Vorläufige Fassung
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
RIMVYDAS NORKUS
vom 8. Mai 2025(1 )
Verbundene Rechtssachen C ‑72/24 [Keladis I] und C ‑73/24 [Keladis II] (i )
HF (C ‑72/24)
WI (C ‑73/24)
gegen
Anexartiti Archi Dimosion Esodon
(Vorabentscheidungsersuchen des Dioikitiko Protodikeio Thessalonikis [Verwaltungsgericht Thessaloniki, Griechenland])
„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Zollunion – Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 – Zollkodex der Gemeinschaften – Verordnung (EU) Nr. 952/2013 – Zollkodex der Union – Wareneinfuhr – Betrug durch unterbewertete Einfuhren von Waren – Nachrangige Methoden der Zollwertbestimmung – Verwaltungspraxis, die den ‚niedrigsten annehmbaren Preis für die Zollwertbestimmung‘ verwendet “
I. Einleitung
1. Die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen des Dioikitiko Protodikeio Thessalonikis (Verwaltungsgericht Thessaloniki, Griechenland) nach Art. 267 AEUV betreffen die Auslegung der Zoll- und Handelsvorschriften der Union, einschließlich der Bestimmungen zur Durchführung des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens.
2. Sie ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen einerseits zwei natürlichen Personen, nämlich HF, Inhaber eines Unternehmens für Textilwaren in Grevena (Griechenland), und WI, Angestellte eines Einfuhrunternehmens, und andererseits der Anexartiti Archi Dimosion Esodon (Unabhängige Behörde für öffentliche Einnahmen, Griechenland) wegen mehrerer Bescheide zur Nacherhebung von Mehrwertsteuer auf Einfuhren von Textilwaren aus der Türkei. Mit diesen Bescheiden wurde HF und WI, die an Schmuggeldelikten beteiligt sein sollen, die Zahlung zusätzlicher Steuern für die begangenen Zuwiderhandlungen auferlegt. Mit ihrer Klage beantragen HF und WI die Aufhebung der Bescheide, wobei sie sich insbesondere gegen die Methode wenden, mit der die Zollbehörden den Zollwert der fraglichen Waren ermittelt haben und bei der bestimmte statistische Daten verwendet werden.
3. Ob sich die Verwendung dieser statistischen Daten im Rahmen der Ermittlung des Zollwerts mit dem Unionsrecht vereinbaren lässt, ist die entscheidende rechtliche Frage, die sich in den verbundenen Rechtssachen stellt(2 ). Daher werden sich meine Schlussanträge entsprechend dem Ersuchen des Gerichtshofs auf diese Frage konzentrieren. Auch wenn sich aus der bisherigen Rechtsprechung bereits einige Anhaltspunkte ergeben, gebietet die Rechtssicherheit meiner Meinung nach eine Auslegung durch den Gerichtshof, zumal die Antworten auf die Fragen des vorlegenden Gerichts sowohl für die betroffenen Personen als auch für den Unionshaushalt finanzielle Konsequenzen haben können. Die Auslegung müsste auch sicherstellen, dass die nationalen Behörden die Methoden zur Ermittlung des Zollwerts einheitlich anwenden(3 ).
II. Rechtlicher Rahmen
A. Völkerrecht
4. Im Rahmen der vorliegenden Rechtssachen ist Art. 7 Abs. 2 Buchst. f des Übereinkommens zur Durchführung des Artikels VII des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens 1994(4 ) relevant.
B. Unionsrecht
5. Im Rahmen der vorliegenden Rechtssachen sind Art. 85 der Richtlinie 2006/112/EG(5 ), die Art. 29 bis 31 des Zollkodex der Gemeinschaften(6 ), die Art. 152 und 181a sowie Anhang 23 der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93(7 ), die Art. 70, 71 und 74 des Zollkodex der Union(8 ) sowie die Art. 140, 142 und 144 der Durchführungsverordnung (EU) 2015/2447(9 ) relevant.
C. Griechisches Recht
6. In Art. 29 Abs. 1 und 6 des Nomos 2960/2001, Ethnikos Teloniakos Kodikas (Gesetz 2960/2001, Nationales Zollgesetzbuch) (FEK A’ 265, im Folgenden: Zollkodex) heißt es:
„(1) Eine Zollschuld ist die Verpflichtung jeder natürlichen oder juristischen Person gegenüber einer Zollbehörde, alle Zölle, Steuern – einschließlich Mehrwertsteuer – und sonstige vom Staat erhobene Gebühren und Abgaben, die für Waren anfallen und nach den einschlägigen Bestimmungen auf diese erhoben werden, zu entrichten.
…
(6) Zollschuldner ist der Anmelder, die Person, in deren Namen eine Erklärung über Verbrauchsteuern und andere Abgaben abgegeben wird, sowie jede andere Person, zu deren Lasten die Steuerschuld nach den zollrechtlichen Vorschriften entsteht. …“
7. Art. 33 Abs. 1 des Zollkodex lautet:
„Nach Gestellung der Waren bei der Zollbehörde hat der Eigentümer der Waren oder sein gesetzlicher Vertreter nach den geltenden Rechtsvorschriften eine Erklärung abzugeben, damit die Waren gemäß den besonderen Gemeinschaftsvorschriften in ein Zollverfahren überführt oder einer der sonstigen zollrechtlichen Bestimmungen zugeführt werden.“
8. In Art. 155 des Zollkodex heißt es:
„(1) Schmuggel ist
…
b) jede Handlung, die darauf gerichtet ist, dem griechischen Staat oder der Europäischen Union Zölle, Steuern und sonstige Abgaben zu entziehen, die ihnen auf eingeführte oder ausgeführte Waren geschuldet werden, und zwar auch dann, wenn sie zu einer anderen Zeit und in einer anderen Art als nach dem Gesetz festgelegt erhoben wurden. Die in diesem Absatz genannten Zuwiderhandlungen haben zur Folge, dass die Personen, die die Zuwiderhandlungen begangen haben, gemäß den Bestimmungen dieses Gesetzes mit einer erhöhten Abgabe belegt werden, und zwar auch dann, wenn die zuständige Behörde feststellt, dass die Merkmale des Straftatbestands des Schmuggels nicht erfüllt sind.
(2) Als Schmuggel gelten die folgenden Handlungen:
…
g) der Ankauf, Verkauf und Besitz von Waren, die in einer als Schmuggel einzustufenden Weise eingeführt oder in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt wurden;
…
i) die Unter- oder Überbewertung eingeführter oder ausgeführter Waren, wenn sie zu einem Ausfall von Zöllen, Steuern und anderen Abgaben führt [Buchst. i in der durch Art. 1 Abs. 60 des Gesetzes 3583/2007 ersetzten Fassung].
…“
9. Art. 35 Abs. 3 des Nomos 2859/2000, Kyrosi Kodika Forou Prostithemenis Axias (Gesetz 2859/2000 über die Mehrwertsteuer) (FEK A’ 248/7.11.2000, im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) bestimmt:
„Schuldner der Einfuhrmehrwertsteuer ist derjenige, der nach den zollrechtlichen Vorschriften als Eigentümer der eingeführten Waren gilt.“
III. Sachverhalt der Rechtsstreitigkeiten, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
A. Rechtssache C ‑72/24 (Keladis I)
10. Im Jahr 2014 führte HF im Rahmen seiner Geschäftstätigkeit Textilwaren aus der Türkei nach Griechenland ein.
11. Die Zollanmeldungen bei den Zollbehörden erfolgten nach dem vereinfachten Anmeldeverfahren gemäß Art. 81 ZKG, wonach die Zollbehörden auf Antrag des Anmelders zulassen können, dass die Abgaben für die gesamte Sendung auf der Grundlage der zolltariflichen Einreihung der Ware ermittelt werden, für die die höchste Einfuhrabgabenbelastung gilt.
12. Gemäß dem Beschluss Nr. 1/95 des Assoziationsrates EG-Türkei vom 22. Dezember 1995 über die Durchführung der Endphase der Zollunion (96/142/EG) (ABl. 1996, L 35, S. 1) werden auf Waren aus der Türkei keine Zölle erhoben. Folglich unterlagen die von der Einfuhrgesellschaft angemeldeten Waren nur der Einfuhrmehrwertsteuer, wobei als Besteuerungsgrundlage der Zollwert herangezogen wurde, den die Gesellschaft in ihren Einfuhranmeldungen angegeben hatte.
13. Im Jahr 2016 wurde das Unternehmen aufgrund einer Beschwerde über Unterbewertungen eingeführter Waren einer Prüfung durch die Zollbehörden unterzogen, die begründete Anhaltspunkte dafür lieferte, dass in mehreren Zollanmeldungen ein unzutreffender Zollwert angegeben worden war und es sich bei dem in den Anmeldungen angegebenen Warenempfänger nicht um den tatsächlichen Eigentümer der Waren gehandelt hatte.
14. Aufgrund ihrer Zweifel führten die Zollbehörden am 14. Dezember 2016 eine nachträgliche Überprüfung aller Zollanmeldungen durch, bei der sie zu dem Schluss gelangten, dass ein Schmugglerring vorliege, auf den 289 unrichtige Einfuhranmeldungen zurückzuführen seien. Die Zollbehörden stellten insoweit fest, dass der Schmugglerring mittels eines komplexen Betrugssystems Zollwerte anmelde, die deutlich unter den wirtschaftlich rentablen Mindestpreisen lägen.
15. Die Zollbehörden wiesen jedoch darauf hin, dass sie nicht rekonstruieren könnten, welche Preise den türkischen Lieferanten tatsächlich für diese Waren gezahlt worden seien, da eine nachträgliche physische Kontrolle der Waren nicht möglich sei und die entsprechenden Rechnungen nur allgemeine Warenbeschreibungen enthielten.
16. Vor diesem Hintergrund ermittelten die Zollbehörden zur Bestimmung des Zollwerts der fraglichen Waren den niedrigsten annehmbaren Preis („lowest acceptable price“, im Folgenden: LAP), indem sie ein auf unionsweit erhobenen Daten beruhendes Instrument zur Risikobewertung verwendeten, das das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) entwickelt hatte.
17. Diese Methode besteht darin, zunächst einen auch als „angemessener Preis“ („fair price“ oder „fair value“) bezeichneten „bereinigten Durchschnittspreis“ („cleaned average price“, im Folgenden: CAP) zu errechnen. Der CAP wird auf der Grundlage der monatlichen Einfuhrpreise der betreffenden Erzeugnisse aus der Türkei errechnet, die aus der Datenbank Comext stammen, einer von Eurostat geführten Referenzdatenbank für detaillierte Statistiken zum internationalen Warenhandel. Dabei handelt es sich um statistische Schätzungen der Preise der in den Verkehr gebrachten Waren, die anhand von Daten berechnet werden, die keine Extrempreise einbeziehen.
18. Daraus wird der LAP gebildet, der sich aus einem Wert in Höhe von 50 % der CAP zusammensetzt. Der auch als Preis pro kg ausgedrückte LAP wird als Risikoprofil oder ‑schwelle verwendet, um es den Zollbehörden der Mitgliedstaaten zu ermöglichen, besonders niedrige bei der Einfuhr angemeldete Werte und damit Einfuhren mit erheblichem Unterbewertungsrisiko aufzuspüren.
19. Den Zollbehörden aller Mitgliedstaaten steht nämlich mit dem Informationssystem für die Betrugsbekämpfung (Anti-Fraud Information System, im Folgenden: AFIS) ein Kommunikationssystem zur Verfügung, an dem auch das OLAF beteiligt ist. Mithilfe dieses Systems und speziell durch Verwendung des automatisierten Überwachungsinstruments (Automated Monitoring Tool, im Folgenden: AMT) können sie Unterbewertungen erkennen.
20. In der vorliegenden Rechtssache ermittelten die Zollbehörden den „Preis je Einheit“ im Sinne von Art. 30 Abs. 2 Buchst. c ZKG anhand des errechneten LAP. Zur Begründung ihres Vorgehens erklärten die Zollbehörden, weder sei es möglich, sich auf den fiktiven Transaktionswert der fraglichen, absichtlich unterbewerteten Waren zu stützen, noch könne der Transaktionswert gleicher oder gleichartiger Waren zugrunde gelegt werden, da die den Zollanmeldungen beigefügten Rechnungen nur unvollständige Beschreibungen der Waren enthielten. Außerdem konnten die Zollbehörden die fraglichen Waren bei ihrer nachträglichen Überprüfung nicht physisch kontrollieren, da die Waren nicht beschlagnahmt werden konnten.
21. In diesem Zusammenhang weisen die Zollbehörden darauf hin, dass keiner der Beteiligten des mutmaßlichen Schmugglerrings im Rahmen seiner Erklärungen Anhaltspunkte dafür geliefert habe, dass die zugrunde gelegten Zollwerte viel höher seien als die tatsächlich gezahlten Preise.
22. Die Zollbehörden stellten daher fest, dass sich der Betrag der in betrügerischer Weise umgangenen Mehrwertsteuer für alle durch den fraglichen Schmugglerring betrügerisch angemeldeten Waren auf 6 211 300,18 Euro belaufe.
23. Was die Beteiligung von HF an dem Schmugglerring betrifft, so besaß dieser im Jahr 2014 Waren, deren Zollwert falsch angemeldet worden war. Daher ist er nach nationalem Recht Steuerschuldner der für diese Waren hinterzogenen Mehrwertsteuer.
24. HF hat beim Dioikitiko Protodikeio Thessalonikis (Verwaltungsgericht Thessaloniki), dem vorlegenden Gericht, Klage gegen die fraglichen Nacherhebungsbescheide erhoben. Er macht geltend, die Bestimmung des Zollwerts der Waren anhand der LAP sei rechtswidrig, da die LAP als statistische Daten für die Einfuhrpreise nur herangezogen werden könnten, um den angemeldeten Zollwert in Frage zu stellen, jedoch keine Methode zur Bestimmung des Zollwerts sein könnten. Darüber hinaus sei er durch ein Urteil des Trimeles Plimmeleiodikeio Grevenon (mit drei Richtern besetztes Strafgericht Grevena, Griechenland) endgültig vom Vorwurf des Schmuggels freigesprochen worden.
25. Das vorlegende Gericht stellt zunächst fest, dass es an den endgültigen Freispruch des Trimeles Plimmeleiodikeio Grevenon (mit drei Richtern besetztes Strafgericht Grevena) nur soweit gebunden sei, als die Nacherhebungsbescheide HF mit erhöhten Abgaben belegt hätten, die für nichtig zu erklären seien. HF schulde jedoch nach wie vor die hinterzogene Einfuhrmehrwertsteuer.
26. Das Dioikitiko Protodikeio Thessalonikis (Verwaltungsgericht Thessaloniki) hegt Zweifel, ob es mit dem Unionsrecht vereinbar ist, dass Schwellenpreise für die Bestimmung des Zollwerts herangezogen werden. Es hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Erfüllen die als „Schwellenwerte“ (threshold values) bzw. „angemessene Preise“ (fair prices) bezeichneten statistischen Werte, die auf der Statistikdatenbank Comext von Eurostat beruhen und aus dem AFIS des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung OLAF stammen – zu dessen IT‑Anwendungen das automatisierte Überwachungsinstrument (AMT) gehört –, und zu denen die nationalen Zollbehörden über ihr jeweiliges elektronisches System Zugang haben, die im Urteil des Gerichtshofs vom 9. Juni 2022, FAWKES (C‑187/21, EU:C:2022:458), genannte Voraussetzung, dass sie für alle Wirtschaftsbeteiligten zugänglich sind? Enthalten sie ausschließlich aggregierte Daten, wie sie in den zur maßgeblichen Zeit geltenden Verordnungen (EG) Nr. 471/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über Gemeinschaftsstatistiken des Außenhandels mit Drittländern und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1172/95 des Rates (ABl. 2009, L 152, S. 23) und (EU) Nr. 113/2010 der Kommission vom 9. Februar 2010 zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 471/2009 hinsichtlich der Abdeckung des Handels, der Definition der Daten, der Erstellung von Statistiken des Handels nach Unternehmensmerkmalen und Rechnungswährung sowie besonderer Waren oder Warenbewegungen festgelegt sind?
2. Können die nationalen Zollbehörden im Rahmen einer nachträglichen Prüfung, bei der keine physische Kontrolle der eingeführten Waren möglich ist, die statistischen Werte der Datenbank Comext, sofern sie als allgemein zugänglich angesehen werden und nicht ausschließlich aggregierte Daten enthalten, nur heranziehen, um daraus begründete Zweifel abzuleiten, ob der bei der Anmeldung angegebene Wert dem Transaktionswert, d. h. dem für diese Waren tatsächlich gezahlten oder zu zahlenden Betrag, entspricht, oder auch, um auf der Grundlage dieser Werte den Zollwert der Waren nach der in Art. 30 Abs. 2 Buchst. c ZKG (bzw. Art. 74 Abs. 2 Buchst. c ZKU) vorgesehenen subsidiären Methode (sogenannte „deduktive Methode“) oder gegebenenfalls nach einer anderen subsidiären Methode zu ermitteln? Wie wirkt es sich auf die Beantwortung der vorliegenden Frage aus, dass nicht festgestellt werden kann, ob die Werte gleiche oder gleichartige Waren bei Transaktionen im maßgeblichen Zeitraum gemäß Art. 152 Abs. 1 der Durchführungsverordnung zum ZKG betreffen?
3. Ist jedenfalls die Heranziehung der in Rede stehenden statistischen Werte für die Ermittlung des Zollwerts bestimmter eingeführter Waren, die der Anwendung von Mindestpreisen gleichkommt, mit den Verpflichtungen vereinbar, die sich aus dem internationalen Übereinkommen der Welthandelsorganisation (WTO) über die Ermittlung des Zollwerts ergeben, d. h. dem Übereinkommen zur Durchführung des Artikels VII des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens 1994 – bei dem die Europäische Union Vertragspartei ist –, und zwar im Hinblick darauf, dass dieses Übereinkommen die Anwendung von Mindestpreisen ausdrücklich verbietet?
4. Im Zusammenhang mit der vorstehenden Frage: Gilt das in Art. 31 Abs. 1 ZKG für die Schlussmethode zur Ermittlung des Zollwerts vorgesehene Erfordernis der Übereinstimmung mit den allgemeinen Leitlinien und Regeln des internationalen Übereinkommens zur Durchführung des Artikels VII des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens 1994 und dementsprechend die in Art. 31 Abs. 2 ZKG festgelegte Unanwendbarkeit von Mindestwerten (die im entsprechenden Art. 74 Abs. 3 ZKU nicht vorgesehen ist) nur bei der Anwendung der in Rede stehenden Methode oder für alle subsidiären Methoden der Ermittlung des Zollwerts?
5. Wird festgestellt, dass bei der Einfuhr von der in Art. 81 ZKG (jetzt Art. 177 ZKU) vorgesehenen Vereinfachung in Form einer Zusammenfassung der zolltariflichen Unterpositionen Gebrauch gemacht wurde, kann dann die in Art. 30 Abs. 2 Buchst. c ZKG (bzw. Art. 74 Abs. 2 Buchst. c ZKU) festgelegte subsidiäre Methode angewandt werden, und zwar ungeachtet der Heterogenität der in einer Anmeldung unter demselben TARIC‑Code eingereihten Waren und des damit gebildeten fiktiven Werts derjenigen Waren, die nicht unter diesen Code des Zolltarifs fallen?
6. Sind schließlich – unabhängig von den vorstehenden Fragen – die geltenden griechischen Rechtsvorschriften über die Bestimmung des Schuldners der Einfuhrmehrwertsteuer in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Unionsrechts hinreichend klar, soweit sie festlegen, dass „derjenige, der als Eigentümer der eingeführten Waren gilt“ Steuerschuldner ist?
B. Rechtssache C ‑73/24 (Keladis II)
27. Abgesehen zum einen davon, dass WI Angestellte eines Großhandelsunternehmens für Textilwaren ist und davon ausgegangen wird, dass sie über den fraglichen Schmugglerring im Bilde war, da sie mit dem überwiegenden Teil der Leitung des Unternehmens betraut war, und zum anderen davon, dass die in Rede stehenden Zollanmeldungen zwischen März 2014 und Dezember 2016 abgegeben wurden, ähneln der Sachverhalt und die Begründung der Vorlageentscheidung in der Rechtssache C‑73/24 (Keladis II) dem Sachverhalt und der Begründung der Vorlageentscheidung in der Rechtssache C‑72/24 (Keladis I).
28. Vor diesem Hintergrund hat das Dioikitiko Protodikeio Thessalonikis (Verwaltungsgericht Thessaloniki) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, die ähnlich formuliert sind wie die Vorlagefragen im Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑72/24 (Keladis I):
1. Wenn begründete Zweifel daran bestehen, dass der als Zollwert angemeldete Wert eingeführter Waren deren tatsächlichem Transaktionswert entspricht, aber bei der nachträglichen Prüfung der Transaktionswert nach den in Art. 30 Abs. 2 Buchst. a und b ZKG bzw. Art. 74 Abs. 2 Buchst. a und b ZKU vorgesehenen Methoden (Transaktionswert gleicher und ähnlicher Waren) nicht festgestellt werden kann, da die Waren zum einen der Beschlagnahme entgangen waren und damit ihre physische Kontrolle nicht möglich war und zum anderen ihre Beschreibung in den der Einfuhranmeldung beigefügten Belegen allgemein gehalten und ungenau war, ist dann eine Verwaltungspraxis mit Art. 30 Abs. 2 Buchst. c ZKG bzw. Art. 74 Abs. 2 Buchst. c ZKU vereinbar, der zufolge im Rahmen der in diesen Bestimmungen vorgesehenen „deduktiven Methode“ die sogenannten „Schwellenpreise“, die im automatisierten Überwachungsinstrument (AMT) des AFIS enthalten sind und mit Hilfe statistischer Methoden festgelegt werden, als Grundlage für die Bestimmung des Transaktionswerts der Waren verwendet werden?
2. Falls die erste Frage verneint wird: Ist es zulässig, die genannten „Schwellenpreise“ im Rahmen einer der in den Art. 30 und 31 ZKG und Art. 74 Abs. 1 bis 3 ZKU vorgesehenen anderen Methoden zu verwenden, und zwar insbesondere in Anbetracht der angemessenen Flexibilität einerseits, die bei der Anwendung der „Schlussmethode“ nach Art. 31 ZKG und Art. 74 Abs. 3 ZKU geboten ist, und des für diese „Schlussmethode“ vorgesehenen ausdrücklichen Verbots andererseits (Art. 31 Abs. 2 Buchst. f ZKG und Art. 144 Abs. 2 Buchst. f der Durchführungsverordnung zum ZKU), den Zollwert auf der Grundlage von Mindestzollwerten zu ermitteln?
3. Falls die ersten beiden Fragen verneint werden: Wenn ein Importeur – wie im Nachhinein festgestellt wird – Waren zu Preisen eingeführt hat (und zwar systematisch), die unter den Preisen liegen, die als wirtschaftlich rentable Mindestpreise gelten, und wenn es den Zollbehörden nicht möglich ist, bei einer nachträglichen Prüfung den Zollwert der eingeführten Waren nach einer der in den Art. 30 und 31 ZKG und Art. 74 Abs. 1 bis 3 ZKU vorgesehenen Methoden zu ermitteln, ist es dann mit dem Unionsrecht vereinbar, die entgangene Mehrwertsteuer zulasten des genannten Importeurs nicht festzusetzen, oder ist es in diesem Fall zulässig, sie – als letzter Ausweg – auf der Grundlage niedrigster annehmbarer Preise, die mit Hilfe statistischer Methoden ermittelt wurden, festzusetzen, wie es für die von der Kommission vorgenommene Festsetzung entgangener Eigenmittel zulasten eines Mitgliedstaats, der keine geeigneten Zollkontrollen durchgeführt hat, bereits anerkannt wurde (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 8. März 2022, Kommission/Vereinigtes Königreich, C‑213/19, EU:C:2022:167)?
4. Falls die zweite oder die dritte Frage bejaht wird: Müssen sich die mit Hilfe statistischer Methoden ermittelten Mindestpreise auf Einfuhren beziehen, die zu demselben oder annähernd demselben Zeitpunkt wie die geprüften Einfuhren erfolgt sind, und, wenn ja, wie groß darf der Zeitraum zwischen den Einfuhren, die für die Gewinnung statistischer Ergebnisse herangezogen werden, und den geprüften Einfuhren höchstens sein (kann beispielsweise der in Art. 152 Abs. 1 Buchst. b der Durchführungsverordnung zum ZKG bzw. Art. 142 Abs. 2 der Durchführungsverordnung zum ZKU festgelegte Zeitraum von 90 Tagen entsprechend angewandt werden)?
5. Falls eine der ersten drei Fragen in Bezug auf die Verwendung von „Schwellenpreisen“ für die Bestimmung des Transaktionswerts eingeführter Waren bejaht wird: Wenn bei der Einfuhr das in Art. 81 ZKG und Art. 177 ZKU vorgesehene Verfahren der vereinfachten Erstellung von Zollanmeldungen, bei dem die TARIC‑Codes der Waren zusammengefasst werden, befolgt wurde, ist es dann mit dem grundsätzlichen Verbot der Bestimmung willkürlicher oder fiktiver Zollwerte vereinbar, dass nach der Verwaltungspraxis der Zollwert sämtlicher mit einer Einfuhranmeldung eingeführten Waren auf der Grundlage des für ein bestimmtes Erzeugnis – dessen TARIC‑Code in der Einfuhranmeldung angegeben wurde – festgelegten „Schwellenwerts“ berechnet wird, da die Zollbehörde davon ausgeht, dass sie nach Art. 222 Abs. 2 Buchst. b der Durchführungsverordnung zum ZKU an die vom Importeur vorgenommene Zusammenfassung gebunden ist, oder muss der Preis jedes Erzeugnisses vielmehr auf der Grundlage seiner eigenen zolltariflichen Einreihung bestimmt werden, auch wenn der Code nicht in der Einfuhranmeldung angegeben ist, um das Risiko der Festsetzung willkürlicher Zölle, Steuern und anderer Abgaben zu vermeiden?
IV. Verfahren vor dem Gerichtshof
29. Die Vorlageentscheidungen in den Rechtssachen C‑72/24 (Keladis I) und C‑73/24 (Keladis II) vom 30. November 2023 sind am 30. Januar 2024 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen.
30. Durch Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 25. März 2024 sind die Rechtssachen C‑72/24 (Keladis I) und C‑73/24 (Keladis II) zu gemeinsamem schriftlichem und mündlichem Verfahren sowie zu gemeinsamem Urteil verbunden worden.
31. Die Parteien des Ausgangsverfahrens, die griechische, die tschechische, die spanische und die französische Regierung sowie die Kommission haben innerhalb der in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union genannten Frist schriftliche Erklärungen eingereicht.
32. In der mündlichen Verhandlung am 29. Januar 2025 haben die Prozessbevollmächtigten der Parteien des Ausgangsverfahrens, der griechischen, der tschechischen und der spanischen Regierung sowie der Kommission Ausführungen gemacht.
V. Rechtliche Würdigung
A. Vorbemerkungen
33. Gegenstand der vorliegenden verbundenen Rechtssachen ist im Wesentlichen die Anwendbarkeit der verschiedenen Methoden zur Ermittlung des Zollwerts in Fällen, in denen die Gefahr der Unterbewertung besteht, eine physische Kontrolle der fraglichen Waren jedoch nicht mehr möglich ist, weil sie der Beschlagnahme durch die Zollbehörden entgangen sind. Da der tatsächliche Zollwert nicht mehr ermittelt werden kann, könnte es sich als zweckmäßig erweisen, statistische Werte heranzuziehen, um sich dem Zollwert so weit wie möglich anzunähern. Somit stellt sich die Frage, ob ein solches Vorgehen rechtmäßig wäre , was ich in den vorliegenden Schlussanträgen im Hinblick auf das geltende Zollrecht prüfen werde.
34. Dass diese Frage geklärt werden muss, ergibt sich insbesondere daraus, dass, wie der Gerichtshof festgestellt hat, das Funktionieren der Zollunion notwendigerweise einheitliche Kriterien für die Ermittlung des Zollwerts der aus Drittländern eingeführten Waren voraussetzt, da nur so eine gemeinsame Handelspolitik gewährleistet werden kann(10 ). Mit einheitlichen Kriterien lassen sich Verzerrungen vermeiden, die durch nicht tarifäre Handelshemmnisse entstehen könnten, so dass letztlich die Einhaltung der Regeln des multilateralen Handelssystems garantiert wäre(11 ).
35. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 286 Abs. 2 und Art. 288 Abs. 2 ZKU der ZKG mit Wirkung vom 1. Mai 2016 durch den ZKU ersetzt wurde. Da sich der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens in der Rechtssache C‑73/24 (Keladis II) jedoch vor und nach diesem Zeitpunkt zugetragen hat, müssen für die Beantwortung der Vorlagefragen sowohl die Bestimmungen des ZKU als auch die des ZKG ausgelegt werden . Die Art. 70 und 74 ZKU, die die Regeln für die Bestimmung des Zollwerts von Waren enthalten, stimmen im Wesentlichen mit den Regeln in den Art. 29 bis 31 ZKG überein. Daher gilt die Rechtsprechung zum ZKG grundsätzlich auch für den ZKU.
36. Entsprechend dem Ersuchen des Gerichtshofs werden sich die vorliegenden Schlussanträge auf die ersten vier Fragen in den Rechtssachen C‑72/24 (Keladis I) und C‑73/24 (Keladis II) konzentrieren. Wie sich aus den Angaben in den Vorlageentscheidungen, die den beiden verbundenen Rechtssachen zugrunde liegen, ergibt, überschneiden sich die dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen in mehreren Punkten und können deshalb drei thematischen Schwerpunkten zugeordnet werden. Die Fragen betreffen erstens die Möglichkeit, statistische Werte heranzuziehen, wenn der Zollwert nicht nach Art. 29 ZKG und Art. 70 ZKU ermittelt werden konnte(12 ), zweitens die Vereinbarkeit der anhand von statistischen Daten festgelegten Schwellenwerte mit dem Verbot der Verwendung von Mindestzollwerten(13 ) und drittens den maximal zulässigen Zeitraum zwischen den Einfuhren, die für die Gewinnung statistischer Ergebnisse herangezogen werden, und den geprüften Einfuhren(14 ). Ich werde die Vorlagefragen des vorlegenden Gerichts im Rahmen der Behandlung dieser drei thematischen Schwerpunkte untersuchen.
B. Zu den Methoden für die Berechnung des Zollwerts der Waren
37. Dies vorausgeschickt, ist es angezeigt, vor der Prüfung dieser Aspekte darzulegen, warum der Zollwert von Waren und die Art und Weise, wie er von den Zollbehörden errechnet wird, relevant sind. Der Zollwert wird verwendet, um den Warenwert zu ermitteln, wenn die Waren in die verschiedenen Zollverfahren überführt werden. Er wird benötigt, um den korrekten Betrag der Zölle zu berechnen, die auf die in den zollrechtlich freien Verkehr überführten Waren zu entrichten sind. In der Union wird der Zollwert auch für die Berechnung der Mehrwertsteuer herangezogen(15 ). Art. 85 der Richtlinie 2006/112 bestimmt nämlich: „Bei der Einfuhr von Gegenständen ist die Steuerbemessungsgrundlage der Betrag, der durch die geltenden Gemeinschaftsvorschriften als Zollwert bestimmt ist.“ Auch die Auslegung dieser Bestimmungen durch die Rechtsprechung ist zu berücksichtigen.
38. Wie der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung(16 ) festgestellt hat, soll mit der unionsrechtlichen Zollwertregelung ein gerechtes, einheitliches und neutrales System errichtet werden, das die Anwendung willkürlicher oder fiktiver Zollwerte ausschließt. Der Zollwert muss daher den tatsächlichen wirtschaftlichen Wert einer eingeführten Ware widerspiegeln und folglich alle Elemente dieser Ware, die einen wirtschaftlichen Wert haben, berücksichtigen(17 ). Nach Art. 29 Abs. 1 ZKG(18 ) dient als Grundlage für die Ermittlung des Zollwerts grundsätzlich der „Transaktionswert“ der eingeführten Waren, d. h. der für die Waren bei einem Verkauf zur Ausfuhr in das Zollgebiet der Union tatsächlich gezahlte oder zu zahlende Preis, gegebenenfalls nach Berichtigung gemäß den Art. 32 und 33 ZKG. Folglich ist dem „Transaktionswert“ bei der Ermittlung des Zollwerts Vorrang einzuräumen. Die Methode, bei der der Zollwert der Waren anhand des „Transaktionswerts“ berechnet wird, gilt als die am besten geeignete und am häufigsten verwendete Methode(19 ).
39. In einigen Fällen ist es jedoch nicht möglich, den Zollwert anhand des Transaktionswerts zu berechnen. Nach Art. 181a der Durchführungsverordnung zum ZKG müssen die Zollbehörden den Zollwert von eingeführten Waren nicht auf der Grundlage des Transaktionswerts ermitteln, wenn sie begründete Zweifel daran haben, dass der angemeldete Wert dem gezahlten oder zu zahlenden Preis entspricht. In einem solchen Fall können sie den angemeldeten Wert ablehnen, sofern ihre Zweifel fortbestehen, nachdem sie zusätzliche Informationen oder Dokumente verlangt und der betroffenen Person angemessen Gelegenheit gegeben haben, zu den Gründen, auf denen diese Zweifel beruhen, Stellung zu nehmen(20 ). Wenn es dem Importeur nicht gelingt, die begründeten Zweifel der Zollbehörden zu zerstreuen, oder er nicht reagiert oder keine neuen Beweisstücke vorlegt, können die Zollbehörden den angemeldeten Transaktionswert ablehnen und eine andere Methode zur Ermittlung des Zollwerts anwenden. Wenn die Transaktionswertmethode nicht angewandt werden kann oder die Zollbehörden den angemeldeten Transaktionswert ablehnen, wird der Zollwert anhand einer nachrangigen Bewertungsmethode ermittelt. Eine ähnliche Bestimmung findet sich in Art. 140 der Durchführungsverordnung zum ZKU.
40. Der Gerichtshof hat in Bezug auf die Frage, ob die Zweifel am Transaktionswert berechtigt sind, festgestellt, dass die Zollbehörden der Auffassung sein können, dass der angemeldete Transaktionswert der eingeführten Waren im Vergleich zum statistischen Mittelwert gleichartiger eingeführter Waren ungewöhnlich niedrig ist. Insbesondere wenn der angemeldete Preis weniger als 50 % des statistischen Durchschnittspreises beträgt, erscheint die Preisdifferenz ausreichend, um die Zweifel der Zollbehörden und die Ablehnung des angemeldeten Zollwerts zu rechtfertigen. Genau diese Situation war in den vorliegenden Rechtssachen gegeben(21 ).
41. Kann der Zollwert nicht gemäß Art. 29 ZKG nach dem Transaktionswert der eingeführten Waren ermittelt werden, so erfolgt die Zollwertermittlung nach Art. 30 ZKG, indem nacheinander die in seinem Abs. 2 Buchst. a bis d vorgesehenen Methoden angewandt werden(22 ). Falls der Zollwert der eingeführten Waren auch nicht auf der Grundlage von Art. 30 ZKG ermittelt werden kann, erfolgt die Zollwertermittlung gemäß Art. 31 ZKG(23 ) nach der Fall-Back-Methode(24 ).
42. Wie der Gerichtshof festgestellt hat, ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut der Art. 29 bis 31 ZKG als auch aus der Reihenfolge, in der die Kriterien für die Ermittlung des Zollwerts nach diesen Artikeln anzuwenden sind, dass diese Bestimmungen im Verhältnis der Subsidiarität zueinander stehen(25 ). Erst wenn der Zollwert nicht durch Anwendung einer bestimmten Vorschrift ermittelt werden kann, ist die in der festgelegten Reihenfolge unmittelbar nach ihr kommende Vorschrift heranzuziehen(26 ). Nach Punkt 2 der im Anhang 23 der Durchführungsverordnung zum ZKG enthaltenen Erläuternden Anmerkungen zur Ermittlung des Zollwerts zu Art. 31 Abs. 1 ZKG steht eine „angemessene Flexibilität“ bei der Anwendung solcher Methoden im Einklang mit den Zielsetzungen und Bestimmungen des Art. 31 Abs. 1 ZKG(27 ).
43. Der Gerichtshof hat darauf hingewiesen, dass in Anbetracht des Verhältnisses der Subsidiarität, das zwischen den verschiedenen in Art. 30 Abs. 2 Buchst. a bis d ZKG vorgesehenen Methoden der Zollwertermittlung besteht, die Zollbehörden die Anwendbarkeit einer der in dieser Vorschrift nacheinander vorgesehenen Methoden sorgfältig prüfen müssen, bevor sie auf ihre Unanwendbarkeit schließen dürfen(28 ). Daher muss die Zollbehörde bei der Zollwertermittlung nach Art. 30 Abs. 2 Buchst. a ZKG ihre Beurteilung auf Informationen stützen, die sich auf gleiche Waren beziehen, die zu demselben Zeitpunkt oder annähernd demselben Zeitpunkt wie die zu bewertenden Waren ausgeführt werden(29 ).
44. Wenn die Zollbehörde nach der Feststellung, dass die Methode nicht anwendbar ist, dazu übergeht, den Zollwert gemäß Art. 30 Abs. 2 Buchst. b ZKG zu ermitteln, muss sie ihre Beurteilung auf Informationen stützen, die sich auf gleichartige Waren beziehen, die zu demselben Zeitpunkt oder annähernd demselben Zeitpunkt wie die zu bewertenden Waren in die Union ausgeführt werden. In Anbetracht der Sorgfaltspflicht, die den Zollbehörden bei der Anwendung von Art. 30 Abs. 2 Buchst. a und b ZKG obliegt, sind diese verpflichtet, sämtliche ihnen zur Verfügung stehenden Informationsquellen und Datenbanken zu konsultieren, um den Zollwert so genau und realitätsnah wie möglich zu bestimmen(30 ).
45. Die Begründungspflicht, die den Zollbehörden bei der Ausführung dieser Vorschriften obliegt, muss zum einen ermöglichen, dass die Gründe klar und eindeutig zum Ausdruck gebracht werden, die diese Behörden dazu veranlasst haben, eine oder mehrere Methoden der Zollwertermittlung auszuschließen; zum anderen bedeutet diese Pflicht, dass die Zollbehörden in ihrer Entscheidung über die Festsetzung der Höhe der geschuldeten Einfuhrabgaben die Daten darlegen müssen, die der Berechnung des Zollwerts der Waren zugrunde lagen, sowohl um den Adressaten der Entscheidung in die Lage zu versetzen, seine Rechte unter den bestmöglichen Voraussetzungen geltend zu machen und in Kenntnis aller Umstände zu entscheiden, ob es von Nutzen ist, eine Klage gegen die Entscheidung zu erheben, als auch um den Gerichten die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Entscheidung zu ermöglichen(31 ).
46. In den vorliegenden Rechtssachen ist den Vorlageentscheidungen zu entnehmen, dass die griechischen Zollbehörden die in Art. 30 Abs. 2 Buchst. a und b ZKG und Art. 74 Abs. 2 Buchst. a und b ZKU genannten Methoden zur Bestimmung des Zollwerts anhand des Transaktionswerts gleicher oder gleichartiger Waren nicht anwandten, da ihre Anwendung nicht möglich war, weil die Waren der Beschlagnahme entgangen waren und ihre Beschreibung in den der Einfuhranmeldung beigefügten Rechnungen allgemein gehalten und ungenau war.
47. Vor diesem Hintergrund möchte das nationale Gericht wissen, ob im Rahmen einer der in Art. 30 Abs. 2 ZKG und Art. 74 Abs. 2 ZKU genannten nachrangigen Bewertungsmethoden die im AMT enthaltenen statistisch berechneten Werte verwendet werden können. Diese Frage ist dem ersten thematischen Schwerpunkt zuzuordnen, der die ersten beiden Vorlagefragen in der Rechtssache C‑72/24 (Keladis I) sowie die ersten drei Vorlagefragen in der Rechtssache C‑73/24 (Keladis II) umfasst, und wird im Folgenden untersucht.
C. Zur Möglichkeit, statistische Daten bei der Ermittlung des Zollwerts heranzuziehen
1. Art der im AMT enthaltenen Daten und Grenzen der Verwendung statistischer Daten nach der Rechtsprechung
48. Der Gerichtshof hat die Verwendung statistischer Daten für bestimmte Tätigkeitsbereiche der Zollbehörden zugelassen. Für die Zwecke der vorliegenden Rechtssache halte ich es für angebracht, die Fälle in Erinnerung zu rufen, in denen die Verwendung statistischer Daten als den Anforderungen des Unionsrechts entsprechend angesehen wurde. So lassen sich die Grenzen aufzeigen, die das Unionsrecht für dieses Vorgehen festlegt.
49. In seinem Urteil vom 16. Juni 2016, EURO 2004. Hungary (C‑291/15, EU:C:2016:455), hat der Gerichtshof festgestellt, dass die im AMT verfügbaren statistischen Werte von den Zollbehörden verwendet werden konnten, um den angemeldeten Transaktionswert zurückzuweisen. Konkret entschied der Gerichtshof, dass dann, wenn der angemeldete Preis um mehr als 50 % unter dem statistischen Durchschnittspreis liegt, diese Preisdifferenz ausreicht, um die von den Zollbehörden gehegten Zweifel und ihre Zurückweisung des angemeldeten Zollwerts der fraglichen Waren zu rechtfertigen(32 ).
50. Das AMT stellt somit ein Instrument zur Risikoanalyse dar, das es den Zollbehörden ermöglicht, potenziell unterbewertete Anmeldungen zu identifizieren, die zusätzliche Zollkontrollen erfordern. Wie bereits erwähnt, haben die griechischen Zollbehörden genau dieses Vorgehen gewählt, und keine der Parteien bestreitet dessen Zulässigkeit. Die griechischen Zollbehörden haben sich jedoch nicht darauf beschränkt, statistische Daten zum Erkennen von Unterbewertungen zu verwenden, sondern haben die Daten auch zur Ermittlung des Zollwerts herangezogen. Meines Erachtens enthält die bisherige Rechtsprechung nur begrenzte Anhaltspunkte für die Beurteilung der Zulässigkeit einer solchen Verwendung statistischer Daten.
51. In seinem Urteil in der Rechtssache FAWKES hat der Gerichtshof entschieden, dass die Zollbehörden eines Mitgliedstaats bei der Ermittlung des Zollwerts anhand der in Art. 30 Abs. 2 Buchst. a und b ZKG genannten nachrangigen Methoden, die den Transaktionswert gleicher oder gleichartiger Waren zugrunde legen, Elemente wie die physischen Eigenschaften, die Qualität, das Ansehen, die Austauschbarkeit der Waren und die Handelsstufe der Verkäufe berücksichtigen müssen(33 ).
52. Der Gerichtshof hat auch auf die Bedeutung der in Nr. 45 dieser Schlussanträge erwähnten Begründungspflicht (34 ) hingewiesen. Der Gerichtshof hat im Wesentlichen festgestellt, dass dem Wirtschaftsteilnehmer zur Gewährleistung seines Rechts, über Daten informiert zu werden, die zur Ermittlung der von ihm eingeführten Waren verwendet werden, Informationen zur Verfügung gestellt werden müssen, die es ihm ermöglichen, jegliche Unstimmigkeiten zwischen den von der Zollbehörde herangezogenen Referenzdaten und seinen Einfuhren im Licht der Anforderungen von Art. 30 Abs. 2 Buchst. a bzw. b ZKG zu beanstanden(35 ). Anders gesagt muss ein Wirtschaftsteilnehmer die Möglichkeit haben, den Vergleich seiner eigenen Einfuhren mit anderen, bei der Anwendung ergänzender Methoden zur Ermittlung des Zollwerts herangezogenen tatsächlichen Einfuhren in Frage zu stellen, was naturgemäß bei statistischen Werten nicht möglich ist, weil sie keiner tatsächlichen Einfuhr entsprechen.
53. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass der Zollwert in der Rechtssache FAWKES (C‑187/21) ausschließlich nach Art. 30 Abs. 2 Buchst. a und b ZKG ermittelt wurde. Die in diesen Bestimmungen vorgesehenen Methoden erfordern nämlich den Vergleich bestimmter Elemente, wie sie in Nr. 51 der vorliegenden Schlussanträge aufgeführt sind(36 ).
54. Zwar sind die im AMT enthaltenen statistischen Werte geeignet, um Betrugsrisiken und unterbewertete Einfuhren aufzudecken, doch können sie nicht Teil der Begründung einer Zollentscheidung sein, die den Zollwert anhand der in der Rechtssache FAWKES (C‑187/21) verwendeten Bestimmungen festlegt.
55. Sie enthalten nämlich keine hinreichend genauen Informationen über die vergleichbaren Einfuhren, die für die Anwendung der ergänzenden Methoden zur Ermittlung des Zollwerts nach Art. 30 ZKG und Art. 74 Abs. 2 ZKU benötigt werden. Die Kommission hat dies bestätigt und in ihren Erklärungen darauf hingewiesen, dass es sich bei den als „angemessene Preise“ bezeichneten statistischen Werten im AMT lediglich um aggregierte Daten handle, die keine besonderen Merkmale der Erzeugnisse , wie z. B. ihre Qualität, berücksichtigten . Überdies sind die Werte im Vergleich zu den Transaktionswerten allgemeiner und indirekt .
56. Was die Zugänglichkeit der im AMT enthaltenen Daten betrifft, erläutert die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen, dass die als „angemessene Preise“ bezeichneten und im AMT enthaltenen statistischen Preise den Wirtschaftsteilnehmern im Rahmen der Ausübung des Rechts auf Anhörung mitgeteilt werden könnten. Diese Aussage ist von ihr in der mündlichen Verhandlung bestätigt und von keiner der in der mündlichen Verhandlung anwesenden Parteien in Frage gestellt worden. Dagegen sind der Kommission zufolge die „Schwellenpreise“, die von den Mitgliedstaaten auf der Grundlage eines Prozentsatzes der im AMT enthaltenen statistischen Werte berechnet und festgelegt werden, um den Zollbehörden das Aufspüren kontrollbedürftiger Anmeldungen zu erleichtern, als Informationen anzusehen, die den Wirtschaftsteilnehmern nicht „unkontrolliert“ offenzulegen seien, um die Wirksamkeit des Risikomanagementsystems nicht zu beeinträchtigen(37 ).
57. Vor diesem Hintergrund stellt sich angesichts der in den vorstehenden Nummern beschriebenen Merkmale der im AMT enthaltenen statistischen Werte und der Pflicht der Zollbehörden, „dass [sie] in ihrer Entscheidung über die Festsetzung der Höhe der geschuldeten Einfuhrabgaben die Daten darlegen müssen, die der … Berechnung des Zollwerts der Waren zugrunde lagen“(38 ), die Frage, ob eine Begründung, die sich auf aggregierte statistische Daten stützt, diesen Anforderungen genügen könnte. Für die Beantwortung der Frage ist zunächst zu prüfen, ob die Verwendung dieser Art von Daten im Rahmen einer nachrangigen Methode zur Ermittlung des Zollwerts gestattet werden könnte.
58. In der Rechtssache Kommission/Vereinigtes Königreich (Bekämpfung von Betrug durch Unterbewertung) (C‑213/19), die die Bestimmung der Höhe der Eigenmittelverluste der Union betraf, hat der Gerichtshof festgestellt, dass, wenn es aufgrund des Versäumnisses der Zollbehörden, erforderliche Maßnahmen (wie physische Kontrollen, Ersuchen um Auskünfte oder Dokumente oder systematische Entnahme von Mustern oder Proben) zu ergreifen, keine hinreichenden Daten zur Qualität der bereits in den zollrechtlich freien Verkehr überführten Waren gibt und es daher nicht mehr möglich ist, den Wert der Waren auf der Grundlage einer der in den Art. 29 bis 31 ZKG vorgesehenen Bewertungsmethoden zu ermitteln, „zu seiner Schätzung nur eine statistische Methode herangezogen werden kann “(39 ). Mit anderen Worten hat der Gerichtshof nicht ausgeschlossen, dass dieser Ansatz unter bestimmten Umständen als letzter Ausweg in Betracht gezogen werden kann.
59. Zudem sei daran erinnert, dass die korrekte Bestimmung der Zollschuld eine Aufgabe darstellt, die unerlässlich ist, um die wirksame und vollständige Erhebung der traditionellen Eigenmittel in Form der Zölle zu gewährleisten(40 ). Konkret hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass es wegen des unmittelbaren Zusammenhangs zwischen der Erhebung der Einnahmen aus den Zöllen und der Bereitstellung der entsprechenden Mittel für die Kommission den Mitgliedstaaten – im Einklang mit ihren Verpflichtungen aus Art. 325 Abs. 1 AEUV, die finanziellen Interessen der Union vor Betrügereien und sonstigen gegen diese Interessen gerichteten rechtswidrigen Handlungen zu schützen – obliegt, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die effektive und vollständige Erhebung der Zölle und damit dieser Mittel sicherzustellen(41 ). In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof im Rahmen einer Rechtssache, die auf ein Vertragsverletzungsverfahren zurückging, das die Kommission gegen das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland eingeleitet hatte, weil dieses seiner Verpflichtung gemäß Art. 325 AEUV, die traditionellen Eigenmittel korrekt zu erheben, nicht nachgekommen war, die Verwendung statistischer Werte gestattet.
60. Zwar ist zu berücksichtigen, dass der Gerichtshof darüber zu entscheiden hatte, ob die Verwendung statistischer Werte, die anhand einer vom OLAF entwickelten Methode ermittelt wurden(42 ), um die Höhe der Eigenmittelverluste zu berechnen, durch die Kommission rechtmäßig war, und er auch mehrfach auf die Besonderheit der Umstände jenes Falls hingewiesen hat(43 ).
61. Der Gerichtshof hat jedoch die Verwendung statistischer Werte zur Feststellung der Eigenmittelverluste der Union in einem Fall akzeptiert, in dem die betreffenden Waren in den zollrechtlich freien Verkehr überführt worden waren und nicht mehr zur Überprüfung zurückgerufen werden konnten, um ihren tatsächlichen Wert zu ermitteln(44 ), was im Wesentlichen dem Sachverhalt entspricht, den das vorlegende Gericht in den vorliegenden Rechtssachen beschrieben hat. Auch wenn mir die Aspekte bewusst sind, die die Rechtssache Kommission/Vereinigtes Königreich (Bekämpfung von Betrug durch Unterbewertung) von den vorliegenden Rechtssachen unterscheiden(45 ), kann meiner Meinung nach nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden, dass die Verwendung statistischer Werte als letzter Ausweg eine geeignete Maßnahme zum Schutz der finanziellen Interessen der Union darstellen kann, wenn alle anderen Methoden versagt haben. Denn wenn die Verwendung statistischer Daten für die Feststellung des Umfangs der Haftung eines Mitgliedstaats für den Eigenmittelverlust der Union zulässig wäre, die Heranziehung der gleichen Werte zur Ermittlung des Zollwerts von Waren in Bezug auf einen Wirtschaftsteilnehmer jedoch absolut verboten wäre, bestünde die Gefahr, dass die Haftung für die Zollschuld vom Wirtschaftsteilnehmer auf den Mitgliedstaat übertragen würde und dadurch ein Schlupfloch im Zollsystem entstünde.
62. So wichtig die Ziele der Betrugsprävention und des Schutzes der finanziellen Interessen der Union auch sind, geht aus der in den vorstehenden Nummern angeführten Rechtsprechung auch hervor, dass die Verfolgung dieser Ziele nicht zulasten der Rechte des Wirtschaftsteilnehmers gehen darf. Daher muss die Verwendung statistischer Werte in einer Weise erfolgen, die „den Erfordernissen der Zollbehörden im Hinblick auf die ordnungsgemäße Anwendung der zollrechtlichen Vorschriften in gleichem Maße Rechnung [trägt] wie dem Recht der Wirtschaftsbeteiligten auf eine gerechte Behandlung“, wie dem 26. Erwägungsgrund des ZKU zu entnehmen ist. Insbesondere ist unabhängig von der vorliegend verwendeten Methode dafür Sorge zu tragen, dass die Zollwerte dem tatsächlichen wirtschaftlichen Wert der eingeführten Waren so nah wie möglich kommen .
63. Zudem hat der Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache Baltic Master (C‑599/20) die Verwendung von Informationen, die in nationalen Datenbanken verfügbar waren, für zulässig erachtet. Genauer gesagt hat der Gerichtshof klargestellt, dass in einer nationalen Datenbank enthaltene Daten über Waren desselben TARIC‑Codes, die von dem Verkäufer stammen, der auch die betreffenden Waren verkauft hat, „in der [Union] verfügbare Daten“ im Sinne von Art. 31 Abs. 1 ZKG darstellen, die als Grundlage für die Zwecke der Ermittlung des Zollwerts der betreffenden Waren herangezogen werden können. Nach den Ausführungen des Gerichtshofs ist die Heranziehung dieser Daten eine im Sinne von Art. 31 Abs. 1 ZKG „zweckmäßige“ Methode zur Ermittlung dieses Werts, die zugleich mit den Leitlinien und allgemeinen Regeln der in Art. 31 Abs. 1 ZKG angeführten internationalen Übereinkommen und Vorschriften übereinstimmt(46 ).
64. Aus dem zuletzt genannten Urteil lassen sich jedoch nur begrenzte Schlussfolgerungen für die vorliegenden Rechtssachen ziehen, insbesondere weil die vom Gerichtshof in der Rechtssache Baltic Master (Urteil vom 9. Juni 2022, Baltic Master, C‑599/20, EU:C:2022:457) für zulässig erachtete Verwendung von Daten aus nationalen Datenbanken nicht auf aggregierte statistische Daten beschränkt war, sondern gezielter war (Waren desselben TARIC‑Codes, die von dem Verkäufer stammen, der auch die betreffenden Waren verkauft hat) als in den vorliegenden Rechtssachen. Dennoch ist das Urteil meiner Meinung nach so zu verstehen, dass die Zweckdienlichkeit aller Datenbanken im Dienst der Zollbehörden anerkannt wird, einschließlich der Datenbanken, die von den Mitgliedstaaten selbst verwaltet werden. Das Urteil ist in Verbindung mit dem oben genannten Urteil FAWKES auszulegen, in dem der Gerichtshof darauf hingewiesen hat, dass die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, mittels sachdienlicher Anträge Informationen von Zollbehörden anderer Mitgliedstaaten oder von Organen und Dienststellen der Union einzuholen(47 ).
2. Vereinbarkeit des statistischen Ansatzes mit dem zollrechtlichen Rahmen
65. Im Folgenden werde ich prüfen, inwieweit statistische Werte bei der Anwendung der nachrangigen Methoden zur Ermittlung des Zollwerts verwendet werden können, damit dieser Ansatz die in Nr. 63 dieser Schlussanträge dargelegten rechtlichen Anforderungen erfüllen kann. Ich werde insbesondere auf die Schwierigkeiten hinweisen, die mit der jeweiligen Methode verbunden sind, und einen Ansatz vorschlagen, das mit dem Unionsrecht im Einklang steht. Der Aufbau meiner Analyse orientiert sich an dem Subsidiaritätsverhältnis , das zwischen den verschiedenen Methoden besteht und in diesen Schlussanträgen bereits beschrieben worden ist(48 ).
66. Wie ich in dieser Prüfung darlegen werde, kann meines Erachtens nur eine dieser Methoden, nämlich die Fall-Back-Methode, für die Verwendung statistischer Daten in Betracht gezogen werden. Daher werde ich mich mit den anderen Methoden nur kurz befassen. Vorab ist festzustellen, dass die Anwendbarkeit der Methoden im Wesentlichen durch zwei Faktoren beeinträchtigt wird: erstens das Fehlen notwendiger Informationen zu den fraglichen Waren und zweitens der Umstand, dass es sich bei den statistischen Werten im AMT nur um aggregierte Daten handelt , die die besonderen Merkmale der betreffenden Waren nicht berücksichtigen.
a) Transaktionswert gleicher oder gleichartiger Waren
67. Anknüpfend an meine vorherigen Ausführungen(49 ) weise ich darauf hin, dass das Wesen statistischer Werte an sich der Grund dafür ist, dass ich die Verwendung dieser Werte bei einer etwaigen Anwendung der Methode nach Art. 30 Abs. 2 Buchst. a und b ZKG und Art. 74 Abs. 2 Buchst. a und b ZKU für ausgeschlossen halte. Denn da diese Methode einen Vergleich zwischen den Waren, die als gleich (oder gleichartig) angesehen werden, und den Waren, deren Zollwert ermittelt werden soll, beinhaltet, sind bestimmte Informationen unerlässlich, um eine Reihe von Kriterien zu beurteilen, die der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung aufgezählt hat, wie die physischen Eigenschaften, die Qualität, das Ansehen, die Austauschbarkeit der Waren und die Handelsstufe der Verkäufe(50 ). Die im AMT enthaltenen Daten enthalten aufgrund ihrer Eigenschaften jedoch keine genauen Informationen, die einen solchen Vergleich ermöglichen. Auch die griechischen Behörden haben die Anwendung dieser Methode im vorliegenden Fall ausgeschlossen.
b) Deduktive Methode
68. Die deduktive Methode nach Art. 30 Abs. 2 Buchst. c ZKG und Art. 74 Abs. 2 Buchst. c ZKU beruht auf dem Preis je Einheit, d. h. dem Preis, zu dem die eingeführten Waren oder gleiche bzw. gleichartige eingeführte Waren zu demselben oder annähernd demselben Zeitpunkt wie die zu bewertenden Waren in der Union verkauft werden. Die Anwendung der Methode setzt voraus, dass den Zollbehörden bestimmte Informationen über die Waren bekannt sind, wie die gezahlten oder vereinbarten Provisionen sowie die üblichen Zuschläge für Gewinn und Gemeinkosten, die von dem Preis, der als Zollwert verwendet wird, abgezogen werden. Im vorliegenden Fall wandten die Zollbehörden die deduktive Methode an, da es nicht möglich war, sich auf den Transaktionswert der fraglichen, absichtlich unterbewerteten Waren zu stützen, und auch nicht der Transaktionswert gleicher oder gleichartiger Waren zugrunde gelegt werden konnte, da die den Zollanmeldungen beigefügten Rechnungen nur unvollständige Beschreibungen der Waren enthielten.
69. Wie die Kommission in ihren Erklärungen geltend macht, gibt es mehrere Gründe, die im vorliegenden Fall zur Unanwendbarkeit dieser Methode führen. Insbesondere lässt sich schwer nachvollziehen, wie ein Durchschnittspreis, der anhand von Werten berechnet wird, die in der Vergangenheit bei der Einfuhr akzeptiert wurden, geeignet sein soll, um die deduktive Methode anzuwenden, die sich auf die Verkaufspreise stützt. Für die Anwendung dieser Methode müssen die Zollbehörden nämlich spezifische Preise je Einheit zugrunde legen, die nach den Regeln in Art. 152 Abs. 1 Buchst. a der Durchführungsverordnung zum ZKG und Art. 142 Abs. 5 der Durchführungsverordnung zum ZKU berechnet werden. Nach diesen Regeln wird der Preis je Einheit stets anhand des Preises ermittelt, zu dem gleiche oder gleichartige Waren zu einem bestimmten Zeitpunkt verkauft werden. Wie jedoch von der Kommission dargelegt, sind diese Verkaufspreise nicht im AMT verfügbar.
c) Methode des errechneten Werts
70. Was die Methode des errechneten Werts betrifft, setzt ihre Anwendung voraus, dass die Zollbehörden über bestimmte Informationen verfügen, die die Kosten oder den Wert der Rohstoffe und Herstellungsvorgänge im Rahmen der Warenproduktion betreffen sowie den Betrag für Gewinn und Gemeinkosten, der dem Betrag entspricht, der üblicherweise von Herstellern im Ausfuhrland bei Verkäufen von Waren der gleichen Kategorie oder Beschaffenheit wie die zu bewertenden Waren zur Ausfuhr in die Union angesetzt wird.
71. Wie die Kommission jedoch in ihren Erklärungen darlegt, enthalten die als „angemessene Preise“ bezeichneten und im AMT verfügbaren statistischen Werte keine derartigen Informationen. Folglich können die im AMT enthaltenen statistischen Werte nicht zur Berechnung des Zollwerts der eingeführten Waren herangezogen werden. Zu berücksichtigen ist außerdem, dass es in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem die Waren der Beschlagnahme entgangen sind und nicht physisch kontrolliert werden können, den Zollbehörden nicht möglich ist, die entsprechenden Informationen anhand der Daten zu erhalten, die in den Datenbanken der Mitgliedstaaten verfügbar sind. Daher ist auch die Anwendung der Methode des errechneten Werts ausgeschlossen.
d) Verwendung von „Schwellen preisen “ bei der Fall-Back-Methode
72. Die letzte Methode, die in den Vorschriften zur Ermittlung des Zollwerts vorgesehen ist, ist die Fall-Back-Methode nach Art. 31 Abs. 2 ZKG und Art. 74 Abs. 3 ZKU, wobei das Zollrecht der Union zwei verschiedene Modalitäten vorsieht.
73. Zum einen ermöglicht die Fall-Back-Methode eine „angemessene Flexibilität“ im Einklang mit Nr. 2 der erläuternden Anmerkungen zur Ermittlung des Zollwerts zu Art. 31 Abs. 1 ZKG(51 ). Der Begriff „angemessene Flexibilität“ impliziert insbesondere, dass nachrangige Methoden zur Berechnung des Zollwerts mit einer gewissen Flexibilität in Bezug auf die Kriterien ihrer Anwendbarkeit herangezogen werden können(52 ).
74. Zum anderen ergibt sich aus Art. 31 Abs. 1 ZKG und Art. 74 Abs. 3 ZKU, dass der Zollwert durch „zweckmäßige Methoden“ ermittelt werden kann. Die letztgenannte Bestimmung ist in Verbindung mit Art. 144 Abs. 2 der Durchführungsverordnung zum ZKU zu lesen, wonach „andere geeignete Methoden“ zur Ermittlung des Zollwerts herangezogen werden können. Zwar findet sich im System des ZKG keine entsprechende Vorschrift, doch bin ich der Meinung, dass dieser Ansatz auch für die Regelung des ZKG in Betracht kommt, da keine Bestimmung den Zollbehörden ausdrücklich untersagt, solche „geeigneten Methoden“ zu verwenden. Art. 144 Abs. 2 der Durchführungsverordnung zum ZKU enthält nämlich nur einige Klarstellungen zum Umfang der Befugnisse der Behörden.
75. Grundsätzlich eröffnen beide Modalitäten meines Erachtens die Möglichkeit, Statistiken zu verwenden, um den Zollwert zu ermitteln . Die zweite Möglichkeit scheint sich jedoch aufgrund ihres weit gefassten Wortlauts besser als Grundlage für innovative Herangehensweisen der Behörden zu eignen. Zudem betrifft diese Modalität aufgrund ihres subsidiären Charakters eindeutig Methoden, die in Situationen, in denen Informationen über die fraglichen Waren fehlen, als letzter Ausweg herangezogen werden.
76. Was die beiden Modalitäten abgesehen von ihren Unterschieden vereint, ist der Umstand, dass ihre Anwendung der Voraussetzung unterliegt, dass die zu verwendenden Methoden nicht unter eines der Verbote in Art. 31 Abs. 2 Buchst. a bis g ZKG und Art. 74 Abs. 3 ZKU in Verbindung mit Art. 144 Abs. 2 Buchst. a bis g der Durchführungsverordnung zum ZKU fallen . Nach diesen Bestimmungen darf der Zollwert u. a. nicht auf der Grundlage von Mindestzollwerten und willkürlichen oder fiktiven Werten ermittelt werden.
1) Vereinbarkeit mit dem Verbot von Mindestzollwerten
77. Das Verbot, den Zollwert auf der Grundlage von Mindestzollwerten zu ermitteln, ist Gegenstand der dritten und der vierten Vorlagefrage in der Rechtssache C‑72/24 (Keladis I) sowie der zweiten und der dritten Vorlagefrage in der Rechtssache C‑73/24 (Keladis II) und bildet den zweiten thematischen Schwerpunkt, der in den vorliegenden Schlussanträgen untersucht wird.
78. Das Verbot wird in Art. 31 Abs. 2 Buchst. f ZKG und Art. 144 Abs. 2 Buchst. f der Durchführungsverordnung zum ZKU ausdrücklich genannt. Außerdem verweisen Art. 31 Abs. 1 ZKG und Art. 74 Abs. 3 ZKU auf die Leitlinien und allgemeinen Regeln des Artikels VII des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens 1994 sowie des Übereinkommens zur Durchführung des Artikels VII dieses Abkommens und enthalten ebenso wie diese das Verbot der Ermittlung des Zollwerts anhand von Mindestwerten. Das Unionsrecht setzt damit die Rechtsvorschriften des multilateralen Handelssystems um, die es den Vertragsparteien verbieten, einseitig Zollwerte zum Schutz ihrer inländischen Wirtschaftszweige festzulegen(53 ).
79. Insoweit bin ich wie die Kommission der Auffassung, dass die Zollbehörden unter bestimmten Umständen gegen dieses Verbot verstoßen könnten, wenn sie auf statistischen Werten beruhende „Schwellenpreise“ zur Ermittlung von Zollwerten verwenden. Dies wäre insbesondere dann der Fall, wenn eine solche Verwaltungspraxis systematisch eingesetzt würde und die Wirtschaftsteilnehmer nicht die Möglichkeit hätten, die in ihrer Anmeldung angegebenen niedrigen Preise zu begründen . Eine solche Praxis, bei der Transaktionswerte unterhalb der „Schwelle“ ausgeschlossen wären und eine Anpassung der angemeldeten Zollwerte nach oben, d. h. bis zur fraglichen „Schwelle“, impliziert wäre, stellt nämlich in Wirklichkeit ein System von Mindestwerten dar.
80. Wie den Erklärungen der Parteien in der mündlichen Verhandlung jedoch zu entnehmen ist, entspricht dieser Ansatz nicht der Praxis der Zollbehörden. Vielmehr gab es in den Ausgangsverfahren offenbar mehrere Schriftwechsel zwischen den griechischen Zollbehörden und den Klägern, die dazu dienten, Art und Wert der fraglichen Waren zu ermitteln. Daher kann nicht geltend gemacht werden, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens nicht die Möglichkeit gehabt hätten, im Rahmen des Verwaltungsverfahrens vor den Zollbehörden zusätzliche Angaben zu machen. Somit ist das Szenario, vor dem die Kommission gewarnt hat, nicht eingetreten.
81. Im Übrigen kann ich mich dem Argument der französischen Regierung nicht verschließen, wonach „Schwellenpreise“, soweit sie nicht auf einer staatlichen Regelung beruhten, nicht mit Mindestzollwerten gleichgesetzt werden könnten. Wie bereits dargelegt, soll das in Rede stehende Verbot die Staaten daran hindern, einseitig Handelsbeschränkungen in Form von Mindestwerten festzulegen. „Schwellenpreise“ können jedoch nur in dem stark eingegrenzten, in diesen Schlussanträgen beschriebenen Fall eventuell – und nur faktisch – eine ähnliche Wirkung haben.
82. Daraus folgt, dass die Verwendung von „Schwellenpreisen“, die auf den im AMT verfügbaren LAP beruhen, grundsätzlich eine unionsrechtskonforme Möglichkeit ist, um den Zollwert eingeführter Waren zu ermitteln. Diese „Schwellenpreise“ könnten als „in der [Union] verfügbare Daten“ gemäß Art. 31 Abs. 1 ZKG und Art. 74 Abs. 3 ZKU angesehen werden. Die Verwendung von „Schwellenpreisen“ verstößt somit nicht gegen das Verbot von Mindestzollwerten.
83. Dies beantwortet die im Wesentlichen identische Frage, ob die Verwendung von „Schwellenpreisen“ für die Ermittlung des Zollwerts von Waren mit dem Übereinkommen zur Durchführung des Artikels VII des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens 1994 vereinbar ist, auf das Art. 31 Abs. 1 ZKG und Art. 74 Abs. 3 Buchst. a ZKU verweisen, wenn man einem Ansatz folgt, dem zufolge diese Preise ihrem Wesen nach „Mindestpreise“ sind.
84. Da die Verwendung statistischer Werte nur bei Anwendung der Fall-Back-Methode nach Art. 31 Abs. 2 ZKG und Art. 74 Abs. 3 ZKU erwogen werden kann, ist die vierte Vorlagefrage in der Rechtssache C‑72/24 (Keladis I), die den Ausschluss von Mindestwerten und das Erfordernis der Übereinstimmung mit den Leitlinien und allgemeinen Regeln des internationalen Übereinkommens zur Durchführung des Artikels VII des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens 1994 bei der Anwendung aller subsidiären Methoden der Ermittlung des Zollwerts betrifft, bedeutungslos und nicht mehr zu beantworten.
2) Mittelbare und unmittelbare Anwendung statistischer Durchschnittspreise
85. In ihren Erklärungen vertritt die Kommission einen Ansatz, wonach die Verwendung der im AMT verfügbaren statistischen Durchschnittspreise („angemessene Preise“) nur zur Identifizierung von Anmeldungen gleichartiger Waren in Betracht komme. Die als Referenz dienende Anmeldung könne später zur Ermittlung des Zollwerts der eingeführten Waren verwendet werden. Der Kommission zufolge würden die statistischen Durchschnittswerte nicht unmittelbar als Ersatzwerte für die angemeldeten Zollwerte verwendet , sondern nur mittelbar zur Auswahl der Anmeldung, die einen Transaktionswert gleichartiger Waren enthalte, der zur Bestimmung des zu niedrig angesetzten Zollwerts herangezogen werden könne. Dieser Ansatz sei durch die „angemessene Flexibilität“ gedeckt, die bei der Anwendung der auf dem Transaktionswert gleichartiger Waren beruhenden Methode zulässig sei.
86. Der Vorteil dieses Ansatzes besteht darin, dass der tatsächliche Wert getreuer abgebildet wird. Zudem scheint dieser Ansatz im Einklang mit dem Grundsatz zu stehen, wonach die gemäß Art. 31 Abs. 1 ZKG ermittelten Zollwerte möglichst auf schon früher ermittelten Zollwerten beruhen sollten, wie sich aus Nr. 1 der erläuternden Anmerkungen zur Ermittlung des Zollwerts zu Art. 31 Abs. 1 ZKG ergibt. Dieser Grundsatz lässt sich auch aus Art. 144 Abs. 1 der Durchführungsverordnung zum ZKU ableiten, der eine angemessene Flexibilität bei der Anwendung der in Art. 70 und Art. 74 Abs. 2 ZKU vorgesehenen Methoden vorsieht.
87. Meiner Meinung nach entspricht jedoch die Möglichkeit, statistische Werte mittelbar zur Identifizierung von Anmeldungen gleichartiger Waren zu verwenden, nicht ganz der Annahme des vorlegenden Gerichts, dass überhaupt keine Angaben zu den Merkmalen der eingeführten Waren vorhanden sind, da dies ein Hindernis für die Identifizierung gleichartiger eingeführter Waren darstellen könnte. Die Unmöglichkeit, den Zollwert nach Art. 144 Abs. 1 der Durchführungsverordnung zum ZKU zu ermitteln, ist auch in Abs. 2 dieses Artikels vorgesehen und eröffnet den Weg für die Heranziehung „anderer geeigneter Methoden“. Ich stimme der spanischen und der französischen Regierung darin zu, dass sich in Fällen, in denen überhaupt keine relevanteren Daten verfügbar sind, insbesondere weil der betreffende Wirtschaftsteilnehmer, der eine Zollanmeldung mit unrichtigen oder unzureichenden Informationen vorgelegt hat, nicht kooperiert und keine physische Warenkontrolle durchgeführt werden kann, die Verwendung auf Unionsebene erhobener aggregierter statistischer Daten mangels alternativer Methoden als „zweckmäßige“ Methode zur Ermittlung des Zollwerts im Sinne von Art. 31 Abs. 1 ZKG und Art. 74 Abs. 3 ZKU erweist und somit „anderen geeigneten Methoden“ im Sinne von Art. 144 Abs. 2 der Durchführungsverordnung zum ZKU entspricht(54 ).
88. Es bleibt zu prüfen, ob das Erfordernis der Begründung von zollbehördlichen Entscheidungen, das in Art. 6 Abs. 3 ZKG und Art. 22 Abs. 2 ZKU in Verbindung mit der oben in Nr. 45 dieser Schlussanträge angeführten Rechtsprechung vorgesehen ist, der Verwendung statistischer Daten zur Ermittlung des Zollwerts entgegenstehen könnte. Die französische Regierung macht geltend, die Zollbehörden dürften auf aggregierte Statistiken gestützte Daten nur dann zur Ermittlung des Zollwerts einer Ware verwenden, wenn die Daten dem betroffenen Wirtschaftsteilnehmer zur Kenntnis gebracht werden könnten und somit Teil der nach Art. 6 Abs. 3 ZKG erforderlichen Begründung sein könnten. Der Gerichtshof hat „vertrauliche Informationen aus einer Datenbank, mit der anhand von Methoden statistischer Erforschung Geschäftsmodelle aufgefunden werden sollen, bei denen es sich um Betrugsfälle handeln könnte“(55 ) nämlich ausdrücklich von der in Art. 6 Abs. 3 ZKG vorgeschriebenen Begründung ausgenommen.
89. Allerdings muss die vorgeschriebene Begründung dem Wesen der jeweiligen Zollentscheidung angepasst sein (56 ), was für den konkreten Fall bedeutet, dass sie die Verwendung der Fall-Back-Methode zur Ermittlung des Zollwerts widerspiegeln sollte. Wie die Kommission erläutert hat, können die im AMT enthaltenen statistischen Preise den Wirtschaftsteilnehmern kommuniziert werden(57 ). Außerdem ist nicht ausgeschlossen, dass das Begründungserfordernis erfüllt sein kann, wenn aggregierte Daten aus vertraulichen Datenbanken in Verbindung mit anderen Daten verwendet werden, wie z. B. Daten aus nationalen Datenbanken, die einem Wirtschaftsteilnehmer zur Kenntnis gebracht werden könnten. Zudem muss berücksichtigt werden, dass jeder Wirtschaftsteilnehmer die Möglichkeit hat, einen anderen Zollwert nachzuweisen als den Zollwert, den die statistischen Werte nahelegen. Weist die Zollbehörde die von einem Wirtschaftsteilnehmer vorgelegten Daten zurück, ist sie verpflichtet, dies zu begründen. Allerdings darf die mangelnde Kooperation eines Wirtschaftsteilnehmers nicht zur Folge haben, dass es der Zollbehörde unmöglich gemacht wird, ihren unionsrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen. Daher halte ich es für gerechtfertigt, der Zollbehörde bei fehlender Kooperation zu gestatten, ihre Entscheidungen anhand der ihr verfügbaren statistischen Werte zu begründen(58 ).
D. Zum maximal zulässigen Zeitraum zwischen den Einfuhren, die für die Gewinnung statistischer Ergebnisse herangezogen werden, und den geprüften Einfuhren
90. Der dritte thematische Schwerpunkt der vorliegenden Schlussanträge, der speziell an die vierte Vorlagefrage in der Rechtssache C‑73/24 (Keladis II) anknüpft, betrifft den maximal zulässigen Zeitraum zwischen den Einfuhren, die für die Gewinnung statistischer Ergebnisse herangezogen werden, und den geprüften Einfuhren und insbesondere die Frage, ob der in Art. 152 Abs. 1 Buchst. b der Durchführungsverordnung zum ZKG und Art. 142 Abs. 2 der Durchführungsverordnung zum ZKU vorgesehene Zeitraum von 90 Tagen insoweit entsprechend gelten soll. Die Prüfung dieser Fragen setzt logischerweise voraus, dass die Verwendung statistischer Werte für die Ermittlung des Zollwerts eingeführter Waren möglich ist, was in den vorstehenden Nummern dieser Schlussanträge bestätigt worden ist.
91. Hierzu ist vorab festzustellen, dass alle nachrangigen Methoden den zeitlichen Aspekt berücksichtigen , da erhebliche zeitliche Abstände den Wert der Waren beeinflussen können und dazu führen können, dass Werte herangezogen werden, die mit der zu prüfenden, tatsächlich stattgefundenen Transaktion nichts mehr zu tun haben. Daher muss dem zeitlichen Aspekt bei der Anwendung der Fall-Back-Methode nach Art. 31 ZKG und Art. 74 Abs. 3 ZKU Rechnung getragen werden, da die Gründe, die die Festlegung eines Bezugspunkts in zeitlicher Nähe zur Transaktion im Rahmen der anderen Methoden rechtfertigen, auch für die Fall-Back-Methode gelten. Dies gilt unbeschadet der Möglichkeit, das Kriterium der „angemessenen Flexibilität“ anzuwenden, auf das ich im weiteren Verlauf dieser Schlussfolgerungen eingehen werde.
92. Eine Analyse der Rechtsprechung bestätigt meiner Meinung nach die Relevanz des zeitlichen Aspekts. In seinem Urteil in der Rechtssache FAWKES (C‑187/21) hat der Gerichtshof nämlich entschieden, dass ein Zeitraum von 90 Tagen, davon je 45 Tage vor bzw. nach der zolltariflichen Behandlung der zu bewertenden Ware, dem Zeitpunkt der Ausfuhr hinreichend nahe zu sein erscheint, so dass die Gefahr einer wesentlichen Änderung der Handelspraktiken und der Marktbedingungen, die die Preise der zu bewertenden Waren beeinflussen, vermieden wird(59 ). Dennoch stellt sich die Frage, ob die Anwendung dieses Zeitraums auf den vorliegenden Fall rechtlich begründet werden kann.
93. Meines Erachtens ist die Frage zu bejahen, insbesondere wenn die Anwendung dieses Zeitraums als Ausdruck „angemessener Flexibilität“ anzusehen ist. Der Gerichtshof hat im Urteil in der Rechtssache Oribalt Rīga entschieden, dass die in Art. 152 Abs. 1 Buchst. b der Durchführungsverordnung zum ZKG vorgesehene Frist von 90 Tagen eine Ausnahme von dem in Art. 152 Abs. 1 Buchst. a aufgestellten Grundsatz darstellt und als solche eng auszulegen ist(60 ).
94. In Anhang 23 („Erläuternde Anmerkungen zur Ermittlung des Zollwerts“) der Durchführungsverordnung zum ZKG heißt es in Bezug auf die Auslegung von Art. 31 Abs. 1 ZKG, dass als Bewertungsmethoden nach dieser Bestimmung die in Art. 29 und Art. 30 Abs. 1 und 2 ZKG festgelegten Methoden herangezogen werden sollten, dass aber eine „angemessene Flexibilität“ bei der Anwendung solcher Methoden im Einklang mit den Zielsetzungen und Bestimmungen von Art. 31 ZKG steht(61 ). Der Anhang enthält einige Beispiele für eine „angemessene Flexibilität“. Zur Anwendung der deduktiven Methode nach Art. 30 Abs. 2 Buchst. c ZKG heißt es dort, dass die Frist von 90 Tagen großzügig gehandhabt werden kann . Gleiches sollte für die Bestimmungen des ZKU gelten.
95. Daher halte ich eine Frist von 90 Tagen für angemessen, um den Erfordernissen des internationalen Handels Rechnung zu tragen , wie sie sich sowohl aus den Regeln des internationalen Handels als auch aus der oben angeführten Rechtsprechung ergeben. Wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung festgestellt hat, erscheint diese Frist auch bei Anwendung der zweiten Modalität der Fall-Back-Methode nach Art. 144 Abs. 2 der Durchführungsverordnung zum ZKU angemessen. Dagegen haben sich mehrere Parteien in ihren Erklärungen gegen die Anwendung einer Frist von vier Jahren ausgesprochen, da ihnen dieser Zeitraum als zu lang erschien(62 ). Ich schließe mich diesem Standpunkt an, da ein derart langer Zeitraum offensichtlich dem Ziel zuwiderlaufen würde, eine möglichst genaue und realistische Ermittlung des Zollwerts zu ermöglichen.
96. Da die Zollbehörden bei der Anwendung des Unionsrechts das Verhältnismäßigkeitsgebot beachten müssen, kann die Festlegung einer längeren Frist meines Erachtens nur ausnahmsweise und als letztes Mittel gerechtfertigt sein, insbesondere wenn keine verlässlicheren Informationen verfügbar sind und das in Art. 325 AEUV anerkannte allgemeine Ziel, die finanziellen Interessen der Union zu schützen, nicht anders erreicht werden kann, vor allem wenn es darum geht, die wirksame und vollständige Erhebung der traditionellen Eigenmittel in Form der Zölle zu gewährleisten(63 ).
97. In Anbetracht der obigen Ausführungen bin ich der Ansicht, dass Art. 31 Abs. 1 ZKG und Art. 74 Abs. 3 ZKU dahin auszulegen sind, dass sie bei der Bestimmung des maximal zulässigen Zeitraums zwischen den Einfuhren, die für die Gewinnung statistischer Ergebnisse herangezogen werden, und den geprüften Einfuhren einer entsprechenden Anwendung des in Art. 152 Abs. 1 Buchst. b der Durchführungsverordnung zum ZKG und in Art. 142 Abs. 2 der Durchführungsverordnung zum ZKU vorgesehenen Zeitraums von 90 Tagen nicht entgegenstehen , wobei diese Frist großzügig gehandhabt werden kann, jedoch ohne so sehr ausgedehnt zu werden, dass das mit der zeitlichen Beschränkung verfolgte Ziel gefährdet wird.
E. Zwischenergebnis
98. Die vorstehende Analyse hat gezeigt, dass die Verwendung statistischer Werte grundsätzlich eine geeignete Maßnahme zum Schutz der finanziellen Interessen der Union darstellt, soweit sie es der Verwaltung ermöglicht, Zollschulden festzustellen und Betrug zum Nachteil ihrer finanziellen Interessen zu verhindern.
99. Die Verwendung statistischer Werte zur Ermittlung des Zollwerts kommt als letztes Mittel in Betracht, wenn dieses Ziel nicht mit anderen Methoden erreicht werden kann. Ein solcher Ansatz ist insbesondere in Situationen relevant, in denen der betreffende Wirtschaftsteilnehmer , der eine Zollanmeldung mit unrichtigen oder unzureichenden Informationen abgegeben hat, nicht kooperiert und die Zollbehörden keine physische Kontrolle der Waren vornehmen können . Ihre Anwendung setzt jedoch voraus, dass bestimmte unionsrechtliche Anforderungen eingehalten werden.
100. Ihrem Wesen nach können „Schwellenpreise“, die auf statistisch errechneten, im AMT verfügbaren Werten beruhen, nicht zur Ermittlung des Zollwerts eingeführter Waren anhand einer der in Art. 30 Abs. 2 ZKG und Art. 74 Abs. 2 ZKU genannten nachrangigen Methoden verwendet werden .
101. Als letztes Mittel im Sinne von Art. 31 ZKG und Art. 74 Abs. 3 ZKU und wenn keine präziseren Daten verfügbar sind, können jedoch auf Unionsebene erhobene aggregierte statistische Daten zur Bestimmung des Zollwerts herangezogen werden, sofern die Entscheidung der Zollbehörde der Begründungsanforderung nach Art. 6 Abs. 3 ZKG und Art. 22 Abs. 6 ZKU genügt.
102. Zudem hat meine Analyse gezeigt, dass die Verwendung von „Schwellenpreisen“ nicht gegen das Verbot verstößt, den Zollwert auf der Grundlage von Mindestzollwerten zu ermitteln, wenn der Wirtschaftsteilnehmer die Möglichkeit hat, die niedrigen Preise in der Anmeldung zu begründen.
103. Schließlich ist festgestellt worden, dass der in Art. 152 Abs. 1 Buchst. b der Durchführungsverordnung zum ZKG und in Art. 142 Abs. 2 der Durchführungsverordnung zum ZKU vorgesehene Zeitraum von 90 Tagen bei der Bestimmung des maximal zulässigen Zeitraums zwischen den Einfuhren, die für die Gewinnung statistischer Ergebnisse herangezogen werden, und den geprüften Einfuhren entsprechend angewandt werden kann , wobei diese Frist großzügig gehandhabt werden kann, jedoch ohne so sehr ausgedehnt zu werden, dass das mit der zeitlichen Beschränkung verfolgte Ziel gefährdet wird.
VI. Ergebnis
104. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Dioikitiko Protodikeio Thessalonikis (Verwaltungsgericht Thessaloniki, Griechenland) wie folgt zu beantworten:
1. Art. 30 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften und Art. 74 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union
sind dahin auszulegen,
dass sie dem entgegenstehen, dass auf Unionsebene erhobene aggregierte statistische Daten von den Zollbehörden verwendet werden, um durch Anwendung der in diesen Artikeln genannten nachrangigen Methoden den Zollwert von Waren zu ermitteln.
2. Art. 31 der Verordnung Nr. 2913/92 und Art. 74 Abs. 3 der Verordnung 952/2013
sind dahin auszulegen,
dass sie die Zollbehörden, wenn sie zur Ermittlung des Zollwerts von Waren die in diesen Artikeln genannte Fall-Back-Methode anwenden, nicht daran hindern, auf Unionsebene erhobene aggregierte statistische Daten zu verwenden und diese Daten an Wirtschaftsteilnehmer zu übermitteln, damit ihr Recht auf rechtliche Anhörung gewährleistet ist, sofern die Verwendung solcher Daten nur ausnahmsweise erfolgt und auf Fälle beschränkt wird, in denen die Zollbehörde nach Erschöpfung aller gesetzlich festgelegten Verfahren nicht in der Lage ist, einen Zollwert nach den anderen vorgesehenen Methoden zu ermitteln.
3. Die Verwendung von auf Unionsebene erhobenen aggregierten statistischen Daten im Rahmen der in Art. 31 der Verordnung Nr. 2913/92 und Art. 74 Abs. 3 der Verordnung Nr. 952/2013 genannten Fall-Back-Methode kann nicht als Anwendung eines Mindestpreissystems eingestuft werden, sofern der Wirtschaftsteilnehmer die Möglichkeit hat, die in der Anmeldung angegebenen niedrigen Preise zu begründen.
4. Der Zeitraum von 90 Tagen, der in Art. 152 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission vom 2. Juli 1993 mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 in der durch die Verordnung (EG) Nr. 46/1999 der Kommission vom 8. Januar 1999 geänderten Fassung und in Art. 142 Abs. 2 der Durchführungsverordnung (EU) 2015/2447 der Kommission vom 24. November 2015 mit Einzelheiten zur Umsetzung von Bestimmungen der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 vorgesehen ist, kann entsprechend angewandt werden, um den maximal zulässigen Zeitraum zwischen den Einfuhren, die für die Gewinnung statistischer Ergebnisse herangezogen werden, und den geprüften Einfuhren zu bestimmen, und dieser Zeitraum darf großzügig bemessen werden, jedoch nicht so sehr, dass das mit dieser zeitlichen Beschränkung verfolgte Ziel gefährdet wird.