C-661/22 – ABC Projektai

C-661/22 – ABC Projektai

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2023:742

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA

vom 5. Oktober 2023(1)

Rechtssache C661/22

ABC Projektai UAB, vormals Bruc Bond UAB,

gegen

Lietuvos bankas

(Vorabentscheidungsersuchen des Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas [Oberstes Verwaltungsgericht Litauens])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Tätigkeit eines Zahlungsinstituts, die darin besteht, Geldbeträge von Kunden ohne konkreten Zahlungsauftrag über die gesetzlich vorgesehene Frist für die Durchführung von Zahlungsvorgängen hinaus zu halten – Einstufung dieser Tätigkeit – Richtlinie (EU) 2015/2366 – Zahlungsdienste im Binnenmarkt – Richtlinie 2009/110/EG – Ausgabe von E‑Geld“

1.        Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Richtlinien über Zahlungsdienste(2) befindet sich in der Entwicklung(3), jedoch ist, wenn ich mich nicht irre, bisher nur ein Urteil(4) zur Auslegung der Richtlinie 2009/110/EG(5) über E‑Geld ergangen.

2.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen ermöglicht es dem Gerichtshof, den Begriff „E‑Geld“ zu präzisieren. Insbesondere wird der Gerichtshof zu entscheiden haben, ob es sich um eine Ausgabe von E‑Geld (und damit eine Tätigkeit, die der Richtlinie 2009/110 unterliegt) handelt, wenn ein Zahlungsdienstleister einen Geldbetrag ohne konkreten Zahlungsauftrag entgegennimmt und ihn über die gesetzlich vorgesehene Frist hinaus auf dem Konto hält.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      Richtlinie 2015/2366

3.        In Art. 4 („Begriffsbestimmungen“) heißt es:

„Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:

3.      ‚Zahlungsdienst‛ eine oder mehrere der in Anhang I aufgeführten gewerblichen Tätigkeiten;

4.      ‚Zahlungsinstitut‛ eine juristische Person, der nach Artikel 11 eine Zulassung für die unionsweite Erbringung und Ausführung von Zahlungsdiensten erteilt wurde;

5.      ‚Zahlungsvorgang‛ die bzw. den vom Zahler, im Namen des Zahlers oder vom Zahlungsempfänger ausgelöste(n) Bereitstellung, Transfer oder Abhebung eines Geldbetrags, unabhängig von etwaigen zugrunde liegenden Verpflichtungen im Verhältnis zwischen Zahler und Zahlungsempfänger;

13.      ‚Zahlungsauftrag‛ einen Auftrag, den ein Zahler oder Zahlungsempfänger seinem Zahlungsdienstleister zur Ausführung eines Zahlungsvorgangs erteilt;

…“

4.        Art. 18 („Tätigkeiten“) bestimmt:

„(1)      Über die Erbringung von Zahlungsdiensten hinaus dürfen Zahlungsinstitute folgende Tätigkeiten ausüben:

a)      Erbringen betrieblicher und eng verbundener Nebendienstleistungen, wie die Sicherstellung der Ausführung von Zahlungsvorgängen, Devisengeschäfte, Verwahrleistungen, sowie Datenspeicherung und ‑verarbeitung;

b)      Betrieb von Zahlungssystemen, unbeschadet des Artikels 35;

c)      andere gewerbliche Tätigkeiten als das Erbringen von Zahlungsdiensten, unter Einhaltung der geltenden Vorschriften des Unionsrechts und des nationalen Rechts.

(2)      Bei der Erbringung eines oder mehrerer Zahlungsdienste dürfen Zahlungsinstitute nur Zahlungskonten führen, die ausschließlich für Zahlungsvorgänge genutzt werden.

(3)      Geldbeträge, die Zahlungsinstitute von Zahlungsdienstnutzern für die Erbringung von Zahlungsdiensten erhalten, gelten nicht als Einlagen oder andere rückzahlbare Gelder im Sinne des Artikels 9 der Richtlinie 2013/36/EU oder als E‑Geld im Sinne des Artikels 2 Nummer 2 der Richtlinie 2009/110/EG.

(5)      Zahlungsinstitute dürfen die Entgegennahme von Einlagen oder anderen rückzahlbaren Geldern im Sinne des Artikels 9 der Richtlinie 2013/36/EU nicht gewerbsmäßig betreiben.

…“

5.        Art. 78 („Eingang von Zahlungsaufträgen“) Abs. 1 sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass als Zeitpunkt des Eingangs der Zeitpunkt gilt, an dem der Zahlungsauftrag beim Zahlungsdienstleister des Zahlers eingeht.

Das Konto des Zahlers darf nicht vor dem Eingang des Zahlungsauftrags belastet werden. …“

6.        Art. 83 („Zahlungsvorgänge mit Übertragung auf ein Zahlungskonto“) Abs. 1 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten schreiben dem Zahlungsdienstleister des Zahlers vor, sicherzustellen, dass nach Eingang im Sinne des Artikels 78 der Betrag des Zahlungsvorgangs bis Ende des folgenden Geschäftstags dem Konto des Zahlungsdienstleisters des Zahlungsempfängers gutgeschrieben wird. Diese Frist kann für in Papierform ausgelöste Zahlungsvorgänge um einen weiteren Geschäftstag verlängert werden.“

2.      Richtlinie 2009/110

7.        Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) legt fest:

„Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

1.      ‚E‑Geld‑Institut‛ eine juristische Person, die nach Titel II eine Zulassung für die Ausgabe von E‑Geld erhalten hat;

2.      ‚E‑Geld‛ jeden elektronisch – darunter auch magnetisch – gespeicherten monetären Wert in Form einer Forderung gegenüber dem Emittenten, der gegen Zahlung eines Geldbetrags ausgestellt wird, um damit Zahlungsvorgänge im Sinne des Artikels 4 Nummer 5 der Richtlinie 2007/64/EG durchzuführen, und der auch von anderen natürlichen oder juristischen Personen als dem E‑Geld-Emittenten angenommen wird;

…“

8.        Art. 10 („Verbot der Ausgabe von E‑Geld“) lautet:

„Unbeschadet von Artikel 18 untersagen die Mitgliedstaaten natürlichen oder juristischen Personen, die keine E‑Geld-Emittenten sind, die Ausgabe von E‑Geld.“

9.        Art. 11 („Ausgabe und Rücktauschbarkeit“) bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass E‑Geld-Emittenten E‑Geld zum Nennwert des entgegengenommenen Geldbetrags ausgeben.

(2)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass E‑Geld-Emittenten den monetären Wert des gehaltenen E‑Geldes auf Verlangen des E‑Geld‑Inhabers jederzeit zum Nennwert erstatten.

(3)      Im Vertrag zwischen dem E‑Geld-Emittenten und dem E‑Geld‑Inhaber sind die Rücktauschbedingungen, einschließlich etwaiger diesbezüglicher Entgelte, eindeutig und deutlich erkennbar anzugeben; der E‑Geld‑Inhaber ist über diese Bedingungen zu informieren, bevor er durch einen Vertrag oder ein Angebot gebunden wird.

…“

B.      Nationales Recht

1.      Gesetz über den Zahlungsverkehr(6)

10.      Gemäß Art. 2 Nr. 11 bzw. 40 gilt als „Zahlungsempfänger“ eine natürliche oder juristische Person, andere Einrichtung oder Untergliederung einer Einrichtung, die in einem Zahlungsauftrag als Empfänger des Geldbetrags, der Gegenstand eines Zahlungsvorgangs ist, genannt wird; und als „Zahler“ gilt eine natürliche oder juristische Person, andere Einrichtung oder Untergliederung einer Einrichtung, die Inhaber eines Zahlungskontos ist und einen Zahlungsauftrag von diesem Zahlungskonto gestattet, oder – falls kein Zahlungskonto vorhanden ist – den Auftrag für einen Zahlungsvorgang erteilt.

11.      Nach Art. 5 sind „Zahlungsdienste“ Zahlungsvorgänge einschließlich des Transfers von Geldbeträgen auf ein Zahlungskonto beim Zahlungsdienstleister des Nutzers oder bei einem anderen Zahlungsdienstleister; die Ausführung von Lastschriften einschließlich einmaliger Lastschriften; die Ausführung von Zahlungsvorgängen mittels einer Zahlungskarte oder eines ähnlichen Instruments; die Ausführung von Überweisungen einschließlich Daueraufträgen (Nr. 3) sowie die Übertragung von Geldbeträgen (Nr. 6).

12.      Art. 6 Abs. 3 besagt, dass Zahlungsinstitute zu den Zahlungsdienstleistern zählen.

13.      Art. 38 Abs. 1 legt fest, dass der Zahlungsdienstleister des Zahlers dem Zahler den Betrag eines nicht autorisierten Zahlungsvorgangs unverzüglich erstattet, nachdem er von dem Vorgang Kenntnis erlangt hat oder davon unterrichtet wurde, spätestens jedoch bis Ende des ersten darauffolgenden Geschäftstages, und das belastete Zahlungskonto gegebenenfalls wieder auf den Stand bringt, auf dem es sich ohne den nicht autorisierten Zahlungsvorgang befunden hätte, es sei denn, der Zahlungsdienstleister des Zahlers hat berechtigte Gründe für den Verdacht, dass Betrug vorliegt, und teilt der Aufsichtsbehörde diese Gründe schriftlich mit. Der Zahlungsdienstleister des Zahlers hat dafür zu sorgen, dass dem Zahler durch die an den Zahlungsdienstleister oder von dem Zahlungsdienstleister geschuldeten Zinsen keine Verluste entstehen.

14.      Art. 42 Abs. 2 bestimmt, dass der Zahlungsdienstnutzer, der einen Zahlungsauftrag auslöst, und der Zahlungsdienstleister vereinbaren können, dass die Ausführung des Zahlungsauftrags zu einem bestimmten Tag oder am Ende eines bestimmten Zeitraums oder an dem Tag, an dem der Zahler dem Zahlungsdienstleister den Geldbetrag zur Verfügung gestellt hat, beginnen soll. In einem solchen Fall gilt der vereinbarte Termin als Zeitpunkt des Eingangs des Zahlungsauftrags. Fällt der vereinbarte Termin nicht auf einen Geschäftstag des Zahlungsdienstleisters, so wird der eingegangene Zahlungsauftrag so behandelt, als sei er am darauffolgenden Geschäftstag eingegangen.

15.      Art. 46 Abs. 1 sieht vor, dass der Zahlungsdienstleister des Zahlers sicherstellt, dass mit Ausnahme des in Art. 46 Abs. 3 vorgesehenen Falles der Betrag eines in Litauen ausgeführten und für einen anderen Mitgliedstaat bestimmten Zahlungsvorgangs in Euro spätestens bis Ende des ersten darauffolgenden Geschäftstags dem Konto des Zahlungsdienstleisters des Zahlungsempfängers gutgeschrieben wird. Diese Frist kann um einen weiteren Geschäftstag verlängert werden, wenn der Zahlungsvorgang in Papierform ausgelöst wird.

16.      Art. 46 Abs. 3 sieht vor, dass der Zahlungsdienstleister des Zahlers bei in Litauen ausgeführten Überweisungen in Euro sicherstellt, dass nach Eingang des Zahlungsauftrags der Betrag des Zahlungsvorgangs dem Konto des Zahlungsdienstleisters des Zahlungsempfängers am selben Tag gutgeschrieben wird, sofern der Zahlungsauftrag an einem Geschäftstag vor 12 Uhr eingegangen ist. Ist der Zahlungsauftrag nach 12 Uhr eingegangen, hat der Zahlungsdienstleister des Zahlers sicherzustellen, dass der Betrag des Zahlungsvorgangs bis Ende des ersten darauffolgenden Geschäftstags dem Konto des Zahlungsdienstleisters des Zahlungsempfängers gutgeschrieben wird. In dem in Art. 42 Abs. 2 dieses Gesetzes vorgesehenen Fall hat der Zahlungsdienstleister des Zahlers sicherzustellen, dass der Betrag des Zahlungsvorgangs am Tag der Ausführung des Zahlungsauftrags dem Konto des Zahlungsdienstleisters des Zahlungsempfängers gutgeschrieben wird bzw., falls es sich für den Zahlungsdienstleister nicht um einen Geschäftstag handelt, am darauffolgenden Geschäftstag.

2.      Gesetz über Zahlungsinstitute(7)

17.      Art. 4 Abs. 3 sieht vor, dass Zahlungsinstitute, die einen oder mehrere Zahlungsdienste erbringen, Zahlungskonten führen können, die ausschließlich für Zahlungsvorgänge genutzt werden. Geldbeträge, die Zahlungsinstitute von Zahlungsdienstnutzern für die Erbringung von Zahlungsdiensten erhalten, gelten nicht als Einlagen oder andere rückzahlbare Gelder oder als E‑Geld.

18.      Art. 4 Abs. 5 bestimmt, dass Zahlungsinstitute keine Einlagen oder anderen rückzahlbaren Gelder von nicht gewerbsmäßigen Wirtschaftsbeteiligten entgegennehmen oder E‑Geld ausgeben dürfen.

3.      Gesetz über EGeld(8)

19.      Gemäß der Definition in Art. 2 Nr. 1 gilt als „E‑Geld“ jeder monetäre Wert in Form einer Forderung gegenüber dem Emittenten, der in Umlauf gebracht wird, nachdem eine natürliche oder juristische Person dem Emittenten Geldbeträge zur Verfügung gestellt hat, und der die folgenden Eigenschaften aufweist: Er wird elektronisch – darunter auch magnetisch – gespeichert, um damit Zahlungsvorgänge durchzuführen, und auch von anderen Personen als dem E‑Geld-Emittenten angenommen.

20.      Mit Art. 5 wird natürlichen oder juristischen Personen, die keine E‑Geld-Emittenten sind, die Ausgabe von E‑Geld untersagt.

21.      Art. 6 Abs. 1 legt fest, dass E‑Geld-Emittenten E‑Geld zum Nennwert des von natürlichen oder juristischen Personen entgegengenommenen Geldbetrags ausgeben.

II.    Sachverhalt, Rechtsstreit und Vorlagefrage

22.      Bei der Bruc Bond UAB (später ABC Projektai UAB)(9) handelt es sich um ein Zahlungsinstitut, das von der Lietuvos bankas (Bank von Litauen) eine Zulassung für die Erbringung von Zahlungsdiensten erhalten hatte(10).

23.      Am 16. April 2020 entzog die Bank von Litauen ABC Projektai die Zulassung unter Angabe von zehn Gründen, von denen nur einer für das vorliegende Vorabentscheidungsverfahren von Bedeutung ist, nämlich, dass das Unternehmen E‑Geld ausgegeben habe, ohne den Status eines E‑Geld‑Instituts zu besitzen.

24.      Die Bank von Litauen macht geltend, ABC Projektai habe die Geldbeträge der Kunden über die für die Ausführung der Zahlungsvorgänge erforderliche Zeit hinaus oder aus technischen Gründen einbehalten(11). Ab dem 20. Februar 2017 seien den Konten von sechs Kunden von ABC Projektai Geldbeträge (Zahlungseingänge) ohne konkreten Verwendungszweck gutgeschrieben worden und mit Ausnahme der Abbuchung der Gebühren von ABC Projektai über mehrere Tage (oder, in einigen Fällen, über Monate)(12) keine Überweisungen von Geldbeträgen (Zahlungsausgänge) erfolgt.

25.      Nach Ansicht der Bank von Litauen handelt es sich bei dieser Handlung um eine Ausgabe von E‑Geld; ABC Projektai versichert jedoch, sie habe die Kunden auf die Notwendigkeit hingewiesen, Zahlungsaufträge zu erteilen, und sie darüber informiert, dass sie, wenn kein solcher Zahlungsauftrag erteilt werde, die Geldbeträge zurückgebe, was sie auch getan habe.

26.      ABC Projektai erhob gegen die Entscheidung der Bank von Litauen Klage beim Vilniaus apygardos administracinis teismas (Regionalverwaltungsgericht Vilnius, Litauen), das diese am 8. Juni 2021 zurückwies.

27.      Gegen das erstinstanzliche Urteil hat ABC Projektai Kassationsbeschwerde beim Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht Litauens) eingelegt. Sie vertritt im Wesentlichen den Standpunkt, dass ein Zahlungsdienst, wenn dieser Dienst nicht durch ein E‑Geld‑Institut erbracht werde und die Ausgabe oder der Rücktausch zum Nennwert des elektronischen Dienstes nicht Zweck des erbrachten Dienstes sei, keine mit der Ausgabe von E‑Geld in Verbindung stehende Tätigkeit darstelle.

28.      Die Bank von Litauen tritt der Kassationsbeschwerde mit dem Argument entgegen, ABC Projektai habe E‑Geld ausgegeben, ohne dazu berechtigt zu sein. Dies ergebe sich aus dem Standpunkt, den das Aufsichtsgremium der Bank von Litauen für auf Zahlungskonten gehaltene Geldbeträge vorgegeben habe(13). Dieser Standpunkt sei in Absprache mit der Europäischen Kommission festgelegt worden.

29.      Vor diesem Hintergrund legt der Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht Litauens) dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vor:

Sind unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, in denen ein Zahlungsinstitut Geldbeträge ohne konkreten Zahlungsauftrag entgegennimmt, um sie an demselben oder am folgenden Geschäftstag zu transferieren, und die Geldbeträge über die in der Regelung vorgesehene Frist hinaus auf dem für die Ausführung von Zahlungsdiensten bestimmten Konto des Zahlungsinstituts verbleiben, die Handlungen des Zahlungsdienstes anzusehen als:

a)      ein Teil eines Zahlungsdienstes oder eines Zahlungsvorgangs im Sinne von Art. 4 Nrn. 3 und 5 der Richtlinie 2015/2366, der von dem Zahlungsinstitut erbracht wird, oder

b)      die Ausgabe von E‑Geld im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2009/110?

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

30.      Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 20. Oktober 2022 beim Gerichtshof eingegangen.

31.      ABC Projektai, die deutsche, die tschechische, die polnische und die litauische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

32.      Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde nicht für erforderlich erachtet.

IV.    Würdigung

A.      Vorüberlegungen: anwendbare Begriffe

1.      EGeld

33.      Die Digitalisierung bringt radikale Veränderungen bei der Bereitstellung von Finanzdienstleistungen mit sich, und der Bereich der Massenzahlungen steht an der Spitze dieser Entwicklung(14). Die Rechtsvorschriften der Union, insbesondere die Richtlinie 2015/2366, sind kaum in der Lage, mit diesem rasanten technologischen Wandel mitzuhalten(15), und aus diesem Grund hat die Kommission vorgeschlagen, die Richtlinie aufzuheben und durch eine andere Richtlinie zu ersetzen(16).

34.      Eine der Neuheiten bei der Erbringung von Zahlungsdiensten war das Aufkommen von E‑Geld, das von E‑Geld‑Instituten ausgegeben wird und inzwischen weitverbreitet ist(17). Das E‑Geld wurde durch die Richtlinie 2000/46/EG(18) geregelt, bis diese durch die aktuelle Richtlinie 2009/110 aufgehoben wurde.

35.      Mit der Richtlinie 2009/110 wurde der Begriff des E‑Geldes aktualisiert, um ihn eindeutiger und technisch neutraler zu gestalten(19). Nach der Definition in Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie umfasst dieser Begriff einen elektronisch – darunter auch magnetisch – gespeicherten monetären Wert(20):

–      in Form einer Forderung gegenüber dem Emittenten,

–      der gegen Zahlung eines Geldbetrags ausgestellt wird, um damit Zahlungsvorgänge durchzuführen, und

–      der auch von anderen natürlichen oder juristischen Personen als dem E‑Geld-Emittenten angenommen wird(21).

36.      E‑Geld-Produkte können auf Hardware  oder auf Software basieren, je nachdem, welche Technologie zur Speicherung des monetären Wertes verwendet wird. Es gibt auch Systeme, die hardware- und softwarebasierte Merkmale kombinieren.

37.      Bei hardwarebasierten Produkten ist der Wert in einer physischen Vorrichtung gespeichert, wie z. B. einer Chipkarte, deren Sicherheitsfunktionen ebenfalls auf Hardware basieren. Der monetäre Wert wird in der Regel über Lesegeräte übertragen, die keine Echtzeit-Netzwerkverbindung zu einem Remote-Server erfordern.

38.      Softwarebasierte Produkte verwenden spezielle Software, die auf normalen Geräten wie Computern oder Tablets läuft. Für die Übertragung des monetären Wertes muss das Gerät in der Regel eine Online-Verbindung zu einem Remote-Server herstellen, der die Verwendung der Kaufkraft kontrolliert.

39.      Das E‑Geld einerseits und die Zahlungsdienste andererseits sind in zwei unterschiedlichen, aber miteinander in Verbindung stehenden Richtlinien(22) geregelt, für die jedoch in Zweifel steht, inwieweit eine getrennte Existenz sinnvoll ist(23).

2.      Zahlungsdienste, Zahlungsvorgang und Zahlungskonten

40.      Art. 4 der Richtlinie 2015/2366 enthält die Definitionen der in den Artikeln der Richtlinie verwendeten Begriffe. Was den vorliegenden Rechtsstreit anbetrifft, gilt Folgendes:

–      Gemäß Nr. 3 bezeichnet der Begriff „Zahlungsdienst“ eine oder mehrere der in Anhang I aufgeführten gewerblichen Tätigkeiten. Mindestens drei dieser Tätigkeiten umfassen Handlungen in Zusammenhang mit einem Zahlungskonto(24).

–      Gemäß Nr. 5 bezeichnet der Begriff „Zahlungsvorgang“ die bzw. den vom Zahler, im Namen des Zahlers oder vom Zahlungsempfänger ausgelöste(n) Bereitstellung, Transfer oder Abhebung eines Geldbetrags, unabhängig von etwaigen zugrunde liegenden Verpflichtungen im Verhältnis zwischen Zahler und Zahlungsempfänger.

–      Gemäß Nr. 12 bezeichnet der Begriff „Zahlungskonto“ ein auf den Namen eines oder mehrerer Zahlungsdienstnutzer(s) lautendes Konto, das für die Ausführung von Zahlungsvorgängen genutzt wird(25).

B.      Würdigung der Vorlagefrage

41.      Das vorlegende Gericht stellt den Fall, über den es zu entscheiden hat, genau dar. Es beschreibt die Tätigkeit eines Zahlungsinstituts, das

–      Geldbeträge ohne konkreten Zahlungsauftrag entgegennimmt, um sie an demselben oder am folgenden Geschäftstag zu transferieren, und

–      die Geldbeträge in einem seiner eigenen Konten über die in den litauischen Rechtsvorschriften vorgesehene Frist für die Erbringung von Zahlungsdiensten hinaus behält.

42.      Ausgehend von diesem Sachverhalt möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die beschriebene Handlung in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2015/2366 fällt oder vielmehr als Ausgabe von E‑Geld(26) im Sinne der Richtlinie 2009/110 einzustufen ist(27).

43.      Die Richtlinie 2015/2366 legt Vorschriften für die Ausführung von Zahlungsvorgängen fest, bei deren Geldbeträgen es sich um E‑Geld handelt. Diese Richtlinie regelt jedoch nicht die Ausgabe von E‑Geld, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2009/110 fällt. Zahlungsdienstleister sind als solche nicht befugt, E‑Geld auszugeben, da hierfür eine spezielle Zulassung erforderlich ist.

44.      Art. 18 der Richtlinie 2015/2366 bestimmt:

–      Bei der Erbringung eines oder mehrerer Zahlungsdienste(28) dürfen Zahlungsinstitute nur Zahlungskonten(29) führen, die ausschließlich für Zahlungsvorgänge genutzt werden (Abs. 2).

–      „Geldbeträge, die Zahlungsinstitute von Zahlungsdienstnutzern für die Erbringung von Zahlungsdiensten erhalten, gelten nicht als Einlagen oder andere rückzahlbare Gelder … oder als E‑Geld …“ (Abs. 3).

45.      In den nachfolgenden Erwägungen werde ich darlegen, dass es sich bei dem Halten der von einem Nutzer empfangenen Geldbeträge durch ein Zahlungsinstitut grundsätzlich um einen Vorgang handelt, der in der Führung eines Zahlungskontos inbegriffen ist. Meines Erachtens ist dies auch dann der Fall, wenn diese Geldbeträge über die gesetzlich vorgesehene Frist für die Ausführung von Zahlungsaufträgen hinaus gehalten werden(30).

46.      Somit stellt die vom vorlegenden Gericht beschriebene Handlung dem ersten Anschein nach einen Zahlungsdienst im Sinne von Art. 4 Nr. 3 und Anhang I der Richtlinie 2015/2366 dar.

47.      Besteht die (theoretische) Möglichkeit, dass diese Handlung als Ausgabe von E‑Geld anzusehen ist, die der Richtlinie 2009/110 unterliegt?

48.      Zur Beantwortung dieser Frage ist zum einen zu prüfen, wie sich die Tatsache auswirkt, dass für die Ausführung der vom Nutzer empfangenen Zahlungsaufträge durch einen Zahlungsdienstleister eine bestimmte Frist gilt, und zum anderen, ob die in der Vorlageentscheidung beschriebene Tätigkeit als eine Tätigkeit angesehen werden kann, die der Richtlinie 2009/110 unterliegt.

1.      Frist für die Ausführung von Zahlungsaufträgen

49.      Art. 83 Abs. 1 der Richtlinie 2015/2366 legt eine kurze Frist fest, innerhalb deren der Zahlungsdienstleister des Zahlers den Betrag des Zahlungsvorgangs dem Konto des Zahlungsempfängers (genauer gesagt, dem Konto des Zahlungsdienstleisters des Zahlungsempfängers) gutzuschreiben hat(31).

50.      Diese Frist beginnt ab dem Zeitpunkt des Eingangs des Zahlungsauftrags zu laufen. Gemäß Art. 78 Abs. 2 können der Zahlungsdienstleister und der Zahler einen anderen Termin „für die Zwecke des Artikels 83 [der Richtlinie 2015/2366] als Zeitpunkt des Eingangs“ vereinbaren(32).

51.      Wie die tschechische Regierung hervorhebt(33), wäre die Bestimmung des Art. 78 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2366 gegenstandslos, wenn für den Zahlungsdienstleister die Frist des Art. 83 Abs. 1 ab dem Eingang des Geldbetrags liefe und nicht ab dem Eingang des Zahlungsauftrags des Zahlers.

52.      Die Frist für die Ausführung gemäß Art. 83 der Richtlinie 2015/2366 beginnt mit dem Eingang des Zahlungsauftrags und nicht mit dem Zeitpunkt, zu dem der Inhaber des Zahlungskontos den Geldbetrag auf dieses Konto transferiert. Mit anderen Worten beginnt die Frist nicht mit dem Eingang des Geldbetrags, wenn der Zahler keinen Zahlungsauftrag zulasten dieses Geldbetrags erteilt hat.

53.      Durch die Verbindung der Frist für die Durchführung des Zahlungsvorgangs mit dem Eingang des Zahlungsauftrags wird sichergestellt, dass der Zahlungsdienstleister in Übereinstimmung mit einer vom Zahler ausgelösten Handlung (Art. 4 Nr. 5 der Richtlinie 2015/2366) oder einem vom Zahler erteilten Auftrag (Art. 4 Nr. 13 der Richtlinie 2015/2366) handelt.

54.      Diese Verbindung rechtfertigt, dass der Inhaber (wie es häufig der Fall ist) Geldbeträge auf sein Zahlungskonto transferieren kann, ohne einem solchen Transfer bereits einen Zahlungsauftrag beizufügen. Der Kontoinhaber ist berechtigt, Geldbeträge auf dem Konto zu halten, mit denen zukünftige Zahlungsaufträge ausgeführt werden sollen. Logischerweise kann der Zahlungsdienstleister einen empfangenen Zahlungsauftrag nicht ausführen, wenn auf dem Zahlungskonto des Zahlers keine Geldbeträge verfügbar sind.

55.      Außerdem werden in der Richtlinie 2015/2366 Fälle von Zahlungsdiensten genannt, für deren ordnungsgemäße Ausführung eine „ständige“ Verfügbarkeit von Geldbeträgen auf dem Zahlungskonto erforderlich ist. So setzt beispielsweise die Ausführung von Lastschriften(34) in gewissem Maß eine ständige Verfügbarkeit von Geldbeträgen auf dem Zahlungskonto voraus: Es wäre für den Nutzer nicht praktikabel, wenn er für jede Lastschrift kurzfristig Geldbeträge transferieren müsste, mit dem zusätzlichen Risiko, dass sich der Betrag der Lastschrift ändern kann.

56.      Die ständige Verfügbarkeit von Geldbeträgen auf dem Zahlungskonto zeigt sich auch in Fällen wie dem des Art. 78 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2366, in dem vereinbart wird, dass die Ausführung des Zahlungsauftrags nachträglich und innerhalb einer bestimmten Frist erfolgen soll.

57.      Die litauische Regierung und das vorlegende Gericht scheinen hingegen der Ansicht zu sein, dass es sich um Ausgabe von E‑Geld handele, wenn der Zahlungsdienstleister Geldbeträge auf einem Zahlungskonto entgegennehme, ohne dass der Inhaber entsprechende Zahlungsaufträge erteile, und dass der Zahlungsdienstleister in einem solchen Fall die Geldbeträge erstatten müsse und sie nicht auf dem Zahlungskonto (bereit)halten dürfe. Dies ist der Vorwurf der Bank von Litauen an ABC Projektai.

58.      Meines Erachtens wird dieses Vorbringen, was die Umwandlung von Geldbeträgen in E‑Geld betrifft, nicht durch die Richtlinie 2015/2366 gestützt.

59.      Nach meiner Ansicht verstößt ein Zahlungsdienstleister zwar gegen diese Richtlinie(35), bleibt aber in ihrem Anwendungsbereich, wenn er Zahlungsaufträge erhält und sie nicht in Übereinstimmung mit den Art. 78 und 83 ausführt. Bei einem Verstoß gegen die für die Führung des Zahlungskontos geltenden Vertragsbestimmungen könnte der Zahlungsdienstleister auch gemäß Art. 89 der Richtlinie 2015/2366 haften, was allerdings nicht zur Umwandlung der Geldbeträge in E‑Geld führen würde. Eine solche Umwandlung findet nicht allein aufgrund der Tatsache statt, dass Geldbeträge auf ein Zahlungskonto transferiert und dort für die Ausführung künftiger Zahlungsaufträge gehalten werden.

60.      Mit der Richtlinie 2015/2366 erfolgt abgesehen von bestimmten Fällen eine vollständige Harmonisierung (Art. 107 Abs. 1). Folglich sind nationale Vorschriften, die mit ihr nicht vereinbar sind, unangewendet zu lassen, wie dies der Fall wäre, wenn ein Mitgliedstaat eine verbindliche Frist festlegen würde, innerhalb der der Zahlungsdienstleister einen Zahlungsauftrag ausführen muss, sobald der Geldbetrag auf dem Konto des Zahlers eingegangen ist.

61.      Art. 10 der Richtlinie 2015/2366 verpflichtet die Zahlungsdienstleister, die in ihrem Besitz befindlichen Geldbeträge des Zahlungsdienstnutzers so zu sichern, dass sie entweder a) zu keinem Zeitpunkt mit den Geldbeträgen anderer natürlicher oder juristischer Personen als der Zahlungsdienstnutzer, für die sie gehalten werden, vermischt werden oder b) durch eine Versicherungspolice oder eine andere vergleichbare Garantie einer Versicherungsgesellschaft oder eines Kreditinstituts, die bzw. das nicht zur selben Gruppe gehört wie der Zahlungsdienstleister selbst, abgesichert werden.

62.      Somit besteht für den Nutzer kein Risiko, wenn er Geldbeträge auf ein Zahlungskonto transferiert oder dort für einen bestimmten Zeitraum hält und zu einem späteren Zeitpunkt Zahlungsaufträge zulasten dieser Geldbeträge erteilt. Nach Eingang des Zahlungsauftrags hat der Zahlungsdienstleister diesen innerhalb der in Art. 83 der Richtlinie 2015/2366 vorgeschriebenen Frist auszuführen.

63.      Geldbeträge, die Zahlungsdienstleister von Zahlungsdienstnutzern, die über ein Zahlungskonto verfügen, erhalten, dürfen ausschließlich für Zahlungsvorgänge genutzt werden (Art. 18 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2366). Daher müssen sie stets verfügbar sein und unter der Kontrolle des Kontoinhabers stehen, und dieser erhält keine Zinsen, solange er sie für künftige Zahlungsvorgänge auf dem Konto hält. Wie ich bereits bei der Wiedergabe von Art. 18 Abs. 3 der Richtlinie 2015/2366 dargestellt habe, handelt es sich bei diesen Geldbeträgen weder um Einlagen oder andere rückzahlbare Gelder im Sinne von Art. 9 der Richtlinie 2013/36 noch um E‑Geld.

2.      Für die Ausgabe von EGeld entscheidende Kriterien

64.      Aus der Begriffsbestimmung sowie aus sonstigen Bestimmungen in der Richtlinie 2009/110 lässt sich ableiten, dass die Ausgabe von E‑Geld folgende Elemente beinhaltet(36):

–      Der Nutzer zahlt einen Geldbetrag an das E‑Geld‑Institut, und dieses schafft zusätzliche Aktiva, deren Wert nicht unter diesem monetären Wert liegt. Die Vorauszahlung ist der Ausgangspunkt für die Ausgabe von E‑Geld.

–      Der Nutzer und das E‑Geld‑Institut schließen einen Vertrag, auf dessen Grundlage das E‑Geld‑Institut E‑Geld für die Durchführung von Zahlungsvorgängen ausgibt. Der Zweck von E‑Geld besteht gerade darin, als Instrument für eine Zahlung zu dienen, die der Nutzer an eine Person leistet, die diese Zahlungsform akzeptiert.

–      E‑Geld wird elektronisch oder magnetisch gespeichert.

–      Der monetäre Wert stellt einen Anspruch (eine Forderung) des Nutzers gegenüber dem Emittenten dar. Der Emittent ist verpflichtet, ihn auf Verlangen des Inhabers(37) zurückzutauschen(38).

–      E‑Geld wird von anderen natürlichen oder juristischen Personen als dem Emittenten als Zahlungsform angenommen.

65.      Nach meiner Auffassung, die im Wesentlichen mit der von ABC Projektai und der deutschen, der tschechischen und der polnischen Regierung sowie von der Kommission übereinstimmt, liegen unter den vom vorlegenden Gericht beschriebenen Umständen mehrere Elemente nicht vor, die für die Einstufung der Handlung von ABC Projektai als Ausgabe von E‑Geld unabdingbar sind.

66.      Erstens ist für die Ausgabe von E‑Geld, wie ich vorstehend erläutert habe, eine besondere, in einem Vertrag verankerte Vereinbarung erforderlich. Der Nutzer muss mit dem E‑Geld‑Institut vereinbaren, dass er an ihn nach dieser Maßgabe die entsprechenden Geldbeträge zum Zweck der Durchführung von Zahlungsvorgängen zahlt. Das E‑Geld‑Institut gibt gerade deshalb E‑Geld aus, weil der Nutzer seinen Willen zur Nutzung dieses Zahlungsmittels zum Ausdruck bringt und an das E‑Geld‑Institut Geldbeträge zahlt, die für spätere Zahlungen bestimmt sind.

67.      Vorbehaltlich der abschließenden Würdigung durch das vorlegende Gericht enthalten die Akten keinen Hinweis darauf, dass ein solcher Vertrag bestand oder dass der Nutzer den Willen zum Ausdruck gebracht hat, dass ABC Projektai E‑Geld zum monetären Wert der gezahlten Geldbeträge ausgeben sollte. Der Transfer von Geldbeträgen auf ein Zahlungskonto und das Halten dieser Geldbeträge auf dem Konto, ohne dass sofort Aufträge für Zahlungsvorgänge in Höhe des Wertes dieser Geldbeträge erteilt werden, impliziert keine (stillschweigende) Einwilligung des Nutzers in die Ausgabe von E‑Geld.

68.      Die subjektive Komponente, d. h. der vom Nutzer verfolgte Zweck(39), ist jedoch für sich genommen nicht entscheidend, wenn sie nicht in einem Vertrag mit dem E‑Geld‑Institut verankert wird, bei dem es sich um ein strukturelles (und insoweit objektives) Element der Ausgabe von E‑Geld handelt.

69.      Aus einem solchen Vertrag muss der Willen beider Parteien deutlich werden, so dass der Nutzer und das E‑Geld‑Institut ausdrücklich vereinbaren müssen, dass das E‑Geld‑Institut E‑Geld in Höhe des monetären Wertes der vom Nutzer empfangenen Geldbeträge ausgibt. Andernfalls würde es sich um einen Geldtransfer auf ein Zahlungskonto zu dem Zweck handeln, dass der Zahlungsdienstleister oder das E‑Geld‑Institut selbst(40) Zahlungsdienste für den Nutzer durchführt.

70.      Zweitens ist unter den vom vorlegenden Gericht beschriebenen Umständen auch das Erfordernis der Vorauszahlung, bei dem es sich um ein weiteres charakteristisches Merkmal von E‑Geld handelt, nicht erfüllt. Nach der Vorauszahlung hat das E‑Geld‑Institut die Kontrolle über die Geldbeträge, die der Nutzer an das Institut übertragen hat, um nach der Umwandlung in E‑Geld weitere Zahlungen auszuführen.

71.      Bei der Ausgabe von E‑Geld liegt die Kontrolle über die Geldbeträge beim E‑Geld‑Institut(41) und nicht beim Nutzer, der den monetären Wert als Zahlungsinstrument einsetzt. Das E‑Geld‑Institut kontrolliert bis zum Vertragsende die vom Nutzer(42) empfangenen Geldbeträge in Form eines elektronisch gespeicherten monetären Wertes. Bei dem E‑Geld handelt es sich um zusätzliche Aktiva, die das E‑Geld‑Institut auf der Grundlage dieser Geldbeträge schafft.

72.      Bei Zahlungsdiensten, die auf der Grundlage eines Zahlungskontos erbracht werden, hat hingegen der Nutzer und nicht der Zahlungsdienstleister die ständige Kontrolle über die auf dieses Konto transferierten Geldbeträge.

73.      Vorbehaltlich der Würdigung durch das vorlegende Gericht scheint im vorliegenden Fall die Kontrolle über die Geldbeträge auf den Zahlungskonten nicht bei ABC Projektai, sondern bei den Inhabern dieser Konten gelegen zu haben, die an ABC Projektai jederzeit Zahlungsaufträge zur Ausführung übermitteln konnten.

74.      Drittens muss, da es sich bei E‑Geld um zusätzliche Aktiva handelt, die vom E‑Geld‑Institut kontrolliert werden, das E‑Geld‑Institut über eine spezielle Rechnungslegung verfügen, die die Anwendung der besonderen Methode zur Berechnung seiner Eigenmittel gemäß Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2009/110 ermöglicht.

75.      Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob ABC Projektai über eine solche spezielle Rechnungslegung für E‑Geld und für die Berechnung der Eigenmittelanforderungen verfügte, da sich dies den dem Gerichtshof vorgelegten Informationen nicht entnehmen lässt.

76.      Viertens hat bei Zahlungskonten, wie ich dargestellt habe, der Inhaber die Kontrolle über die Geldbeträge und kann sie nach Belieben abheben. Bei E‑Geld besteht zwar ebenfalls die Möglichkeit, dass der Zahler beim E‑Geld‑Institut den „Rücktausch“ von E‑Geld verlangt, das er nicht für Zahlungen an Dritte verwendet hat. Die Umwandlung von E‑Geld zum Nennwert und die anschließende Auszahlung der Geldbeträge auf Anweisung des E‑Geld‑Inhabers hängt jedoch von den Bedingungen ab, die im Vertrag zwischen dem Nutzer und dem E‑Geld‑Institut festgelegt wurden und die z. B. vorsehen können, dass der Kunde im Fall eines vorzeitigen Rücktausches ein Entgelt zu zahlen hat(43).

77.      Dies geht aus Art. 11 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2009/110 hervor, der Folgendes festschreibt:

–      Im Vertrag zwischen dem E‑Geld-Emittenten und dem E‑Geld‑Inhaber sind die Rücktauschbedingungen, einschließlich etwaiger diesbezüglicher Entgelte, eindeutig und deutlich erkennbar anzugeben; der E‑Geld‑Inhaber ist über diese Bedingungen zu informieren, bevor er durch einen Vertrag oder ein Angebot gebunden wird.

–      Beim Rücktausch fällt nur dann ein Entgelt an, wenn dies im Vertrag gemäß Abs. 3 geregelt wurde, und nur in folgenden Fällen: a) wenn vor Vertragsablauf ein Rücktausch verlangt wird, b) wenn vertraglich ein Ablaufdatum vereinbart wurde und der E‑Geld‑Inhaber den Vertrag vorher beendet hat oder c) wenn der Rücktausch mehr als ein Jahr später(44) verlangt wird. Ein solches Entgelt muss in einem angemessenen Verhältnis zu den tatsächlich entstandenen Kosten des E‑Geld-Emittenten stehen.

78.      Es ist wiederum Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob zwischen dem Nutzer und dem E‑Geld‑Institut ein Vertrag bestand, der solche eindeutigen und deutlich erkennbaren Rücktauschbedingungen vorhersah, was eine Voraussetzung für die Ausgabe von E‑Geld ist.

79.      Fünftens wird E‑Geld auf elektronischen oder magnetischen Datenträgern gespeichert und kann nur gegenüber Nutzern verwendet werden, die es freiwillig akzeptieren(45) und über die für die Verwendung erforderlichen Instrumente verfügen. Zahlungsaufträge, die von einem Zahlungskonto aus ausgeführt werden, sind hingegen von den Zahlungsdienstleistern aller Wirtschaftsbeteiligten zu akzeptieren.

80.      Nach den Informationen in den Akten verfügte ABC Projektai nicht über elektronisch oder magnetisch gespeicherte Geldbeträge, die in einem Netzwerk von Kunden verwendet werden konnten, die diese freiwillig akzeptierten. Vielmehr deutet alles darauf hin, dass es sich um Geldbeträge handelte, die auf Zahlungskonten eingezahlt wurden und nur zur Ausführung von Zahlungsaufträgen der Nutzer verwendet werden konnten.

81.      Vorbehaltlich der Prüfung durch das vorlegende Gericht fällt die streitige Handlung somit in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2015/2366 und kann nicht als Ausgabe von E‑Geld im Sinne der Richtlinie 2009/110 angesehen werden.

V.      Ergebnis

82.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, dem Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht Litauens) wie folgt zu antworten:

Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2009/110/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über die Aufnahme, Ausübung und Beaufsichtigung der Tätigkeit von E‑Geld‑Instituten, zur Änderung der Richtlinien 2005/60/EG und 2006/48/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 2000/46/EG sowie Art. 4 Nrn. 3 und 5 der Richtlinie (EU) 2015/2366 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, zur Änderung der Richtlinien 2002/65/EG, 2009/110/EG und 2013/36/EU und der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 sowie zur Aufhebung der Richtlinie 2007/64/EG

sind dahin auszulegen, dass

die Tätigkeit eines Zahlungsinstituts, das Geldbeträge von einem Nutzer entgegennimmt, ohne dass ein Vertrag über die Ausgabe von E‑Geld zulasten dieser Geldbeträge geschlossen wurde, nicht von der Richtlinie 2009/110, sondern von der Richtlinie 2015/2366 geregelt wird.

Dies ist auch dann der Fall, wenn in Ermangelung eines solchen Vertrags ein Zahlungsinstitut Geldbeträge eines Nutzers ohne konkreten Zahlungsauftrag entgegennimmt, um sie an demselben oder am folgenden Geschäftstag zu transferieren, und die Geldbeträge über die für die Erbringung von Zahlungsdiensten gesetzlich festgelegte Frist hinaus auf dem für die Durchführung von Zahlungsvorgängen bestimmten Konto des Zahlungsinstituts verbleiben.















































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