C-731/23 P – Nicoventures Trading u. a./ Kommission

C-731/23 P – Nicoventures Trading u. a./ Kommission

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2025:435

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

Nicholas EMILIOU

vom 12. Juni 2025(1)

Rechtssache C731/23 P

Nicoventures Trading Ltd,

British American Tobacco (Germany) GmbH,

British American Tobacco Italia SpA (BAT Italia),

British American Tobacco Polska Trading sp. Z o.o.,

British American Tobacco España, SA,

P. J. Carroll & Company Ltd

gegen

Europäische Kommission

„ Rechtsmittel – Öffentliche Gesundheit – Richtlinie 2014/40/EU – Delegierte Richtlinie (EU) 2022/2100 – Erhitzte Tabakerzeugnisse – Art. 263 AEUV – Klagebefugnis – Individuelle Betroffenheit – Plaumann-Rechtsprechung – Systematisierung und Überprüfung der Rechtsprechung – Kriterium des geschlossenen Kreises “

I.      Einleitung

1.        „Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. ‚Es ist möglich‘, sagt der Türhüter, ‚jetzt aber nicht.‘ … Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er …“.

2.        In dieser Passage aus der Kurzgeschichte Vor dem Gesetz(2) von Franz Kafka kommt meines Erachtens gut zum Ausdruck, mit welchen Schwierigkeiten Kläger konfrontiert sind, wenn sie versuchen, erstens, zu erkennen, ob sie von einer Handlung der Union im Sinne von Art. 263 AEUV „individuell betroffen“ sind, und dann, dies vor den Unionsgerichten darzulegen.

3.        Die grundlegenden Kriterien für das Erfordernis der individuellen Betroffenheit wurden, wie allgemein bekannt, erstmalig 1963 in der Rechtssache Plaumann entwickelt; danach kann, wer nicht Adressat einer Maßnahme ist, nur dann geltend machen, im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV „individuell betroffen“ zu sein, wenn diese Maßnahme ihn wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten (im Folgenden: Plaumann-Formel)(3).

4.        In der späteren Rechtsprechung wurde diese Formel nicht nur durchgängig bestätigt, sondern vom Gerichtshof auch recht streng angewandt (im Folgenden: Plaumann-Rechtsprechung). Der Gerichtshof hielt hieran ungeachtet einiger, aus den eigenen Reihen des Organs kommender Vorschläge zu ihrer Änderung und der (bisweilen recht harten) Kritik im juristischen Schrifttum fest. Wenngleich die Kritik an der Plaumann-Rechtsprechung sich hauptsächlich darauf bezog, dass sie zu restriktiv sei, wurde von den Kommentatoren auch beklagt, dass sie unklar und komplex sei und sich über die Jahre hinweg bestimmte Unstimmigkeiten in ihrer Anwendung ergeben hätten.

5.        Die vorliegende Rechtssache gibt dem Gerichtshof die Gelegenheit, diese Rechtsprechung einer Neubetrachtung zu unterziehen. Die Rechtsmittelführerinnen beantragen die Aufhebung des Beschlusses vom 20. September 2023, Nicoventures Trading u. a./Kommission(4), mit dem das Gericht ihre Nichtigkeitsklage gegen die Delegierte Richtlinie (EU) 2022/2100(5) mit der Begründung für unzulässig erklärt hatte, dass die Rechtsmittelführerinnen von ihr zwar unmittelbar, nicht aber individuell betroffen seien.

6.        Meine Würdigung wird zeigen, dass bei einer strengen und formalistischen Anwendung der Plaumann-Rechtsprechung in der vorliegenden Rechtssache möglicherweise nicht anzunehmen wäre, dass die Rechtsmittelführerinnen von der angefochtenen Maßnahme „individuell betroffen“ sind, wohingegen dies jedoch bei einer flexibleren und realistischeren Anwendung dieser Rechtsprechung anzunehmen wäre. In der Tat bin ich der Ansicht, dass die Rechtssache richtigerweise genau zu diesem Ergebnis führen sollte, nämlich, dass die Rechtsmittelführerinnen die Möglichkeit haben sollten, die angefochtene Maßnahme vor den Unionsgerichten anzufechten. Die Ansicht zu vertreten, dass sie von dieser Maßnahme nicht „individuell betroffen“ seien, mag vielleicht mit bestimmten Präzedenzentscheidungen der Unionsgerichte im Einklang stehen, wäre aber meines Erachtens mit einer tragfähigen Auslegung von Art. 263 Abs. 4 AEUV, zumal in der Unionsrechtsordnung nach dem Vertrag von Lissabon, unvereinbar.

7.        Vor diesem Hintergrund soll dem Gerichtshof mit den vorliegenden Schlussanträgen in erster Linie die Ansicht und der Vorschlag unterbreitet werden, dass etwa 60 Jahre nach Ergehen des Urteils Plaumann die Zeit für eine Prüfung reif ist, ob und gegebenenfalls inwieweit der Türhüter die Tür zum Recht öffnen sollte.

II.    Sachverhalt und rechtlicher Rahmen des Rechtsstreits

8.        Die Vorgeschichte des Rechtsstreits wird in den Rn. 2 bis 6 des angefochtenen Beschlusses dargestellt. Für das vorliegende Verfahren lässt sie sich wie folgt zusammenfassen.

9.        Nicoventures Trading Ltd, British American Tobacco (Germany) GmbH, British American Tobacco Italia SpA (BAT Italia), British American Tobacco Polska Trading sp. z o.o., British American Tobacco España, SA, und P. J. Carroll & Company Ltd (im Folgenden: Rechtsmittelführerinnen) gehören dem British American Tobacco-Konzern (im Folgenden: BAT‑Konzern) an, der Tabakerzeugnisse herstellt und vermarktet. Die Rechtsmittelführerinnen sind im Bereich der Entwicklung und Vermarktung nicht brennbarer Erzeugnisse, einschließlich erhitzter Tabakerzeugnisse, in der Europäischen Union tätig.

10.      Die Richtlinie 2014/40/EU(6) regelt das Inverkehrbringen von Tabakerzeugnissen. Hierzu bezweckt sie, die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten im Hinblick u. a. auf die Inhaltsstoffe, die Kennzeichnung und die Verpackung von Tabakerzeugnissen anzugleichen.

11.      Art. 7 Abs. 1 und 7 der Richtlinie 2014/40 bestimmt, dass die Mitgliedstaaten das Inverkehrbringen von Tabakerzeugnissen mit einem charakteristischen Aroma und von solchen, die in irgendwelchen ihrer Bestandteile Aromastoffe enthalten, verbieten. Art. 7 Abs. 12 der Richtlinie nahm, bevor er durch den angefochtenen Rechtsakt geändert wurde, Tabakerzeugnisse mit Ausnahme von Zigaretten und Tabak zum Selbstdrehen von den Verboten in den Abs. 1 und 7 aus. Ebenso bestimmte Art. 11 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2014/40, bevor er durch den angefochtenen Rechtsakt geändert wurde, dass die Mitgliedstaaten Rauchtabakerzeugnisse mit Ausnahme von Zigaretten, Tabak zum Selbstdrehen und Tabak für Wasserpfeifen von bestimmten Pflichten im Bereich der Kennzeichnung von Tabakerzeugnissen und von der verpflichtenden Anbringung von bestimmten Warnhinweisen, Informationsbotschaften und kombinierten gesundheitsbezogenen Warnhinweisen auf den Verpackungen ausnehmen konnten. Überdies bestimmen Art. 7 Abs. 12 und Art. 11 Abs. 6 der Richtlinie, dass die Europäische Kommission delegierte Rechtsakte zur Rücknahme der in Art. 7 genannten Ausnahmen oder zur Rücknahme der Möglichkeit erlässt, die Ausnahmen nach Art. 11 für bestimmte Erzeugniskategorien zu gewähren, falls es eine wesentliche Änderung der Umstände gibt, die in einem von ihr verfassten Bericht festgestellt wird.

12.      Die Kommission veröffentlichte am 15. Juni 2022 gemäß der Richtlinie 2014/40 einen Bericht, in dem eine wesentliche Änderung der Umstände für erhitzte Tabakerzeugnisse festgestellt wurde. Im Anschluss an diesen Bericht erließ die Kommission am 29. Juni 2022 den angefochtenen Rechtsakt. Art. 1 des angefochtenen Rechtsakts änderte Art. 7 Abs. 12 und Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 ab. Ab dem 23. Oktober 2023, ab dem die nach dem angefochtenen Rechtsakt vorgesehenen Maßnahmen umgesetzt sein müssen, gelten für erhitzte Tabakerzeugnisse nicht mehr die Ausnahmen nach Art. 7 und Art. 11 der Richtlinie 2014/40.

III. Verfahren vor dem Gericht und angefochtener Beschluss

13.      Mit ihrer nach Art. 263 AEUV beim Gericht erhobenen Klage beantragten die Rechtsmittelführerinnen die Nichtigerklärung des angefochtenen Rechtsakts und führten hierfür zwei Klagegründe an. Die Kommission erhob gegen die Klage die Einrede der Unzulässigkeit.

14.      Mit dem angefochtenen Beschluss erklärte das Gericht die Klage für unzulässig und erlegte den Rechtsmittelführerinnen die Kosten auf. Wie oben ausgeführt, stellte das Gericht fest, dass die Rechtsmittelführerinnen von dem angefochtenen Rechtsakt unmittelbar, nicht aber individuell betroffen seien.

IV.    Verfahren und Anträge vor dem Gerichtshof

15.      Mit ihrem beim Gerichtshof eingelegten Rechtsmittel beantragen die Rechtsmittelführerinnen, i) den angefochtenen Beschluss aufzuheben, ii) sofern der Verfahrensstand es erlaubt, die Einrede der Unzulässigkeit zurückzuweisen, die Klage für zulässig zu erklären und die Sache zur Entscheidung über die Begründetheit an das Gericht zurückzuverweisen, und iii) der Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

16.      Die Kommission beantragt, das Rechtsmittel zurückzuweisen und den Rechtsmittelführerinnen die Kosten aufzuerlegen.

17.      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 25. April 2024 ist die Französische Republik als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen worden.

V.      Würdigung

18.      Zunächst mag der Hinweis sinnvoll sein, dass nicht privilegierte Kläger nach Art. 263 AEUV Handlungen der Union, die Rechtswirkungen entfalten, anfechten können, wenn die Handlung i) an sie gerichtet ist, ii) sie unmittelbar und individuell betrifft oder iii) einen Rechtsakt mit Verordnungscharakter darstellt, der keine Durchführungsmaßnahmen nach sich zieht und sie unmittelbar betrifft. Die vorliegende Rechtssache betrifft die zweite der vorstehend genannten Varianten und nur die Auslegung des Erfordernisses der „individuellen Betroffenheit“.

19.      Die Rechtsmittelführerinnen stützen ihr Rechtsmittel auf einen einzigen, in zwei Teile gegliederten Rechtsmittelgrund und rügen insoweit Rechtsfehler des Gerichts bei der Beurteilung ihrer individuellen Betroffenheit durch den angefochtenen Rechtsakt.

20.      Bevor das Vorbringen der Rechtsmittelführerinnen geprüft wird (unten, Abschnitte B und C), erscheint meines Erachtens eine allgemeine Erörterung der Plaumann-Rechtsprechung zweckmäßig (Abschnitt A).

A.      Vorbemerkungen zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Plaumann-Rechtsprechung

21.      Im vorliegenden Abschnitt der Schlussanträge werde ich erstens versuchen, die Plaumann-Rechtsprechung zu systematisieren. Zweitens werde ich die Kritik an dieser Rechtsprechung erörtern. Drittens werde ich erläutern, warum meines Erachtens der Grundgedanke der Plaumann-Formel im Wesentlichen richtig ist und sie daher nicht aufgegeben werden sollte. Abschließend werde ich erläutern, dass die konkrete Anwendung dieser Kriterien bisweilen übermäßig streng und uneinheitlich erfolgt. Daher werde ich dem Gerichtshof vorschlagen, ein Grundsatzurteil zu erlassen, mit dem er die Anwendung der Plaumann-Rechtsprechung überprüft, klarstellt und möglicherweise verfeinert.

1.      Die Plaumann-Rechtsprechung nach derzeitiger Rechtslage

22.      Wie in der Einleitung erläutert, hat der Gerichtshof seit dem Urteil Plaumann in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass andere Personen als die Adressaten eines Rechtsakts „individuell betroffen“ sind, wenn sie von dieser Handlung wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder aufgrund von Umständen betroffen sind, die sie aus dem Kreis aller übrigen Personen herausheben und sie dadurch in ähnlicher Weise individualisieren wie einen Adressaten(7).

23.      Dies bedeutet ganz eindeutig, dass der Kläger nicht die einzige, von der angefochtenen Maßnahme betroffene Person sein muss, um als von ihr individuell betroffen angesehen zu werden. Der Kläger muss jedoch das Vorliegen einer Situation nachweisen, die ihn aus der Sicht der angefochtenen Bestimmung aus dem Kreis aller übrigen, von der Maßnahme betroffenen Personen heraushebt(8).

24.      Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass Kläger von Maßnahmen nicht individuell betroffen sind, die für objektiv bestimmte Situationen gelten und Rechtswirkungen gegenüber allgemein und abstrakt umschriebenen Personengruppen erzeugen(9). Der Umstand, dass eine angefochtene Maßnahme normativen Charakter oder allgemeine Geltung hat, schließt jedoch für sich genommen nicht aus, dass sie einige der betroffenen Personen individuell betreffen kann(10).

25.      Dies ist beispielsweise der Fall, wenn die Kläger im Rechtsakt selbst ausdrücklich als betroffen bezeichnet werden, so dass es sich bei diesem Rechtsakt zugleich sowohl um einen Rechtsakt mit allgemeiner Geltung handelt, da er eine Gruppe von allgemein und abstrakt bestimmten Adressaten betrifft, als auch um ein Bündel von Einzelfallentscheidungen gegenüber den darin genannten Personen(11).

26.      Außerdem können von einer Maßnahme, die eine Gruppe von Personen auf der Grundlage allgemeiner und abstrakter Kriterien betrifft, auch dann, wenn nicht ausdrücklich auf bestimmte Personen Bezug genommen wird, einige der betroffenen Personen gleichwohl individuell betroffen sein. Wie der Gerichtshof entschieden hat, können, wenn eine Maßnahme eine Gruppe von Personen berührt, die zum Zeitpunkt des Erlasses der Maßnahme anhand von den Mitgliedern der Gruppe eigenen Merkmalen feststanden oder feststellbar waren, diese Personen von der Maßnahme insoweit individuell betroffen sein, als sie zu einem beschränkten Kreis betroffener Personen gehören(12). Dies bedeutet im Wesentlichen, dass innerhalb des allgemeinen Kreises der Personen, die in den persönlichen Anwendungsbereich der Maßnahme fallen, eine Untergruppe einer oder mehrerer Personen mit besonderen Eigenschaften, die sie aus dem Kreis der übrigen Personen herausheben, festgestellt werden kann(13). Dieses Kriterium werde ich als Kriterium des „geschlossenen Kreises“ bezeichnen(14).

27.      Klarzustellen ist, dass allein der Umstand, dass die Rechtssubjekte, für die eine Maßnahme gilt, nach Zahl oder sogar Identität mehr oder weniger genau bestimmbar sind, keineswegs bedeutet, dass sie als von der Maßnahme individuell betroffen anzusehen sind, sofern diese Maßnahme aufgrund eines durch sie bestimmten objektiven Tatbestands rechtlicher oder tatsächlicher Art anwendbar ist(15). Um einen potenziellen Kläger als individuell betroffen ansehen zu können, muss daher noch etwas hinzukommen.

28.      Der Gerichtshof hat meines Erachtens auf der Grundlage des Kriteriums des geschlossenen Kreises die individuelle Betroffenheit offenbar in vier Fallgruppen anerkannt, nämlich wenn der Kläger von einem Unionsrechtsakt betroffen ist, weil dieser Rechtsakt i) die Lage des Klägers nicht berücksichtigt haben könnte, ii) gegen ein materielles Recht des Klägers verstoßen haben könnte, iii) gegen ein Verfahrensrecht des Klägers verstoßen haben könnte und iv) erhebliche nachteilige Auswirkungen auf ein berechtigtes Interesse des Klägers gehabt haben könnte.

29.      Bevor ich hierauf näher eingehe, möchte ich zwei Punkte klarstellen. Erstens verwende ich das Verb „könnte“, weil die Frage, ob der angefochtene Rechtsakt tatsächlich gegen ein Recht des Klägers verstoßen oder ein berechtigtes Interesse des Klägers ungerechtfertigt beeinträchtigt hat – selbstverständlich – eine Frage der Begründetheit und nicht der Zulässigkeit der Klage ist. Ein Kläger braucht lediglich darzulegen, dass im Licht der vorgelegten rechtlichen und tatsächlichen Umstände die Möglichkeit besteht, dass gegen seine Rechte verstoßen werden könnte oder seine berechtigten Interessen ungerechtfertigt beeinträchtigt werden könnten(16).

30.      Zweitens beziehe ich mich mit dem Begriff „berechtigte Interessen“ im Wesentlichen auf Fallgestaltungen, die durch das Unionsrecht geschützt sind und nicht als solche angesehen werden können, die im engeren Sinne subjektive Rechte betreffen(17). Dieser Begriff entspricht Fallgestaltungen, in denen dem Kläger durch das Unionsrecht eine Freiheit garantiert oder eine Befugnis oder Befreiung gewährt wird(18). Um nur ein Beispiel zu nennen, können Wirtschaftsteilnehmer unter bestimmten Umständen vor den Unionsgerichten zur Wahrung ihrer Interessen Klage erheben, wenn diese durch Unionsmaßnahmen beeinträchtigt werden, die den Wettbewerb im Binnenmarkt verzerren könnten(19).

31.      Um auf die oben in Nr. 28 genannten Fallgestaltungen zurückzukommen, ist meines Erachtens festzustellen, dass eine erste Rechtsprechungslinie Fälle betrifft, in denen der Gerichtshof die individuelle Betroffenheit von Klägern zur Anfechtung eines Rechtsakts bejaht hat, für dessen Erlass das betreffende Organ nach den anwendbaren Rechtsvorschriften die Lage einer bestimmten Gruppe von Personen berücksichtigen musste, der der Kläger angehörte(20). Diese Entscheidungen stellen eine logische Fortsetzung der oben in Nr. 25 angeführten Rechtsprechung dar. Ihr Sinn und Zweck ist eindeutig: Bestimmte betroffene Personen sind zwar möglicherweise in dem Rechtsakt nicht benannt worden, ihre besondere Lage ist jedoch vom Gesetzgeber selbst ausdrücklich herausgehoben worden.

32.      Eine zweite Rechtsprechungslinie umfasst die Fälle, in denen die Anfechtung eines Unionsrechtsakts durch Kläger zugelassen wurde, der, anders als für die Mehrheit der betroffenen Personen, eine Rückwirkung auf erworbene Rechte oder laufende Rechtsverhältnisse der Kläger hatte(21). Diese Rechtsprechungslinie kann meines Erachtens als Folge einer Reihe allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts betrachtet werden, nämlich derjenigen der Rechtssicherheit, der Vorhersehbarkeit, des Rückwirkungsverbots und des Vertrauensschutzes. Es versteht sich von selbst, dass niemand in der Europäischen Union darauf vertrauen kann, dass die Rechtsvorschriften der Union unveränderlich bleiben. Zugleich jedoch sollten Einzelpersonen, die ihr Verhalten an bestehenden Gesetzen ausgerichtet haben, ein gewisses Vertrauen in die Stabilität bereits herausgebildeter Rechtspositionen und entstandener Rechtsverhältnisse haben dürfen, sofern nicht außergewöhnliche Umstände etwas anderes rechtfertigen(22).

33.      Eine dritte Rechtsprechungslinie betrifft Verfahrensrechte der Kläger, gegen die in bestimmten unionsrechtlichen Verfahren, z. B. denjenigen nach den Unionsvorschriften über die Kontrolle staatlicher Beihilfen, verstoßen worden sein könnte. Dies ist z. B. der Fall, wenn die Kommission eine Beihilfemaßnahme im Rahmen ihrer Vorprüfung zu Unrecht genehmigt und damit den Beteiligten die Möglichkeit einer Anhörung in der eingehenden Phase der Prüfung nimmt. In diesen Fällen sind die Beteiligten stets als von der Entscheidung der Kommission individuell betroffen angesehen worden(23). Werden bestimmten Parteien durch die Rechtsvorschriften der Union konkrete Verfahrensrechte gewährt, wird über einen etwaigen Rechtsstreit über einen Verstoß gegen diese Rechte logischerweise unmittelbar von den Unionsgerichten entschieden, wenn das Verfahren vollständig durch das Unionsrecht geregelt ist und auf Unionsebene geführt wird.

34.      Zu dieser Fallgruppe gehören auch diejenigen Fälle, in denen der Gerichtshof die individuelle Betroffenheit eines Klägers für die Anfechtung eines Unionsrechtsakts anerkannt hat, der zwar nicht an ihn gerichtet war, aber am Ende eines Verfahrens erlassen wurde, das durch seine Interaktion mit dem betreffenden Unionsorgan veranlasst wurde und weitgehend auf dieser beruhte(24). In diesen Fällen besteht die Möglichkeit, dass dem Kläger konkrete Verfahrensrechte nach den einschlägigen Rechtsvorschriften der Union nicht zuteilwurden. Angesichts der maßgeblichen Rolle des Klägers im Verfahren kann das betreffende Organ jedoch gegen eines der Rechte verstoßen haben, die sich für ihn aus dem (jetzt in Art. 41 der Charta verankerten) Recht auf eine gute Verwaltung ergaben.

35.      Schließlich erfasst eine vierte Rechtsprechungslinie die Fälle, in denen der Gerichtshof die individuelle Betroffenheit von Klägern bejaht hat, deren Marktposition durch den angefochtenen Rechtsakt spürbar beeinträchtigt wurde. Diese Fälle betrafen in der Regel die Gebiete Wettbewerbsrecht, staatliche Beihilfen, Fusionskontrolle und Antidumping, aber auch Landwirtschaft(25). In diesen Bereichen kann das zuständige Organ von seinen quasi-legislativen, ausführenden oder vollziehenden Befugnissen Gebrauch machen, um in der Regel am Ende eines anlassbezogenen Verwaltungsverfahrens eine ganz konkrete Fallgestaltung, die eine oder mehrere feststehende oder feststellbare Personen betrifft, (nach tatsächlicher und rechtlicher Würdigung) zu regeln(26). Außerdem erfasst diese Fallgruppe diejenigen Fälle, in denen ein Organ – wiederum als Reaktion auf eine ganz konkrete Fallgestaltung und nach einem bestimmten Verfahren – einen Rechtsakt erlassen hat, der zumindest in formeller Hinsicht normativen Charakter oder normative Geltung, jedoch zugleich einen bestimmten Entscheidungsgehalt hat(27).

36.      In diesen Fällen sind die Personen, die von dem Entscheidungsgehalt unmittelbar betroffen sind, offensichtlich in einer deutlich unterschiedlichen Lage. Darüber hinaus folgt aus der Möglichkeit, dass das Organ möglicherweise die Tätigkeiten einer oder mehrerer (feststehender oder feststellbarer) Personen bevorzugen könnte, fast zwangsläufig, dass die Tätigkeiten einer oder mehrerer (feststehender oder feststellbarer) Personen entsprechend benachteiligt werden oder umgekehrt(28). Es liegt jedenfalls nahe, dass eine Anfechtung der betreffenden Unionsmaßnahme unmittelbar vor den Unionsgerichten durch die Personen, auf die sie nachteilige Auswirkungen hat, unter bestimmten Umständen zugelassen wird. Dagegen hat der Gerichtshof, wie im nächsten Teil des vorliegenden Abschnitts erörtert werden wird, ein Kriterium der „schwerwiegenden Beeinträchtigung“ für Unionsrechtsakte, die sowohl der Form als auch dem Inhalt nach generellen Charakter haben und somit das Ergebnis echter politischer Entscheidungstätigkeiten sind, nicht anerkannt.

37.      Nachdem die Grundzüge der Plaumann-Rechtsprechung kurz zusammengefasst worden sind, werde ich mich jetzt den an ihr am häufigsten vorgebrachten Kritikpunkten zuwenden.

2.      Kritik an der Plaumann-Formel

38.      Es kann ohne Übertreibung festgestellt werden, dass das Urteil Plaumann eine der am weitreichendsten diskutierten Entscheidungen des Gerichtshofs innerhalb seiner etwa 70 Jahre währenden Geschichte ist. Ebenso unbestreitbar ist, dass es auch eine der am härtesten kritisierten Entscheidungen ist, und zwar insbesondere seitens Kommentatoren aus der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft(29).

39.      Die Kritik konzentriert sich häufig auf die restriktive Wirkung der nach diesem Urteil entwickelten Rechtsprechung. „Eine fast unüberwindliche Barriere [die zu überwinden ist]“, oder „[ein Netz,] durch das niemand hindurchgelangt“, auf der Grundlage „eines wirtschaftlich unrealistischen [Kriteriums]“, das den Parteien „wenig [Orientierung]“ bietet und „zu absurden Ergebnissen führt“ – eine umfassenden Lektüre der Kommentarliteratur zur Plaumann-Rechtsprechung eröffnet eine Litanei von Hyperbeln(30).

40.      Richtig ist jedoch auch, dass eine umfassende Untersuchung der Rechtsprechung ein recht düsteres Bild dahin zeichnet, dass es kaum Gesichtspunkte gibt, die die Feststellung einer individuellen Betroffenheit ermöglichen könnten. Die Unionsgerichte haben nämlich festgestellt, dass folgende Umstände für sich genommen die Feststellung einer „individuellen Betroffenheit“ nicht rechtfertigen: i) Der Kläger ist die einzige oder eine der wenigen Personen, die von dem angefochtenen Rechtsakt betroffen ist bzw. sind(31); ii) der Kläger ist von dem angefochtenen Rechtsakt in besonders schwerwiegender Weise betroffen(32); iii) der Kläger konnte sich an dem Verfahren, das zum Erlass des angefochtenen Rechtsakts geführt hat, beteiligen oder hat sich tatsächlich daran beteiligt(33); iv) der angefochtene Rechtsakt „[wirkt] sich auf die Personen, für die [er] gilt, im konkreten Fall unterschiedlich aus“(34); v) der angefochtene Rechtsakt enthält Beschränkungen und Ausnahmen von den allgemein geltenden Vorschriften oder Übergangsbestimmungen, die einen geschlossenen Kreis von Wirtschaftsteilnehmern betreffen(35); und vi) das handelnde Organ war nach besonderen Bestimmungen des Unionsrechts verpflichtet, „die Auswirkungen der von [ihm] beabsichtigten Handlung auf die Lage [bestimmter Einzelpersonen] zu berücksichtigen“(36).

41.      Im Schrifttum wird insbesondere beklagt, dass es keine Möglichkeit für Einzelpersonen und Verbände gebe, als Vertreter der Öffentlichkeit gegen Maßnahmen vorzugehen, die einer Gruppe von Personen schaden. Verwiesen wird insoweit häufig auf ein durch die Kriterien hervorgerufenes Paradoxon: Je diffuser und schädlicher eine Maßnahme sei (was vielfach bei Umweltmaßnahmen der Fall sei), umso unwahrscheinlicher sei es, dass eine individuelle Betroffenheit einer oder mehrerer (natürlicher oder juristischer) Personen nach der Plaumann-Rechtsprechung bejaht werde(37). Als diesen Punkt veranschaulichendes Beispiel wird auf das kürzlich ergangene Urteil Carvalho (zu Unionsmaßnahmen auf dem Gebiet des Klimawandels) verwiesen(38).

42.      Ein weiterer Kritikpunkt an der Plaumann-Rechtsprechung ist, dass sie unklar sei, was wiederum zu widersprüchlichen Entscheidungen führe. Nach Ansicht einiger Autoren soll sich die tatsächliche Anwendung der Plaumann-Formel in einigen Fällen eher auf die formalen Elemente der angefochtenen Handlung und in anderen auf die sich aus dem Rechtsakt ergebenden materiellen Verpflichtungen konzentrieren. In vielen Urteilen, einschließlich der „Leitentscheidungen“, sei die Begründung zu diesem Punkt kein Beispiel für Klarheit. Diese hermeneutische Heterogenität und Mehrdeutigkeit hätten zu einer Reihe eher fragmentierter und kasuistischer Entscheidungen geführt, zwischen denen ein roter Faden schwer zu erkennen sei. Daher seien für die Beurteilung der Zulässigkeit von Klagen privater Kläger nach Art. 263 AEUV häufig langwierige Erörterungen in den Entscheidungen der Unionsgerichte erforderlich(39).

43.      Der vorgenannten Kritik hat sich Generalanwalt Jacobs weitgehend angeschlossen, der in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache UPA ausführlich seine Ansicht dargelegt hat, dass der Gerichtshof die Plaumann-Rechtsprechung überprüfen sollte, und hierzu die Einführung eines neuen Kriteriums für die individuelle Betroffenheit vorgeschlagen hat: „[E]in Einzelner [sollte] als individuell von einer [Unions]handlung betroffen zu betrachten [sein], wenn die Handlung aufgrund seiner persönlichen Umstände erhebliche nachteilige Auswirkungen auf seine Interessen hat oder wahrscheinlich haben wird(40).“

44.      Kurz nach Vorlage jener Schlussanträge erging das Urteil des (jetzigen) Gerichts der Europäischen Union in der Rechtssache Jégo-Quéré, das in Bezug auf die Notwendigkeit einer Überprüfung der Rechtsprechung zu ähnlichen Schlussfolgerungen kam und hierzu feststellte, dass „um einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz der Einzelnen zu gewährleisten, eine natürliche oder juristische Person als von einer allgemein geltenden [Unions]bestimmung, die sie unmittelbar betrifft, individuell betroffen anzusehen [ist], wenn diese Bestimmung ihre Rechtsposition unzweifelhaft und gegenwärtig beeinträchtigt, indem sie ihre Rechte einschränkt oder ihr Pflichten auferlegt“(41).

45.      Der Gerichtshof ist jedoch weder der Würdigung und den Vorschlägen des Generalanwalts noch denjenigen des Gerichts gefolgt. In seinem Urteil UPA hat der Gerichtshof i) die Plaumann-Formel bestätigt; ii) betont, dass das in den Verträgen vorgesehene „vollständige System von Rechtsbehelfen“ insbesondere auf den komplementären Funktionen von Nichtigkeitsklagen und Vorabentscheidungsverfahren beruht; iii) klargestellt, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, mit dem die Einhaltung des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gewährleistet werden kann; iv) anerkannt, dass die Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer von Einzelpersonen erhobenen Klage zwar im Licht des Grundsatzes eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes auszulegen sind, jedoch zugleich darauf hingewiesen, dass dies nicht de facto zu einem Wegfall dieser Voraussetzungen, die ausdrücklich in den Verträgen vorgesehen sind, führen kann; und v) erklärt, dass auch wenn ein anderes System der Rechtmäßigkeitskontrolle der Unionshandlungen allgemeiner Geltung als das durch den ursprünglichen Vertrag geschaffene, vorstellbar ist, es doch Sache der Mitgliedstaaten, als Urheber der Verträge, wäre, das geltende System zu reformieren(42).

46.      Im nächsten Teil des vorliegenden Abschnitts werde ich erläutern, warum – auch wenn die soeben erörterte Kritik in Teilen berechtigt ist – die Plaumann-Formel meines Erachtens aktuell weiterhin vertretbar ist und somit vom Gerichtshof nicht aufgegeben werden muss.

3.      Verteidigung der Plaumann-Formel

a)      Welche Alternativen?

47.      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Kritik an der Plaumann-Formel häufig „ergebnisgeleitet“ ist, also vereinfachend formuliert darauf hinausläuft, dass die Kriterien zu streng seien und somit nicht richtig (oder alternativ nicht geeignet) sein könnten. Selten wird dagegen in der Kommentarliteratur versucht zu erläutern, an welcher Stelle der Gerichtshof Art. 263 Abs. 4 AEUV fehlerhaft auslege und wie die Voraussetzung der „individuellen Betroffenheit“ stattdessen auszulegen sei. Werden tatsächlich alternative Kriterien vorgeschlagen, handelt es sich entweder um solche, die sich an auf nationaler Ebene geltenden Bestimmungen orientieren, oder um solche, die (in stärkerem oder geringerem Maß) den in den Nrn. 43 und 44 erwähnten, von Generalanwalt Jacobs und vom Gericht vorgeschlagenen Kriterien ähneln(43).

48.      Was die Regelungen über die Klagebefugnis auf der Ebene der Mitgliedstaaten angeht, ist zu sagen, dass, soweit es sich um die am häufigsten angeführten Regelungen handelt(44), die sie regelnden Bestimmungen sich in ihrer Formulierung von Art. 263 Abs. 4 EUV eher unterscheiden und im Rahmen von Rechtsordnungen Anwendung finden, die anders als die Unionsrechtsordnung in sich abgeschlossenen sind(45).

49.      Was die von Generalanwalt Jacobs und vom Gericht vorgeschlagenen sowie die sich an ihnen orientierenden Kriterien angeht, weisen diese durchaus erhebliche Vorzüge auf. Insbesondere würden sie dem Gerichtshof ermöglichen, bei der Prüfung, ob die Lage des Klägers hinreichend unterscheidbar ist, in jedem Einzelfall i) eine Vielzahl möglicherweise relevanter rechtlicher und tatsächlicher Umstände und ii) die Schwere der Auswirkungen eines angefochtenen Rechtsakts zu berücksichtigen. Darüber hinaus kann, auf theoretischer Ebene, dem Gedanken schwerlich widersprochen werden, dass die Einzelpersonen, die durch einen Unionsrechtsakt mit erheblichen nachteiligen Auswirkungen belastet werden oder denen hierdurch unzweifelhaft und unmittelbar Schaden entsteht, normalerweise in der Lage sein sollten, diesen Rechtsakt anzufechten.

50.      Der Gerichtshof hat sich jedoch entschieden, diesen Kriterien nicht zu folgen. Auch ich sehe in ihnen zwei wesentliche Nachteile.

51.      Erstens haben diese Kriterien bestimmte strukturelle Grenzen, die schwer überwindbar sind. Die vorgeschlagenen Formeln sind in gewissem Maß kaum vorhersehbar, da sie sich alle auf eine Einzelfallprüfung stützen. Sie beruhen ferner auf Adjektiven (erheblich, unzweifelhaft, unmittelbar), die an sich nicht sehr präzise sind und somit durchaus unterschiedlich ausgelegt und angewandt werden könnten. Die Voraussetzung der individuellen Betroffenheit wird praktisch zu einer Frage des „Maßes“ der Auswirkungen. In diesem Fall kann die Frage der Abgrenzung zwischen einer Auswirkung, die als hinreichend erheblich angesehen werden kann, und einer solchen, bei der dies nicht der Fall ist, in vielen Fällen auf eine subjektive Entscheidung hinauslaufen.

52.      Zweitens ist nicht ohne Weiteres ersichtlich, dass diese Kriterien in Art. 263 Abs. 4 AEUV hineingelesen werden können. Dies führt mich zu meinem nächsten Punkt.

b)      Grammatikalische und entstehungsgeschichtliche Auslegung von Art. 263 AEUV

53.      Die Plaumann-Formel dürfte meines Erachtens eine authentischere und angemessenere Auslegung des Begriffs „individuell“ sein, der in fast allen Sprachfassungen des Vertrages verwendet wird. Im allgemeinen Sprachgebrauch sind die gängigsten Synonyme für den Begriff „individuell“ einzeln, besonders, bestimmt, unterscheidbar und gesondert.

54.      Ich stimme voll und ganz damit überein, dass sich in Bezug auf einen bestimmten Unionsrechtsakt mehr als eine Person in einer Lage befinden kann, die so besonders ist, dass sie als einzigartig oder nahezu einzigartig angesehen werden könnte. Zugleich geht jedoch meines Erachtens die – auch vom Gericht im Urteil Jégo-Quéré/Kommission vertretene – Ansicht zu weit, dass „die Zahl und die Lage anderer Personen, deren Rechtsposition durch die [angefochtene] Bestimmung ebenfalls beeinträchtigt wird oder werden kann, … keine relevanten Gesichtspunkte“ dafür seien, ob ein Kläger von der Maßnahme individuell betroffen sei(46). Sehr vereinfachend und schematisch ausgedrückt, kann eine Person und können wahrscheinlich auch zehn Personen sämtlich als besonders anzusehen sein, es müssten meines Erachtens aber sehr gewichtige Gründe dafür angeführt werden, um annehmen zu können, dass jede einzelne Person einer Gruppe von 1 000 oder 1 000 000 Personen im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV als besonders angesehen werden könnte. Je größer die Zahl der Personen ist, die sich auf besondere Auswirkungen berufen, umso weniger wahrscheinlich ist es meines Erachtens, dass sie alle als „individuell betroffen“ angesehen werden können; die betreffende Maßnahme findet dann offenbar in genereller Weise auf der Grundlage abstrakter Kriterien Anwendung(47).

55.      Auch eine entstehungsgeschichtliche Auslegung des Begriffs „individuell“ spricht dafür, ihn relativ restriktiv auszulegen. Es darf nämlich nicht vergessen werden, dass private Kläger nach Art. 33 Abs. 2 des (nunmehr außer Kraft gesetzten) EGKS-Vertrags berechtigt waren, Klage gegen „die sie individuell betreffenden Entscheidungen und Empfehlungen oder gegen die allgemeinen Entscheidungen und Empfehlungen …, die nach ihrer Ansicht einen Ermessensmissbrauch ihnen gegenüber darstellen“, zu erheben(48). Die Verfasser des Vertrags von Paris wollten privaten Klägern ermöglichen, Entscheidungen anzufechten, wenn es sich im Wesentlichen um sie individuell betreffende Entscheidungen handelte, die aber als Handlungen mit allgemeinerer Geltung verschleiert wurden(49). Der Gerichtshof hat die Klagebefugnis privater Kläger jedoch in seinen ersten Urteilen weit ausgelegt(50). Als Folge hieraus wählten die Verfasser bei den Verhandlungen über den Vertrag von Rom in der Frage der Klagebefugnis offenbar bewusst einen engeren Wortlaut(51). Entstehungsgeschichtliche Dokumente deuten darauf hin, dass der Gedanke (wiederum) darin bestand, nicht privilegierten Klägern eine Anfechtung nur solcher Entscheidungen zu ermöglichen, die sie individuell betrafen, und zwar auch dann, wenn diese als Verordnungen oder als an Dritte gerichtete Entscheidungen „getarnt“ waren(52).

56.      Interessanterweise wurde die Frage einer möglichen Lockerung der Voraussetzung der „individuellen Betroffenheit“ im Wege einer Vertragsänderung vor und im Laufe verschiedener Regierungskonferenzen aufgeworfen. Die Verfasser der Verträge – die sich offenkundig der „Felsenfestigkeit“ der Plaumann-Rechtsprechung voll bewusst waren – entschieden sich schließlich jedoch gegen eine entsprechende Änderung. Beispielsweise bestand innerhalb des Arbeitskreises über die Arbeitsweise des Gerichtshofs, die während des Konvents zur Zukunft Europas von 2002 bis 2003 eingerichtet wurde, Uneinigkeit darüber, ob die Voraussetzung der individuellen Betroffenheit aufgegeben (oder geändert) werden sollte, während sich eine Mehrheit seiner Mitglieder in Bezug auf sonstige Änderungen der Bestimmung einigen konnte(53). Tatsächlich fanden nur diese letzteren Änderungen Eingang zunächst in den Vertrag über eine Verfassung für Europa und dann in den Vertrag von Lissabon(54).

57.      Darauf hat der Gerichtshof im Urteil in der Rechtssache Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat hingewiesen, in der die Kläger ihn ausdrücklich aufgefordert hatten, die Plaumann-Formel zu überprüfen und durch das Kriterium der „erheblichen nachteiligen Auswirkungen“ zu ersetzen. Er stellte insbesondere fest, dass „[es] keine Anhaltspunkte dafür [gibt], dass die Verfasser des Vertrags von Lissabon die Absicht gehabt hätten, die Tragweite der bereits in Art. [263] Abs. 4 [AEUV] vorgesehenen Zulässigkeitsvoraussetzungen zu ändern“(55).

58.      Hinzuzufügen ist meines Erachtens, dass es auch im Wortlaut oder in der Entstehungsgeschichte keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Verfasser der Verträge (bei der Annahme des Vertrages von Rom oder späteren Änderungen) beabsichtigt hätten, auf der Grundlage des (jetzigen) Art. 263 AEUV privaten Klägern die Erhebung einer Form der Popularklage(56) oder Verfassungsbeschwerde(57) zu ermöglichen oder ihnen ein besonderes Recht auf Erhebung einer Klage wegen geltend gemachter Verstöße gegen ihre Grundrechte zu gewähren(58).

59.      Neben diesen Elementen des Wortlauts und der Entstehungsgeschichte spricht auch ein systematisches Element für eine zurückhaltende Auslegung der Voraussetzung der individuellen Betroffenheit.

c)      Systematische Auslegung von Art. 263 AEUV

60.      Das Gerichtssystem der Union hat eine besondere Zwei-Säulen-Struktur, die aus der Tatsache folgt, dass die Europäische Union weder eine typische internationale Organisation noch ein Nationalstaat ist(59). Diese Besonderheit ergibt sich erstens aus Art. 19 Abs. 1 EUV, der dem Gerichtshof der Europäischen Union die Aufgabe überträgt, „die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge [zu sichern]“, und bestimmt, dass „[d]ie Mitgliedstaaten … die erforderlichen Rechtsbehelfe [schaffen], damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist“. Aus dieser Bestimmung folgt, dass die nationalen Gerichte für Rechtssuchende, die den Schutz ihrer sich aus dem Unionsrecht ergebenden Rechte begehren, die ordentlichen Unionsgerichte sein sollen(60).

61.      Außerdem handelt nach Art. 13 Abs. 2 EUV jedes Unionsorgan „nach Maßgabe der ihm in den Verträgen zugewiesenen Befugnisse nach den Verfahren, Bedingungen und Zielen, die in den Verträgen festgelegt sind“. Diese Bestimmung ist im Licht des Grundsatzes des institutionellen Gleichgewichts zu verstehen, der für den organisatorischen Aufbau der Union in wesentlicher Weise kennzeichnend ist und gebietet, dass jedes Organ seine Befugnisse unter Beachtung der Befugnisse der anderen Organe ausübt(61). Was den Gerichtshof der Europäischen Union angeht, darf nicht übersehen werden, dass diesem eine eindeutig definierte Zuständigkeit, nämlich nach Art. 274 AEUV, dahin zugewiesen ist, dass „[s]oweit keine Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Union … besteht, … Streitsachen, bei denen die Union Partei ist, der Zuständigkeit der einzelstaatlichen Gerichte nicht entzogen [sind]“.

62.      Die vorgenannten Bestimmungen zeigen, dass es (ganz eindeutig) Grenzen dafür gibt, wie der Gerichtshof die Bestimmungen der Verträge in Bezug auf die Grenzen seiner Zuständigkeit nach Art. 263 AEUV auslegen kann. Sie verdeutlichen auch, dass es eine untrennbare Verbindung und wechselseitige Abhängigkeit zwischen den Gerichten der Union und den Gerichten der Mitgliedstaaten gibt(62).

63.      Wie vom Gerichtshof in seinem Gutachten 1/09 festgestellt, „wachen der Gerichtshof und die Gerichte der Mitgliedstaaten über die Wahrung [der] [Unionsr]echtsordnung und des Gerichtssystems der Union“ und erfüllen die nationalen Gerichte in Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof „eine Aufgabe, die beiden gemeinsam übertragen ist, um die Wahrung des Rechts bei der Anwendung und Auslegung der Verträge zu sichern“(63).

64.      Die Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Unionsrechtsakten beruht auf zwei einander ergänzenden Komplexen von gerichtlichen Verfahren: Direktklagen (u. a. insbesondere die Nichtigkeitsklage) und das Vorabentscheidungsverfahren über die Gültigkeit. Wie vom Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung betont, haben die Verträge mit den Art. 263 und 277 AEUV(64) einerseits und mit Art. 267 AEUV andererseits „ein vollständiges System von Rechtsbehelfen und Verfahren geschaffen, … das die Rechtmäßigkeitskontrolle der Unionshandlungen gewährleisten soll“(65). Diese besondere Struktur hat der EGMR in der bekannten Rechtssache Bosphorus im Wesentlichen als den Anforderungen der EMRK genügend angesehen(66).

65.      Aus allen diesen Gründen bin ich nicht davon überzeugt, dass die Plaumann-Formel eine falsche Auslegung der Voraussetzung der individuellen Betroffenheit nach Art. 263 Abs. 4 AEUV darstellt. Die alternativen, von innerhalb oder außerhalb der Gerichte vorgeschlagenen Auslegungen dieser Voraussetzung i) bieten kein hinreichendes Maß an Rechtssicherheit und ii) stehen nicht in vollem Einklang mit dem Ursprung, dem Geist und dem Wortlaut der Vertragsbestimmung. Schließlich ist es meines Erachtens auch nicht unangemessen, dass Fragen der Gültigkeit von Unionsrechtsakten in vielen Fällen zunächst bei den nationalen Gerichten geltend zu machen sind, die als Filter für die Entscheidung fungieren, ob sie – sofern sie nicht prima facie ungerechtfertigt sind – nach Art. 267 AEUV dem Gerichtshof vorzulegen sind.

66.      Bedeutet dies indes – in Anlehnung an Voltaires Candide(67) –, dass in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur „individuellen Betroffenheit“ alles zum Besten steht und die Europäische Union die beste aller möglichen Rechtsordnungen hat?

67.      Ich denke nein.

4.      Überprüfung der Plaumann-Rechtsprechung

68.      Wenngleich die Plaumann-Formel tragfähig ist, ist die Rechtsprechung meines Erachtens alles andere als eindeutig und sind einige Auslegungen dieser Formel zudem übermäßig restriktiv und mit einem angemessenen Verständnis von Art. 263 Abs. 4 AEUV, zumal in der Europäischen Union von 2025, nicht vereinbar. Daher werde ich dem Gerichtshof jetzt drei Vorschläge unterbreiten und dann mit einigen abschließenden Anmerkungen dazu Stellung nehmen, warum eine Überprüfung der Plaumann-Rechtsprechung praktikabel und wünschenswert wäre und zum richtigen Zeitpunkt käme.

a)      Systematisierung der Rechtsprechung

69.      Mein erster, dem Gerichtshof unterbreiteter Vorschlag ist, die Rechtsprechung zu systematisieren, um sowohl für potenzielle Kläger als auch für das Gericht mehr Klarheit darüber zu schaffen, unter welchen verschiedenen Umständen Personen als von einem Unionsrechtsakt „individuell betroffen“ angesehen werden können. Dass der Gerichtshof ein Grundsatzurteil erlässt, mit dem er mehrere Rechtsprechungslinien aktualisiert und zusammenfasst, um einen kohärenten und abschließenden Rahmen für eine bestimmte verfahrensrechtliche Frage bereitzustellen, ist nicht ungewöhnlich(68).

70.      Für jemanden, der kein Unionsrechtsspezialist ist, mag überraschend sein, dass für die Beurteilung der Zulässigkeit der Klage in vielen Entscheidungen der Unionsgerichte eine langwierige und komplexe Erörterung erforderlich ist. Die Zulässigkeit sollte idealerweise etwas sein, das relativ einfach zu prüfen ist. Es hat etwas Eigenartiges an sich, wenn in einem System in vielen Fällen für die Zulässigkeit der Klage eine längere Prüfung und für ihre Begründetheit eine viel kürzere Prüfung erforderlich ist(69).

71.      Wahrscheinlich ist es die Komplexität dieser Frage, die zu der Boehringer-Rechtsprechung geführt hat, mit der der Gerichtshof anerkannt hat, dass eine Klage nach Art. 263 AEUV, wenn dies nach den Grundsätzen einer geordneten Rechtspflege gerechtfertigt ist, als unbegründet abgewiesen werden kann, ohne über eine von einer anderen Partei erhobene Einrede der Unzulässigkeit zu entscheiden(70). Diese Rechtsprechung bietet eine pragmatische Lösung für die sich aus dieser Komplexität ergebenden Probleme. Wenngleich sie aus Gründen der Prozessökonomie vertretbar ist, gäbe es in einem weniger komplexen System wahrscheinlich keinen Grund für ihre Existenz.

72.      Die Unsicherheit, die sich aus der Komplexität der Prüfung der individuellen Betroffenheit ergibt, kann auch im Hinblick auf die TWD Textilwerke Deggendorf-Rechtsprechung ein Problem aufwerfen. Mit dieser Rechtsprechung hat der Gerichtshof im Wesentlichen entschieden, dass es gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstoßen würde, wenn eine Person, die einen Unionsrechtsakt vor den Unionsgerichten zweifellos hätte anfechten können und die hierfür in Art. 263 AEUV vorgesehene Ausschlussfrist hat verstreichen lassen, die Rechtmäßigkeit dieses Rechtsakts vor den innerstaatlichen Gerichten mit einer Klage gegen die von den nationalen Behörden zur Durchführung dieses Rechtsakts getroffenen Maßnahmen erneut in Frage stellen könnte. Andernfalls würde dem Kläger die Möglichkeit eröffnet, die Bestandskraft, die der angefochtene Rechtsakt nach Ablauf der Klagefristen haben muss, zu umgehen. Daher ist ein Vorabentscheidungsersuchen über die Gültigkeit eines solchen Rechtsakts in diesem Fall unzulässig(71).

73.      Meines Erachtens kann sicherlich davon ausgegangen werden, dass die nach der TWD Textilwerke Deggendorf-Rechtsprechung vorzunehmende Prüfung, auch wenn im Zweifel für die betreffenden Personen zu entscheiden ist („zweifellos“), nicht leicht durchführbar ist(72). Daraus folgt ganz offensichtlich, dass die von der Maßnahme betroffenen Personen in vielen Fällen zur Sicherheit zwei Verfahren einleiten müssen, nämlich eines vor den nationalen Gerichten und eines vor den Unionsgerichten(73). Eben dies ist in der Tat im vorliegenden Verfahren geschehen(74). Die Vervielfachung von Verfahren über den gleichen Gegenstand mit den daraus folgenden höheren Kosten für beide Parteien und die Gesellschaft ist etwas, das aus offensichtlichen Gründen nicht geschehen sollte.

74.      Daher gibt es meines Erachtens besonders gute Gründe dafür, dass der Gerichtshof durch ein Grundsatzurteil mehr Klarheit in seine Rechtsprechung zur Voraussetzung der individuellen Betroffenheit bringt. Ich hoffe, dass die oben vorgeschlagene Systematisierung dem Gerichtshof insoweit von Nutzen sein kann. Klargestellt sei, dass diese Systematisierung nicht abschließend alle möglichen Fallgestaltungen veranschaulichen soll, bei denen eine „individuelle Betroffenheit“ im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV gegeben sein könnte, sondern nur die bestehende Rechtsprechung abbilden soll. Denn, wie von Generalanwalt Bobek in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Nord Stream 2 ausgeführt, ist „[das Plaumann‑]Kriterium … zwar streng, aber zumindest auf den ersten Blick auch relativ offen und flexibel“(75). Die Voraussetzung der individuellen Betroffenheit hängt nicht nur von der besonderen Lage des Klägers, sondern auch von der Form und dem Inhalt des Rechtsakts sowie von dem Verfahren, in dem der Rechtsakt erlassen wird, ab. So können beispielsweise, wie die sogenannte Aarhus-Verordnung(76) zeigt, durch Rechtsvorschriften des Unionsrechts neue Kategorien von Personen geschaffen werden, die von bestimmten Handlungen der Unionsorgane „individuell betroffen“ sind(77).

75.      Auch wenn eine gegenwärtige Systematisierung der Rechtsprechung nicht ausschließt, dass der Gerichtshof möglicherweise in Zukunft weitere Fälle feststellt, in denen eine Gruppe von Personen von einer bestimmten Art von Unionsrechtsakt individuell betroffen sein kann, böte sie somit gleichwohl für die gegenwärtige Rechtslage nicht nur für mögliche Kläger, sondern auch für das Gericht eine klare Orientierung.

b)      Verfeinerung des Kriteriums des geschlossenen Kreises

76.      In Teil 3 oben habe ich erläutert, warum die Plaumann-Formel meines Erachtens eine plausible Auslegung der Voraussetzung der individuellen Betroffenheit nach Art. 263 Abs. 4 AEUV darstellt. Vor diesem Hintergrund ist meines Erachtens auch das Kriterium des geschlossenen Kreises eine nachvollziehbare Anwendung der Plaumann-Formel. Hinzuweisen ist noch einmal darauf, dass nach diesem, typischerweise für Maßnahmen mit allgemeinem Charakter verwendeten Kriterium dann, wenn die Maßnahme eine Gruppe von Personen berührt, die zum Zeitpunkt des Erlasses der Maßnahme anhand von den Mitgliedern der Gruppe eigenen Merkmalen feststanden oder feststellbar waren, diese Personen von der Maßnahme insoweit individuell betroffen sein können, als sie zu einem beschränkten Kreis betroffener Personen gehören.

77.      Es ist schwer bestreitbar, dass, wenn die von einem Unionsrechtsakt betroffenen Personen weder feststanden noch feststellbar waren, dieser Rechtsakt für einen bestimmten, auf der Grundlage allgemeiner politischer Erwägungen abstrakt gefassten Sachverhalt erlassen wurde. Zugleich ist meines Erachtens ebenso nachvollziehbar, dass der Umstand allein, dass alle von einem Unionsrechtsakt betroffenen Personen zum Zeitpunkt des Erlasses des Rechtsakts feststanden oder feststellbar waren, an sich nicht ausreicht, um diese Personen als individuell betroffen anzusehen. Es ist nämlich nicht ungewöhnlich, dass es auf einem bestimmten Markt nur wenige, den Behörden und der Öffentlichkeit bekannte Wirtschaftsteilnehmer gibt. Das Kriterium der individuellen Betroffenheit kann nicht je nachdem anders angewandt werden, ob der Rechtsakt beispielsweise die Erbringung von Dienstleistungen durch Rechtsanwälte oder Ärzte oder die Herstellung von großen Luftfahrzeugen oder gepanzerten Militärfahrzeugen betrifft. Etwas anderes kann jedoch gelten, wenn die Maßnahme zwar allgemein formuliert ist und unterschiedslos auf alle betroffenen Personen anwendbar ist, jedoch im Wesentlichen auf die Lage einer oder mehrerer bestimmter Personen zugeschnitten ist(78).

78.      Wie oben in Nr. 27 ausgeführt, muss somit etwas hinzukommen, was über die bloße Tatsache hinausgeht, dass die betroffenen Personen feststehen oder feststellbar sind. Dies ist der Grund dafür, dass diese Personen nach der Rechtsprechung zu einem geschlossenen Kreis gehören müssen, der in Bezug auf die angefochtene Bestimmung bestimmte Unterscheidungsmerkmale aufweist. Dies steht im Einklang mit dem Sinn und Zweck der Bestimmung, der, wie erläutert, stets darin bestand, die Fallgestaltung zu regeln, dass ein Unionsrechtsakt Auswirkungen auf die Rechtsposition einer oder mehrerer Personen hat, die über die Auswirkungen hinausgehen, die dieser Rechtsakt auf die übrigen betroffenen Personen hat. Dieser Unterschied in den Auswirkungen auf individuell betroffene und nicht individuell betroffene Personen kann sich nicht (ausschließlich oder hauptsächlich) auf das Maß beziehen, sondern muss (zumindest weitgehend) von ihrer Natur abhängen(79).

79.      Der rote Faden, der sich durch die Fälle zieht, in denen eine individuelle Betroffenheit anerkannt wurde, besteht nach meinem Verständnis darin, dass das handelnde Organ die besondere Lage der Kläger vor dem Erlass des angefochtenen Rechtsakts entweder (ausdrücklich oder stillschweigend) berücksichtigt hat oder – auf der Grundlage bestimmter besonderer Bestimmungen oder bestimmter allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts – hätte berücksichtigen müssen. Dies ist im Wesentlichen dann der Fall, wenn die politischen Gründe, die das Organ zum Handeln veranlasst haben, mit den Rechten und Interessen bestimmter Rechtssubjekte in Einklang gebracht werden mussten, die aus einem besonderen Grund mit denjenigen der übrigen betroffenen Personen nicht vollständig gleichgesetzt werden können. Dass das betreffende Organ die Zahl oder die Identität dieser Personen nicht kannte, ist unerheblich, solange es in der Lage gewesen wäre, die erforderlichen Informationen einzuholen(80). Die vier oben in Nr. 28 genannten Fälle liefern hierfür meines Erachtens gute Beispiele.

80.      Ich bin mir natürlich bewusst, dass es einige Urteile des Gerichtshofs gibt, die zu dieser Feststellung offenbar im Widerspruch stehen(81). Hierbei handelt es sich allerdings um durchaus besondere Rechtssachen, und die Feststellungen des Gerichtshofs hierzu können nicht verallgemeinert werden. Die betreffenden Rechtssachen betrafen Klagen, die nicht von privaten, zum Schutz ihrer Rechte handelnden Personen erhoben wurden, sondern von einer regionalen Körperschaft (einem der drei Gebiete, die das Königreich der Niederlande bilden), die lediglich im allgemeinen Interesse, nämlich als die für in ihrem Gebiet auftretende Wirtschafts- und Sozialfragen zuständige Einheit gegen eine Maßnahme mit eher begrenzten Auswirkungen auf seine Wirtschaft, handelte(82). Insoweit ist meines Erachtens daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung allein der Umstand, dass eine Region oder eine sonstige öffentliche Gebietskörperschaft irgendeine Zuständigkeit – als für wirtschaftliche, soziale oder umweltbezogene Fragen in ihrem Gebiet zuständige Stelle – für den durch eine Unionsmaßnahme mit allgemeiner Geltung geregelten Bereich hat, für sich genommen noch nicht ausreichen kann, um diese Region als „betroffen“ im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV anzusehen(83). Vor allem aber enthielten die in den betreffenden Rechtssachen einschlägigen Rechtsvorschriften des Unionsrechts lediglich vage und allgemeine Hinweise darauf, dass das handelnde Organ unter den verschiedenen zu berücksichtigenden Faktoren auch die Auswirkungen der geplanten Maßnahme auf die betroffenen Bereiche berücksichtigen musste(84). Wie der Gerichtshof festgestellt hat, unterschieden sich die Auswirkungen, die die angefochtene Maßnahme auf das Gebiet hatte, für das die Klägerin zuständig war, nicht von den Auswirkungen, die sie auf die übrigen betroffenen Gebiete hatte(85).

81.      Daher sind diese Urteile meines Erachtens nicht geeignet, meine vorstehenden Erwägungen in Frage zu stellen. Eine sehr weite Auslegung dieser Entscheidungen wäre nämlich nicht nur mit dem Rest der Plaumann-Rechtsprechung schwer vereinbar, sondern auch aus systematischer Sicht problematisch. Wenn nämlich ein Unionsorgan gesetzlich verpflichtet ist, die Lage einer oder mehrerer bestimmter Personen zu berücksichtigen, haben diese Personen ein entsprechendes Recht darauf, dass ihre Lage berücksichtigt wird. Selbstverständlich gilt ubi ius ibi remedium: Wo ein Recht ist, ist auch ein Rechtsbehelf. Die betroffenen Personen müssen somit in der Lage sein, den Schutz des Rechts vor einem Gericht durch Anfechtung der Maßnahme zu gewährleisten, durch die ihre Lage nicht oder durch die sie fehlerhaft berücksichtigt worden sein soll. Es ist nämlich gerade dieses Recht (auf Berücksichtigung), das – um die Plaumann-Formel in Erinnerung zu rufen – die Kläger „in ähnlicher Weise … wie einen Adressaten“ individualisiert(86). Im Wesentlichen hat das handelnde Organ mit dem Erlass einer bestimmten Maßnahme möglicherweise nicht nur generelle und abstrakte Regelungen festgelegt, die auf eine unbestimmte Zahl von Personen anwendbar sind, sondern auch die Lage einer oder mehrerer feststehender oder feststellbarer Personen geregelt, wie wenn es einen Rechtsakt mit einem besonderen Entscheidungsinhalt an sie gerichtet hätte.

82.      Dies vorausgeschickt, gibt es ein Element des Kriteriums des geschlossenen Kreises, das mir eher verwunderlich erscheint.

83.      In einigen Entscheidungen wurde von den Unionsgerichten (offenbar) verlangt, dass die Kategorie der von der angefochtenen Maßnahme besonders betroffenen Personen, der der Kläger seinem Vorbringen nach angehört, sich aus einer feststehenden Zahl von Personen zusammensetzt, die sich nach Erlass der angefochtenen Maßnahme nicht vergrößern kann (im Folgenden: zukünftiges Element)(87).

84.      Ich habe insoweit zwei Vorbehalte.

85.      Erstens scheint das zukünftige Element auf theoretischer Ebene nicht den der Plaumann-Rechtsprechung zugrundeliegenden Grundgedanken zu entsprechen. Es verlangt im Wesentlichen, die Lage eines bestimmten Klägers (oder einer Gruppe von Personen, der er angehört) mit der Lage der Personen zu vergleichen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft von der angefochtenen Maßnahme betroffen sein können.

86.      Dies ist jedoch nicht der Vergleich, der nach der Plaumann-Rechtsprechung von den Unionsgerichten verlangt wird. Die Gleichung der „individuellen Betroffenheit“ umfasst zwei Größen: i) die Allgemeinheit der von der angefochtenen Maßnahme betroffenen Personen, die auf der Grundlage des persönlichen Anwendungsbereichs dieses Rechtsakts abstrakt zu bestimmen ist (im Folgenden: Allgemeinheit), und ii) eine Untergruppe derselben, d. h. eine kleinere Gruppe betroffener Personen (zu der der Kläger gehört), die aufgrund besonderer Eigenschaften von der Allgemeinheit individualisierbar sein soll (im Folgenden: beschränkter Kreis)(88).

87.      Das Vorliegen eines beschränkten Kreises ist konkret unter Berücksichtigung aller rechtlichen und tatsächlichen Umstände zu beurteilen, die die Lage der ihm angehörenden Personen kennzeichnen können. Die Plaumann-Formel gibt den Unionsgerichten nämlich ausdrücklich vor, die besonderen „Eigenschaften“ und „Umstände“ des Klägers zu prüfen. So hat der Gerichtshof klargestellt, dass i) die individuelle Betroffenheit „auf der Grundlage der Besonderheit der Lage d[es] einzelnen im Verhältnis zu allen anderen … Personen“ zu ermitteln ist(89) und dass ii) dieser Vergleich „im Hinblick auf die streitige Vorschrift“(90) „zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen [Vorschrift]“ vorzunehmen ist(91).

88.      Wenn dies so ist, kommt es bei der Prüfung entscheidend darauf an, ob es einen Unterschied in der Art der Auswirkungen der angefochtenen Maßnahme auf die beiden Gruppen (Allgemeinheit gegenüber beschränktem Kreis) gibt. Die Rolle oder das Gewicht, das dem zukünftigen Element bei dieser Prüfung zukommen sollte, bleibt meines Erachtens eher unklar.

89.      Insbesondere ist meines Erachtens schwer nachvollziehbar, warum die Frage, ob eine oder mehrere Personen einen bestimmten Rechtsakt anfechten können, der erlassen wurde, (angeblich) ohne dass das betreffende Unionsorgan ihre besondere Lage angemessen berücksichtigt hat, von dem hypothetischen zukünftigen Verhalten anderer Einzelpersonen abhängen sollte (die z. B. möglicherweise eine bestimmte Tätigkeit ausüben, eine bestimmte Geschäftstätigkeit aufnehmen oder sich in ein bestimmtes Hoheitsgebiet innerhalb der Europäischen Union begeben). In einer Rechtsgemeinschaft, die, wie unten erläutert werden wird, die Grundgedanken der liberalen Demokratien auf der Grundlage einer freien und offenen Marktwirtschaft widerspiegelt, die die Autonomie des Individuums betont und die Grundrechte schützt, ist es äußerst selten, dass eine Kategorie von Personen, die eine Tätigkeit ausüben, in der Zukunft keinen Veränderungen unterliegt(92).

90.      Das zukünftige Element ist meines Erachtens auf eine fehlerhafte Anwendung der Plaumann-Rechtsprechung zurückzuführen. Es ergibt sich aus einer auf den persönlichen Anwendungsbereich der angefochtenen Maßnahme zugeschnittenen Prüfung, die die eigentlichen Eigenschaften der betreffenden Untergruppe nicht hinreichend berücksichtigt. Daraus folgt, dass theoretischen und hypothetischen Umständen zulasten einer real bestehenden Lage entscheidendes Gewicht beigemessen wird. Ein solcher Ansatz ist meines Erachtens mit der oben in Nr. 87 angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs kaum vereinbar.

91.      Zweitens ist meines Erachtens aus praktischer Sicht unsicher, ob die Berücksichtigung des zukünftigen Elements angemessen und zweckmäßig sein kann.

92.      Zwar ist das zukünftige Element eine Eigenschaft, die allen Fallgestaltungen zu eigen ist, in denen das Kriterium, das den beschränkten Kreis von der Allgemeinheit unterscheidet, sich auf Ereignisse in der Vergangenheit bezieht, wie beispielsweise in den oben in Nr. 32 genannten Fallgestaltungen. In diesen Fällen hat es jedoch für den Gerichtshof keinen Mehrwert, dieses Element zu prüfen, gerade weil es zwangsläufig gegeben ist.

93.      Auch in den sonstigen Fällen, d. h. wenn das Kriterium, durch das der beschränkte Kreis sich unterscheidet, sich nicht auf Ereignisse in der Vergangenheit bezieht, kann die Prüfung dieses Elements irreführend oder nutzlos sein.

94.      Zum einen könnte es zu gewissen Widersprüchen führen: Ein Kläger, der sich im Hinblick auf eine bestimmte Maßnahme tatsächlich in einer von derjenigen der Allgemeinheit unterscheidbar verschiedenen Lage befindet, i) kann auch dann individuell betroffen sein, wenn sich andere Personen in der gleichen Lage befinden, ii) könnte aber nicht individuell betroffen sein, wenn sich eine andere Person möglicherweise zukünftig in einer vergleichbaren Lage befinden wird. Der Grund dafür, eine solche Unterscheidung vorzunehmen, erschließt sich mir nicht.

95.      Zum anderen stellt sich meines Erachtens die Frage, ob eine zutreffende Feststellung des beschränkten Kreises (d. h. eine konkret anhand einer Beurteilung aller einschlägigen rechtlichen und tatsächlichen Umstände vorgenommene Feststellung) das zukünftige Element nicht – wiederum – überflüssig macht.

96.      Beispielsweise hat das Gericht in der vorliegenden Rechtssache seine Prüfung auf Unternehmen konzentriert, die im Bereich der Herstellung und des Vertriebs von erhitzten Tabakerzeugnissen tätig sind, und hatte insoweit den materiellen und persönlichen Anwendungsbereich der angefochtenen Maßnahme im Blick. Zweifellos sind sowohl die Klägerinnen als auch jedes Unternehmen, das zukünftig auf dem betreffenden Markt tätig sein wird, insofern vergleichbar, als sie alle denselben Regeln unterliegen und damit durch die Einschränkungen ihrer Tätigkeit „belastet“ sein werden, die durch die angefochtene Maßnahme eingeführt werden.

97.      Befinden sich jedoch gegenwärtige und zukünftige, auf diesem Markt tätige Wirtschaftsteilnehmer wirklich in einer vergleichbaren Lage im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV? Meines Erachtens ist dies eindeutig nicht der Fall.

98.      Wie im Rahmen der Würdigung des Rechtsmittelgrundes der Rechtsmittelführerinnen näher erläutert werden wird, gehören die Rechtsmittelführerinnen zu den Unternehmen, die ein neuartiges Erzeugnis auf dem Unionsmarkt eingeführt und hierfür erhebliche Investitionen getätigt haben, darunter die Entwicklung einer neuen Technologie, die Schaffung neuer Vertriebskanäle und die Kampagne, um das Erzeugnis Kunden bekannt und für diese attraktiv zu machen. Darüber hinaus wurde die angefochtene Maßnahme – vereinfachend formuliert – gerade aus dem Grund eingeführt, dass die Klägerinnen in ihren Bemühungen recht erfolgreich waren, mit der Folge, dass der Absatz des neuen Erzeugnisses in relativ kurzer Zeit erheblich anstieg. Vor allem aber wurde dieses Wachstum – und somit die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit der Einführung der angefochtenen Maßnahme – von der Kommission unter Heranziehung der u. a. von den Rechtsmittelführerinnen selbst vorgelegten Absatzdaten festgestellt.

99.      Inwieweit sollte angenommen werden können, dass Unternehmen, die möglicherweise irgendwann in diesen Markt eintreten – beispielsweise indem sie die von den Rechtsmittelführerinnen getätigten Investitionen als Trittbrettfahrer nutzen –, sich in einer Lage befinden, die derjenigen der Rechtsmittelführerinnen wirklich vergleichbar ist?

100. Abschließend ist zu diesem Punkt festzuhalten, dass das zukünftige Element meines Erachtens kaum mit den Grundzügen der Plaumann-Rechtsprechung vereinbar ist und zudem leicht falsch ausgelegt und falsch angewandt werden könnte. Daher schlage ich dem Gerichtshof vor, das Kriterium des geschlossenen Kreises zu bestätigen, jedoch das Erfordernis, dass die betreffende Personengruppe sich nach Erlass des angefochtenen Rechtsakts nicht vergrößern darf, aufzugeben.

c)      Gleichbehandlung aller Personen in Bezug auf alle Rechte

101. Mein dritter und letzter dem Gerichtshof unterbreiteter Vorschlag ist, die Plaumann-Rechtsprechung in den verschiedenen, ihm vorgelegten Rechtssachen kohärenter anzuwenden, unabhängig davon, um welche Art von Kläger oder von Rechten oder betroffenen Interessen es sich handelt. Die sich aus der Plaumann-Rechtsprechung ergebenden Grundsätze werden nämlich, in Rechtssachen, die – zumindest aus heutiger Sicht – weitgehend vergleichbar sind, offenbar bisweilen strenger und bisweilen milder angewandt. Es kann die Ansicht vertreten werden, dass dies, soweit es in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft von 1963 gerechtfertigt war, in der Europäischen Union von 2025 nicht mehr der Fall ist.

102. Bis Ende der 1980er Jahre/Anfang der 1990er Jahre regelten die damaligen Gemeinschaften hauptsächlich Handel und Wirtschaft. Die meisten Rechtssachen, die auf dem Plateau de Kirchberg landeten,  betrafen Fragen wie Freizügigkeit, Wettbewerb, Handelspolitik und Handelsschutz, Zoll, Landwirtschaft und Fischerei(93). Es überrascht daher nicht, dass die Plaumann-Rechtsprechung für etwaige Verstöße gegen wirtschaftliche Rechte, die von wirtschaftlich tätigen Personen, nämlich Arbeitnehmern, Selbstständigen oder Unternehmen, geltend gemacht werden, zugänglicher war: Das Hauptziel der Gemeinschaften bestand zum damaligen Zeitpunkt nämlich in der Schaffung eines gemeinsamen Marktes.

103. In der Europäischen Union von 2025 hat sich die Lage erheblich weiterentwickelt. Um ihre übergeordneten Ziele (Förderung des Friedens, ihrer Werte und des Wohlergehens ihrer Völker) zu erreichen, ist die Europäische Union nicht nur verpflichtet, einen Binnenmarkt zu errichten und zu stärken, sondern u. a. auch, „ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts [zu bieten]“, „auf [eine] nachhaltige Entwicklung [hinzuwirken]“, „auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt … sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin[zuwirken]“ und „den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt [zu fördern]“. Die Steigerung des wirtschaftlichen Wohlstands der europäischen Bevölkerung ist nicht mehr das (einzige und alleinige) Leitbild der Europäischen Union.

104. Daher können die wirtschaftlichen Rechte der Unionsbürger in der Unionsrechtsordnung keine Stellung als primi inter pares haben, sondern sind Rechten und Freiheiten anderer (ziviler, politischer, sozialer, etc.) Art gleichgestellt. Nach ständiger Rechtsprechung hat innerhalb der Unionsrechtsordnung keine Kategorie von Rechten Vorrang gegenüber einer anderen(94). Sind verschiedene Rechte betroffen, müssen die sich aus ihnen ergebenden Erfordernisse so weit wie möglich durch Herstellung eines angemessenen Gleichgewichts zwischen ihnen miteinander in Einklang gebracht werden(95). Im Fall eines unmittelbaren Konflikts hängt die Frage, welchen Rechten der Vorrang zukommt, von den konkret in Rede stehenden Umständen ab(96).

105. Außerdem dürfte es kaum der Erwähnung bedürfen, dass der Wille der Unionsbürger, ihre gemeinsamen Interessen durch Gründung einer juristischen Person zu verfolgen, durch die Charta geschützt ist, und zwar gleichwohl ob es sich um Interessen wirtschaftlicher Art oder um Interessen anderer Art handelt(97).

106. Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass eine gewisse Neuausrichtung der Art und Weise, wie die Plaumann-Rechtsprechung in den verschiedenen Fällen angewandt wird, erforderlich sein könnte. Insbesondere sollten bei der Prüfung der individuellen Betroffenheit für i) Einrichtungen ohne Gewinnerzielungsabsicht (wie etwa Vereinigungen und Nichtregierungsorganisationen(98)) in der Regel dieselben Maßstäbe gelten wie für Einrichtungen mit Gewinnerzielungsabsicht (wie etwa Unternehmen), und ii) sollte es dabei unerheblich sein, ob die Rechte oder Interessen der Kläger, die durch die angefochtenen Maßnahmen betroffen sind, wirtschaftlicher oder sonstiger Art sind.

107. Ich werde jetzt zwei hypothetische Beispiele geben, um aufzuzeigen, was dies in der Praxis bedeuten könnte.

108. Erstens könnte eine Unionsmaßnahme, die zum Schutz der Fischbestände über einen erheblichen Zeitraum die lukrativsten Fänge in den Seegebieten um die Insel Remota Insula verbietet, meines Erachtens den örtlichen Verband der Kleinfischer – der die Interessen aller Menschen vertritt, deren Lebensunterhalt vollständig von ihrer Fischereitätigkeit abhängt – individuell betreffen, nicht aber andere Kategorien von Personen, die in unterschiedlichem Maße ebenfalls von der Maßnahme betroffen sind, nämlich die Bewohner der Insel, die Besitzer örtlicher Restaurants und große Unternehmen, die in der Fischwirtschaft tätig sind (und ihre Boote unschwer an andere Orte schicken könnten).

109. Zweitens sind von einer Unionsmaßnahme, die die im Natura-2000-Gebiet Antiqua Silva lebende Tierart avis avium stark beeinträchtigt, die verschiedenen in der Nähe wohnenden Personen, Amateurvogelbeobachter oder internationale Umweltverbände möglicherweise nicht individuell betroffen. Einen lokalen Verband, dessen gesetzlicher oder satzungsmäßiger Auftrag gerade der Schutz von avis avium im Gebiet Antiqua Silva ist, berührt diese Maßnahme jedoch sicherlich in eindeutig unterscheidbarer Weise.

110. Der Unterschied, der in jeder dieser Fallgestaltungen dazwischen besteht, wie die betreffende Unionsmaßnahme den imaginären Verband betrifft und wie sie andere Personen betrifft, ist nicht ein solcher des Maßes, sondern betrifft die Art der Wirkung dieser Maßnahme. Das betroffene Interesse kann wirtschaftlicher Natur sein (erstes Beispiel) oder nicht (zweites Beispiel). In beiden Fällen trifft die Maßnahme den Kern der Tätigkeit des Verbands, indem sie ein Interesse berührt, das über dasjenige der Personen hinausgeht, die diesem Verband angehören. Dementsprechend sollte der Verband angesichts der Auswirkungen, die die hypothetische Maßnahme auf seine eigenen Interessen als Verband hat, nach der oben in Fn. 98 angeführten Rechtsprechung klagebefugt sein. Die Ansicht zu vertreten, dass diese juristischen Personen von diesen Maßnahmen nicht individuell betroffen seien – allein weil sie nicht die einzigen seien, die betroffen seien, und/oder weil sie rechtlich oder tatsächlich kein Monopol für den Schutz der betroffenen Interessen hätten –, wäre nicht nur formalistisch, sondern auch realitätsfremd.

111. Meines Erachtens ist kein wesentlicher Unterschied zwischen diesen hypothetischen Fallgestaltungen und beispielsweise Verfahren ersichtlich, die von Unternehmen eingeleitet werden, die weder Adressaten von nach kartell- oder beihilferechtlichen Unionsvorschriften erlassenen Entscheidungen sind, noch in diesen erwähnt werden, sondern die vielmehr potenzielle oder tatsächliche Wettbewerber oder Geschäftspartner der von diesen Entscheidungen betroffenen Unternehmen sind.

112. Im Ergebnis unterbreite ich dem Gerichtshof die folgenden drei Vorschläge: i) die Plaumann-Rechtsprechung zu systematisieren, um für potenzielle Kläger und das Gericht mehr Klarheit zu schaffen; ii) das Kriterium des geschlossenen Kreises zu verfeinern und seine übermäßig strenge Anwendung aufzugeben; und iii) eine gleichwertige Prüfung für alle Personen in Bezug auf alle Rechte zu gewährleisten. In den nächsten drei Unterpunkten der vorliegenden Schlussanträge werde ich erläutern, warum eine Überprüfung der Plaumann-Rechtsprechung meines Erachtens praktikabel und wünschenswert wäre und zum richtige Zeitpunkt käme.

d)      Abschließende Anmerkungen (I): Warum eine Überprüfung der Plaumann-Rechtsprechung praktikabel ist

113. Anders als die von Generalanwalt Jacobs, dem Gericht und einem Teil des juristischen Schrifttums vorgeschlagenen Kriterien weichen meine Vorschläge zur Auslegung von Art. 263 Abs. 4 AEUV nicht vom Urteil Plaumann ab. Ich schlage auch keine Aufgabe oder erhebliche Änderung des Kriteriums des geschlossenen Kreises vor, das von den Unionsgerichten in ständiger Rechtsprechung zur Feststellung der individuellen Betroffenheit bei Maßnahmen mit allgemeiner Geltung angewandt wird.

114. Meine Vorschläge sind vielmehr systematischer Natur und von relativ moderater Tragweite. Der Gerichtshof kann sie annehmen und sich zugleich problemlos weiter innerhalb des durch die bisherige Rechtsprechung abgesteckten Rahmens, einschließlich grundlegender und jüngerer Rechtssachen wie UPA, Inuit oder Carvalho, bewegen. Nur ein eher begrenzter und peripherer Teil der Rechtsprechung würde aufgegeben.

115. Im Licht der vorstehenden Ausführungen wären meines Erachtens auch Befürchtungen stark übertrieben, dass meine Vorschläge „die Schleusentore öffnen“ und zu einer explosionsartigen Zunahme der bei den Unionsgerichten anhängig gemachten Verfahren führen würden. Erstens darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Personen, die die Voraussetzung der individuellen Betroffenheit erfüllen, auch die Voraussetzung der „unmittelbaren Betroffenheit“ erfüllen müssen und ein „Rechtsschutzinteresse“ nachweisen müssen(99). Ferner dürfte es kaum der Ergänzung bedürfen, dass für Kläger eine klar bestimmte Frist zur Anfechtung eines Unionsrechtsakts gilt: Sie muss innerhalb von zwei Monaten ab der Bekanntgabe des betreffenden Rechtsakts, seiner Mitteilung an sie oder ab dem Zeitpunkt, zu dem sie von ihm Kenntnis erlangt haben, erfolgen(100). Zweitens würde der relative Anstieg der Anzahl möglicherweise zulässiger Rechtssachen meines Erachtens durch die Ressourcen des Gerichtshofs der Europäischen Union, die dank einer klaren Systematisierung der Fragestellung eingespart würden, mehr als ausgeglichen. Drittens sollte bei einem aus 54 Richtern bestehenden Gericht ein moderater Anstieg der Fallzahlen ohne Weiteres handhabbar sein(101). Viertens bleibt abschließend (nicht zuletzt) festzustellen, dass der Gerichtshof den Unionsorganen bei der Kontrolle der Gültigkeit von Unionsrechtsakten einen relativ weiten Entscheidungsspielraum in Bezug auf politische Entscheidungen und komplexe technische Beurteilungen belässt (so genannte marginale Kontrolle durch den Gerichtshof)(102). Demzufolge wird es selbst unter den als zulässig anzusehenden Rechtssachen einen nicht unerheblichen Teil geben, der auf der Ebene der Begründetheit rasch erledigt werden könnte, da eine Überschreitung der Grenzen des Entscheidungsspielraums durch das betreffende Organ und ein offensichtlicher Beurteilungsfehler, der sich daraus ergeben würde, nicht vorliegt.

e)      Abschließende Anmerkungen (II): Warum eine Überprüfung der Plaumann-Rechtsprechung wünschenswert ist

116. Es gibt meines Erachtens zusätzlich zu den oben bereits erörterten noch einen weiteren Vorteil. Er ergibt sich aus der gestärkten Rolle, die bestimmte Verbände in Streitigkeiten spielen können, die unmittelbar bei den Unionsgerichten anhängig gemacht werden.

117. Wie von Generalanwältin Sharpston angeführt, wird im Wesentlichen mit einem System, das die Kanalisierung von Streitigkeiten in Bezug auf kollektive Interessen (wie etwa den Umweltschutz) durch Verbände begünstigt, „[anerkannt], dass diese Einrichtungen die Gerichte weder überlasten noch lähmen. Vielmehr fass[t es] in einer einzigen Klage die Begehren einer großen Zahl von Einzelpersonen zusammen [und] stellt [damit] einen Filter dar, der auf lange Sicht die Arbeit der Gerichte erleichtert“. Wie weiter von ihr ausgeführt, „[verfügen] diese Vereine häufig über technische Kenntnisse …, die Privatpersonen normalerweise fehlen, [so dass] der Beitrag an technischen Informationen zum Verfahren auch ein positiver Gesichtspunkt [ist], der das Gericht im Hinblick auf seine endgültige Entscheidung in eine bessere Lage versetzt“(103).

118. Ich habe diesen sehr vernünftigen Überlegungen nicht viel hinzuzufügen. Eine gestärkte Rolle für Verbände ist auch ein Aspekt, der in gewissem Maße dem oben in Nr. 41 genannten Paradoxon abhelfen wird, dass es, je allgemeiner und kollektiver das betroffene Interesse und je schädlicher die Maßnahme ist, umso unwahrscheinlicher ist, dass eine individuelle Betroffenheit für Kläger nach der Plaumann-Rechtsprechung bejaht wird.

119. Gleichwohl habe ich durchaus Verständnis für die Argumente von Generalanwalt Cosmas, wonach eine vom Gerichtshof vorgenommene Lockerung der Klagebefugniskriterien zugunsten von Verbänden i) missbraucht werden könnte, da natürliche Personen, denen eine Klagebefugnis nicht zustünde, versuchen könnten, dieses Prozesshindernis durch Gründung einer besonderen, eigens hierzu bestimmten und als Verfahrensvehikel verwendeten Vereinigung zu umgehen, und ii) Klagen einer potenziell großen und unbegrenzten Anzahl von Vereinigungen ermöglichen könnte(104).

120. Diese Einwände lassen sich jedoch leicht ausräumen. Erstens wäre sicherlich angebracht, zu verlangen, dass die betreffende Vereinigung echt sein und ihre bisherige Tätigkeit nachweisen muss(105). Zweitens würde es weder ausreichen, dass eine Vereinigung in dem von der angefochtenen Maßnahme betroffenen Bereich allgemein tätig ist, noch, dass ihre Ziele den Schutz des Interesses umfassen, das durch diese Maßnahme berührt sein soll. Ein solcher Ansatz würde nämlich die Bandbreite in Betracht kommender Vereinigungen übermäßig ausweiten und stände hierdurch eindeutig im Widerspruch zum Sinn und Zweck der Plaumann-Rechtsprechung. Wie erläutert, müsste festgestellt werden, dass die angefochtene Maßnahme erhebliche Auswirkungen auf die satzungsgemäße Kerntätigkeit der Vereinigung haben kann.

121. In der Tat legen offenbar nationale Gerichte in einer Reihe von Mitgliedstaaten ihre Verfahrensvorschriften (einschließlich gegebenenfalls derjenigen über die Klagebefugnis) dahin aus, dass Klagen gegen Maßnahmen, die kollektive Interessen geschädigt haben sollen, insbesondere wenn sie von repräsentativen Verbänden erhoben werden, zulässig sind. Einige der in jenen Rechtssachen ergangenen Urteile sind im Hinblick darauf besonders bemerkenswert, wie weit sie zum Schutz des durch die angefochtenen Maßnahmen ungerechtfertigt beeinträchtigten öffentlichen Interesses gehen(106).

122. Zudem hat sich der EGMR vor Kurzem ebenfalls in diese Richtung bewegt. In der Tat könnte der Gerichtshof sich meines Erachtens an den Entscheidungen der Großen Kammer des EGMR vom April 2024 in drei Rechtssachen betreffend den Klimawandel orientieren. Der EGMR erklärte zwar die Beschwerden der einzelnen Beschwerdeführer für unzulässig, stellte jedoch fest, dass ein Verband beschwerdeberechtigt sei(107). Er entschied im Wesentlichen, dass es angesichts der kollektiven Natur des von den Beschwerdeführern geschützten Interesses von hoher Bedeutung sei, die Erhebung gerichtlicher Rechtsbehelfe durch Vereinigungen zuzulassen, anstatt ausschließlich auf von jedem Einzelnen in eigenem Namen erhobene Rechtsbehelfe zurückzugreifen. Er stellte hierfür jedoch drei vom Beschwerdeführer zu erfüllende Kriterien auf, nämlich dass die Vereinigung nachweisen müsse, dass sie i) in der betreffenden Rechtsordnung rechtmäßig errichtet oder dort klagebefugt sei; ii) einen bestimmten Zweck im Einklang mit ihren satzungsgemäßen Zielen innerhalb dieser Rechtsordnung verfolge; und iii) als zum Handeln im Namen ihrer Mitglieder oder von sonstigen betroffenen Einzelpersonen innerhalb der Rechtsordnung tatsächlich qualifiziert und repräsentativ anzusehen sei.

123. Diese drei Kriterien dürften meines Erachtens mutatis mutandis den von mir oben in Nr. 120 vorgeschlagenen Kriterien zur Notwendigkeit einer Prüfung der satzungsgemäßen Kernaufgabe der Vereinigung und zur Überprüfung der Echtheit ihrer Tätigkeiten entsprechen. Aus den oben in den Nrn. 101 bis 112 dargelegten Gründen dürfte der vorgeschlagene Ansatz sich gut in die Plaumann-Rechtsprechung einfügen.

124. In diesem Zusammenhang ist ferner am Rande zu ergänzen, dass ähnliche Klagen auch von anderen internationalen Gerichten zugelassen werden. So gab beispielsweise auch der Internationale Seegerichtshof im Mai 2024 ein Gutachten zum Klimawandel ab. Er bestätigte zunächst entgegen der gegenteiligen Ansichten einiger Verfahrensbeteiligter seine Zuständigkeit für eine Entscheidung auf der Grundlage von Art. 21 seines Statuts und stellte anschließend fest, dass die Vertragsparteien des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen spezifische Verpflichtungen hätten, „alle erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung, Verringerung und Überwachung der Meeresverschmutzung infolge anthropogener [Treibhausgas]emissionen zu ergreifen“(108).

125. Man könnte sich fragen, ob es bei einer übermäßig restriktiven Anwendung der Vorschriften über die Klagebefugnis nach Art. 263 Abs. 4 AEUV nicht weniger wahrscheinlich wird, dass der Gerichtshof über Fragen ähnlicher Art aufwerfende Streitigkeiten entscheiden könnte. Dass privilegierte Kläger Maßnahmen mit allgemeiner Geltung vor den Unionsgerichten anfechten, wird vielfach unwahrscheinlich sein, da sie in der Regel entweder unmittelbar (Unionsorgane) oder mittelbar (Mitgliedstaaten als Ratsmitglieder) am Erlass des angefochtenen Rechtsakts beteiligt waren.

126. Daher hängt die Möglichkeit, dass der Gerichtshof über solche Rechtssachen entscheidet, zumeist vom guten Willen der nationalen Gerichte ab, die von einer privaten Partei, in der Regel gerade mit dem Ziel, ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV zu erwirken, angerufen werden. Selbstverständlich gibt es keine Gewissheit, dass dies geschehen wird, und das Verfahren kann zudem langwierig sein. Dies wäre höchst bedauerlich, da diese Fragen zwangsläufig von erheblicher Bedeutung für das künftige Handeln der Europäischen Union in bestimmten Bereichen sind, in denen der Gerichtshof in der Vergangenheit eine wegbereitende Rolle gespielt hat(109).

f)      Abschließende Anmerkungen (III): Warum eine Überprüfung der Plaumann-Rechtsprechung zum richtigen Zeitpunkt käme

127. Rechtssicherheit, für die ein hohes Maß an Klarheit und Stabilität des Rechts erforderlich ist, ist in den meisten Rechtsordnungen ein Grundsatz von verfassungsrechtlicher Bedeutung und sein Schutz eine Kernaufgabe jedes Gerichts. In allen Rechtsordnungen wird jedoch ein Zeitpunkt kommen, zu dem die höchsten Gerichte möglicherweise bestimmte Annahmen in Frage stellen und eine ständige Rechtsprechung überprüfen müssen. Steht die Rechtsprechung mit den Grundprinzipien der Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit noch im Einklang und spiegelt sie die Werte und Überzeugungen des in ihr zum Ausdruck kommenden Gemeinwesens wider?

128. In diesem Zusammenhang bezeichnet der EGMR die EMRK als lebendiges Instrument. Der Gerichtshof hat diesen Ausdruck übernommen und für die Charta verwendet, die er als „ein lebendiges Instrument [bezeichnet hat], das im Licht der gegenwärtigen Lebensbedingungen und der heute in demokratischen Staaten vorherrschenden Vorstellungen auszulegen ist …, so dass die Entwicklung der Werte und Vorstellungen, sowohl in gesellschaftlicher als auch in normativer Hinsicht, in den Mitgliedstaaten zu berücksichtigen ist“(110).

129. Es dürfte kaum der Erwähnung bedürfen, dass eine Überprüfung der ständigen Rechtsprechung nicht zwangsläufig eine Abkehr von oder Aufgabe dieser Rechtsprechung bedeutet; sie kann auch lediglich bedeuten, die darin aufgestellten wesentlichen Grundsätze unter neuer Betrachtung im Licht des neuen rechtlichen und gesellschaftlichen Kontexts zu überprüfen. Beispielsweise hat der Gerichtshof unlängst im Urteil Consorzio Italian Management eine Überprüfung seiner langjährigen CILFIT‑Rechtsprechung vorgenommen(111). Er entschied sich schließlich, den in der Frage gewählten Gesamtansatz zu bestätigen, jedoch eine Reihe von Präzisierungen und bestimmte Anpassungen daran vorzunehmen(112).

130. Meines Erachtens ist es jetzt an der Zeit, dass der Gerichtshof seine Plaumann-Rechtsprechung überprüft. Dies ist nicht nur deshalb der Fall, weil die vorliegende Rechtssache hierfür eine Gelegenheit bietet, sondern vor allem, weil sich, wie oben ausgeführt, die gegenwärtige Rechtsordnung von derjenigen grundlegend unterscheidet, die zum Zeitpunkt des Ergehens des Urteils Plaumann in Kraft war.

131. Es ist weniger das Hinzukommen von Mitgliedstaaten, die geografische Erweiterung oder die Erweiterung der Zuständigkeiten und die Stärkung der Befugnisse der Organe, was sich von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft von 1963 bis zur Europäischen Union von 2025 verändert hat. Es ist das eigentliche Gefüge, das die (jetzige) Europäische Union ausmacht, was sich in diesem Zeitraum verändert hat. Die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft wurde hauptsächlich als Wirtschaftsorganisation gegründet, während Grundrechte oder Rechtsstaatlichkeit im Gründungsvertrag nicht ausdrücklich erwähnt wurden(113). Strenge Voraussetzungen für den unmittelbaren Zugang privater Rechtssuchender zu den Gemeinschaftsgerichten waren in diesem Kontext absolut sinnvoll.

132. In einem kurz nach dem Urteil Plaumann ergangenen Urteil schenkte der Gerichtshof dem Vorbringen der Kläger wenig Beachtung, dass „wenn [der damalige Art. 173 EWG] eng ausgelegt und ihnen das Klagerecht versagt würde, … Privatpersonen im Widerspruch zu den in allen Mitgliedstaaten geltenden fundamentalen Rechtsgrundsätzen sowohl auf Gemeinschaftsebene als auf innerstaatlicher Ebene jeglichen Rechtsschutzes beraubt [wären]“. Der Gerichtshof hielt nicht einmal eine Auseinandersetzung mit diesem Vorbringen für erforderlich, da „[ihm] jedenfalls kein Vorrang vor dem eindeutig engen Wortlaut von Art. 173 zukommen kann, den der Gerichtshof anzuwenden hat“(114). Dieser minimalistische Rechtsprechungsansatz wäre heute undenkbar.

133. In diesem Zusammenhang darf nicht außer Acht gelassen werden, dass das Urteil Plaumann wenige Monate nach dem Urteil Van Gend & Loos und ein Jahr vor dem Urteil Costa/ENEL erging(115). Die Autonomie der (damaligen) EWG-Rechtsordnung – die damals ganz neu zu „einer neuen Rechtsordnung des Völkerrechts“ erklärt worden war(116) – war ein Gebäude, mit dessen Errichtung eben erst begonnen worden war.

134. Im Lauf der folgenden Jahrzehnte wurden durch den Gerichtshof jedoch schrittweise Grundsätze wie Demokratie, Wahrung der Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit in die (damalige) EWG-Rechtsordnung eingeführt(117). Der Ansatz des Gerichtshofs wurde sodann von den Mitgliedstaaten durch eine Folge von Vertragsänderungen „konstitutionalisiert“. Dieser Prozess führte auf seinem Höhepunkt zur Annahme des Vertrags von Lissabon, der insbesondere i) in Art. 2 EUV die Demokratie, die Wahrung der Grundrechte und die Rechtsstaatlichkeit auf die Ebene der Werte hob, auf die sich die Europäische Union gründet, ii) die Charta zu einem verbindlichen Instrument des Primärrechts gemacht hat und iii) in die Verträge eine Reihe von Grundsätzen aufgenommen hat, die das demokratische Wesen der Europäischen Union widerspiegeln. Ich verweise insbesondere auf diejenigen, die eine stärkere Beteiligung der Bürger, ihrer repräsentativen Verbände und allgemeiner der Zivilgesellschaft am demokratischen Leben der Europäischen Union fördern(118).

135. Diese Verfassungsänderungen dürfen bei Fragen, die sich im Zusammenhang mit dem Zugang von Einzelpersonen zu den Gerichten stellen, nicht außer Acht gelassen werden. Insbesondere bedürfen der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit (Art. 2 EUV) und das Grundrecht auf wirksamen Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 der Charta) einer Konkretisierung.

136. Richtig ist zwar, dass die Unionsgerichte nach ständiger Rechtsprechung „ihre Befugnisse überschreiten [würden], wenn sie die Voraussetzungen, nach denen eine Einzelperson gegen einen Rechtsakt der Union Klage erheben kann, in einer Weise auslegten, die zum Wegfall dieser ausdrücklich im AEU-Vertrag vorgesehenen Voraussetzungen führt; dies gilt auch im Licht des Grundsatzes des effektiven Rechtsschutzes“(119). Wie der Gerichtshof wiederholt festgestellt hat, wird nämlich mit der Kodifizierung des Grundsatzes des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes in Art. 47 der Charta „nicht darauf ab[gezielt], das in den Verträgen vorgesehene Rechtsschutzsystem und insbesondere die Bestimmungen über die Zulässigkeit von Klagen bei den Unionsgerichten zu ändern“(120).

137. Zugleich hat der Gerichtshof jedoch ausdrücklich anerkannt, dass die Vorschriften über seine Zuständigkeit und allgemeiner über den Zugang privater Parteien zu den Gerichten so weit wie möglich im Licht der Grundsätze eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes und der Rechtsstaatlichkeit auszulegen sind. Dies galt vor dem Vertrag von Lissabon(121) und erst recht jetzt, nachdem diese Grundsätze ausdrücklich kodifiziert wurden.

138. In der Tat hat sich der Gerichtshof in einer Reihe jüngerer Rechtssachen auf diese Grundsätze gestützt, soweit er die Unionsvorschriften über i) die Grenzen der Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Union im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik nach Art. 24 Abs. 1 EUV und Art. 275 AEUV(122), ii) den Begriff „juristische Person“ im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV(123) und iii) die gesetzliche Vertretung privater Parteien bei direkten Klagen vor den Unionsgerichten gemäß der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und der Verfahrensordnung des Gerichts(124) ausgelegt hat.

139. Das Potenzial des Grundsatzes des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes voll auszuschöpfen, ist etwas, was der Gerichtshof von den nationalen Gerichten fordert, um Einzelpersonen und ihren repräsentativen Verbänden Zugang zu den Gerichten zu gewährleisten. Der Gerichtshof ist in der Tat in einer Reihe von Rechtssachen recht weit gegangen und hat von den nationalen Gerichten verlangt, ihre Verfahrensvorschriften im Einklang mit den einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts auszulegen oder diese Vorschriften unangewendet zu lassen, wenn sie die volle Wirksamkeit des Unionsrechts behindern(125).

140. Ich muss mich den Generalanwälten Jääskinen und Bobek darin anschließen, dass ein kohärenter Ansatz in dieser Frage notwendig ist: Die Anforderungen, die für die nationalen Gerichte gelten, müssen auch für die Unionsgerichte gelten(126). Insoweit könnte ein zaghafter Ansatz bei der Anwendung des Grundsatzes des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes durch den Gerichtshof den Eindruck erwecken, dass mit zweierlei Maß gemessen wird(127).

141. Man braucht keine Kristallkugel, um vorherzusagen, dass in der Welt 2.0 die Hauptrisiken, denen die Unionsbürger ausgesetzt sein werden, nicht (nur oder hauptsächlich) wirtschaftlicher Art sein werden, sondern durchaus auch Rechte und Freiheiten wie diejenigen der Menschenwürde, der Meinungsfreiheit, der Privatsphäre und der persönlichen Gesundheit betreffen können. Ebenso hat die Europäische Union möglicherweise zahlreiche Herausforderungen zu überwinden, um ihre Werte, darunter Demokratie, Solidarität, Rechtsstaatlichkeit und Umweltschutz, zu wahren und zu fördern. Die Aufgabe des Gerichtshofs der Europäischen Union wird die gleiche bleiben, aber die Fragen, mit denen er befasst wird, werden sich sicherlich (noch mehr als heute) von der Mehrheit derjenigen unterscheiden, mit denen er nach dem damaligen EWG- oder EG-Vertrag befasst war. Vor diesem Hintergrund liegt es jedenfalls nahe, dass über bestimmte Rechtssachen, für die eine sorgfältige Beurteilung der Art und Weise erforderlich sein wird, wie die Europäische Union ihre Zuständigkeiten ausgeübt hat – um ein Gleichgewicht zwischen miteinander konkurrierenden Zielen herzustellen –, direkt von den Unionsgerichten entschieden werden sollte.

142. Generalanwalt Jacobs hat in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache UPA eingehend erläutert, warum seiner Ansicht nach aus mehreren Gründen eine Direktklage vor den Unionsgerichten besser geeignet sei als ein Vorabentscheidungsersuchen, um eine eingehende Prüfung der Gültigkeit eines Unionsrechtsakts zu gewährleisten(128). Diese Gründe – die hier nicht erörtert zu werden brauchen – sind meines Erachtens weitgehend auch heute noch relevant.

143. Außerdem würde mein Vorschlag das – von Generalanwalt Wathelet hervorgehobene – Problem mildern, dass es auch nach den Änderungen an Art. 263 AEUV durch den Vertrag von Lissabon Fälle geben kann, in denen auf nationaler Ebene keine Klagemöglichkeit zur Verfügung steht, um entsprechende Fragestellungen vor einem nationalen Gericht geltend zu machen(129). In diesen Fällen ist die Lehrmeinung, dass die Verträge ein vollständiges System von Rechtsbehelfen und Verfahren geschaffen haben, das die Rechtmäßigkeitskontrolle der Unionshandlungen gewährleisten soll(130) – um ein Oxymoron zu bemühen –, keine absolute Wahrheit.

144. Diese Lücken zu schließen, wäre auch von größter Bedeutung, wenn die Europäische Union der EMRK beitreten sollte, wie von Art. 6 Abs. 2 EUV verlangt. Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR ist Art. 6 EMRK, der das Recht auf ein faires Verfahren betrifft, eine Bestimmung, die u. a. i) eines der grundlegenden Prinzipien jeder demokratischen Gesellschaft festschreibt, ii) nicht eng ausgelegt werden darf, iii) nicht Rechte garantieren soll, die „theoretisch oder illusorisch“ sind, sondern solche, die „konkret und wirksam“ sind, und iv) deren Anforderungen stets erfüllt sein müssen(131). Im Licht des EGMR-Urteils Klimaseniorinnen(132) und angesichts des Zusammenhangs zwischen Art. 47 der Charta und Art. 6 EMRK käme eine Erwägung dieser Frage offenbar zu einem besonders geeigneten Zeitpunkt. Denn nach dem erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen über ein revidiertes Abkommen im März 2023(133) und der Verkündung des Urteils des Gerichtshofs KS und KD(134) sind einige Beobachter der Ansicht, dass der Weg für einen Beitritt wieder offen sein könnte(135).

145. Im Licht der vorstehenden Erwägungen werde ich jetzt das Vorbringen der Rechtsmittelführerinnen in der vorliegenden Rechtssache prüfen.

B.      Erster Teil des Rechtsmittelgrundes

1.      Vorbringen der Parteien

146. Mit dem ersten Teil ihres Rechtsmittelgrundes, der sich gegen die Rn. 45 bis 52 des angefochtenen Beschlusses richtet, machen die Rechtsmittelführerinnen geltend, das Gericht habe Art. 263 Abs. 4 AEUV falsch ausgelegt und den Sachverhalt falsch beurteilt, indem es entschieden habe, dass sie von der streitigen Verordnung nicht individuell betroffen seien und ihre Nichtigkeitsklage daher unzulässig sei. Das Gericht habe die rechtliche Bedeutung der Beweise, auf die sie sich im Verfahren vor dem Gericht gestützt hätten, fehlerhaft beurteilt und fehlerhaft festgestellt, dass diese nicht ausreichten, um eine individuelle Betroffenheit festzustellen. Das Gericht habe keine umfassende Würdigung der Lage der Rechtsmittelführerinnen vorgenommen, sondern jeden der von ihnen angeführten Gesichtspunkte gesondert beurteilt. Dieser Ansatz stehe im Widerspruch zur ständigen Rechtsprechung, wonach das Bündel von Umständen oder die Gesamtheit der tatsächlichen und rechtlichen Faktoren zu ermitteln sei, das bzw. die eine Individualisierung der klägerischen Partei gegenüber den sonstigen berührten Personen kennzeichnen könnte.

147. Nach Ansicht der Kommission ist der erste Teil des Rechtsmittelgrundes der Rechtsmittelführerinnen unbegründet. Insbesondere folge aus der Tatsache, dass das Gericht das Vorbringen der Rechtsmittelführerinnen systematisch und strukturiert geprüft habe, nicht, dass es das Bündel von Umständen nicht in seiner Gesamtheit berücksichtigt habe. Die Rechtsmittelführerinnen hätten sich im ersten Rechtszug zur Untermauerung ihres Vorbringens zur individuellen Betroffenheit auf eine relativ begrenzte Anzahl von Argumenten gestützt, nämlich im Wesentlichen darauf, i) dass sie einen geschlossenen Kreis von Wirtschaftsteilnehmern bildeten, der zum Zeitpunkt des Erlasses der delegierten Richtlinie aufgrund von nach den Art. 5 und 19 der Richtlinie 2014/40 erfolgten Erklärungen und Meldungen feststellbar gewesen sei und tatsächlich festgestanden habe, und ii) dass die delegierte Richtlinie geeignet sei, sich auf ihre Marktposition erheblich auszuwirken. Auf diese beiden Argumente sei im angefochtenen Beschluss zutreffend eingegangen worden. Ferner trügen die Rechtsmittelführerinnen zu Unrecht vor, das Gericht habe festgestellt, dass der angefochtene Rechtsakt allen Wirtschaftsteilnehmern gegenüber die gleiche Wirkung entfalte. Das Gericht habe nämlich festgestellt, dass diese Maßnahme sich sowohl auf Wirtschaftsteilnehmer, die eine Genehmigung für das Inverkehrbringen erhitzter Tabakerzeugnisse hätten, als auch auf Wirtschaftsteilnehmer, die keine solche Genehmigung hätten, aber beabsichtigten, solche Erzeugnisse in den Verkehr zu bringen, auf die gleiche Weise auswirke.

148. Die französische Regierung unterstützt das Vorbringen der Kommission. Sie betont insbesondere, dass allein durch die Tatsache, dass die Rechtsmittelführerinnen zu einer feststehenden Gruppe von Wirtschaftsteilnehmern gehörten, für sich genommen nicht nachgewiesen werde, dass sie von der angefochtenen Maßnahme individuell betroffen seien. Es handele sich um eine Maßnahme mit allgemeiner Geltung, da sie auf alle Wirtschaftsteilnehmer anwendbar sei, die im Bereich der Vermarktung erhitzter Tabakerzeugnisse tätig oder an einer solchen Tätigkeit interessiert seien, unabhängig davon, ob sie eine Genehmigung für die Vermarktung erhalten oder beantragt hätten.

2.      Würdigung

149. Meines Erachtens ist der vorliegende Teil des Rechtsmittelgrundes begründet, da das Gericht Art. 263 Abs. 4 AEUV fehlerhaft ausgelegt und angewandt hat. Nach einer kurzen Zusammenfassung der relevanten Passagen des angefochtenen Beschlusses (a) werde ich erläutern, warum die darin enthaltene Begründung in Bezug auf die Voraussetzung der individuellen Betroffenheit nicht überzeugend ist (b). Ich werde erläutern, warum das Gericht, wenn es die Plaumann-Rechtsprechung richtig angewandt hätte, insoweit zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre.

a)      Angefochtener Beschluss

150. In den Rn. 34 bis 46 des angefochtenen Beschlusses hat das Gericht zunächst auf die Grundzüge der Plaumann-Rechtsprechung hingewiesen. Anschließend hat es kurz die relevanten Aspekte des in der Richtlinie 2014/40 für den Verkauf von Tabakerzeugnissen auf dem Unionsmarkt festgelegten Systems erörtert. In diesem Zusammenhang hat es betont, dass „die Hersteller und Importeure nur die Tabakerzeugnisse in Verkehr bringen dürfen, die den Anforderungen der Richtlinie entsprechen, die die dort geregelten Meldeverfahren durchlaufen haben und für die gegebenenfalls die von den Mitgliedstaaten, die ein Zulassungssystem eingeführt haben, vorgesehenen Genehmigungen vorliegen“. Wie vom Gericht angeführt, sind insoweit die Verpflichtungen, die insbesondere für Hersteller und Importeure neuartiger Tabakerzeugnisse gelten, in den Art. 5 und 19 der Richtlinie 2014/40 geregelt.

151. Anschließend hat das Gericht geprüft, ob der Umstand, dass die Rechtsmittelführerinnen zum einen bei den zuständigen Behörden diese Meldungen vorgenommen hatten und dass zum anderen einige von ihnen Genehmigungen für die Vermarktung von erhitzten Tabakerzeugnissen mit charakteristischen Aromastoffen (in denjenigen Mitgliedstaaten, die ein Zulassungssystem eingeführt haben) erhalten hatten, ein hinreichender Faktor war, um sie im Sinne des Urteils Plaumann zu individualisieren.

152. Dies hat das Gericht verneint.

153. Zunächst hat das Gericht festgestellt, dass der Umstand, dass die Wirtschaftsteilnehmer, die eine Meldung vorgenommen hätten oder im Besitz einer Genehmigung gewesen seien, zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Rechtsakts feststellbar gewesen seien, allein nicht ausreiche, wenn der Rechtsakt aufgrund von generellen und abstrakten Erwägungen anwendbar sei. Das Gericht hat insoweit festgestellt, dass die Kommission nicht verpflichtet gewesen sei, der Situation dieser Wirtschaftsteilnehmer beim Erlass des angefochtenen Rechtsakts besonders Rechnung zu tragen. Auch der Umstand, dass derzeit nur eine geringe Zahl von Unternehmen von dem angefochtenen Rechtsakt betroffen sei, könne nicht durchgreifen.

154. Das Gericht hat weiter festgestellt, dass zwar „das sich aus dem angefochtenen Rechtsakt ergebende absolute Verbot, erhitzte Tabakerzeugnisse mit charakteristischen Aromastoffen zu vermarkten, zwangsläufig dazu führt, dass die Genehmigungen, die einige Klägerinnen besitzen, in Frage gestellt werden“, dieser Gesichtspunkt jedoch „nicht die Position ihrer Inhaber… individualisieren“ könne. Der Grund hierfür sei, dass die in Rede stehenden Genehmigungen ihren Inhabern keine „erworbenen Rechte“ verliehen. Die Wirkungen des angefochtenen Rechtsakts träten, wie das Gericht weiter festgestellt hat, gegenüber allen gegenwärtigen und künftigen Marktteilnehmern ein. Weiter hat das Gericht festgestellt, dass die von den Mitgliedstaaten ausgestellten Genehmigungen „ohne Exklusivität erteilt [worden sind], sondern allein auf der Grundlage der Konformität der Erzeugnisse; auch aus den von den Wirtschaftsteilnehmern vorgenommenen Meldungen ergibt sich keine Exklusivität“.

155. Schließlich hat das Gericht hervorgehoben, dass gemäß der Richtlinie 2014/40 verschiedene delegierte Rechtsakte die Voraussetzungen für die Vermarktung der Tabakerzeugnisse, die in ihren Anwendungsbereich fielen, präzisieren oder abändern könnten, u. a. auch was die Aufhebung der in Rede stehenden Ausnahmen angehe. Daraus folge, dass „die Genehmigungen für die Vermarktung von erhitzten Tabakerzeugnissen mit charakteristischen Aromastoffen, die einige der Klägerinnen besitzen, nicht als zeitlich unbeschränkt angesehen werden können, was auch für das Recht gilt, diese Erzeugnisse, für die eine Meldung vorgenommen wurde, zu vermarkten“.

b)      Rechtsfehler im angefochtenen Beschluss

156. Vorab mag der Hinweis sinnvoll sein, dass unstreitig ist, dass es sich bei dem angefochtenen Rechtsakt grundsätzlich um einen Rechtsakt mit allgemeiner Geltung handelt, da er eine Anzahl von Marktteilnehmern (Hersteller und Importeure von Tabakerzeugnissen, insbesondere erhitzten Tabakerzeugnissen) betrifft, die in genereller und abstrakter Weise bestimmt sind. Ebenso ist unstreitig, dass weder im angefochtenen Rechtsakt noch in dem durch ihn geänderten Hauptrechtsakt, nämlich der Richtlinie 2014/40, ein bestimmter Wirtschaftsteilnehmer ausdrücklich genannt ist.

157. Vor diesem Hintergrund ist meines Erachtens nachvollziehbar, dass das Gericht im angefochtenen Beschluss festgestellt hat, dass die Rechtsmittelführerinnen, um als von dem angefochtenen Rechtsakt individuell betroffen angesehen zu werden, nachweisen müssten, dass sie das Kriterium des geschlossenen Kreises erfüllten. Hierzu hat das Gericht sodann – meines Erachtens ebenfalls zutreffend – geprüft, ob die Rechtsmittelführerinnen zum Zeitpunkt des Erlasses des Rechtsakts i) zu den Personen gehörten, die als von der Maßnahme betroffen festgestellt werden konnten, und ii) zu einem beschränkten Kreis von Wirtschaftsteilnehmern gehörten, die von den übrigen betroffenen Personen hinreichend individualisiert werden konnten.

158. Nach Prüfung der von den Verfahrensbeteiligten vorgetragenen Gesichtspunkte ist das Gericht zu dem Schluss gekommen, dass i) die Rechtsmittelführerinnen tatsächlich zu den Personen gehört hätten, die als von der Maßnahme betroffen festgestellt werden könnten, aber ii) dass sie von allen sonstigen, von dieser Maßnahme betroffenen Wirtschaftsteilnehmern nicht hinreichend individualisiert werden könnten.

159. Während die erste Schlussfolgerung des Gerichts eindeutig zutreffend ist, ist die zweite – meines Erachtens – aus zahlreichen Gründen problematisch. Das soll nicht heißen, dass die Feststellungen des Gerichts nicht durch bestimmte Urteile der Unionsgerichte gestützt werden. Gleichwohl scheint mir recht eindeutig, dass diese Feststellungen, wenn die Rechtsprechung in ihrer Gesamtheit betrachtet und realistisch und nicht formalistisch angewandt wird, nicht aufrechterhalten werden können.

160. Zwar sind die Rechtsmittelführerinnen, wie vom Gericht ausgeführt, von dem angefochtenen Rechtsakt betroffen, weil sie Unternehmen sind, die eine wirtschaftliche Tätigkeit (Herstellung und/oder Vermarktung erhitzter Tabakerzeugnisse) ausüben, die sowohl jetzt als auch in Zukunft von jedem Unternehmen, das auf diesem Markt tätig werden möchte, ausgeübt werden kann. Demnach trifft es auf einer abstrakten Prüfungsebene – d. h. bei ausschließlicher Betrachtung des persönlichen Anwendungsbereichs des angefochtenen Rechtsakts – zu, dass sich die Auswirkungen des angefochtenen Rechtsakts auf die Tätigkeiten der Rechtsmittelführerinnen nicht von denjenigen auf jeden gegenwärtigen und künftigen Marktteilnehmer unterscheiden. Im Wesentlichen wird die Maßnahme den Verkauf von aromatisierten Erzeugnissen auf dem Unionsmarkt unmöglich machen und Unternehmen, die auf diesem Markt tätig sind, dazu verpflichten, bestimmte Warnhinweise in die Verpackung aufzunehmen.

161. Die vom Gericht anschließend vorgenommene Prüfung der tatsächlichen Lage der Rechtsmittelführerinnen – zur Feststellung des Vorliegens eines beschränkten Kreises von betroffenen Personen – war jedoch meines Erachtens sowohl unvollständig als auch nicht eingehend genug. Nach meinem Verständnis hat das Gericht i) die Bedeutung bestimmter, von den Rechtsmittelführerinnen vorgetragener Gesichtspunkte fehlerhaft beurteilt und ii) andere von den Rechtsmittelführerinnen angeführte Gesichtspunkte nicht berücksichtigt.

162. Meines Erachtens kommt – auf einer allgemeinen Ebene – in der vorliegenden Rechtssache das zum Ausdruck, was den der Plaumann-Rechtsprechung zugrunde liegenden Grundgedanken entsprechen dürfte, nämlich Personen die Anfechtung von Rechtsakten zu ermöglichen, bei denen das handelnde Organ ihre besondere Lage vor dem Erlass (ausdrücklich oder stillschweigend) berücksichtigt hat oder hätte berücksichtigen müssen(136). Konkret ergeben sich, wenn man die sowohl rechtliche als auch tatsächliche Lage der Rechtsmittelführerinnen anhand der bisherigen Rechtsprechung prüft, zahlreiche Gemeinsamkeiten mit Fällen, in denen die Unionsgerichte die Kläger als individuell betroffen angesehen haben.

163. Erstens lässt sich in der vorliegenden Rechtssache kaum bestreiten, dass die Kommission nach den anwendbaren Rechtsvorschriften beim Erlass des angefochtenen Rechtsakts die Lage einer bestimmten Kategorie von Marktteilnehmern berücksichtigen musste, nämlich derjenigen, die ein neuartiges Tabakerzeugnis herstellen und vermarkten, für das die Ausnahmen aufgehoben wurden(137). Der Absatz dieser Wirtschaftsteilnehmer in Verbindung mit dem Alter ihrer Kunden – berechnet auf der Grundlage der von den Unternehmen selbst vorgelegten Daten – haben nach den Angaben der Kommission(138) zur Aufhebung der Ausnahmen geführt.

164. Es ist unstreitig, dass die Kommission in der vorliegenden Rechtssache vor dem Erlass des angefochtenen Rechtsakts u. a. den Absatz der Rechtsmittelführerinnen und den Anteil junger Verbraucher an der Gesamtheit der Kunden berücksichtigt hat(139). Die Frage, ob sie hierbei richtig gehandelt hat, ist jedoch streitig und stellt einen der Klagegründe der Rechtsmittelführerinnen im ersten Rechtszug dar. Dies ist ein Gesichtspunkt, den die vorliegende Rechtssache mit den oben in Nr. 31 genannten Rechtssachen gemeinsam hat.

165. Zweitens ähnelt die vorliegende Rechtssache auch einigen der Fälle, in denen die Unionsgerichte – wie oben in Nr. 32 erläutert – die individuelle Betroffenheit für Personen bejaht haben, die nachgewiesen hatten, dass die angefochtene Maßnahme Auswirkungen auf ein erworbenes Recht hatte. Wie nämlich vom Gericht in Rn. 47 des angefochtenen Beschlusses ausgeführt, „steht … außer Zweifel, dass das sich aus dem angefochtenen Rechtsakt ergebende absolute Verbot, erhitzte Tabakerzeugnisse mit charakteristischen Aromastoffen zu vermarkten, zwangsläufig dazu führt, dass die [von den Mitgliedstaaten, wie nach Art. 19 Abs. 3 der Richtlinie 2014/40 erlaubt, erteilten] Genehmigungen, die einige Klägerinnen besitzen, in Frage gestellt werden“.

166. Insoweit stimme ich mit dem Gericht nicht darin überein, dass der Besitz solcher Genehmigungen unerheblich sei, weil i) sie in einigen Mitgliedstaaten nicht erforderlich seien, ii) ohne Ausschließlichkeit erteilt worden seien, und iii) nicht als „zeitlich unbeschränkt“ angesehen werden könnten, da die Bestimmungen der Richtlinie 2014/40 der Kommission erlaubten, die Ausnahmen für erhitzte Tabakerzeugnisse zurückzunehmen. Meines Erachtens ist nämlich keine dieser Erwägungen überzeugend.

167. Zunächst ist meines Erachtens nicht ersichtlich, warum die Tatsache, dass einige Mitgliedstaaten sich dafür entschieden haben, kein System der vorherigen Genehmigung für die Vermarktung neuartiger Tabakerzeugnisse einzuführen, ein Ausschlusskriterium sein sollte. In einem Bereich der geteilten Zuständigkeit, für den der Unionsgesetzgeber nur eine teilweise Harmonisierung vorgenommen hat und den Mitgliedstaaten die Regelung bestimmter spezifischer Fragen (innerhalb der durch die einschlägigen Unionsvorschriften festgelegten Grenzen, hier Art. 19 der Richtlinie 2014/40) freistellt, gibt es keinen Grund für die Annahme, dass nur die von den Unionsbehörden gewährten und/oder das gesamte Unionsgebiet betreffenden Rechte einen besonderen Schutz auf Unionsebene rechtfertigen. Wird durch eine bestimmte Unionsmaßnahme ein erworbenes Recht einer Person verletzt, sollte diese Person in der Lage sein, die betreffende Maßnahme unabhängig davon anzufechten, woraus sich dieses Recht ergibt oder welchen räumlichen Geltungsbereich es hat.

168. Ferner ist die Frage, ob es sich bei den Rechten, die durch die angefochtene Maßnahme verletzt worden sein sollen, um ausschließliche Rechte handelt oder nicht, meines Erachtens nach Art. 263 Abs. 4 AEUV unerheblich. Wie oben in den Nrn. 23 bis 26 erläutert, muss ein Kläger nach der Plaumann-Rechtsprechung nicht die einzige von der angefochtenen Maßnahme betroffene und auch nicht die einzige, in unterscheidbarer Weise betroffene Person sein. Es ist vielmehr ausreichend, dass er zu einem beschränkten Kreis von in dieser Weise betroffenen Personen gehört. Die Tatsache, dass es sich um ausschließliche Rechte handelt, ist ganz eindeutig ein Gesichtspunkt, der bei der Prüfung der „individuellen Betroffenheit“ relevant sein kann (wie dies z. B. im Urteil Infront(140) der Fall war, auf das im angefochtenen Beschluss Bezug genommen wird), doch handelt es sich hierbei sicherlich nicht um eine Sine-qua-non-Voraussetzung (wie Urteile wie Stichting Woonpunt(141) zeigen, das im angefochtenen Beschluss ebenfalls erwähnt wird).

169. Schließlich ist auch das Erfordernis, dass das Recht zeitlich unbeschränkt erworben sein muss, nach begrifflichem Verständnis verwunderlich. Insoweit dürfte es kaum der Erwähnung bedürfen, dass die nationalen Gesetzgeber und der Unionsgesetzgeber innerhalb bestimmter Grenzen stets Rechtsakte erlassen können, mit denen die Dauer, der Anwendungsbereich oder die Natur der Rechte, die Personen nach den bestehenden Rechtsvorschriften genießen, geändert werden. Meines Erachtens ist daher davon auszugehen, dass das Gericht in dieser Passage des angefochtenen Beschlusses darauf hinweisen wollte, dass die Rechtsmittelführerinnen sich der Tatsache bewusst waren (oder hätten sein müssen), dass die Ausnahmen für erhitzte Tabakerzeugnisse nach den Bestimmungen der Richtlinie 2014/40 zurückgenommen werden konnten, sobald bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein würden. Die Rechtsmittelführerinnen haben mit ihrer Klage vor dem Gericht jedoch geltend gemacht, dass i) die Bestimmungen dieser Richtlinie, die die Rücknahme der Ausnahmen erlaubten, auf neuartige Tabakerzeugnisse nicht anwendbar gewesen seien und ii) jedenfalls die dort genannten Voraussetzungen für die Rücknahme in der vorliegenden Rechtssache nicht erfüllt gewesen seien. Meines Erachtens sollten die Rechtsmittelführerinnen das Recht haben, dieses Vorbringen von den Unionsgerichten prüfen zu lassen. Eine inzidente und mittelbare Prüfung dieses Vorbringens, wie sie das Gericht beiläufig (in Rn. 50 des angefochtenen Beschlusses) bei der Entscheidung über die Zulässigkeit der Klage vorgenommen hat, steht sicherlich mit dem Recht der Rechtsmittelführerinnen auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz nicht im Einklang.

170. Die vorliegende Rechtssache ähnelt vielmehr in gewissem Maße der dem Urteil Belgien und Forum 187/Kommission zugrunde liegenden Rechtssache, in dem der Gerichtshof die individuelle Betroffenheit verschiedener Unternehmen im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV bejaht hat, die über eine Anerkennung verfügten, die aufgrund des angefochtenen Unionsrechtsakts nicht mehr verlängert werden konnte(142).

171. Drittens weist die vorliegende Rechtssache große Ähnlichkeit mit den – oben in den Nrn. 33 und 34 angeführten – Rechtssachen auf, in denen die individuelle Betroffenheit für Personen bejaht wurde, die in dem Verfahren, das zum Erlass des angefochtenen Rechtsakts führte, eine maßgebliche Rolle gespielt hatten. Insbesondere ist die Lage der Rechtsmittelführerinnen meines Erachtens derjenigen der Unternehmen gleichzustellen, deren Angaben zur Berechnung wesentlicher Parameter im Rahmen von Antidumpingverfahren verwendet wurden(143).

172. Dies ist ein Gesichtspunkt, den das Gericht außer Acht gelassen hat, obwohl einer der beiden von den Rechtsmittelführerinnen geltend gemachten Nichtigkeitsgründe gerade die Verwendung der von den Rechtsmittelführerinnen vorgelegten Daten durch die Kommission betraf. Da der BAT‑Konzern einer der beiden führenden Hersteller und Vertreiber von erhitzten Tabakerzeugnissen auf dem Unionsmarkt ist, wurde den von ihm vorgelegten Daten bei den Berechnungen, die die Kommission anstellte, um festzustellen, ob eine wesentliche Änderung der Umstände im Sinne der Richtlinie 2014/40 vorlag, eindeutig sehr großes Gewicht beigemessen. Die Rechtsmittelführerinnen sollten somit das Recht haben, diese Berechnungen von den Unionsgerichten überprüfen zu lassen.

173. Viertens handelt es sich bei dem angefochtenen Rechtsakt nicht um einen Rechtsakt des Unionsgesetzgebers, der von seiner politischen Gestaltungsbefugnis Gebrauch macht, um eine bestimmte wirtschaftliche Tätigkeit in genereller und abstrakter Weise zu regeln. Vielmehr handelt es sich bei dem angefochtenen Rechtsakt um einen Rechtsakt mit Verordnungscharakter, der von der Kommission auf der Grundlage der ihr vom Unionsgesetzgeber übertragenen Befugnisse in einem Verfahren, das keinen Gesetzgebungscharakter hat, erlassen und durch eine ganz besondere Situation (das Wachstum des Absatzes erhitzter Tabakerzeugnisse) veranlasst wird. Somit hat der angefochtene Rechtsakt trotz seines quasi-legislativen Charakters eindeutig einen Entscheidungsgehalt (ähnlich wie eine Verwaltungsentscheidung). Daher dürfte die vorliegende Rechtssache meines Erachtens ganz eindeutig unter die oben in den Nrn. 35 und 36 genannte Rechtsprechungslinie derjenigen Fälle fallen, in denen die Unionsgerichte anerkannt haben, dass Personen, deren Marktposition durch den angefochtenen Rechtsakt spürbar beeinträchtigt wurde, zu seiner Anfechtung klagebefugt sind.

174. Das Vorbringen der Rechtsmittelführerinnen, der angefochtene Rechtsakt habe ihre Marktposition spürbar beeinträchtigt, ist angesichts des Volumens ihres Absatzes von aromatisierten erhitzten Tabakerzeugnissen auf dem Unionsmarkt zumindest prima facie plausibel. Ich würde gleichwohl noch weiter gehen als das und stelle fest, dass sie, auch unter diesem Blickwinkel, in durchaus singulärer Art und Weise beeinträchtigt wurden.

175. Im ersten Rechtszug hatten die Rechtsmittelführerinnen das Volumen der in den letzten Jahren in Bezug auf erhitzte Tabakerzeugnisse getätigten Investitionen angegeben (und einschlägige Nachweise dafür vorgelegt). Diesen Gesichtspunkt hat das Gericht jedoch – meines Erachtens fehlerhaft – vollständig außer Acht gelassen. Es ist nämlich unstreitig, dass die Klägerinnen zu den (sehr wenigen) Unternehmen gehören, die ein neuartiges Tabakerzeugnis auf dem Unionsmarkt eingeführt haben. Hierfür mussten sie erhebliche Investitionen tätigen, u. a. um eine neue Technologie zu entwickeln, neue Vertriebskanäle zu schaffen und das Erzeugnis Kunden bekannt und für diese attraktiv zu machen. Es wäre nicht unzutreffend, zu sagen, dass der angefochtene Rechtsakt – wie oben in Nr. 98 ausgeführt – gerade aus dem Grund eingeführt wurde, dass die Klägerinnen hierbei recht erfolgreich waren, mit der Folge, dass der Absatz des betreffenden Erzeugnisses in relativ kurzer Zeit stark anstieg.

176. Vor diesem Hintergrund ist die Annahme, dass Unternehmen, die vor Kurzem in den Unionsmarkt für erhitzte Tabakerzeugnisse eingetreten sind oder in Zukunft eintreten werden – möglicherweise indem sie die von Unternehmen wie den Rechtsmittelführerinnen getätigten Investitionen als Trittbrettfahrer nutzen –, sich in einer mit derjenigen der Rechtsmittelführerinnen vergleichbaren Situation befänden, wirtschaftlich betrachtet unsinnig.

177. Die obigen Erwägungen zeigen, dass es im Licht der Plaumann-Rechtsprechung vier voneinander zu unterscheidende Gründe gibt, aus denen die Rechtsmittelführerinnen als von dem angefochtenen Rechtsakt individuell betroffen anzusehen gewesen wären. Es ist durchaus möglich, dass jeder einzelne dieser Gründe hierfür ausreichend sein könnte. Erst recht der Fall wäre dies, wenn diese Gründe zusammen betrachtet würden, was, wie von den Rechtsmittelführerinnen betont, ständige Praxis der Unionsgerichte ist(144).

178. Ich komme daher zu dem Ergebnis, dass der erste Teil des Rechtsmittelgrundes der Rechtsmittelführerinnen begründet ist.

C.      Zweiter Teil des Rechtsmittelgrundes

1.      Vorbringen der Parteien

179. Der zweite Teil des Rechtsmittelgrundes der Rechtsmittelführerinnen richtet sich gegen die Rn. 54 und 55 des angefochtenen Beschlusses, in denen das Gericht auf ihr Vorbringen eingeht, wonach sie aufgrund des Kriteriums der erheblichen Auswirkungen auf ihre Marktposition als individuell betroffen anzusehen seien. Die Rechtsmittelführerinnen betonen, dass i) es auf dem Unionsmarkt für erhitzte Tabakerzeugnisse nur zwei bedeutende Marktteilnehmer gebe, die praktisch alle in der Europäischen Union gekauften erhitzten Tabakerzeugnisse vertrieben (über 99 %), und ii) das Portfolio des BAT‑Konzerns an erhitzten Tabakerzeugnissen in der Europäischen Union stark auf aromatisierte Erzeugnisse zugeschnitten sei (etwa 70 % seines Absatzes).

180. Nach Ansicht der Kommission und der französischen Regierung reicht dieses Vorbringen nicht aus, um die Feststellung einer „individuellen Betroffenheit“ zu begründen. Die Auswirkungen des angefochtenen Rechtsakts auf die Marktposition der Rechtsmittelführerinnen würden, selbst wenn sie erheblich wären, für sich genommen, eine solche Feststellung nicht rechtfertigen.

2.      Würdigung

181. Da ich zu dem Ergebnis gelangt bin, dass der erste Teil des Rechtsmittelgrundes der Rechtsmittelführerinnen begründet ist, bedarf der zweite Teil dieses Rechtsmittelgrundes selbstverständlich keiner Prüfung. Jedenfalls steht fest, dass der zweite Teil des Rechtsmittelgrundes der Rechtsmittelführerinnen aus den oben in den Nrn. 35, 36 und 173 bis 176 dargelegten Gründen meines Erachtens ebenfalls begründet ist.

182. Für den Fall jedoch, dass der Gerichtshof mit meiner Würdigung des ersten Teils des Rechtsmittelgrundes nicht übereinstimmen sollte, hätte dies zur Folge, dass auch der zweite Teil dieses Rechtsmittelgrundes als unbegründet zurückzuweisen wäre. In diesem Fall müsste ich daher der Kommission und der französischen Regierung darin zustimmen, dass allein die Tatsache, dass der angefochtene Rechtsakt die wirtschaftlichen Tätigkeiten der Rechtsmittelführerinnen – wegen ihres erheblichen Marktanteils auf dem Unionsmarkt und/oder der großen Bedeutung der betreffenden Erzeugnisse unter den Erzeugnissen in ihrem Portfolio – in besonders schwerwiegender Weise betrifft, für sich genommen kein Gesichtspunkt ist, der es rechtfertigt, sie nach Art. 263 Abs. 4 AEUV als individuell betroffen anzusehen(145).

VI.    Folgen der Würdigung

183. Da der Rechtsmittelgrund der Rechtsmittelführerinnen begründet ist, ist der angefochtene Beschluss aufzuheben.

184. Nach Art. 61 Abs. 1 seiner Satzung kann der Gerichtshof der Europäischen Union im Fall der Aufhebung der Entscheidung des Gerichts die Sache zur Entscheidung an das Gericht zurückverweisen oder den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung reif ist.

185. In der vorliegenden Rechtssache ist der Rechtsstreit meines Erachtens zur Entscheidung durch den Gerichtshof dahin reif, endgültig zur Zulässigkeit der von den Rechtsmittelführerinnen beim Gericht erhobenen Nichtigkeitsklage Stellung zu nehmen.

186. Das Gericht hat in den Rn. 18 bis 33 des angefochtenen Beschlusses die von der Kommission erhobene Einrede der Unzulässigkeit zurückgewiesen, soweit diese geltend gemacht hatte, dass die Rechtsmittelführerinnen von dem angefochtenen Rechtsakt nicht unmittelbar betroffen seien. Dieser Teil des Beschlusses wurde mit dem Rechtsmittel nicht angegriffen und ist daher rechtskräftig.

187. Dementsprechend folgt daraus, da die Rechtsmittelführerinnen als von dem angefochtenen Rechtsakt sowohl individuell als auch unmittelbar betroffen anzusehen sind, dass ihre Klage im ersten Rechtszug zulässig ist.

188. Dagegen ist der Rechtsstreit nicht zur Entscheidung in der Sache dahin reif, dass der Gerichtshof über die Begründetheit dieser Klage befinden könnte.

189. Die Rechtsmittelführerinnen haben in ihrer Klageschrift im Verfahren vor dem Gericht zwei Klagegründe gegen den angefochtenen Rechtsakt geltend gemacht. Zur Würdigung dieser Klagegründe wäre eine eingehende rechtliche und tatsächliche Würdigung des Vorbringens aller Verfahrensbeteiligten im Licht der von ihnen vorgelegten Beweise erforderlich. Mangels einer solchen Würdigung im angefochtenen Beschluss wäre es nicht angebracht, dass der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache endgültig entscheidet.

190. Dementsprechend ist die Sache an das Gericht zurückzuverweisen und die Kostenentscheidung vorzubehalten.

VII. Ergebnis

191. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor,

–        den Beschluss vom 20. September 2023, Nicoventures Trading u. a./Kommission (T‑706/22, EU:T:2023:579), aufzuheben;

–        die Klage für zulässig zu erklären;

–        die Sache zur Entscheidung über die Begründetheit der Klage an das Gericht zurückzuverweisen; und

–        die Entscheidung über die Kosten vorzubehalten.



















































































































































Leave a Comment

Schreibe einen Kommentar