C-717/22 – Sistem Lux

C-717/22 – Sistem Lux

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Language of document : ECLI:EU:C:2024:1041

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

19. Dezember 2024(*)

„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Zollunion – Verordnung (EU) Nr. 952/2013 – Zollkodex der Union – Art. 15 – Übermittlung von Informationen an die Zollbehörden – Zuwiderhandlungen gegen die zollrechtlichen Vorschriften – Art. 42 – Wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen – Rahmenbeschluss 2005/212/JI – Einziehung von Erträgen, Tatwerkzeugen und Vermögensgegenständen aus Straftaten – Art. 2 Abs. 1 – Einziehung – Nationale Regelung, die die Verhängung einer Geldbuße in Höhe von 100 % bis 200 % des Zollwerts der Waren und die Einziehung der Waren unabhängig vom Eigentümer vorsieht “

In den verbundenen Rechtssachen C‑717/22 und C‑372/23

betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Rayonen sad Svilengrad (Rayongericht Svilengrad, Bulgarien) (C‑717/22) und vom Administrativen sad – Haskovo (Verwaltungsgericht Haskovo, Bulgarien) (C‑372/23) mit Entscheidungen vom 10. November 2022 und vom 1. Juni 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 23. November 2022 bzw. am 13. Juni 2023, in den Verfahren

SISTEM LUX“ OOD (C‑717/22),

VU (C‑372/23)

gegen

Teritorialna direktsia Mitnitsa Burgas,

Beteiligte:

Rayonna prokuratura – Haskovo, Teritorialno otdelenie – Svilengrad (C‑717/22),

Okrazhna prokuratura – Haskovo (C‑372/23),

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Präsidentin der Zweiten Kammer K. Jürimäe in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Dritten Kammer sowie der Richter N. Jääskinen (Berichterstatter), M. Gavalec und N. Piçarra,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der „SISTEM LUX“ OOD, vertreten durch I. A. Ivanov, Advokat,

–        der Teritorialna direktsia Mitnitsa Burgas, vertreten durch V. Stefanov,

–        der bulgarischen Regierung, vertreten durch T. Mitova, S. Ruseva und R. Stoyanov als Bevollmächtigte,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch S. Baeyens und P. Cottin als Bevollmächtigte,

–        der spanischen Regierung, vertreten durch A. Pérez-Zurita Gutiérrez als Bevollmächtigte,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von A. Collabolletta und F. Meloncelli, Avvocati dello Stato,

–        der lettischen Regierung, vertreten durch J. Davidoviča, K. Pommere und I. Romanovska als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Moro und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. Mai 2024

folgendes

Urteil

1        Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 1 vierter Gedankenstrich und Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2005/212/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Einziehung von Erträgen, Tatwerkzeugen und Vermögensgegenständen aus Straftaten (ABl. 2005, L 68, S. 49), von Art. 5 Nr. 3, Art. 15 und Art. 42 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union (ABl. 2013, L 269, S. 1, berichtigt in ABl. 2016, L 267, S. 2, im Folgenden: Zollkodex der Union), von Art. 2 Nr. 4 der Richtlinie 2014/42/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Sicherstellung und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten in der Europäischen Union (ABl. 2014, L 127, S. 39) sowie von Art. 17 Abs. 1, Art. 41 und Art. 49 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden Charta).

2        Diese Ersuchen ergehen im Rahmen eines Rechtsstreits zum einen zwischen der „SISTEM LUX“ OOD (im Folgenden „Sistem Lux“), einer in Serbien ansässigen Gesellschaft, und der Teritorialna direktsia Mitnitsa Burgas (Gebietsdirektion Zollamt Burgas, Bulgarien) (im Folgenden: Zolldirektion) (Rechtssache C‑717/22) sowie zum anderen zwischen VU, einer Privatperson serbischer Staatsangehörigkeit, und der Zolldirektion (Rechtssache C‑372/23) wegen der Entscheidung, gegen VU eine verwaltungsrechtliche Sanktion wegen Zollschmuggels zu verhängen und die Waren von Sistem Lux, die Gegenstand dieses Schmuggels waren, einzuziehen.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Rahmenbeschluss 2005/212

3        Im ersten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2005/212 heißt es:

„Das Hauptmotiv für grenzüberschreitende organisierte Kriminalität ist wirtschaftlicher Gewinn. Im Rahmen einer effizienten Verhütung und Bekämpfung der organisierten Kriminalität muss der Schwerpunkt daher auf die Ermittlung, das Einfrieren, die Beschlagnahme und die Einziehung von Erträgen aus Straftaten gelegt werden. …“

4        Art. 1 („Begriffsbestimmungen“) vierter Gedankenstrich dieses Rahmenbeschlusses bestimmt:

„Im Sinne dieses Rahmenbeschlusses bezeichnet der Ausdruck

–        ‚Einziehung‘ eine Strafe oder Maßnahme, die von einem Gericht im Anschluss an ein eine Straftat oder mehrere Straftaten betreffendes Verfahren angeordnet wurde und die zur endgültigen Einziehung von Vermögensgegenständen führt“.

5        Art. 2 („Einziehung“) des Rahmenbeschlusses sieht vor:

„(1)      Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Tatwerkzeuge und Erträge aus Straftaten, die mit einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bedroht sind, oder Vermögensgegenstände, deren Wert diesen Erträgen entspricht, ganz oder teilweise eingezogen werden können.

…“

 Zollkodex der Union

6        Art. 15 („Übermittlung von Informationen an die Zollbehörden“) des Zollkodex der Union bestimmt:

„(1)      Auf Verlangen der Zollbehörden und innerhalb der gesetzten Frist übermitteln die unmittelbar oder mittelbar an der Erfüllung von Zollformalitäten oder an Zollkontrollen beteiligten Personen den Zollbehörden in geeigneter Form alle erforderlichen Unterlagen und Informationen und gewähren ihnen die erforderliche Unterstützung, damit diese Formalitäten oder Kontrollen abgewickelt werden können.

(2)      Der Beteiligte ist mit Abgabe einer Zollanmeldung, einer Anmeldung zur vorübergehenden Verwahrung, einer summarischen Eingangsanmeldung, einer summarischen Ausgangsanmeldung, einer Wiederausfuhranmeldung oder einer Wiederausfuhrmitteilung einer Person an die Zollbehörden, oder mit Stellung eines Antrags auf eine Bewilligung oder eine sonstige Entscheidung für alle folgenden Umstände verantwortlich:

a)      für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Informationen in der Anmeldung, der Mitteilung oder dem Antrag,

b)      für die Echtheit, die Richtigkeit und die Gültigkeit jeder der Anmeldung, der Mitteilung oder dem Antrag beigefügten Unterlage,

c)      gegebenenfalls für die Erfüllung aller Pflichten im Zusammenhang mit der Überführung der Waren in das betreffende Zollverfahren oder aus der Durchführung der bewilligten Vorgänge.

Unterabsatz 1 gilt auch für die Bereitstellung von Informationen in anderer von den Zollbehörden verlangter oder ihnen übermittelter Form.

Erfolgt die Abgabe der Zollanmeldung oder der Mitteilung, die Antragstellung oder die Übermittlung der Informationen durch einen Zollvertreter des Beteiligten gemäß Artikel 18, so gelten die Pflichten nach Unterabsatz 1 des vorliegenden Absatzes auch für den Zollvertreter.“

7        Art. 42 („Anwendung von Sanktionen“) des Zollkodex der Union bestimmt:

„(1)      Jeder Mitgliedstaat sieht Sanktionen für Zuwiderhandlungen gegen die zollrechtlichen Vorschriften vor. Diese Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.

(2)      Werden verwaltungsrechtliche Sanktionen verhängt, so können sie unter anderem in einer oder beiden folgenden Formen erfolgen:

a)      als eine von den Zollbehörden auferlegte finanzielle Belastung, gegebenenfalls auch an Stelle oder zur Abwendung einer strafrechtlichen Sanktion,

b)      als Widerruf, Aussetzung oder Änderung einer dem Beteiligten erteilten Bewilligung.

…“

8        Art. 79 („Entstehen der Zollschuld bei Verstößen“) Abs. 1 des Zollkodex der Union sieht vor:

„Für einfuhrabgabenpflichtige Waren entsteht eine Einfuhrzollschuld, wenn Folgendes nicht erfüllt ist:

a)      eine der in den zollrechtlichen Vorschriften festgelegten Verpflichtungen in Bezug auf das Verbringen von Nicht-Unionswaren in das Zollgebiet der [Europäischen] Union, auf das Entziehen dieser Waren aus der zollamtlichen Überwachung oder auf die Beförderung, Veredelung, Lagerung, vorübergehende Verwahrung, vorübergehende Verwendung oder Verwertung dieser Waren in diesem Gebiet,

b)      eine der in den zollrechtlichen Vorschriften festgelegten Verpflichtungen in Bezug auf die Endverwendung von Waren innerhalb des Zollgebiets der Union,

c)      eine Voraussetzung für die Überführung von Nicht-Unionswaren in ein Zollverfahren oder für die Gewährung der vollständigen oder teilweisen Befreiung von den Einfuhrabgaben aufgrund der Endverwendung der Waren.“

9        Art. 158 („Zollanmeldung von Waren und zollamtliche Überwachung von Unionswaren“) des Zollkodex der Union lautet:

„(1)      Für alle Waren, die in ein Zollverfahren – mit Ausnahme des Freizonenverfahrens – übergeführt werden sollen, ist eine Zollanmeldung zu dem jeweiligen Verfahren erforderlich.

(2)      In bestimmten Fällen, jedoch nicht in den Fällen nach Artikel 6 Absatz 3, kann eine Zollanmeldung unter Verwendung anderer Mittel als der elektronischen Datenverarbeitung abgegeben werden.

(3)      Zur Ausfuhr, zum internen Unionsversand oder zur passiven Veredelung angemeldete Unionswaren unterliegen ab der Annahme der in Absatz 1 genannten Zollanmeldung bis zum Zeitpunkt ihres Verbringens aus dem Zollgebiet der Union, ihrer Aufgabe zugunsten der Staatskasse, ihrer Zerstörung oder der Ungültigerklärung der Zollanmeldung der zollamtlichen Überwachung.“

10      Art. 198 („Von den Zollbehörden zu treffende Maßnahmen“) des Zollkodex der Union bestimmt:

„(1)      Die Zollbehörden treffen die erforderlichen Maßnahmen, einschließlich der Einziehung und Veräußerung oder Zerstörung, um die Waren zu verwerten:

a)      wenn eine der in den zollrechtlichen Vorschriften festgelegten Verpflichtungen in Bezug auf das Verbringen von Nicht-Unionswaren in das Zollgebiet der Union nicht erfüllt wurde oder die Waren der zollamtlichen Überwachung vorenthalten wurden,

…“

11      Art. 233 („Pflichten des Inhabers des Unionsversandverfahrens und des Beförderers und Warenempfängers hinsichtlich der im Unionsversand beförderten Waren“) sieht vor:

„(1)      Der Inhaber des Unionsversands ist für alles Folgende verantwortlich:

a)      Er hat die unveränderten Waren und die erforderlichen Angaben bei der Bestimmungszollstelle innerhalb der vorgeschriebenen Frist unter Einhaltung der von den Zollbehörden zur Nämlichkeitssicherung getroffenen Maßnahmen zu gestellen bzw. zu machen,

(3)      Ein Beförderer oder Warenempfänger, der die Waren annimmt und weiß, dass sie im Unionsversandverfahren befördert werden, ist ebenfalls verpflichtet, sie innerhalb der vorgeschriebenen Frist unter Einhaltung der von den Zollbehörden zur Nämlichkeitssicherung getroffenen Maßnahmen unverändert der Bestimmungszollstelle zu gestellen.

12      In Art. 226 („Externer Versand“) des Zollkodex der Union heißt es:

„(1)      Im externen Versandverfahren können Nicht-Unionswaren zwischen zwei innerhalb des Zollgebiets der Union gelegenen Orten befördert werden, ohne Folgendem zu unterliegen:

a)      Einfuhrabgaben,

b)      sonstigen Abgaben nach anderen geltenden Vorschriften oder

c)      handelspolitischen Maßnahmen, soweit diese nicht den Eingang oder den Ausgang von Waren in das oder aus dem Zollgebiet der Union untersagen.

(2)      In bestimmten Fällen werden Unionswaren in das externe Versandverfahren übergeführt.

…“

 Richtlinie 2014/42

13      Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) Nr. 4 der Richtlinie 2014/42 bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

4.      ‚Einziehung‘ eine von einem Gericht in Bezug auf eine Straftat angeordnete endgültige Entziehung von Vermögensgegenständen“.

14      Art. 14 („Ersetzung der Gemeinsamen Maßnahme 98/699/JI und bestimmter Regelungen der Rahmenbeschlüsse 2001/500/JI und 2005/212/JI“) Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:

„Die Gemeinsame Maßnahme 98/699/JI [vom 3. Dezember 1998 – vom Rat aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union angenommen – betreffend Geldwäsche, die Ermittlung, das Einfrieren, die Beschlagnahme und die Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten (ABl. 1998, L 333, S. 1)], Artikel 1 Buchstabe a sowie die Artikel 3 und 4 des Rahmenbeschlusses 2001/500/JI [des Rates vom 26. Juni 2001 über Geldwäsche sowie Ermittlung, Einfrieren, Beschlagnahme und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten (ABl. 2001, L 182, S. 1)] und die Artikel 1 Gedankenstriche 1 bis 4 und Artikel 3 des Rahmenbeschlusses [2005/212] werden durch die vorliegende Richtlinie für die Mitgliedstaaten ersetzt, die durch die vorliegende Richtlinie gebunden sind, unbeschadet der Pflichten dieser Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit den Fristen für die Umsetzung dieser Rahmenbeschlüsse in innerstaatliches Recht.“

 Europäischer Kodex für gute Verwaltungspraxis

15      Art. 7 („Kein Missbrauch von Befugnissen“) des Europäischen Kodex für gute Verwaltungspraxis, der durch die Entschließung des Parlaments vom 6. September 2001 (ABl. 2002, C 72 E, S. 331) gebilligt wurde, lautet:

„Befugnisse dürfen ausschließlich zur Erreichung der Ziele ausgeübt werden, für die sie in den einschlägigen Vorschriften übertragen worden sind. Der Beamte sieht insbesondere davon ab, von den Befugnissen für Zwecke Gebrauch zu machen, für die keine rechtliche Grundlage besteht oder die nicht mit einem öffentlichen Interesse begründet werden können.“

 Bulgarisches Recht

 Zollgesetz

16      Art. 231 des Zakon za mitnitsite (Zollgesetz) (DV Nr. 15 vom 6. Februar 1998) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Zollgesetz) sieht vor:

„Die Entscheidungen über eine verwaltungsrechtliche Sanktion werden vom Direktor der Agentsia ‚Mitnitsi‘ [(Zollagentur, Bulgarien)] oder von den von diesem benannten Bediensteten erlassen.“

17      Art. 233 des Zollgesetzes bestimmt:

„(1)      Wer Waren ohne Wissen oder Genehmigung der Zollbehörden über die Staatsgrenze mitführt oder befördert oder dies versucht, wird, sofern die begangene Handlung keine Straftat darstellt, wegen Zollschmuggels mit einer Geldbuße von 100 bis 200 % des Zollwertes der Waren oder – im Fall der Ausfuhr – des Wertes der Waren belegt.

(6)      Waren, die Gegenstand eines Zollschmuggels sind, unterliegen ungeachtet der Eigentumsverhältnisse der Einziehung; falls sie nicht vorhanden sind oder veräußert wurden, wird der Ersatz ihres Wertes angeordnet, der ihrem Zollwert oder – im Fall der Ausfuhr – dem Wert der Waren entspricht.

…“

 Gesetz über verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlungen und Sanktionen

18      Art. 7 des Zakon za administrativnite narushenia i nakazania (Gesetz über verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlungen und Sanktionen) (DV Nr. 92 vom 28. November 1969) lautet:

„(1)      Eine zur verwaltungsrechtlichen Zuwiderhandlung erklärte Handlung ist vorwerfbar, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig begangen wird.

(2)      Fahrlässig begangene Handlungen werden nur in den ausdrücklich vorgesehenen Fällen nicht geahndet.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

 Rechtssache C717/22

19      Am 28. Mai 2021 kontrollierte ein Zollbediensteter der an der bulgarisch-türkischen Grenze gelegenen Zollstelle Kapitan Andreevo (Bulgarien) einen Sattelschlepper, der 13 Pakete mit Aluminiumprofilen beförderte, die in der Türkei verladen worden waren.

20      Der Zollbedienstete überprüfte die Zolldokumente, die ihm VU, der Fahrer dieses LKWs, vorgelegt hatte, und stellte fest, dass acht der beförderten Pakete, die Sistem Lux gehörten, nicht in den Begleitpapieren deklariert worden waren.

21      Es wurde gemäß Art. 233 Abs. 1 des Zollgesetzes ein Verfahren betreffend verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlungen eingeleitet, in dem festgestellt wurde, dass VU, obwohl er beim Verladen und Wiegen der Ladung anwesend gewesen sei, seiner Verpflichtung als internationale Transporte durchführender Fahrer, von den ihm ausgehändigten Dokumenten Kenntnis zu nehmen und insbesondere ihre Übereinstimmung mit den tatsächlich beförderten Waren zu überprüfen, nicht nachgekommen sei.

22      Die Verwaltungssanktionsbehörde befand daher, dass VU dadurch, dass er die in Rede stehenden Aluminiumprofile ohne Wissen und Erlaubnis der Zollbehörden über die bulgarische Grenze befördert habe, fahrlässig die in Art. 233 Abs. 1 des Zollgesetzes genannte verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlung begangen habe. Sie verhängte deshalb gegen ihn eine Geldbuße wegen Zollschmuggels in Höhe von 73 140,06 bulgarischen Lewa (BGN) (etwa 37 400 Euro), was dem Zollwert der Aluminiumprofile entspricht, die in den acht nicht angemeldeten Paketen gefunden worden waren. Außerdem ordnete sie gemäß Art. 233 Abs. 6 des Zollgesetzes die Einziehung der Aluminiumprofile zugunsten des Staates an.

23      Vor diesem Hintergrund erhob Sistem Lux beim Rayonen sad Svilengrad (Rayongericht Svilengrad, Bulgarien), dem vorlegenden Gericht, Klage gegen die Entscheidung zur Einziehung der genannten Aluminiumprofile.

24      Das vorlegende Gericht ist insoweit der Ansicht, dass Art. 233 Abs. 6 des Zollgesetzes, der die Einziehung der Waren, die Gegenstand von Zollschmuggel seien, unabhängig von ihrem Eigentümer vorsehe, in Widerspruch zu den Bestimmungen des Unionsrechts geraten könnte, wenn diese Waren einer anderen Person als dem Täter der verwaltungsrechtlichen Zuwiderhandlung gehörten oder wenn der Täter die Zuwiderhandlung fahrlässig begangen habe.

25      Außerdem weist dieses Gericht darauf hin, dass das Unionsrecht einer nationalen Bestimmung wie der in der vorstehenden Randnummer genannten möglicherweise auch insoweit entgegenstehen könne, als die Einziehung, die eine zusätzliche Sanktion neben der Geldbuße für Zollschmuggel darstelle, gegen den in Art. 42 Abs. 1 des Zollkodex der Union in Verbindung mit Art. 49 Abs. 3 der Charta verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen könnte. Eine solche Bestimmung könnte seiner Ansicht nach außerdem dem in Art. 17 Abs. 1 der Charta verankerten Recht einer jeden Person auf freien Gebrauch des von ihr erworbenen Eigentums zuwiderlaufen.

26      Ferner hegt das vorlegende Gericht Zweifel an der Vereinbarkeit der in Art. 233 Abs. 6 des Zollgesetzes vorgesehenen Maßnahme der Einziehung mit Art. 42 Abs. 2 des Zollkodex der Union, da dieser eine abschließende Aufzählung der verwaltungsrechtlichen Sanktionen enthalte, die im Fall einer Zuwiderhandlung gegen die zollrechtlichen Vorschriften verhängt werden könnten, sowie mit Art. 1 vierter Gedankenstrich und Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2005/212 und Art. 2 Nr. 4 der Richtlinie 2014/42, die der Anordnung einer solchen Maßnahme durch eine Verwaltungsbehörde entgegenstünden.

27      Unter diesen Umständen hat der Rayonen sad Svilengrad (Rayongericht Svilengrad) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 42 Abs. 2 des Zollkodex der Union, der abschließend die Arten von verwaltungsrechtlichen Sanktionen nennt, die bei Zuwiderhandlungen gegen die zollrechtlichen Vorschriften verhängt werden können, in Verbindung mit Art. 17 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen, dass eine nationale Regelung wie die des Art. 233 Abs. 6 des Zollgesetzes unzulässig ist, die als zusätzliche verwaltungsrechtliche Sanktion die Einziehung (Entziehung des Eigentums zugunsten des Staates) des Gegenstands der Zuwiderhandlung vorsieht? Ist die Einziehung des Gegenstands der Zuwiderhandlung in den Fällen zulässig, in denen der eingezogene Vermögensgegenstand einer anderen Person als dem Zuwiderhandelnden gehört?

2.      Ist Art. 42 Abs. 1 des Zollgesetzes in Verbindung mit Art. 49 Abs. 3 der Charta dahin auszulegen, dass eine nationale Regelung wie die des Art. 233 Abs. 6 des Zollgesetzes, die neben der Sanktion „Geldbuße“ als zusätzliche Sanktion die Einziehung (Entziehung des Eigentums zugunsten des Staates) des Gegenstands der Zuwiderhandlung vorsieht, in folgenden Fällen als unverhältnismäßiger sanktionierender Eingriff in das Eigentumsrecht, der außer Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Ziel steht, unzulässig ist: allgemein in den Fällen, in denen der eingezogene Vermögensgegenstand, der Gegenstand der Zuwiderhandlung war, dem Zuwiderhandelnden gehört, und in den Fällen, in denen er einem Dritten gehört, der nicht der Zuwiderhandelnde ist, und insbesondere in den Fällen, in denen der Täter die Zuwiderhandlung nicht vorsätzlich, sondern fahrlässig begangen hat?

3.      Sind die Bestimmungen des Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2005/212 in Verbindung mit Art. 17 Abs. 1 der Charta und unter Berücksichtigung des Urteils des Gerichtshofs vom 14. Januar 2021, Okrazhna prokuratura – Haskovo et Apelativna prokuratura – Plovdiv (C‑393/19, EU:C:2021:8), im Wege des argumentum a fortiori dahin auszulegen, dass sie auch für Fälle gelten, in denen die Tat keine Straftat, sondern eine verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlung darstellt, wobei der Unterschied zwischen beiden lediglich in dem Kriterium „in großem Umfang“ gemäß dem von der Rechtsprechung angenommenen Wert des Gegenstands des Schmuggels liegt? Sind in diesem Fall Art. 1 vierter Gedankenstrich des Rahmenbeschlusses 2005/212 und Art. 2 Nr. 4 der Richtlinie 2014/42 dahin auszulegen, dass der Begriff „Einziehung“ speziell eine Strafe oder Maßnahme bezeichnet, die von einem Gericht zu verhängen ist und nicht von einer Verwaltungsbehörde angeordnet werden darf, und ist in diesem Sinne eine nationale Regelung wie die des Art. 233 Abs. 6 in Verbindung mit Art. 231 des Zollgesetzes unzulässig?

 Rechtssache C372/23

28      Der Ausgangsrechtsstreit in der Rechtssache C‑372/23 beruht auf demselben Sachverhalt wie der in der Rechtssache C‑717/22, der in den Rn. 19 bis 22 des vorliegenden Urteils dargelegt worden ist.

29      VU focht die Entscheidung der Verwaltungssanktionsbehörde, mit der ihm wegen Zollschmuggels eine Geldbuße in Höhe von 73 140,06 BGN auferlegt und die betreffenden Waren zugunsten des Staates eingezogen wurden, vor dem Rayonen sad Svilengrad (Rayongericht Svilengrad) an.

30      Dieses Gericht bestätigte diese Entscheidung mit der Begründung, dass VU die Waren tatsächlich befördert und ohne Wissen und Erlaubnis der Zollbehörden in das bulgarische Hoheitsgebiet verbracht habe, da er der vorausgehenden Verpflichtung, die Waren nicht mündlich, sondern schriftlich anzumelden, nicht nachgekommen sei, so dass der Tatbestand der verwaltungsrechtlichen Zuwiderhandlung des „Zollschmuggels“ im Sinne von Art. 233 Abs. 1 des Zollgesetzes erfüllt sei. Es stellte außerdem fest, dass VU seiner Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen sei, was trotz des nicht vorsätzlichen Charakters eine Form von „Vorwerfbarkeit“ im Sinne von Art. 7 des Gesetzes über verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlungen und Sanktionen darstelle.

31      VU legte gegen dieses Urteil ein Rechtsmittel beim Administrativen sad – Haskovo (Verwaltungsgericht Haskovo, Bulgarien), dem vorlegenden Gericht, ein. Vor diesem Gericht macht VU geltend, dass er nicht vorsätzlich gegen die Verpflichtung verstoßen habe, die betreffenden Waren schriftlich anzumelden, und daher keine Zuwiderhandlung des Zollschmuggels begangen habe, die Vorsatz voraussetze.

32      VU macht außerdem geltend, dass die Zollbediensteten bei der Zollkontrolle die Art. 6 bis 10 des Europäischen Kodex für gute Verwaltungspraxis nicht beachtet hätten und insbesondere, indem sie ihn zur Verantwortung gezogen hätten, gegen Art. 7 dieses Kodex verstoßen hätten.

33      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass es Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit von Art. 233 Abs. 1 des Zollgesetzes mit dem Unionsrecht habe, da diese Vorschrift nicht danach unterscheide, ob die Tat des Zollschmuggels vorsätzlich begangen worden sei oder nicht. Allerdings ist dieses Gericht der Ansicht, dass die nationalen Rechtsvorschriften auch als mit Art. 49 Abs. 3 der Charta vereinbar angesehen werden könnten, da verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlungen eine geringere soziale Gefährlichkeit aufwiesen als Straftaten. Außerdem sehe Art. 233 Abs. 1 des Zollgesetzes die Verhängung einer Sanktion vor, die – zwischen 100 % und 200 % des Zollwerts der Waren – angepasst werden könne, so dass die Verwaltungssanktionsbehörde diese Vorschrift unter Berücksichtigung aller Tatsachen und Umstände des Einzelfalls, einschließlich des vorsätzlichen oder nicht vorsätzlichen Charakters der begangenen Zuwiderhandlung, anwende.

34      Unter diesen Umständen hat der Administrativen sad – Haskovo (Verwaltungsgericht Haskovo) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 15 in Verbindung mit Art. 42 Abs. 1 des Zollkodex der Union dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der des Art. 233 Abs. 1 des Zollgesetzes in Verbindung mit Art. 7 des Gesetzes über verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlungen und Sanktionen entgegensteht, die in Fällen einer wegen Sorgfaltswidrigkeit begangenen zollrechtlichen Zuwiderhandlung durch Nichteinhaltung der vorgeschriebenen Form der Anmeldung von über die Staatsgrenze beförderten Waren die Verhängung einer Sanktion für nicht vorsätzlich begangenen Schmuggel vorsieht? Ist eine nationale Regelung zulässig, die es in solchen Fällen erlaubt, die Zuwiderhandlung als fahrlässig begangenen Zollschmuggel einzustufen, oder ist Vorsatz ein zwingendes Tatbestandsmerkmal des Zollschmuggels?

2.      Ist Art. 42 Abs. 1 des Zollkodex der Union dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der des Art. 233 Abs. 1 des Zollgesetzes in Verbindung mit Art. 7 des Gesetzes über verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlungen und Sanktionen und Verwaltungssanktionen entgegensteht, wonach eine unter den Begriff „Zollschmuggel“ fallende, erstmalige Zuwiderhandlung unabhängig davon, ob sie vorsätzlich oder fahrlässig begangen wurde, mit einer Sanktion gleicher Art und Höhe, nämlich einer „Geldbuße“ in Höhe von 100 % bis 200 % des Zollwerts des Gegenstands der Zuwiderhandlung, geahndet werden kann?

3.      Ist Art. 42 Abs. 2 des Zollkodex der Union dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der des Art. 233 Abs. 6 des Zollgesetzes entgegensteht, die als zusätzliche verwaltungsrechtliche Sanktion die Einziehung (Entziehung des Eigentums zugunsten des Staates) der Waren oder Sachen vorsieht, die Gegenstand der Zuwiderhandlung waren und deren Besitz nicht verboten ist? Ist die Einziehung des Gegenstands der Zuwiderhandlung in den Fällen zulässig, in denen der eingezogene Vermögensgegenstand einer anderen Person als dem Zuwiderhandelnden gehört?

4.      Ist Art. 42 Abs. 1 des Zollkodex der Union in Verbindung mit Art. 49 Abs. 3 der Charta dahin auszulegen, dass eine nationale Regelung wie die des Art. 233 Abs. 6 des Zollgesetzes, die neben der Sanktion „Geldbuße“ als zusätzliche Sanktion die Einziehung (Entziehung des Eigentums zugunsten des Staates) der Waren oder Sachen, die Gegenstand der Zuwiderhandlung waren und deren Besitz nicht verboten ist, vorsieht, in folgenden Fällen als unverhältnismäßiger sanktionierender Eingriff in das Eigentumsrecht, der außer Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Ziel steht, unzulässig ist: allgemein in den Fällen, in denen der eingezogene Vermögensgegenstand, der Gegenstand der Zuwiderhandlung war, dem Zuwiderhandelnden gehört, und in den Fällen, in denen er einem Dritten gehört, der nicht der Zuwiderhandelnde ist, und insbesondere, wenn der Zuwiderhandelnde die Zuwiderhandlung nicht vorsätzlich, sondern fahrlässig begangen hat?

5.      Ist Art. 5 Nr. 3 des Zollkodex in Verbindung mit Art. 41 der Charta dahin auszulegen, dass die Behörden, die Zollkontrollen durchführen, die Bestimmungen des Europäischen Kodex für gute Verwaltungspraxis, insbesondere die Art. 6 bis 10, beachten müssen und dass eine nationale Regelung wie die des Art. 233 Abs. 1 des Zollgesetzes in Verbindung mit Art. 7 Abs. 2 des Gesetzes über verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlungen und Sanktionen unzulässig ist, wonach gegenüber Personen, die formell und fahrlässig gegen das Zollrecht verstoßen haben, die Sanktionen für vorsätzliches Verhalten verhängt werden können und die Einziehung des einem Dritten gehörenden Gegenstands der Zuwiderhandlung zugunsten des Staates gemäß Art. 233 Abs. 6 des Zollgesetzes angeordnet werden kann, ohne dass die sorgfaltswidrig handelnde Person zuvor darüber belehrt wurde, wie sie sich nach dem Gesetz zu verhalten hat und wie sie ihre Dokumente für die Beförderung von Waren über eine Außengrenze der Europäischen Union in der gesetzlich vorgesehenen Weise ordnungsgemäß auszufüllen hat?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur Zulässigkeit

35      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist das durch Art. 267 AEUV geschaffene Verfahren ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung gibt, die sie zur Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits benötigen (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 44 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

36      Da die Vorlageentscheidung als Grundlage dieses Verfahrens dient, ist das nationale Gericht gehalten, in dieser Entscheidung den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen des Ausgangsverfahrens darzulegen und die notwendigen Erläuterungen zu den Gründen für die Wahl der Vorschriften des Unionsrechts, um deren Auslegung es ersucht, und zu dem Zusammenhang zu geben, den es zwischen diesen Vorschriften und der auf den bei ihm anhängigen Rechtsstreit anzuwendenden nationalen Regelung herstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juni 2020, C.F. [Steuerprüfung], C‑430/19, EU:C:2020:429, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37      Insoweit ist außerdem hervorzuheben, dass die in der Vorlageentscheidung enthaltenen Informationen zum einen den Gerichtshof in die Lage versetzen müssen, sachdienliche Antworten auf die vom nationalen Gericht vorgelegten Fragen zu geben, und es zum anderen den Regierungen der Mitgliedstaaten und den anderen Beteiligten ermöglichen müssen, von dem ihnen mit Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union verliehenen Recht zur Abgabe von Erklärungen Gebrauch zu machen. Der Gerichtshof hat darauf zu achten, dass dieses Recht gewahrt bleibt, und zwar in Anbetracht der Tatsache, dass den Beteiligten nach dieser Vorschrift nur die Vorlageentscheidungen zugestellt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. September 2021, Irish Ferries, C‑570/19, EU:C:2021:664, Rn. 134 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38      Diese kumulativen Anforderungen an den Inhalt einer Vorlageentscheidung sind ausdrücklich in Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs aufgeführt, von dem das vorlegende Gericht im Rahmen der in Art. 267 AEUV vorgesehenen Zusammenarbeit Kenntnis haben sollte und den es sorgfältig zu beachten hat (Beschluss vom 3. Juli 2014, Talasca, C‑19/14, EU:C:2014:2049, Rn. 21, und Urteil vom 9. September 2021, Toplofikatsia Sofia u. a., C‑208/20 und C‑256/20, EU:C:2021:719, Rn. 20 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Sie sind außerdem in den Nrn. 13, 15 und 16 der Empfehlungen an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen (ABl. 2019, C 380, S. 1) angeführt, die nunmehr in den Nrn. 13, 15 und 16 der neuen Fassung der Empfehlungen an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen (ABl. 2024, C 6008) enthalten sind.

39      Im vorliegenden Fall erfüllt die fünfte Frage in der Rechtssache C‑372/23 diese Anforderungen nicht.

40      Die Vorlageentscheidung enthält nämlich keine Darstellung der Gründe, aus denen das vorlegende Gericht Zweifel bezüglich der Auslegung der in dieser Frage genannten Bestimmungen, insbesondere derjenigen des Europäischen Kodex für gute Verwaltungspraxis, hat. Das vorlegende Gericht legt auch nicht dar, welchen Zusammenhang es zwischen den Vorschriften dieses Kodex und dem auf den Ausgangsrechtsstreit anzuwendenden nationalen Recht herstellt. Unter diesen Umständen kann der Gerichtshof nicht beurteilen, inwieweit eine Beantwortung dieser Frage erforderlich ist, um diesem Gericht den Erlass seiner Entscheidung zu ermöglichen.

41      Folglich ist die fünfte Frage in der Rechtssache C‑372/23 unzulässig.

 Zur Beantwortung der Fragen

 Zur ersten und zur zweiten Frage in der Rechtssache C372/23

42      Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage in der Rechtssache C‑372/23, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 15 und Art. 42 Abs. 1 des Zollkodex der Union dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung, die es ermöglicht, eine Zuwiderhandlung gegen die zollrechtlichen Vorschriften allein wegen einer Fahrlässigkeit festzustellen, die in der Nichteinhaltung der vorgeschriebenen Form der Anmeldung beförderter Waren besteht, sowie dem entgegenstehen, dass unter solchen Umständen gegen den Täter der Zuwiderhandlung eine verwaltungsrechtliche Sanktion in Höhe eines Betrags verhängt wird, der mindestens dem Zollwert der Waren entspricht, die Gegenstand dieser Zuwiderhandlung sind.

43      In Art. 15 des Zollkodex der Union („Übermittlung von Informationen an die Zollbehörden“) Abs. 1 heißt es, dass unmittelbar oder mittelbar an Zollkontrollen beteiligte Personen den Zollbehörden alle erforderlichen Unterlagen und Informationen zu übermitteln haben. Nach Art. 15 Abs. 2 ist der Beteiligte mit der Abgabe einer Anmeldung an die Zollbehörden u. a. für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Informationen in dieser Anmeldung verantwortlich.

44      Im vorliegenden Fall wurden die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Waren den dem Gerichtshof in den Akten vorliegenden Informationen zufolge offenbar von der Türkei nach Serbien befördert, wobei Bulgarien nur ein Transitland war. Vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Prüfungen waren diese Waren daher in das „externe Versandverfahren“ im Sinne von Art. 226 des Zollkodex der Union zu überführen. Art. 158 des Zollkodex der Union sieht vor, dass für alle Waren, die in ein Zollverfahren – mit Ausnahme des Freizonenverfahrens – übergeführt werden sollen, eine Zollanmeldung zu dem jeweiligen Verfahren erforderlich ist.

45      Die Nichtbeachtung der Pflicht zur Abgabe einer Anmeldung, die sich aus Art. 15 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 158 des Zollkodex der Union ergibt, stellt eine „Zuwiderhandlung gegen die zollrechtlichen Vorschriften“ im Sinne von Art. 42 Abs. 1 des Zollkodex der Union dar. Der letztgenannte Begriff bezieht sich nämlich nicht nur auf betrügerische Handlungen, sondern umfasst jede Nichtbeachtung des Zollrechts der Union. Für die Einstufung einer solchen Nichtbeachtung als „Zuwiderhandlung gegen die zollrechtlichen Vorschriften“ im Sinne des genannten Art. 42 Abs. 1 ist es unerheblich, ob diese Nichtbeachtung vorsätzlich oder fahrlässig erfolgt ist oder ob der betreffende Wirtschaftsteilnehmer nicht schuldhaft gehandelt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. November 2023, J. P. Mali, C‑653/22, EU:C:2023:912, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

46      Daraus folgt, dass die Anwendung von Sanktionen nach Art. 42 des Zollkodex der Union sich auf den Fall bezieht, in dem die Nichtbeachtung seitens des betroffenen Wirtschaftsbeteiligten fahrlässig erfolgt.

47      In Bezug auf die Folgen einer solchen Nichtbeachtung sieht gemäß Art. 42 Abs. 1 des Zollkodex der Union jeder Mitgliedstaat wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen u. a. für den Fall unrichtiger Informationen in einer Zollanmeldung vor (Urteil vom 23. November 2023, J. P. Mali, C‑653/22, EU:C:2023:912, Rn. 30).

48      In Ermangelung einer Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Union auf dem Gebiet der Sanktionen bei Nichtbeachtung der Voraussetzungen, die eine nach dem Unionsrecht geschaffene Regelung vorsieht, sind die Mitgliedstaaten befugt, die Sanktionen zu wählen, die ihnen sachgerecht erscheinen. Nach dem in Art. 42 Abs. 1 des Zollkodex der Union vorgesehenen Erfordernis der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen dürfen jedoch die gemäß dieser Bestimmung erlassenen administrativen oder repressiven Maßnahmen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung der mit dem Zollkodex der Union in legitimer Weise verfolgten Ziele erforderlich ist und im Verhältnis zu diesen Zielen nicht unangemessen sein (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Juni 2023, ZES Zollner Electronic, C‑640/21, EU:C:2023:457, Rn. 60 und 61 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

49      Die Härte der Sanktionen muss daher der Schwere der mit ihnen geahndeten Verstöße entsprechen, indem sie insbesondere eine wirklich abschreckende Wirkung gewährleistet, zugleich aber das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit wahrt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. März 2017, Euro-Team und Spirál-Gép, C‑497/15 und C‑498/15, EU:C:2017:229, Rn. 42, sowie vom 24. Februar 2022, Agenzia delle dogane e dei monopoli und Ministero dell’Economia e delle Finanze, C‑452/20, EU:C:2022:111, Rn. 39).

50      Die Mitgliedstaaten müssen dieses Erfordernis nicht nur in Bezug auf die Festlegung der Tatbestandsmerkmale eines Verstoßes sowie der Regeln über die Höhe der Geldbußen beachten, sondern auch in Bezug auf die Würdigung der Gesichtspunkte, die in die Festsetzung der Geldbuße einfließen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. November 2023, J. P. Mali, C‑653/22, EU:C:2023:912, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

51      Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die in Art. 233 Abs. 1 des Zollgesetzes für die Zuwiderhandlung des Zollschmuggels vorgesehene Geldbuße zwischen 100 % und 200 % des Zollwerts der Waren, die Gegenstand der Zuwiderhandlung sind, liegt, so dass die Zollbehörde die Höhe dieser Geldbuße unter Berücksichtigung aller Tatsachen und Umstände des Einzelfalls, einschließlich des vorsätzlichen oder nicht vorsätzlichen Charakters der begangenen Zuwiderhandlung, unterschiedlich hoch ansetzen kann.

52      Allerdings erscheint selbst in Anbetracht der Besonderheiten von Zuwiderhandlungen gegen die zollrechtlichen Vorschriften, insbesondere ihrer großen Häufigkeit und der Schwierigkeit, sie aufzudecken, eine im nationalen Recht vorgesehene Geldbuße, deren Höhe zwischen 100 % und 200 % des Zollwerts der Waren liegt, nicht der Schwere aller damit geahndeten Verstöße angemessen zu sein, insbesondere im Fall der Nichtbeachtung der Pflichten im Zusammenhang mit den Zollanmeldungen im Rahmen des Zollverfahrens des externen Versands. Eine solche Sanktion geht nämlich zum einen über das hinaus, was erforderlich ist, um sicherzustellen, dass die für dieses Verfahren zugelassenen Waren nicht der zollamtlichen Überwachung entzogen werden, und steht zum anderen in keinem angemessenen Verhältnis zu der Zollschuld, die dadurch entsteht, dass die in das genannte Verfahren übergeführten Waren der zollamtlichen Überwachung entzogen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. März 2020, Schenker, C‑655/18, EU:C:2020:157, Rn. 44 und 46).

53      Dies gilt umso mehr, als diese Sanktion zu der in Art. 233 Abs. 6 des Zollgesetzes vorgesehenen Sanktion, wonach die Waren, die Gegenstand von Zollschmuggel sind, ungeachtet der Eigentumsverhältnisse zugunsten des Staates eingezogen werden, hinzukommt und der Täter dann, wenn diese Waren nicht vorhanden sind oder veräußert wurden, zur Zahlung eines Betrags in Höhe ihres Zollwerts oder, im Fall der Ausfuhr, des Werts der Waren verpflichtet wird. Die Kumulierung der Sanktionen, denen sich der Täter einer Zuwiderhandlung des Zollschmuggels aussetzt, kann nämlich dazu führen, dass er dazu verpflichtet wird, das Dreifache des Zollwerts der betreffenden Waren zu zahlen.

54      Nach alledem ist auf die erste und die zweite Frage in der Rechtssache C‑372/23 zu antworten, dass Art. 15 und Art. 42 Abs. 1 des Zollkodex der Union dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung, die es ermöglicht, eine Zuwiderhandlung gegen die zollrechtlichen Vorschriften allein wegen einer Fahrlässigkeit festzustellen, die in der Nichteinhaltung der vorgeschriebenen Form der Anmeldung beförderter Waren besteht, nicht entgegenstehen. Dagegen stehen diese Bestimmungen dem entgegen, dass unter solchen Umständen gegen den Täter der Zuwiderhandlung eine verwaltungsrechtliche Sanktion in Höhe eines Betrags verhängt wird, der mindestens dem Zollwert der Waren entspricht, die Gegenstand dieser Zuwiderhandlung sind.

 Zur ersten und zur zweiten Frage in der Rechtssache C717/22 sowie zur dritten und zur vierten Frage in der Rechtssache C372/23

55      Mit der ersten und der zweiten Frage in der Rechtssache C‑717/22 sowie der dritten und der vierten Frage in der Rechtssache C‑372/23, die zusammen zu prüfen sind, möchten die vorlegenden Gerichte im Wesentlichen wissen, ob Art. 42 Abs. 1 und 2 des Zollkodex der Union im Licht von Art. 17 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die für den Fall einer Zuwiderhandlung gegen die zollrechtlichen Vorschriften neben der Verhängung einer Geldbuße auch die Einziehung der Waren vorsieht, die Gegenstand dieser Zuwiderhandlung sind. Für den Fall, dass dies zu verneinen ist, möchten diese Gerichte wissen, ob eine solche Einziehung auch dann zulässig ist, wenn diese Waren nicht dem Täter der Zuwiderhandlung gehören.

56      Zunächst ist zu darauf hinzuweisen, dass, wie in Rn. 44 des vorliegenden Urteils ausgeführt, vorbehaltlich der von den vorlegenden Gerichten vorzunehmenden Prüfungen die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Waren in das Zollverfahren des externen Versands hätten übergeführt werden müssen. Somit war für diese Waren gemäß Art. 158 des Zollkodex der Union eine Zollanmeldung erforderlich.

57      Nach dieser Klarstellung ist in Bezug auf den ersten Teil der so umformulierten Vorlagefragen festzustellen, dass Art. 42 Abs. 2 des Zollkodex der Union Folgendes vorsieht: „Werden verwaltungsrechtliche Sanktionen verhängt, so können sie unter anderem in einer oder beiden folgenden Formen erfolgen: … als eine von den Zollbehörden auferlegte finanzielle Belastung, gegebenenfalls auch an Stelle oder zur Abwendung einer strafrechtlichen Sanktion, … als Widerruf, Aussetzung oder Änderung einer dem Beteiligten erteilten Bewilligung.“

58      Hierzu ist festzustellen, dass die Zweifel der vorlegenden Gerichte zum Teil daher rühren, dass sie diesen Art. 42 Abs. 2 dahin gehend verstehen, dass darin die bei Zuwiderhandlungen gegen die zollrechtlichen Vorschriften anwendbaren verwaltungsrechtlichen Sanktionen abschließend aufgezählt sind.

59      Wie der Generalanwalt in Nr. 63 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, zeigt die Verwendung des Ausdrucks „unter anderem“ in dieser Vorschrift aber, dass die Aufzählung dieser verwaltungsrechtlichen Sanktionen nicht abschließend ist und dass die Mitgliedstaaten grundsätzlich andere als die in dieser Vorschrift genannten verwaltungsrechtlichen Sanktionen vorsehen können, wie z. B. Maßnahmen der Einziehung der Waren, die Gegenstand einer Zuwiderhandlung gegen die zollrechtlichen Vorschriften waren.

60      Außerdem steht es den Mitgliedstaaten in Ermangelung einer Harmonisierung durch den Zollkodex der Union der bei Nichtbeachtung der Bestimmungen des Zollkodex der Union anwendbaren Sanktionen frei, verwaltungsrechtliche Sanktionen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zu kumulieren, sofern das in Art. 42 Abs. 1 des Zollkodex der Union verankerte Erfordernis der Verhältnismäßigkeit beachtet wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. März 2020, Schenker, C‑655/18, EU:C:2020:157, Rn. 41 und 42 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

61      Was die Frage anbelangt, ob Art. 42 des Zollkodex der Union dem entgegensteht, dass Waren eingezogen werden können, die nicht der Person gehören, die die Zuwiderhandlung begangen hat, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass eine nationale Regelung, die die Einziehung von Vermögenswerten zulässt, die einem gutgläubigen Dritten gehören und zur Begehung einer Zuwiderhandlung des Schmuggels verwendet wurden, mit dem in Art. 17 Abs. 1 der Charta garantierten Eigentumsrecht unvereinbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Januar 2021, Okrazhna prokuratura – Haskovo und Apelativna prokuratura – Plovdiv, C‑393/19, EU:C:2021:8, Rn. 56).

62      Dagegen fallen Einziehungsmaßnahmen, die sich auf Erträge aus einer Zuwiderhandlung oder einer rechtswidrigen Tätigkeit oder auf ein Tatwerkzeug beziehen, das keinem gutgläubigen Dritten gehört, unter die Regelungen der Nutzung des Eigentums im Sinne von Art. 17 Abs. 1 Satz 3 der Charta (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. September 2024, Neves 77 Solutions, C‑351/22, EU:C:2024:723, Rn. 82).

63      Damit eine wirklich abschreckende Wirkung eines für eine Zuwiderhandlung gegen die zollrechtlichen Vorschriften geltenden Systems verwaltungsrechtlicher Sanktionen unter Wahrung des Erfordernisses der Verhältnismäßigkeit gewährleistet ist, müssen den Tätern solcher Zuwiderhandlungen die wirtschaftlichen Vorteile aus diesen wirksam entzogen werden und die vorgesehenen Sanktionen so beschaffen sein, dass ein der Schwere der Zuwiderhandlungen angemessenes Ergebnis erzielt werden kann, um wirksam von weiteren Zuwiderhandlungen dieser Art abzuschrecken (vgl. entsprechend Urteil vom 24. Februar 2022, Agenzia delle dogane e dei monopoli et Ministero dell’Economia e delle Finanze, C‑452/20, EU:C:2022:111, Rn. 44).

64      Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass die eingezogenen Waren nicht VU, sondern Sistem Lux gehören. Wie u. a. die Zolldirektion und die bulgarische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt haben, ist dieses Unternehmen offenbar der Empfänger der Waren und/oder der Inhaber des Unionsversandverfahrens. Es wäre daher im einen wie im anderen Fall verpflichtet, die sich aus Art. 233 des Zollkodex der Union ergebenden Verpflichtungen zu erfüllen.

65      Unter diesen Umständen ist es nicht ausgeschlossen, dass Sistem Lux als die Person angesehen werden kann, der im Fall der Nichterfüllung der Verpflichtungen aus dem genannten Art. 233 die Zuwiderhandlung gegen diese Vorschrift zuzurechnen ist. Es ist Sache der vorlegenden Gerichte, diese tatsächlichen Umstände zu prüfen, um eine etwaige Verantwortlichkeit des genannten Unternehmens festzustellen.

66      Im Rahmen der beiden in Rn. 64 des vorliegenden Urteils genannten Fälle ist festzustellen, dass in Anbetracht des mit den zollrechtlichen Vorschriften verfolgten Ziels, die illegale Einfuhr von Nicht-Unionswaren in die Union zu verhindern und Betrug zu bekämpfen, indem die ordnungsgemäße Erhebung von Einfuhrabgaben sichergestellt wird, um die finanziellen Interessen der Union zu schützen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Juli 2010, DSV Road, C‑234/09, EU:C:2010:435, Rn. 33, und vom 7. April 2022, Kauno teritorinė muitinė, C‑489/20, EU:C:2022:277, Rn. 35), die Einziehung dieser Waren als zusätzliche Sanktion, wenn sie einer Person gehören, der eine Zuwiderhandlung gegen den Zollkodex der Union zuzurechnen ist, verhältnismäßig erscheint und zugleich geeignet ist, die betroffenen Wirtschaftsteilnehmer von Verstößen gegen die Verpflichtungen aus dem Zollkodex der Union abzuhalten und zu verhindern, dass diese Wirtschaftsteilnehmer daraus Nutzen ziehen können.

67      Diese Auslegung wird im Übrigen durch Art. 198 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex der Union gestützt, wonach „[d]ie Zollbehörden … die erforderlichen Maßnahmen [treffen], … um die Waren zu verwerten[,] wenn eine der in den zollrechtlichen Vorschriften festgelegten Verpflichtungen in Bezug auf das Verbringen von Nicht-Unionswaren in das Zollgebiet der Union nicht erfüllt wurde oder die Waren der zollamtlichen Überwachung vorenthalten wurden“.

68      Nach alledem ist auf die erste und die zweite Frage in der Rechtssache C‑717/22 sowie auf die dritte und die vierte Frage in der Rechtssache C‑372/23 zu antworten, dass Art. 42 Abs. 1 und 2 des Zollkodex der Union im Licht von Art. 17 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung, die für den Fall einer Zuwiderhandlung gegen die zollrechtlichen Vorschriften neben der Verhängung einer Geldbuße auch die Einziehung der Waren vorsieht, die Gegenstand dieser Zuwiderhandlung sind, wenn diese Waren einer Person gehören, der diese Zuwiderhandlung zuzurechnen ist, nicht entgegensteht, sofern das für diese Zuwiderhandlung geltende Sanktionssystem insgesamt mit dem Erfordernis der Verhältnismäßigkeit in Einklang steht.

 Zur dritten Frage in der Rechtssache C717/22

69      Mit seiner dritten Frage in der Rechtssache C‑717/22 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2005/212 dahin auszulegen ist, dass er auf die Einziehung von Waren, die Gegenstand einer Zuwiderhandlung gegen die zollrechtlichen Vorschriften sind, anwendbar ist, wenn es sich bei dieser Zuwiderhandlung nicht um eine Straftat, sondern um eine verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlung handelt. Für den Fall, dass dies zu bejahen ist, möchte dieses Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 1 vierter Gedankenstrich dieses Rahmenbeschlusses und Art. 2 Nr. 4 der Richtlinie 2014/42 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die vorsieht, dass eine solche Einziehung von einer Verwaltungsbehörde angeordnet wird.

70      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2005/212 jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen zu treffen hat, um sicherzustellen, dass Tatwerkzeuge und Erträge aus Straftaten, die mit einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bedroht sind, oder Vermögensgegenstände, deren Wert diesen Erträgen entspricht, ganz oder teilweise eingezogen werden können.

71      Aus dem Wortlaut dieser Vorschrift ergibt sich, dass der materielle Anwendungsbereich dieses Rahmenbeschlusses, wie sich auch aus seinem Titel und seinem ersten Erwägungsgrund ergibt, in denen auf die „Einziehung von Erträgen, Tatwerkzeugen und Vermögensgegenständen aus Straftaten“ bzw. die „organisierte Kriminalität“ Bezug genommen wird, auf Straftaten beschränkt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. März 2023, Otdel „Mitnichesko razsledvane i razuznavane“, C‑752/21, EU:C:2023:179, Rn. 40).

72      Außerdem werden von diesen Vorschriften nur Straftaten von bestimmter Schwere erfasst, nämlich solche, die mit einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bedroht sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. März 2023, Otdel „Mitnichesko razsledvane i razuznavane“, C‑752/21, EU:C:2023:179, Rn. 41).

73      Was den Begriff „Einziehung“ anbelangt, ist gemäß Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2014/42 auf den Wortlaut von deren Art. 2 Nr. 4 abzustellen, wonach die Einziehung „eine von einem Gericht in Bezug auf eine Straftat angeordnete endgültige Entziehung von Vermögensgegenständen“ darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. März 2023, Otdel „Mitnichesko razsledvane i razuznavane“, C‑752/21, EU:C:2023:179, Rn. 42 und 43).

74      Es genügt die Feststellung, dass zum einen im Ausgangsverfahren die Entscheidung, mit der die Waren, die Gegenstand der Zuwiderhandlung gegen die zollrechtlichen Vorschriften waren, eingezogen wurden, nach einem Verwaltungsverfahren erlassen wurde, das sich weder auf eine Straftat, die mit einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bedroht ist, wie es Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2005/212 verlangt, noch überhaupt auf eine Straftat bezog.

75      In diesem Zusammenhang ist klarzustellen, dass dem Verwaltungsverfahren im vorliegenden Fall zwar ein Strafverfahren vorausging, aus der Vorlageentscheidung jedoch klar hervorgeht, dass dieses Verfahren eingestellt wurde, so dass zum Zeitpunkt der Einleitung des Verwaltungsverfahrens kein Strafverfahren anhängig war.

76      Zum anderen geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten auch hervor, dass die Einziehung der in Rede stehenden Waren nicht von einem „Gericht“ im Sinne von Art. 2 Nr. 4 der Richtlinie 2014/42, sondern von den Zollbehörden angeordnet wurde.

77      Der Rahmenbeschluss 2005/212 ist aber nicht anwendbar, wenn die Einziehungsentscheidung von einer Zollbehörde im Anschluss an ein Verfahren erlassen wird, das sich nicht auf eine Straftat bezieht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. März 2020, „Agro in 2001“, C‑234/18, EU:C:2020:221, Rn. 61, und vom 9. März 2023, Otdel „Mitnichesko razsledvane i razuznavane“, C‑752/21, EU:C:2023:179, Rn. 46).

78      Da der Anwendungsbereich dieses Rahmenbeschlusses klar umgrenzt ist und dieser erlassen wurde, um gemeinsame Mindestregelungen in einem genau abgegrenzten Bereich einzuführen, der im Übrigen die Zusammenarbeit in Strafsachen betrifft, kann dieser Rahmenbeschluss auch in materieller Hinsicht nicht analog auf eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende anwendbar sein (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. März 2023, Otdel „Mitnichesko razsledvane i razuznavane“, C‑752/21, EU:C:2023:179, Rn. 47).

79      Nach alledem ist auf die dritte Frage in der Rechtssache C‑717/22 zu antworten, dass Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2005/212 dahin auszulegen ist, dass er auf eine Einziehungsmaßnahme, die infolge einer Zuwiderhandlung gegen die zollrechtlichen Vorschriften ergangen ist, nicht anwendbar ist, wenn es sich bei dieser Zuwiderhandlung nicht um eine Straftat, die mit einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bedroht ist, sondern um eine verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlung handelt.

 Kosten

80      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei den vorlegenden Gerichten anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieser Gerichte. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 15 und Art. 42 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union

sind dahin auszulegen, dass

sie einer nationalen Regelung, die es ermöglicht, eine Zuwiderhandlung gegen die zollrechtlichen Vorschriften allein wegen einer Fahrlässigkeit festzustellen, die in der Nichteinhaltung der vorgeschriebenen Form der Anmeldung beförderter Waren besteht, nicht entgegenstehen. Dagegen stehen diese Bestimmungen dem entgegen, dass unter solchen Umständen gegen den Täter der Zuwiderhandlung eine verwaltungsrechtliche Sanktion in Höhe eines Betrags verhängt wird, der mindestens dem Zollwert der Waren entspricht, die Gegenstand dieser Zuwiderhandlung sind.

2.      Art. 42 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 952/2013 ist im Licht von Art. 17 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

dahin auszulegen, dass

er einer nationalen Regelung, die für den Fall einer Zuwiderhandlung gegen die zollrechtlichen Vorschriften neben der Verhängung einer Geldbuße auch die Einziehung der Waren vorsieht, die Gegenstand dieser Zuwiderhandlung sind, wenn diese Waren einer Person gehören, der diese Zuwiderhandlung zuzurechnen ist, nicht entgegensteht, sofern das für diese Zuwiderhandlung geltende Sanktionssystem insgesamt mit dem Erfordernis der Verhältnismäßigkeit in Einklang steht.

3.      Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2005/212/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Einziehung von Erträgen, Tatwerkzeugen und Vermögensgegenständen aus Straftaten

ist dahin auszulegen, dass

er auf eine Einziehungsmaßnahme, die infolge einer Zuwiderhandlung gegen die zollrechtlichen Vorschriften ergangen ist, nicht anwendbar ist, wenn es sich bei dieser Zuwiderhandlung nicht um eine Straftat, die mit einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bedroht ist, sondern um eine verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlung handelt.

Unterschriften



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