllen, was insbesondere voraussetzt, dass die fragliche Beschränkung tatsächlich dem Wohl der Allgemeinheit dienenden Zielen der Union entspricht und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen und nicht tragbaren Eingriff darstellt, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antasten würde(65).

2.      Zur Akteneinsicht

65.      Im Rahmen der Rechtssache C‑767/22 und mit seiner zweiten Frage äußert das vorlegende Gericht Zweifel an der Vereinbarkeit einer nationalen Regelung, nach der das Recht der mit den Vermögensgegenständen, die Gegenstand des Einziehungsverfahrens sind, in Verbindung stehenden Person auf Einsicht in die Akte beschränkt werden kann, wenn deren Offenlegung eine Gefahr für die Grundrechte dritter Personen, das öffentliche Interesse oder die Verwirklichung des Ziels des Strafverfahrens darstellen würde.

66.      Es ist darauf hinzuweisen, dass das nationale Verfahren zur Einziehung der betreffenden Vermögensgegenstände nicht eingeleitet werden kann, wenn keine strafrechtliche Verfolgung stattfindet, die darauf gerichtet ist, die Schuld des mutmaßlichen Täters festzustellen. Ein Verfahren, das die individuelle strafrechtliche Verantwortung zum Gegenstand hat, muss daher stets eingeleitet worden sein, wobei dieses Verfahren zumeist, wie im Fall der Verfahren, die zur Befassung des vorlegenden Gerichts geführt haben, nach Abschluss des die Vermögensgegenstände betreffenden Verfahrens fortgesetzt wird, und zwar auch dann, wenn diese Gegenstände eingezogen wurden.

67.      Gemäß Art. 627 Abs. 4 der Strafprozessordnung unterliegt der Inhalt der Akte eines Verfahrens über rechtswidrig erlangte Vermögensgegenstände dem Ermittlungsgeheimnis und kann von der das Verfahren leitenden Person, der Staatsanwaltschaft und dem mit der Rechtssache befassten Gericht eingesehen werden, während die mit den betreffenden Vermögensgegenständen in Verbindung stehenden Personen nur mit Genehmigung der das Verfahren leitenden Person und in dem von ihm festgelegten Umfang Kenntnis von diesem Inhalt nehmen dürfen. Abs. 5 dieser Bestimmung sieht vor, dass gegen die Entscheidung der das Verfahren leitenden Person, den Antrag auf Einsicht in die Verfahrensakte abzulehnen, ein Rechtsbehelf eingelegt werden kann, wobei der zuständige Richter die Strafakte anfordern und einsehen kann, um festzustellen, ob die Akteneinsicht die Grundrechte einzelner Personen, das öffentliche Interesse oder die Erreichung des Zwecks des Strafverfahrens gefährden würde.

68.      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Rahmen von Rechtssachen, die verwaltungsgerichtliche Verfahren betrafen, entschieden hat, dass der Grundsatz der Waffengleichheit – der integraler Bestandteil des in Art. 47 der Charta verankerten Grundsatzes des effektiven gerichtlichen Schutzes der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte ist, ebenso wie etwa der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens eine logische Folge des Begriffs des fairen Verfahrens als solchem ist – es gebietet, dass es jeder Partei angemessen ermöglicht wird, ihren Standpunkt sowie ihre Beweise unter Bedingungen vorzutragen, die sie nicht in eine gegenüber ihrem Gegner deutlich nachteilige Position versetzen. Dieser Grundsatz dient der Wahrung des prozeduralen Gleichgewichts zwischen den Parteien eines Gerichtsverfahrens, indem er ihnen gleiche Rechte und Pflichten gewährleistet, insbesondere hinsichtlich der Regeln der Beweisführung und der streitigen Verhandlung vor Gericht sowie ihrer Rechtsbehelfe. Für die Erfüllung der Anforderungen im Zusammenhang mit dem Recht auf ein faires Verfahren kommt es darauf an, dass die Beteiligten sowohl die tatsächlichen als auch die rechtlichen Umstände kennen, die für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sind(66). Der Gerichtshof hat festgestellt, dass die Frage, ob eine Verletzung der Verteidigungsrechte einschließlich des Rechts auf Akteneinsicht vorliegt, anhand der besonderen Umstände jedes Einzelfalls zu prüfen ist, insbesondere der Natur des betreffenden Rechtsakts, des Kontexts seines Erlasses sowie der Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet(67).

69.      Der Gerichtshof hat den Grundsatz der Waffengleichheit auch bei der Auslegung von Bestimmungen der Richtlinie 2012/13 herangezogen, die bei der Umsetzung der Richtlinie 2014/42 im Einklang mit deren 40. Erwägungsgrund zu berücksichtigen sind. So hat er darauf hingewiesen, dass die Art. 6 und 7 der Richtlinie 2012/13 gerade darauf abzielen, die wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte und die Fairness des Verfahrens zu gewährleisten. Dieses Ziel erfordert, dass die beschuldigte Person detaillierte Informationen über den Tatvorwurf und Einsicht in die Verfahrensakte rechtzeitig erhält, d. h. zu einem Zeitpunkt, der es ihr ermöglicht, ihre Verteidigung wirksam vorzubereiten. Gerade durch die Informationserteilung und die Akteneinsicht erfährt die beschuldigte Person bzw. ihr Rechtsanwalt, welcher Sachverhalt ihr zur Last gelegt wird und wie dieser Sachverhalt sowie die Beweise, auf denen er basiert, rechtlich gewürdigt werden. Die Möglichkeit, von diesen Informationen und Beweisen spätestens bei Beginn der Verhandlung Kenntnis zu erlangen, ist essenziell, damit sich die beschuldigte Person bzw. ihr Rechtsanwalt im Einklang mit dem Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens und der Waffengleichheit sinnvoll an der Verhandlung beteiligen und ihren Standpunkt wirksam geltend machen kann(68).

70.      Es ist jedoch hervorzuheben, dass Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 eine Ausnahme vom Zugang von Verdächtigen oder beschuldigten Personen oder ihren Anwälten zu belastenden oder entlastenden Beweismitteln vorsieht, sofern die Fairness des Verfahrens und die Verteidigungsrechte, wie sie in Abs. 2 und 3 dieser Bestimmung definiert sind, gewahrt bleiben. So kann, sofern das Recht auf ein faires Verfahren dadurch nicht beeinträchtigt wird, die Einsicht in bestimmte Unterlagen verweigert werden, wenn diese Einsicht das Leben oder die Grundrechte einer anderen Person ernsthaft gefährden könnte oder wenn dies zum Schutz eines wichtigen öffentlichen Interesses unbedingt erforderlich ist, wie beispielsweise in Fällen, in denen laufende Ermittlungen gefährdet werden könnten oder in denen die nationale Sicherheit der Mitgliedstaaten, in denen das Verfahren stattfindet, ernsthaft beeinträchtigt werden könnte. Darüber hinaus haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass im Einklang mit den Verfahren des innerstaatlichen Rechts die Entscheidung, die Einsicht in bestimmte Unterlagen gemäß diesem Absatz zu verweigern, von einer Justizbehörde getroffen wird oder zumindest einer richterlichen Prüfung unterliegt.

71.      Ich stelle in diesem Zusammenhang fest, dass Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2014/42 das gleiche Anliegen, das öffentliche Interesse am ordnungsgemäßen Ablauf einer laufenden Ermittlung zu schützen, zum Ausdruck bringt. Die Sicherstellungsentscheidung muss der betroffenen Person baldmöglichst nach ihrer Vollstreckung unter Angabe der Gründe mitgeteilt werden, wobei diese Gründe jedoch knapp gehalten sein können und die Mitteilung auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden kann, wenn dies zur Vermeidung der Beeinträchtigung einer strafrechtlichen Ermittlung erforderlich ist(69).

72.      Im vorliegenden Fall ist in Bezug auf die Einziehungsmaßnahme erstens zu beachten, dass eine Kopie der Entscheidung, ein Verfahren wegen unrechtmäßigen Erwerbs von Vermögensgegenständen einzuleiten, unverzüglich den mit den Vermögensgegenständen in Verbindung stehenden Personen zugestellt wird, wobei diese Entscheidung Informationen über die Tatsachen enthalten muss, die die Verbindung zwischen den Vermögensgegenständen und der Straftat oder der unrechtmäßigen Herkunft der Vermögensgegenstände belegen können, sowie über die Aktenbestandteile, die in der Ermittlungsphase eines Strafverfahrens, das den unrechtmäßigen Erwerb der Vermögensgegenstände zum Gegenstand hat, von der Akte getrennt wurden(70). Diesen Personen steht somit eindeutig ein Recht auf Information über den Inhalt der Akte zu, das es ihnen ermöglicht, von der faktischen und konkreten Grundlage der Verfolgungsmaßnahme in Bezug auf die in ihrem Besitz befindlichen Vermögensgegenstände Kenntnis zu nehmen.

73.      Diese Information muss zweitens mit den Vorrechten in Einklang gebracht werden, die diesen Personen zuerkannt werden, nämlich dem Recht, an dem Verfahren über die unrechtmäßig erworbenen Vermögensgegenstände teilzunehmen(71), vor dem Gericht mündlich oder schriftlich ihren Standpunkt zu der getroffenen Entscheidung darzulegen und Anträge an das Gericht zu stellen(72). Die Betroffenen verfügen somit über Mittel und Wege, den Inhalt der bereitgestellten Informationen, ihre Vollständigkeit und ihre Zuverlässigkeit zu hinterfragen sowie das Gericht zu veranlassen, Einblick in die unter das Ermittlungsgeheimnis fallenden Bestandteile der Akte des Verfahrens über rechtswidrig erlangte Vermögensgegenstände zu nehmen.

74.      Drittens unterliegt die Beurteilung der Akteneinsicht durch die Verfolgungsbehörde den Vorlageentscheidungen zufolge nach Art. 627 Abs. 5 der Strafprozessordnung in der für die Ausgangsverfahren geltenden Fassung einer gerichtlichen Kontrolle. Die lettische Regierung hat klargestellt, dass die das Verfahren leitende Person und das zuständige Gericht bei der Durchführung von Art. 627 Abs. 4 und 5 der Strafprozessordnung verpflichtet sind, die Interessen der Parteien gegen die Interessen des Strafverfahrens und der öffentlichen Sicherheit abzuwägen, wenn sie über das Recht einer Person auf Akteneinsicht entscheiden.

75.      Unter diesen Umständen kann meines Erachtens davon ausgegangen werden, dass Art. 8 der Richtlinie 2014/42 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die den Behörden, die den unrechtmäßigen Erwerb von Vermögensgegenständen verfolgen, keine allgemeine Verpflichtung auferlegt, den von der geplanten Einziehungsmaßnahme betroffenen Personen vollständige Einsicht in die Verfahrensakte zu gewähren, sondern diese von einem Antrag dieser Personen und dem Ermessen dieser Behörden abhängig macht. Diese Personen müssen die Möglichkeit haben, auf Antrag Zugang zu den Informationen und Dokumenten zu erhalten, die sich in den Akten des Einziehungsverfahrens befinden und von den Behörden im Hinblick auf den etwaigen Erlass der Einziehungsentscheidung durch das zuständige Gericht berücksichtigt werden, sofern nicht Ziele, die insbesondere mit dem Schutz des Lebens oder der Grundrechte eines Dritten oder mit der Aufrechterhaltung des ordnungsgemäßen Ablaufs einer laufenden strafrechtlichen Ermittlung zusammenhängen, eine Beschränkung des Zugangs zu diesen Informationen und Dokumenten rechtfertigen.

76.      Im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung einer vollständigen oder teilweisen Verweigerung der Akteneinsicht ist es Aufgabe des Richters, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen der Wahrung der Verteidigungsrechte und des Rechts auf ein faires Verfahren einerseits und der Notwendigkeit, die Grundrechte der in den Beweismitteln erwähnten Personen zu schützen sowie die Wirksamkeit laufender strafrechtlicher Ermittlungen und die Ahndung von Straftaten zu gewährleisten, andererseits herzustellen. Diese Abwägung darf jedoch angesichts der gebotenen Beachtung der in den Art. 47 und 48 der Charta verankerten Rechte nicht dazu führen, dass dem gerichtlichen Schutz der betroffenen Person jede Wirksamkeit genommen und das für den Fall des Erlasses einer Einziehungsentscheidung in Art. 8 Abs. 6 der Richtlinie 2014/42 vorgesehene Recht auf einen Rechtsbehelf insbesondere dadurch ausgehöhlt wird, dass ihr oder gegebenenfalls ihrem Rechtsberater nicht zumindest der wesentliche Inhalt der Akte mitgeteilt wird, einschließlich derjenigen Gesichtspunkte, die aus dem laufenden Strafverfahren hervorgegangen sind und auf eine Verbindung zwischen den im Besitz dieser Person befindlichen Vermögensgegenständen und der betreffenden Straftat hindeuten(73).

77.      Dieser Ansatz entspricht meines Erachtens dem Mindestschutzstandard, der in der Rechtsprechung des EGMR zugrunde gelegt wird. Nach dessen Auffassung muss jeder Strafprozess, einschließlich seiner Verfahrensaspekte, kontradiktorischen Charakter haben und die Waffengleichheit zwischen Anklage und Verteidigung gewährleisten. Das Recht auf ein kontradiktorisches Strafverfahren beinhaltet sowohl für die Anklage als auch für die Verteidigung die Möglichkeit, die von der anderen Partei vorgelegten Erklärungen oder Beweismittel zur Kenntnis zu nehmen. Das Recht auf Offenlegung der relevanten Beweise ist dem EGMR zufolge jedoch nicht absolut; in einem bestimmten Strafverfahren kann es vielmehr nötig sein, der Verteidigung bestimmte Beweise vorzuenthalten, um die Grundrechte anderer Einzelpersonen oder ein wichtiges Allgemeininteresse zu wahren, und es kann von einem Angeklagten erwartet werden, seinen Antrag auf Akteneinsicht spezifisch zu begründen. Dennoch sind im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 EMRK nur solche die Verteidigungsrechte einschränkenden Maßnahmen zulässig, die unbedingt erforderlich sind(74). In Bezug auf die Wahrung eines wichtigen Allgemeininteresses erkennt der EGMR die Notwendigkeit an, strafrechtliche Ermittlungen effektiv durchzuführen, was bedeuten kann, dass ein Teil der im Rahmen dieser Ermittlungen eingeholten Informationen geheim gehalten werden muss, um zu verhindern, dass Verdächtige Beweise manipulieren und den Lauf der Justiz behindern(75).

3.      Zur Beweisregelung für die Herkunft von Vermögensgegenständen

78.      Im Rahmen der Rechtssache C‑161/23 und mit seiner zweiten Frage äußert das vorlegende Gericht Zweifel, ob eine nationale Regelung(76), die eine tatsächliche Vermutung für die unrechtmäßige Herkunft von Vermögensgegenständen vorsieht und der mit diesen Vermögensgegenständen in Verbindung stehenden Person die Beweislast für die Rechtmäßigkeit ihrer Herkunft auferlegt, mit Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2014/42 im Licht der Art. 47 und 48 der Charta und des in der letztgenannten Bestimmung verankerten Grundsatzes der Unschuldsvermutung vereinbar ist.

79.      Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten geht hervor, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung tatsächlich eine Vermutung der unrechtmäßigen Herkunft der betreffenden Vermögensgegenstände für den Fall vorsieht, dass die Person, in deren Besitz sie sich befinden, in Anbetracht der von der verfolgenden Behörde vorgelegten Beweise für die aller Wahrscheinlichkeit nach unrechtmäßige Herkunft dieser Vermögensgegenstände nicht in der Lage ist, die Rechtmäßigkeit ihrer Herkunft darzutun, was einem geringeren Beweisniveau entspricht als demjenigen, das für die Feststellung der Schuld einer Person erforderlich ist, d. h. „über jeden vernünftigen Zweifel hinaus“.

80.      Hinsichtlich der Frage des Nachweises der unrechtmäßigen Herkunft von Vermögensgegenständen im Licht des Grundsatzes der Unschuldsvermutung ist bei der Umsetzung der Richtlinie 2014/42 die Richtlinie 2016/343 ebenso zu berücksichtigen wie die Richtlinie 2012/13(77). Nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen im Einklang mit dem Grundsatz der Unschuldsvermutung in Art. 3 dieser Richtlinie, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, sicherzustellen, „dass Verdächtige und beschuldigte Personen als unschuldig gelten, bis ihre Schuld rechtsförmlich nachgewiesen wurde“, bei der Strafverfolgungsbehörde liegt. Der Gerichtshof hat entschieden, dass die Bezugnahme auf die Feststellung der „Schuld“ in diesem Art. 6 so zu verstehen ist, dass diese Bestimmung nur beim Erlass gerichtlicher Entscheidungen, die die Frage der Schuld betreffen, die Verteilung der Beweislast regeln soll(78). Es steht jedoch fest, dass Verfahren wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht darauf abzielen, die Schuld des Betroffenen festzustellen, sondern darüber zu entscheiden, ob Vermögensgegenstände aufgrund ihrer rechtswidrigen oder rechtmäßigen Herkunft eingezogen werden oder nicht, so dass Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 auf die beanstandete nationale Regelung nicht anwendbar sein dürfte(79).

81.      Jedenfalls ist der Gerichtshof der Ansicht, dass der in Art. 48 der Charta verankerte Grundsatz der Unschuldsvermutung anwendbar ist, wenn es darum geht, die objektiven Tatbestandsmerkmale eines Verstoßes zu bestimmen, der zur Verhängung von Verwaltungssanktionen strafrechtlicher Natur führen kann. Das Gleiche gilt für das Aussageverweigerungsrecht, eine Garantie, die sich aus Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 der Charta ergibt(80). Vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden abschließenden Beurteilung der strafrechtlichen Natur der Einziehungsmaßnahme ohne Verurteilung sollte eine entsprechende Heranziehung dieser Rechtsprechung zu dem Ergebnis führen, dass die Unschuldsvermutung und das Aussageverweigerungsrecht in den Rechtssachen, die zur Anrufung dieses Gerichts geführt haben, anwendbar sind.

82.      Unter Einbeziehung der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 2 EMRK, der Art. 48 der Charta entspricht, ist der Gerichtshof der Ansicht, dass das Recht einer wegen einer Straftat angeklagten Person auf die Vermutung ihrer Unschuld und darauf, dass die Anklage die Beweislast für die gegen sie erhobenen Vorwürfe trägt, nicht absolut gilt, weil jedes Rechtssystem Vermutungen tatsächlicher oder rechtlicher Art kennt. Es trifft zwar zu, dass Art. 48 der Charta einen Mitgliedstaat nicht daran hindert, eine einfache oder objektive Tatsache als solche zu bestrafen und Vermutungen tatsächlicher oder rechtlicher Art einzuführen, die Mitgliedstaaten aber verpflichtet, in Strafsachen eine bestimmte Schwelle nicht zu überschreiten. Konkret bedeutet der in dieser Bestimmung verankerte Grundsatz der Unschuldsvermutung, dass dieser Mitgliedstaat verpflichtet ist, die in seinen Strafgesetzen enthaltenen Vermutungen angemessen einzugrenzen, wobei das Gewicht der betroffenen Belange zu berücksichtigen ist und die Verteidigungsrechte zu wahren sind, da dieser Grundsatz anderenfalls in unverhältnismäßiger Weise verletzt würde. Diese Grenzen werden überschritten, wenn eine Vermutung es dem Einzelnen unmöglich macht, sich von den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu entlasten, und ihn damit des Schutzes dieses Grundsatzes beraubt(81).

83.      Unter Heranziehung derselben Rechtsprechung hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass das Recht, zu schweigen, eine allgemein anerkannte Norm des Völkerrechts darstellt, die zum Kern des Begriffs des fairen Verfahrens gehört. Indem der Angeklagte vor missbräuchlichem Zwang der Behörden bewahrt wird, trägt dieses Recht dazu bei, Justizirrtümer zu vermeiden und das Ergebnis eines fairen Verfahrens zu gewährleisten. Da der Schutz, den das Recht, zu schweigen, verschafft, in einer Strafsache dafür sorgen soll, dass die Anklage ihre Argumentation ohne Rückgriff auf Beweise untermauert, die durch Zwang oder Druck, unter Missachtung des Willens des Angeklagten, erlangt wurden, wird dieses Recht u. a. dann verletzt, wenn ein Verdächtiger, dem bei einer Aussageverweigerung Sanktionen drohen, entweder aussagt oder wegen seiner Weigerung bestraft wird. Das Recht, zu schweigen, kann bei vernünftiger Betrachtung nicht auf Eingeständnisse von Fehlverhalten oder auf Bemerkungen, die unmittelbar die befragte Person belasten, beschränkt werden, sondern erstreckt sich auch auf Informationen über Tatsachenfragen, die später zur Untermauerung der Anklage verwendet werden und sich damit auf die Verurteilung dieser Person oder die gegen sie verhängte Sanktion auswirken können. Das Recht, zu schweigen, kann allerdings nicht jede Verweigerung der Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden rechtfertigen und stellt daher kein absolutes Vorrecht dar(82).

84.      Im Licht der vorstehenden Erwägungen ist die Vereinbarkeit der nationalen Regelung zu beurteilen, wobei zu beachten ist, dass der Gerichtshof Hinweise zu den Umständen geben kann, die im Rahmen der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in den Grundsatz der Unschuldsvermutung sowie in das Recht, zu schweigen, zu berücksichtigen sind. In diesem Zusammenhang ist erstens darauf hinzuweisen, dass das zuständige nationale Gericht von der unrechtmäßigen Herkunft der Vermögensgegenstände überzeugt sein muss und dass es zunächst der verfolgenden Behörde obliegt, dem Richter Beweise für die unrechtmäßige Herkunft zu liefern(83). Diese Beweise gelten als erbracht, wenn Grund zu der Annahme besteht, dass diese Vermögensgegenstände aller Wahrscheinlichkeit nach krimineller Herkunft sind(84).

85.      Zweitens steht fest, dass die Person, in deren Besitz sich die Vermögensgegenstände befinden, die Möglichkeit hat, die oben genannte Vermutung zu widerlegen. Nach der lettischen Regelung muss diese Person, wenn sie geltend macht, dass die Vermögensgegenstände nicht als unrechtmäßig erworben anzusehen seien, die Rechtmäßigkeit ihrer Herkunft dartun, indem sie eine glaubwürdige Erklärung dafür liefert(85). Die Möglichkeit dieser Widerlegung wird dieser Person schon vor der Einleitung des Einziehungsverfahrens auf der Grundlage von Art. 626 der Strafprozessordnung eingeräumt. Wenn der Vermögensgegenstand nämlich während der Voruntersuchung beschlagnahmt wird, weil die verfolgende Behörde von seiner kriminellen Herkunft überzeugt ist, ist diese Behörde nämlich nach Art. 356 Abs. 5 der Strafprozessordnung verpflichtet, den Betroffenen auf „die Möglichkeit“ hinzuweisen, innerhalb von 45 Tagen nach der Mitteilung Informationen über die Rechtmäßigkeit dieser Herkunft vorzulegen, und ihn über die Folgen der Nichtvorlage solcher Informationen zu unterrichten. Darüber hinaus hat die betroffene Person, wie bereits dargelegt, das Recht, am Einziehungsverfahren teilzunehmen, das eine mündliche Verhandlung umfasst, die innerhalb von zehn Tagen nach Erhalt der Entscheidung über die Einleitung dieses Verfahrens stattfinden muss und bei der die am Verfahren beteiligten Personen das gleiche Recht haben, Einwände vorzubringen oder Anträge zu stellen, Beweise vorzulegen und dem Gericht schriftliche Erklärungen zu unterbreiten(86).

86.      Meines Erachtens führt die lettische Regelung nicht zu einer Situation, die den Beweis einer negativen Tatsache (probatio diabolica) verlangt und den Grundsatz der Unschuldsvermutung sowie die Verteidigungsrechte offensichtlich unverhältnismäßig beeinträchtigen könnte. Es ist absolut folgerichtig und vernünftig, von der Person, die im Besitz des betreffenden Vermögensgegenstands ist, zu verlangen, dass sie den Beweis für eine positive Tatsache und die Unrichtigkeit der Schlussfolgerungen der verfolgenden Behörde erbringt. Um den Wortlaut des 34. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2024/1260 aufzugreifen, müssen die Gerichte bei der Entscheidung, ob die Vermögensgegenstände einzuziehen sind oder nicht, insbesondere das Fehlen einer plausiblen rechtmäßigen Herkunft des Vermögensgegenstands berücksichtigen, „da die Herkunft eines rechtmäßig erworbenen Vermögensgegenstands üblicherweise nachvollzogen werden kann“. Ist die oben genannte Person nicht am besten in der Lage, Erklärungen zu liefern, die es beispielsweise ermöglichen, das rechtliche und finanzielle Konstrukt zu verstehen, in den sich der Vermögensgegenstand einfügt, und seine wirtschaftliche Vernunft zu belegen?

87.      Drittens ist darauf hinzuweisen, dass sich das Gericht, das eine Einziehungsentscheidung zu treffen hat, vergewissern muss, dass es sich um unrechtmäßig erworbene Vermögensgegenstände handelt, und zu diesem Zweck gemäß Art. 630 Abs. 1 der Strafprozessordnung alle sie betreffenden Umstände prüfen muss. Abs. 2 dieser Bestimmung sieht vor, dass „das Gericht beschließt, das Verfahren zu beenden, wenn es feststellt, dass der Zusammenhang zwischen den Vermögensgegenständen und einer Straftat nicht erwiesen oder die Herkunft der Vermögensgegenstände nicht unrechtmäßig ist“. Diese Formulierung zielt ausdrücklich auf den Nachweis der unrechtmäßigen Herkunft der Vermögenswerte ab und bestätigt die Hinweise der lettischen Regierung(87) auf die keiner Beschränkung zugängliche Beweislast der verfolgenden Behörde, selbst wenn diese Beweislast als erleichtert angesehen werden kann. Somit kann die in Rede stehende Beweisregelung als solche offenbar nicht zu einer echten Umkehr der Beweislast führen, weil sie es auf diese Weise der verfolgenden Behörde auferlegt, die verschiedenen Indizien nachzuweisen, deren Zusammenspiel es dem angerufenen Gericht gegebenenfalls ermöglicht, sich von der unrechtmäßigen Herkunft der Vermögensgegenstände zu überzeugen(88). Diese Feststellung offenbart, dass das Schweigen der mit den Vermögensgegenständen in Verbindung stehenden Person auf die Mitteilung der verfolgenden Behörde über die Möglichkeit, Informationen über die Rechtmäßigkeit der Herkunft der Vermögensgegenstände vorzulegen, allein nicht zu einer Einziehungsentscheidung führen kann(89). Es kann jedoch als ein Beweis für die Glaubhaftigkeit anderer von der Strafverfolgungsbehörde vorgelegter Beweismittel angesehen werden(90).

88.      Die Beurteilung der Herkunft der betreffenden Vermögensgegenstände durch das zuständige nationale Gericht erfolgt auf der Grundlage einer Wahrscheinlichkeitsabwägung, was dem Grad der Überzeugung entspricht, den Art. 5 der Richtlinie 2014/42 im Licht ihres 21. Erwägungsgrundes in Bezug auf die erweiterte Einziehung von Vermögensgegenständen einer Person vorsieht, die wegen einer Straftat verurteilt wurde. Ein Gericht kann diese Maßnahme nämlich anordnen, wenn es aufgrund der Umstände des Falles davon überzeugt ist, dass diese Vermögensgegenstände aus Straftaten stammen, was nicht bedeutet, dass die Herkunft dieser Vermögensgegenstände aus Straftaten erwiesen sein muss, sondern dass das Gericht nach einer Wahrscheinlichkeitsabwägung befindet oder vernünftigerweise davon ausgehen kann, dass es wesentlich wahrscheinlicher ist, dass die betreffenden Vermögensgegenstände aus Straftaten stammen, als dass sie durch andere Tätigkeiten erworben wurden.

89.      Viertens weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Beurteilung der möglicherweise unrechtmäßigen Herkunft der Vermögensgegenstände eng mit der Frage verbunden sei, ob diese Vermögensgegenstände Gegenstand einer Geldwäsche waren, und dass dies zu der Feststellung führen könne, dass die Tatbestandsmerkmale einer solchen Straftat erfüllt seien, was der mit diesen Vermögensgegenständen in Verbindung stehenden Person auferlegen würde, die Vermutung zu widerlegen, dass sie der Straftat der Geldwäsche schuldig ist. Abgesehen davon, dass die Vorlageentscheidungen keine Definition des Straftatbestands der Geldwäsche nach lettischem Recht enthalten, weise ich darauf hin, dass es nicht Sache des Gerichtshofs ist, im Rahmen des durch Art. 267 AEUV geschaffenen Systems der justiziellen Zusammenarbeit nationale Rechts- oder Verwaltungsvorschriften auszulegen(91). Im Allgemeinen bezeichnet die Geldwäsche jedoch einen Vorgang, der darauf abzielt, Erträge krimineller Handlungen wieder in die legale Wirtschaft einzuschleusen und somit den Anschein einer rechtmäßigen Herkunft von Geldern, Immobilien oder beweglichen Gütern zu erwecken, die durch diese Handlungen erlangt wurden. Da es Geldwäsche als Straftat nur geben kann, wenn die betreffenden Vermögensgegenstände unrechtmäßiger Herkunft sind, ist die vom vorlegenden Gericht hergestellte Verbindung mit dem Einziehungsverfahren, wie es in den Ausgangsverfahren in Rede steht, durchaus nachvollziehbar.

90.      Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, kann in diesem Zusammenhang klargestellt werden, dass es den Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2016/343 obliegt, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass insbesondere in anderen gerichtlichen Entscheidungen als denen, die über die Schuld befinden, ein Verdächtiger oder Beschuldigter nicht als schuldig dargestellt wird, solange seine Schuld nicht rechtsförmlich nachgewiesen wurde. Aus dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343 geht hervor, dass diese Bestimmung die Beachtung der Unschuldsvermutung gewährleisten soll. Daher sollten solche gerichtlichen Entscheidungen, wie es dort heißt, nicht den Eindruck vermitteln, dass die betreffende Person schuldig ist(92). Die genannten gerichtlichen Entscheidungen können meiner Ansicht nach diejenigen umfassen, die am Ende des in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verfahrens die Einziehung von Vermögensgegenständen anordnen, die sich im Besitz einer Person befinden, gegen die parallel dazu ein Verfahren zur Feststellung ihrer Verantwortlichkeit für die Begehung einer Straftat läuft.

91.      Zur Auslegung von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 hat der Gerichtshof ausdrücklich auf die Rechtsprechung des EGMR verwiesen, wonach der Grundsatz der Unschuldsvermutung verletzt ist, wenn eine gerichtliche Entscheidung oder eine amtliche Erklärung über einen Angeklagten – ohne dass eine rechtskräftige Verurteilung vorläge – eine eindeutige Erklärung enthält, dass die Person die in Rede stehende Straftat begangen hat. In diesem Zusammenhang hat der EGMR die Bedeutung betont, die der Wortwahl der Behörden sowie den besonderen Umständen, unter denen die Äußerung getätigt wurde, und der Art und dem Kontext des fraglichen Verfahrens zukommt. Wenn das zuständige nationale Gericht in der Einziehungsentscheidung seine Überzeugung begründen muss, dass die fraglichen Vermögensgegenstände aller Wahrscheinlichkeit nach unrechtmäßiger Herkunft sind, muss diese Begründung folglich in einer Art und Weise formuliert werden, die eine mögliche vorzeitige Beurteilung der Schuld der im Besitz dieser Vermögensgegenstände befindlichen Personen vermeidet, die die faire Prüfung der gegen sie in einem gesonderten Verfahren erhobenen Vorwürfe wegen der vorausgegangenen Straftat, durch die die Vermögensgegenstände erlangt wurden, oder wegen der Straftat der Geldwäsche gefährden könnte(93).

92.      In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen und der grundlegenden Bedeutung, die der Bekämpfung der organisierten Kriminalität zukommt(94), ist davon auszugehen, dass die Beweisregelung für die Herkunft der Vermögensgegenstände, die Gegenstand des Einziehungsverfahrens sind, nicht geeignet ist, den Grundsatz der Unschuldsvermutung und das Recht auf Aussageverweigerung sowie die Verteidigungsrechte, die Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2014/42 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 und im Licht der Art. 47 und 48 der Charta der Person garantiert, in deren Besitz sich diese Vermögensgegenstände befinden, in offensichtlich unverhältnismäßiger Weise zu beeinträchtigen.

4.      Zum wirksamen Rechtsbehelf

93.      Mit seiner zweiten und dritten Frage in der Rechtssache C‑49/23, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 8 Abs. 6 der Richtlinie 2014/42 im Licht der Art. 17 und 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die kein Recht auf einen Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung über die Einziehung von Vermögensgegenständen vorsieht, die von einem Gericht zweiter Instanz erlassen wird, nachdem das Gericht erster Instanz das Verfahren wegen unrechtmäßigen Erwerbs von Vermögensgegenständen beendet hat, indem es festgestellt hat, dass kein hinreichender Beweis für einen Zusammenhang zwischen diesen Vermögensgegenständen und der Straftat oder der unrechtmäßigen Herkunft dieser Vermögensgegenstände vorliege(95).

94.      Gemäß Art. 630 und 631 der Strafprozessordnung kann das Gericht, das mit der Verfolgung wegen unrechtmäßigen Erwerbs von Vermögensgegenständen befasst ist, aufgrund seiner Beurteilung der ihm vorgelegten Beweismittel die Einziehung der als unrechtmäßig erworben angesehenen Vermögensgegenstände anordnen oder anderenfalls das Verfahren ohne Erlass restriktiver Maßnahmen beenden. Diese Entscheidung des Gerichts kann von der mit den Vermögensgegenständen in Verbindung stehenden Person oder der verfolgenden Behörde vor einem Regionalgericht angefochten werden. Dieses entscheidet unter Berücksichtigung des Devolutiveffekts des Rechtsmittels erneut über die Verfolgung und trifft, wenn es die angefochtene Entscheidung aufhebt, mit denselben Befugnissen wie das erstinstanzliche Gericht eine neue Entscheidung. Gegen die letztgenannte Entscheidung kann kein Rechtsbehelf eingelegt werden.

95.      Art. 8 Abs. 6 Satz 2 der Richtlinie 2014/42 bestimmt: „Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die Person, in Bezug auf welche die Einziehung angeordnet wurde, konkret die Möglichkeit erhält, diese Entscheidung vor Gericht anzufechten.“ Indem die Parteien des Ausgangsverfahrens sich darauf beschränken, eine streng wörtliche Auslegung dieser Vorschrift vorzunehmen, vertreten sie im Wesentlichen die Auffassung, dass diese Vorschrift die Mitgliedstaaten verpflichte, ein Verfahren einzuführen, das notwendigerweise eine gerichtliche Instanz umfasse, die eine Prüfung der Ordnungsmäßigkeit einer Einziehungsentscheidung unabhängig von dem Stadium ermögliche, in dem diese erlassen worden sei.

96.      Dieser Auslegung kann meines Erachtens nicht gefolgt werden. Die Tragweite dieser Vorschrift ist zu bestimmen, indem sie in ihren Kontext gestellt wird, der darin besteht, dass sie sich in die in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2014/42 festgelegte allgemeine Verpflichtung der Mitgliedstaaten einfügt, den von den in dieser Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen betroffenen Personen ein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf ein faires Verfahren zu garantieren. Aus den Erwägungsgründen oder anderen Bestimmungen der Richtlinie 2014/42 geht in keiner Weise hervor, dass diese die Mitgliedstaaten dazu verpflichten soll, einen zweiten Rechtszug einzuführen, d. h. die Möglichkeit, ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung einzulegen, die auf den Rechtsbehelf gegen die erstinstanzliche Entscheidung des Gerichts ergangen ist. Insoweit stelle ich fest, dass Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 2014/42 in Bezug auf eine Sicherstellungsentscheidung nur die Möglichkeit vorsieht, diese vor einem Gericht nach den im nationalen Recht vorgesehenen Verfahren anzufechten, ohne vorzuschreiben, dass es zwei Rechtszüge geben muss. Ein solches Erfordernis würde zudem den von dieser Richtlinie verfolgten Zielen der Wirksamkeit und der Schnelligkeit zuwiderlaufen.

97.      Diese Schlussfolgerung wird meines Erachtens durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu anderen Bestimmungen des Sekundärrechts bestätigt, die einen wirksamen Rechtsbehelf vorschreiben, wie u. a. Art. 46 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU(96), Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG(97) und Art. 29 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013(98). Mit Art. 8 Abs. 6 Satz 2 der Richtlinie 2014/42 haben diese Bestimmungen gemein, dass sie ähnlich formuliert sind, nämlich in dem Sinne, dass sie verlangen, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen beschwerende Handlungen und zugunsten speziell benannter Personen zur Verfügung zu stellen. Bei der Auslegung dieser Bestimmungen im Licht von Art. 47 der Charta hat der Gerichtshof festgestellt, dass der durch diese Bestimmungen gewährte Schutz auf einen einzigen gerichtlichen Rechtsbehelf beschränkt ist und nicht die Einführung mehrerer Rechtszüge verlangt. Somit dürfte es allein entscheidend sein, dass es einen Rechtsbehelf vor einem Gericht gibt, was im vorliegenden Fall durch Art. 8 Abs. 6 Satz 2 der Richtlinie 2014/42 gewährleistet wird, da der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes dem Einzelnen den Zugang zu einem Gericht und nicht zu mehreren Gerichtsinstanzen eröffnet(99). Folglich kann der Umstand, dass gegen die Entscheidung der Rechtsbehelfsinstanz, mit der Vermögensgegenstände nach einer erneuten Sachprüfung der Beweise für ihre Herkunft als unrechtmäßig erworben eingestuft und eingezogen wurden, gemäß Art. 631 der Strafprozessordnung kein Rechtsbehelf eingelegt werden kann, das Recht der im Besitz dieser Vermögensgegenstände befindlichen Personen auf ein faires Verfahren nicht beeinträchtigen. Wie die lettische Regierung ausführt, wurde die nationale Regelung so gestaltet, dass die Frage, ob Vermögensgegenstände unrechtmäßig erworben wurden und der Einziehung unterliegen, von zwei Gerichten geprüft werden kann, wobei jedes dieser Gerichte die Herkunft der Vermögensgegenstände unabhängig vom anderen prüft.

98.      Diese Auslegung steht meines Erachtens nicht im Widerspruch zur Rechtsprechung des EGMR. Aus dieser geht nämlich hervor, dass weder Art. 6 Abs. 1 noch Art. 13 EMRK das Recht auf ein Rechtsmittel oder eine zweite Instanz garantieren – ein Recht, das Art. 2 des Protokolls Nr. 7 nur Personen zuerkennt, die wegen einer Straftat verurteilt wurden – und auch nicht verlangen, dass es mehrere Ebenen der Gerichtsbarkeit gibt(100). Darüber hinaus ist der EGMR der Ansicht, dass Art. 13 EMRK in der Regel nicht anwendbar ist, wenn die behauptete Verletzung der EMRK im Rahmen eines Gerichtsverfahrens stattgefunden hat, es sei denn, die aus diesem Artikel abgeleitete Beschwerde bezieht sich auf einen Verstoß gegen das Erfordernis der „angemessenen Frist“(101).

99.      In Anbetracht des strafrechtlichen Charakters des Verfahrens zur Einziehung unrechtmäßig erworbener Vermögensgegenstände und der Sanktion, die diese Einziehung darstellt, ist auf den Inhalt von Art. 2 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK hinzuweisen, wobei klarzustellen ist, dass dieses Protokoll von allen Mitgliedstaaten – mit Vorbehalten und Erklärungen einiger von ihnen – ratifiziert wurde. Nach Art. 2 Abs. 1 dieses Protokolls hat, „[w]er wegen einer Straftat verurteilt worden ist, … das Recht, das Urteil von einem übergeordneten Gericht nachprüfen zu lassen“. Sofern davon auszugehen ist, dass diese Bestimmung im Fall des oben genannten Verfahrens anwendbar ist, was meines Erachtens angesichts des strafrechtlichen Sanktionscharakters der Einziehungsmaßnahme der Fall sein sollte, ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass dieses Recht gemäß Art. 2 Abs. 2 dieses Protokolls Ausnahmen unterliegen kann. Zu diesen Ausnahmen gehört der Fall, dass die betroffene Person nach einem Rechtsbehelf gegen ihren Freispruch für schuldig befunden und verurteilt wurde, ein Fall, der genau demjenigen gleichkommt, den das vorlegende Gericht in seiner zweiten und dritten Frage in der Rechtssache C‑49/23 anspricht.

100. Ich bin daher der Auffassung, dass Art. 8 Abs. 6 der Richtlinie 2014/42 im Licht der Art. 17 und 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die kein Recht auf einen Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung über die Einziehung von als unrechtmäßig erworben eingestuften Vermögensgegenständen vorsieht, die von einem Gericht zweiter Instanz erlassen wurde, das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung eines erstinstanzlichen Gerichts befasst war, mit der der Antrag der verfolgenden Behörde auf Feststellung einer solchen Herkunft dieser Vermögensgegenstände zurückgewiesen wurde.

101. Nach alledem brauchen die dritte Vorlagefrage in den Rechtssachen C‑767/22 und C‑161/23 sowie die vierte Vorlagefrage in der Rechtssache C‑49/23, die die Auslegung des Grundsatzes des Vorrangs betreffen, nicht beantwortet zu werden.

V.      Ergebnis

102. Im Licht der vorstehenden Ausführungen schlage ich dem Gerichtshof vor, der Latvijas Republikas Satversmes tiesa (Verfassungsgericht, Lettland) wie folgt zu antworten:

Art. 8 Abs. 1 und 6 der Richtlinie 2014/42/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Sicherstellung und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten in der Europäischen Union in Verbindung mit Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren sowie im Licht der Art. 17, 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

ist dahin auszulegen, dass

er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, mit der ein Verfahren zur Einziehung unrechtmäßig erworbener oder mit einer Straftat in Zusammenhang stehender Vermögensgegenstände ohne vorherige Verurteilung eingeführt wird, das während eines Verfahrens zur Feststellung der Schuld des mutmaßlichen Täters einer Straftat, dessen Vermögensgegenstände sichergestellt wurden, eingeleitet und parallel zu diesem Verfahren durchgeführt wird und Folgendes vorsieht:

–        die Möglichkeit, der Person, die im Besitz der Vermögensgegenstände ist, die Akteneinsicht zu verweigern, wenn dies mit dem Schutz des Lebens oder der Grundrechte eines Dritten oder der Wahrung des ordnungsgemäßen Ablaufs einer laufenden strafrechtlichen Ermittlung begründet wird, sofern diese Verweigerung einer gerichtlichen Kontrolle unterliegt, in deren Rahmen das Gericht sicherstellt, dass die Nichtweitergabe präziser und vollständiger Beweismittel durch die zuständige nationale Behörde auf das absolut Notwendige beschränkt wird, um die Wahrung der Verteidigungsrechte und die Fairness des Verfahrens zu gewährleisten;

–        den Erlass einer Entscheidung über die Einziehung von Vermögensgegenständen, die auf einer gesetzlichen Vermutung der unrechtmäßigen Herkunft dieser Vermögensgegenstände beruht, die sich auf eine Reihe von Beweismitteln stützt, die von der verfolgenden Behörde vorgelegt wurden und eine solche Herkunft wahrscheinlich machen, vorausgesetzt, dass zum einen die Personen, die im Besitz dieser Vermögensgegenstände sind, tatsächlich die Möglichkeit hatten, deren plausibel rechtmäßige Herkunft darzutun, und dass zum anderen die Entscheidung diese Personen nicht als einer Straftat schuldig darstellt, die Gegenstand eines gesonderten Strafverfahrens ist, das parallel zu dem Verfahren zur Einziehung dieser Vermögensgegenstände geführt wird;

–        einen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung über die Einziehung der Vermögensgegenstände, ohne dass eine solche Entscheidung gerichtlich angefochten werden kann, wenn sie vom Gericht zweiter Instanz erlassen wird, nachdem das Gericht erster Instanz entschieden hat, den Antrag auf Einziehung zurückzuweisen.







































































































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