C-645/23 – Hera Comm

C-645/23 – Hera Comm

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2025:454

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

19. Juni 2025(*)

„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerwesen – Verbrauchsteuern – Richtlinie 2008/118/EG – Art. 1 Abs. 2 – Andere indirekte Steuern auf verbrauchsteuerpflichtige Waren – Elektrischer Strom – Nationale Regelung, mit der ein Zuschlag auf die Verbrauchsteuer auf elektrischen Strom eingeführt wird – Fehlen besonderer Zwecke – Zuschlag zugunsten der regionalen und örtlichen Gebietskörperschaften, der von den nationalen Gerichten als mit der Richtlinie 2008/118 unvereinbar angesehen wird – Rückforderung der rechtsgrundlos gezahlten Steuer vom Lieferer durch den Endverbraucher “

In der Rechtssache C‑645/23

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte d’appello di Bologna (Berufungsgericht Bologna, Italien) mit Entscheidung vom 26. Oktober 2023, am selben Tag beim Gerichtshof eingegangen, in dem Verfahren

Hera Comm SpA

gegen

Falconeri Srl

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten F. Biltgen, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs T. von Danwitz (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Ersten Kammer, des Richters A. Kumin, der Richterin I. Ziemele und des Richters S. Gervasoni,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Falconeri Srl, vertreten durch R. Cinti, Avvocato,

–        der spanischen Regierung, vertreten durch A. Pérez-Zurita Gutiérrez als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia, M. Björkland und F. Moro als Bevollmächtigte,

aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG (ABl. 2009, L 9, S. 12).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Hera Comm SpA, einem Stromversorgungsunternehmen, und der Falconeri Srl, einem Kundenunternehmen, über die in den italienischen Rechtsvorschriften vorgesehene Erstattung eines Zuschlags auf die Verbrauchsteuer auf elektrischen Strom.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 2008/118

3        Die Richtlinie 2008/118 ist durch die Richtlinie (EU) 2020/262 des Rates vom 19. Dezember 2019 zur Festlegung des allgemeinen Verbrauchsteuersystems (ABl. 2020, L 58, S. 4) aufgehoben worden. Die Richtlinie 2008/118 ist jedoch in zeitlicher Hinsicht weiterhin auf den Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits anwendbar.

4        Im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/118 hieß es:

„Um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten, müssen die Voraussetzungen für die Erhebung von Verbrauchsteuern auf Waren, die der Richtlinie 92/12/EWG [des Rates vom 25. Februar 1992 über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren (ABl. 1992, L 76, S. 1)] unterliegen (nachstehend ‚verbrauchsteuerpflichtige Waren‘ genannt), harmonisiert bleiben.“

5        Art. 1 der Richtlinie 2008/118 sah vor:

„(1)      Diese Richtlinie legt ein allgemeines System für die Verbrauchsteuern fest, die mittelbar oder unmittelbar auf den Verbrauch folgender Waren (nachstehend ‚verbrauchsteuerpflichtige Waren‘ genannt) erhoben werden:

a)      Energieerzeugnisse und elektrischer Strom gemäß der Richtlinie 2003/96/EG [des Rates vom 27. Oktober 2003 zur Restrukturierung der gemeinschaftlichen Rahmenvorschriften zur Besteuerung von Energieerzeugnissen und elektrischem Strom (ABl. 2003, L 283, S. 51)];

(2)      Die Mitgliedstaaten können für besondere Zwecke auf verbrauchsteuerpflichtige Waren andere indirekte Steuern erheben, sofern diese Steuern in Bezug auf die Bestimmung der Bemessungsgrundlage, die Berechnung der Steuer, die Entstehung des Steueranspruchs und die steuerliche Überwachung mit den gemeinschaftlichen Vorschriften für die Verbrauchsteuer oder die Mehrwertsteuer vereinbar sind, wobei die Bestimmungen über die Steuerbefreiungen ausgenommen sind.

…“

6        Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118 lautete:

„Die Verbrauchsteuer wird nach den von jedem Mitgliedstaat festgelegten Verfahren erhoben und eingezogen, bzw. gegebenenfalls erstattet oder erlassen. Die Mitgliedstaaten wenden auf im Inland hergestellte Waren und auf Waren mit Herkunft aus anderen Mitgliedstaaten dieselben Verfahren an.“

7        Art. 48 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 bestimmte:

„Die Mitgliedstaaten erlassen und veröffentlichen bis zum 1. Januar 2010 die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, um dieser Richtlinie spätestens ab dem 1. April 2010 nachzukommen. …“

 Richtlinie 2003/96

8        Art. 1 der Richtlinie 2003/96 lautet:

„Die Mitgliedstaaten erheben nach Maßgabe diese Richtlinie Steuern auf Energieerzeugnisse und elektrischen Strom.“

9        In Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2003/96 sind die Erzeugnisse aufgeführt, die als „Energieerzeugnisse“ im Sinne dieser Richtlinie gelten. Nach Art. 2 Abs. 2 gilt die Richtlinie 2003/96 ferner für elektrischen Strom im Sinne des KN‑Codes 2716.

10      Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2003/96 sieht vor:

„(1)      Unbeschadet anderer Gemeinschaftsvorschriften können die Mitgliedstaaten unter Steueraufsicht uneingeschränkte oder eingeschränkte Steuerbefreiungen oder Steuerermäßigungen gewähren für

h)      elektrischen Strom, Erdgas, Kohle und feste Heizstoffe, die von privaten Haushalten und/oder von vom betreffenden Mitgliedstaat als gemeinnützig anerkannten Organisationen verwendet werden. … Bei gemischter Verwendung erfolgt eine anteilige Besteuerung für jeden Verwendungszweck, wobei allerdings eine nur geringfügige Verwendung außer Acht gelassen werden kann;

…“

 Italienisches Recht

 Zivilgesetzbuch

11      Art. 2033 des Codice civile (Zivilgesetzbuch) bestimmt:

„Wer eine nichtgeschuldete Zahlung vorgenommen hat, hat das Recht, das zurückzufordern, was er bezahlt hat. Er hat außerdem Anrecht auf die Früchte und die Zinsen vom Tag der Zahlung an, wenn sich derjenige, der sie angenommen hat, in schlechtem Glauben befand, oder vom Tag der Anspruchserhebung an, wenn dieser gutgläubig gewesen ist.“

 Gesetzesdekret Nr. 511/1988

12      In seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung enthielt das durch Art. 5 des Decreto legislativo n. 26 – Attuazione della direttiva 2003/96/CE che ristruttura il quadro comunitario per la tassazione dei prodotti energetici e dell’elettricita (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 26 zur Umsetzung der Richtlinie 2003/96/EG zur Restrukturierung der gemeinschaftlichen Rahmenvorschriften zur Besteuerung von Energieerzeugnissen und elektrischem Strom) vom 2. Februar 2007 (GURI Nr. 68 vom 22. März 2007, Supplemento Ordinario Nr. 77) geänderte Decreto-legge n. 511 – Disposizioni urgenti in materia di finanza regionale e locale (Gesetzesdekret Nr. 511 – Sofortmaßnahmen für das regionale und örtliche Finanzwesen) vom 28. November 1988 (GURI Nr. 280 vom 29. November 1988) (im Folgenden: Gesetzesdekret Nr. 511/1988) in seiner Präambel den Hinweis, es bestehe „die außerordentliche Erforderlichkeit und Dringlichkeit der Gewährleistung der notwendigen Mittelausstattung der regionalen und örtlichen Finanzbehörden, um die Erledigung ihrer institutionellen Aufgaben sicherzustellen“.

13      Art. 6 des Gesetzesdekrets Nr. 511/1988, der mit Wirkung vom 1. April 2012 aufgehoben wurde, bestimmte:

„(1)      Es wird ein Zuschlag auf die Verbrauchsteuer für elektrischen Strom gemäß den Art. 52 ff. des durch das [Decreto legislativo n. 504 – Testo unico delle disposizioni legislative concernenti le imposte sulla produzione e sui consumi e relative sanzioni penali e amministrative (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 504 – Einheitstext über die Steuern auf Erzeugung und Verbrauch sowie die strafrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Sanktionen) vom 26. Oktober 1995 (GURI Nr. 279 vom 29. November 1995, Supplemento Ordinario Nr. 143) (im Folgenden: Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 504/1995)] genehmigten Einheitstexts über die Steuern auf Erzeugung und Verbrauch sowie die strafrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Sanktionen eingeführt, und zwar in Höhe von:

a)      18,59 [Euro] je 1 000 kWh zugunsten der Gemeinden für jede Nutzung in Wohnungen …

b)      20,40 [Euro] je 1 000 kWh zugunsten der Gemeinden für jede Nutzung in Zweitwohnungen;

c)      9,30 [Euro] je 1 000 kWh zugunsten der Provinzen für jede Nutzung in anderen Räumlichkeiten und Orten als Wohnungen für alle Verträge bis zu einer Obergrenze von 200 000 kWh monatlichem Verbrauch.

(3)      Die Zuschläge nach Abs. 1 werden von den in Art. 53 des [Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 504/1995] genannten Steuerpflichtigen bei der Lieferung von elektrischem Strom an Endverbraucher oder – im Fall von elektrischem Strom, der zur eigenen Verwendung erzeugt oder erworben wurde – zum Zeitpunkt des Verbrauchs geschuldet. Die Zuschläge werden nach denselben Verfahren erhoben und eingezogen wie die Verbrauchsteuer auf elektrischen Strom.

(4)      Die Zuschläge nach Abs. 1 für die Lieferung von elektrischem Strom mit einer verfügbaren Leistung von höchstens 200 kW werden direkt an die Gemeinden und Provinzen entrichtet, in deren Gebiet sich die Nutzer befinden. Die Zuschläge für die Lieferung von elektrischem Strom mit einer verfügbaren Leistung von mehr als 200 kW und die Zuschläge für den Verbrauch von zur eigenen Verwendung erzeugtem oder erworbenem elektrischen Strom werden an die Staatskasse entrichtet, mit Ausnahme derjenigen Zuschläge, die im Gebiet der Region Aostatal [(Italien)] und der Autonomen Provinzen Trient [(Italien)] und Bozen [(Bolzano, Italien)] erhoben werden und unmittelbar an die Gemeinden und Provinzen selbst abgeführt werden.

(5)      Art. 52 Abs. 3 des [Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 504/1995] gilt nicht für die Zuschläge nach Abs. 1; der Verbrauch im Zusammenhang mit Straßenbeleuchtung und der Ausübung der Tätigkeiten der Erzeugung, Übertragung und Verteilung von elektrischem Strom ist jedoch von den Zuschlägen befreit.

…“

 Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 504/1995

14      Das Verfahren für den Antrag auf Erstattung rechtsgrundlos entrichteter Verbrauchsteuer ist im Gesetzesvertretenden Dekret Nr. 504/1995 geregelt.

15      Art. 14 („Erstattung der Verbrauchsteuer“) Abs. 1 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 504/1995 sieht vor:

„Die Verbrauchsteuer wird erstattet, wenn sie rechtsgrundlos entrichtet wurde; die in diesem Artikel genannten Erstattungsvorschriften gelten auch für Anträge im Zusammenhang mit Erleichterungen, die im Wege der vollständigen oder teilweisen Erstattung der entrichteten Verbrauchsteuer oder auf andere in den Vorschriften über die einzelnen Erleichterungen vorgesehene Weise gewährt werden.“

16      Art. 16 („Vorrecht“) Abs. 3 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 504/1995 bestimmt:

„Nach Entrichtung der Steuer können die Forderungen der Schuldner der Verbrauchsteuer gegen die Abnehmer der Erzeugnisse, für die sie diese Steuer entrichtet haben, im Wege der Abwälzung in Rechnung gestellt werden …“

17      In Art. 52 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 504/1995 heißt es:

„(1)      Elektrischer Strom (KN‑Code 2716) unterliegt der Verbrauchsteuer in Höhe der Sätze nach Anhang I zum Zeitpunkt der Lieferung an die Endverbraucher oder zum Zeitpunkt des Verbrauchs des zur eigenen Verwendung erzeugten Stroms.

(3)      Von der Verbrauchsteuer befreit ist elektrischer Strom,

a)      der für die Stromerzeugung und die Aufrechterhaltung der Stromerzeugungskapazität verwendet wird;

b)      der von Anlagen erzeugt wird, die aus erneuerbaren Quellen im Sinne der einschlägigen Rechtsvorschriften betrieben werden und eine verfügbare Leistung von mehr als 20 kW aufweisen, die von Eigenerzeugungsunternehmen in anderen Räumlichkeiten und Orten als Wohnungen verbraucht wird;

c)      der für die Einrichtung und den Betrieb von Eisenbahnstrecken für den Güter‑ und Personenverkehr verwendet wird;

d)      der für die Einrichtung und den Betrieb von Nah‑ und Fernverkehrsstrecken genutzt wird;

e)      der für jede Anwendung am registrierten Wohnsitz der Nutzer mit einer Nennleistung von bis zu 3 kW bis zu einem monatlichen Verbrauch von 150 kWh verbraucht wird. …

…“

18      Art. 53 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 504/1995 bestimmt:

„(1)      Zur Entrichtung der Verbrauchsteuer auf elektrischen Strom sind verpflichtet:

a)      Einrichtungen, die den elektrischen Strom den Endverbrauchern in Rechnung stellen, nachstehend ‚Verkäufer‘ genannt;

…“

19      Art. 60 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 504/1995 sieht vor:

„Die Bestimmungen dieses Titels mit Ausnahme von Art. 52 [Abs. 3] gelten auch für die Zuschläge zu einer Verbrauchsteuer auf elektrischen Strom, sofern die Einzelheiten ihrer Anwendung denen für die Verbrauchsteuer entsprechen.“

 Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 23/2011

20      Nach Art. 2 Abs. 6 des Decreto Legislativo no 23 – Disposizioni in materia di federalismo Fiscale Municipale (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 23 – Bestimmungen über den lokalen Steuerföderalismus) vom 14. März 2011 (GURI Nr. 67 vom 23. März 2011) wird ab dem Jahr 2012 der Zuschlag auf die Verbrauchsteuer für elektrischen Strom gemäß Art. 6 Abs. 1 Buchst. a und b des Gesetzesdekrets Nr. 511/1988 in Regionen mit Normalstatut nicht mehr erhoben. Der Zuschlag wurde mit Wirkung vom 1. April 2012 endgültig abgeschafft.

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

21      Aufgrund eines am 1. Oktober 2009 geschlossenen Vertrags lieferte Hera Comm regelmäßig elektrischen Strom an Falconeri.

22      Bis zum 1. April 2012, dem Datum der Aufhebung von Art. 6 des Gesetzesdekrets Nr. 511/1988, entrichtete Hera Comm an die italienische Staatskasse den in dieser Bestimmung vorgesehenen Zuschlag auf die Verbrauchsteuer auf elektrischen Strom (im Folgenden: Zuschlag). Sie gab den entrichteten Zuschlag an Falconeri weiter und erhielt so den entsprechenden Gegenwert vollständig zurück.

23      Da Falconeri den Zuschlag für unionsrechtswidrig hielt, erhob sie beim Tribunale di Bologna (Gericht Bologna, Italien) Klage gegen Hera Comm auf Erstattung der rechtsgrundlos gezahlten Beträge.

24      Mit Beschluss vom 19. April 2021 gab das Tribunale di Bologna (Gericht Bologna) der Klage statt, weil Art. 6 der Gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 511/1988 gegen Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118 in seiner Auslegung durch die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs verstoße und daher unangewendet bleiben müsse. Da es für den von Falconeri gezahlten Zuschlag somit keine Rechtsgrundlage gab, verurteilte dieses Gericht Hera Comm, die entsprechenden Beträge aus dem Zeitraum vom Ablauf der Frist zur Umsetzung der Richtlinie 2008/118 bis zur Aufhebung von Art. 6 Abs. 1 der Gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 511/1988 zu erstatten.

25      Folglich erstattete Hera Comm die rechtsgrundlos gezahlten Beträge. Gleichwohl legte sie am 19. Mai 2021 bei der Corte d’appello di Bologna (Berufungsgericht Bologna, Italien), dem vorlegenden Gericht, Berufung gegen diesen Beschluss ein und machte geltend, dass der Zuschlag eine bloße Erhöhung des Satzes der Verbrauchsteuer auf elektrischen Strom sei und daher keine „andere indirekte Steuer“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118 darstelle.

26      Das vorlegende Gericht möchte erstens wissen, ob der Zuschlag als eine von der Verbrauchsteuer auf elektrischen Strom verschiedene Steuer anzusehen ist, da er nur einen Bruchteil oder ein Vielfaches dieser Verbrauchsteuer darstelle. Die Verbrauchsteuer und der Zuschlag hätten eine ähnliche Struktur und teilweise übereinstimmende Regelungen. Insbesondere erhöhe der Zuschlag den Satz der Verbrauchsteuer auf elektrischen Strom und weise dieselben Modalitäten der Berechnung, Festsetzung und Erhebung wie diese Verbrauchsteuer auf. Unter diesen Umständen könnte der Zuschlag als bloße Erhöhung des Verbrauchsteuersatzes verstanden werden und damit keine „andere indirekte Steuer“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118 darstellen und nicht der in dieser Bestimmung vorgesehenen Pflicht, besonderen Zwecken gewidmet zu sein, unterliegen.

27      Handelte es sich hingegen um verschiedene Steuern, könnte ein Widerspruch zwischen der innerstaatlichen Rechtsvorschrift, mit der der Zuschlag eingeführt wurde, ohne ihn besonderen Zwecken zu widmen, und Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118 bestehen, der eine solche Widmung verlangt. Die Möglichkeit, den Zuschlag auf die Endkunden abzuwälzen, hänge somit von der Beseitigung dieses Widerspruchs ab.

28      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts steht die wörtliche, systematische und teleologische Auslegung von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118 einer Einordnung der Verbrauchsteuer auf elektrischen Strom und des Zuschlags als einheitliche indirekte Steuer entgegen. Diese Richtlinie beschränke die Besteuerungsbefugnis der Mitgliedstaaten nicht in Bezug auf die Formen, in denen sie ausgeübt werden könne, sondern in Bezug auf die verfolgten Zwecke und die Auswirkungen, die die sich daraus ergebende Besteuerung auf den Markt habe.

29      Zweitens möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118 im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Privatpersonen wie dem, mit dem es befasst ist, unmittelbare horizontale Wirkung entfalten kann. Es verweist insbesondere auf die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Verbot der unmittelbaren horizontalen Wirkung von Richtlinien, aus der jedoch nicht ausdrücklich hervorgehe, ob sich dieses Verbot auf die „Ausschlusswirkung“ erstrecke, die darauf abziele, eine gegen eine Richtlinie verstoßende innerstaatliche Rechtsvorschrift unangewendet zu lassen.

30      Nach einer ersten nationalen Rechtsprechungslinie sei Art. 6 Abs. 1 und 2 des Gesetzesdekrets Nr. 511/1988 unabhängig von der unmittelbaren horizontalen oder vertikalen Wirkung von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118 wegen des Grundsatzes der unmittelbaren Anwendbarkeit der vom Gerichtshof auf der Grundlage von Art. 267 AEUV vorgenommenen Auslegung des Unionsrechts unangewendet zu lassen. Nach einer zweiten Rechtsprechungslinie hingegen werde ein Endverbraucher dadurch, dass „selbstvollstreckende“ Richtlinien in horizontalen Beziehungen keine Wirkung entfalteten, daran gehindert, sich gegenüber einem Lieferer auf die Richtlinie 2008/118 zu berufen, weshalb ihm nur die Möglichkeit einer Schadensersatzklage bleibe.

31      Im vorliegenden Fall füge sich der im ersten Rechtszug ergangene Beschluss in eine gefestigte Rechtsprechung der Corte di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) ein, wonach die Vorschriften über die Erstattung des Zuschlags mit dem Unionsrecht vereinbar seien, da es mangels entsprechender gemeinsamer Vorschriften Sache der Mitgliedstaaten sei, eine solche Erstattung im Einklang mit den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität zu regeln. Nach dieser nationalen Rechtsprechung handle es sich bei der Verbrauchsteuer und dem Zuschlag um zwei verschiedene Steuern. Es sei jedoch ausgeschlossen, dass der Zuschlag die in Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118 normierte Voraussetzung der Verfolgung besonderer Zwecke erfülle, denn sein einziges Ziel sei die „Gewährleistung der notwendigen Mittelausstattung der regionalen und örtlichen Finanzbehörden, um die Erledigung ihrer institutionellen Aufgaben sicherzustellen“.

32      Das vorlegende Gericht weist ferner darauf hin, dass Hera Comm kein Unternehmen mit öffentlicher Beteiligung sei und auch nicht mit einer öffentlichen Dienstleistung betraut sei. Daher sei das Rechtsverhältnis, das sie zu ihrem Kunden hinsichtlich der Abwälzung des Zuschlags unterhalte, horizontaler Natur. Würde in diesem horizontalen Verhältnis die unmittelbare Wirkung von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118 bejaht, würde dies die Umsetzung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität in vollem Umfang sicherstellen und eine unangemessene Diskriminierung des Kunden vermeiden, der seinem Vertragspartner nicht entgegenhalten könnte, der Zuschlag, deren finanzielle Last er getragen habe, sei wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht rechtswidrig.

33      Die Corte d’appello di Bologna (Berufungsgericht Bologna) hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Fällt der Zuschlag, den der Mitgliedstaat als Bruchteil oder Vielfaches der Verbrauchsteuer auf bereits dieser Steuer unterliegende Waren erhebt, unter den Begriff „andere indirekte Steuern“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118, oder ist er als bloße Erhöhung des Verbrauchsteuersatzes anzusehen, so dass es dem Mitgliedstaat infolgedessen freisteht, diese nicht den von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118 geforderten „besonderen Zwecken“ zu widmen?

2.      Ist, falls der Zuschlag unter den Begriff „andere indirekte Steuern“ fällt, Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118 dahin auszulegen, dass er die Voraussetzungen erfüllt, damit sich ein Einzelner vor einem nationalen Gericht darauf berufen kann, um:

–        gegenüber dem Verkäufer der dem Zuschlag unterliegenden Ware, dem der Einzelne die indirekte Steuer erstattet hat, geltend zu machen, dass die Abgabenerhebung des Mitgliedstaats gegenüber dem Verkäufer rechtswidrig ist, da sie auf einer nationalen Bestimmung beruht, die gegen die Richtlinie verstößt;

–        infolgedessen die rechtsgrundlose Zahlung vom Verkäufer zurückzufordern, der sich bei dem Einzelnen schadlos gehalten hat?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

34      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118 dahin auszulegen ist, dass ein Zuschlag, der zwar nur als Bruchteil oder Vielfaches der Verbrauchsteuer auf bereits dieser Steuer unterliegende Waren erhoben wird, dessen Einnahmen jedoch anderen Körperschaften des öffentlichen Rechts als derjenigen zugeführt werden, der die Verbrauchsteuer zugewiesen ist, und der nicht den für die Verbrauchsteuer geltenden Befreiungsvorschriften folgt, als eine von der Verbrauchsteuer getrennte Steuer angesehen werden kann und somit unter den Begriff „andere indirekte Steuern“ im Sinne dieser Bestimmung fallen kann, die von den Mitgliedstaaten erhoben werden können, sofern mit ihnen ein besonderer, von der Verbrauchsteuer verschiedener Zweck verfolgt wird.

35      Im vorliegenden Fall haben die Verbrauchsteuer auf elektrischen Strom und der Zuschlag dem vorlegenden Gericht zufolge eine Struktur und eine Regelung, die teilweise übereinstimmen, da der Zuschlag den Satz der Verbrauchsteuer erhöht und dieselben Modalitäten der Berechnung, Festsetzung und Erhebung wie die Verbrauchsteuer aufweist. Nach Ansicht von Hera Comm stellt der Zuschlag nur eine Erhöhung der Verbrauchsteuer auf elektrischen Strom und keine gesonderte Steuer dar. Nach den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts fügt sich der im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits im ersten Rechtszug ergangene Beschluss in eine nationale Rechtsprechungslinie ein, nach der die Verbrauchsteuer und der Zuschlag als zwei verschiedene Steuern angesehen werden.

36      Vorab ist festzuhalten, dass die unionsrechtliche Qualifizierung einer Steuer, Abgabe oder Gebühr vom Gerichtshof anhand ihrer objektiven Merkmale vorzunehmen ist, unabhängig von ihrer Qualifizierung im nationalen Recht (Urteil vom 3. März 2021, Promociones Oliva Park, C‑220/19, EU:C:2021:163, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37      Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118 für besondere Zwecke auf verbrauchsteuerpflichtige Waren andere indirekte Steuern erheben können, sofern diese Steuern in Bezug auf die Bestimmung der Bemessungsgrundlage, die Berechnung der Steuer, die Entstehung des Steueranspruchs und die steuerliche Überwachung mit den gemeinschaftlichen Vorschriften für die Verbrauchsteuer oder die Mehrwertsteuer vereinbar sind, wobei die Bestimmungen über die Steuerbefreiungen ausgenommen sind.

38      Was insbesondere den Begriff „andere indirekte Steuern“ im Sinne dieser Bestimmung betrifft, bezeichnet dieser nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs indirekte Steuern auf den Verbrauch der in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie aufgezählten Erzeugnisse, die keine „Verbrauchsteuern“ im Sinne der letztgenannten Bestimmung sind und zu besonderen Zwecken erhoben werden (Urteile vom 4. Juni 2015, Kernkraftwerke Lippe-Ems, C‑5/14, EU:C:2015:354, Rn. 59, und vom 3. März 2021, Promociones Oliva Park, C‑220/19, EU:C:2021:163, Rn. 48).

39      Insoweit ist erstens in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 der Grundsatz verankert, dass diese Richtlinie ein allgemeines System für die Verbrauchsteuern, die mittelbar oder unmittelbar auf den Verbrauch von Waren wie elektrischem Strom erhoben werden, festlegt, indem sie ihrem zweiten Erwägungsgrund zufolge die Voraussetzungen für die Erhebung der Verbrauchsteuer harmonisiert.

40      Zweitens gilt das von der Richtlinie 2003/96 aufgestellte harmonisierte System der Besteuerung nach ihrem Art. 2 Abs. 2 für elektrischen Strom.

41      Drittens hat der Gerichtshof klargestellt, dass die den Mitgliedstaaten durch Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118 eingeräumte Befugnis darauf abzielt, den unterschiedlichen steuerlichen Traditionen der Mitgliedstaaten auf diesem Gebiet und dem häufigen Rückgriff auf indirekte Steuern für die Zwecke nicht auf den Haushalt bezogener Politiken Rechnung zu tragen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. März 2021, Promociones Oliva Park, C‑220/19, EU:C:2021:163, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42      Da die Besteuerung von elektrischem Strom in der Europäischen Union nach Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 und Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2003/96 harmonisiert ist, könnte eine zusätzliche Steuer, die von der Verbrauchsteuer auf elektrischen Strom insofern verschieden ist, als sie keine bloße Erhöhung des Steuersatzes darstellt, jedoch nur zugelassen werden, wenn sie die in Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118 vorgesehenen Voraussetzungen erfüllte.

43      Was als Erstes die Eigenständigkeit des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zuschlags betrifft, geht aus der Vorlageentscheidung zum einen hervor, dass die Steuerbemessungsgrundlage für den Zuschlag auf dieselbe Weise berechnet wurde wie jene für die Verbrauchsteuer auf elektrischen Strom, und zum anderen, dass für den Zuschlag dieselben Regeln der Berechnung, Festsetzung und Erhebung wie für die Verbrauchsteuer galten. Außerdem hatten der Zuschlag und die Verbrauchsteuer einen identischen Entstehungstatbestand, nämlich die Lieferung und den Verkauf von elektrischem Strom.

44      Vor diesem Hintergrund ist zunächst festzuhalten, dass der Zuschlag und die Verbrauchsteuer nicht denselben Endbegünstigten hatten. Wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat, musste nämlich für dieselbe Menge an die Endverbraucher verteilten elektrischen Stroms zum einen die Verbrauchsteuer an die italienische Staatskasse entrichtet werden und zum anderen kam der Zuschlag den örtlichen oder regionalen Gebietskörperschaften zugute.

45      Sodann erlaubte es Art. 6 des Gesetzesdekrets Nr. 511/1988, bei der Besteuerung von elektrischem Strom nach der Nutzung, dem Lieferort und der verbrauchten Menge zu unterscheiden. Solche Unterscheidungskriterien sind jedoch auf die Verbrauchsteuer nicht anwendbar, da sie in den Richtlinien 2008/118 und 2003/96 nicht vorgesehen sind.

46      Schließlich waren in Art. 52 Abs. 3 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 504/1995 im Einklang mit der Richtlinie 2003/96 bestimmte Befreiungen von der Verbrauchsteuer vorgesehen, während für den Zuschlag keine solchen Befreiungen galten.

47      Wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, hätte der Zuschlag, wenn er nur eine Erhöhung des Satzes der Verbrauchsteuer auf elektrischen Strom gewesen wäre, jedoch wie diese Verbrauchsteuer geregelt werden und denselben Befreiungen unterliegen müssen, wie sie der nationale Gesetzgeber für diese Verbrauchsteuer gemäß der Richtlinie 2003/96 vorgesehen hat.

48      Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass der in Rede stehende als Bruchteil oder Vielfaches der Verbrauchsteuer auf elektrischen Strom erhobene Zuschlag nicht als bloße Erhöhung des Satzes dieser Verbrauchsteuer angesehen werden kann, sondern eine andere indirekte Steuer darstellen kann, die unmittelbar oder mittelbar auf den Verbrauch von elektrischem Strom im Sinne der Richtlinie 2003/96 erhoben wird.

49      Als Zweites ist darauf hinzuweisen, dass es den Mitgliedstaaten nach Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118 zwar im Wesentlichen gestattet ist, auf verbrauchsteuerpflichtige Waren andere indirekte Steuern zu erheben, hierfür aber zwei Voraussetzungen gelten, nämlich zum einen, dass diese Steuern einen oder mehrere „besondere Zwecke“ verfolgen, und zum anderen, dass sie in Bezug auf die Bestimmung der Bemessungsgrundlage, die Berechnung der Steuer, die Entstehung des Steueranspruchs und die steuerliche Überwachung mit den unionsrechtlichen Vorschriften für die Verbrauchsteuer oder die Mehrwertsteuer vereinbar sind, wobei die Bestimmungen über die Steuerbefreiungen ausgenommen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. März 2015, Statoil Fuel & Retail, C‑553/13, EU:C:2015:149, Rn. 35).

50      Bei diesen beiden Voraussetzungen, durch die verhindert werden soll, dass der Handelsverkehr durch zusätzliche indirekte Steuern übermäßig behindert wird, handelt es sich, wie bereits aus dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118 hervorgeht, um kumulative Voraussetzungen (Urteil vom 5. März 2015, Statoil Fuel & Retail, C‑553/13, EU:C:2015:149, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

51      Zu der ersten dieser Voraussetzungen geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass unter einem „besonderen Zweck“ im Sinne dieser Bestimmung ein anderer als ein reiner Haushaltszweck zu verstehen ist. Allerdings hat jede Steuer notwendigerweise einen Haushaltszweck, so dass dieser Umstand allein nicht ausschließen kann, dass eine zusätzliche Steuer auch einen besonderen Zweck im Sinne dieser Bestimmung hat, da ihr sonst jede praktische Wirksamkeit genommen würde (Urteil vom 14. März 2024, f6 Cigarettenfabrik, C‑336/22, EU:C:2024:226, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

52      Wie im vorliegenden Fall aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, war der mit dem Zuschlag verfolgte Zweck nach der Präambel des Gesetzesdekrets Nr. 511/1988 die „Gewährleistung der notwendigen Mittelausstattung der regionalen und örtlichen Finanzbehörden, um die Erledigung ihrer institutionellen Aufgaben sicherzustellen“. Im Übrigen weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass es einen weiteren, hypothetischen Zweck gebe, nämlich die Unterstützung der Abfallentsorgung, der in den nationalen Rechtsvorschriften jedoch nur als möglicher Zweck bezeichnet werde, und dass nicht nachgewiesen sei, dass dieser Zweck tatsächlich verfolgt worden sei.

53      Nun kann das Vorliegen eines „besonderen Zwecks“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118 aber nicht allein dadurch begründet werden, dass die Einnahmen aus der fraglichen Steuer dafür bestimmt werden, allgemeine Ausgaben zu finanzieren, die eine Körperschaft des öffentlichen Rechts in einem bestimmten Bereich zu tragen hat. Wäre dies der Fall, könnte der angebliche besondere Zweck nämlich nicht von einem reinen Haushaltszweck unterschieden werden (Urteil vom 5. März 2015, Statoil Fuel & Retail, C‑553/13, EU:C:2015:149, Rn. 40).

54      Unter diesen Umständen geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten – vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht, das allein für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits zuständig ist – nicht hervor, dass der Zuschlag, mit dem offenbar nur ein allgemeiner Zweck der Unterstützung des Haushalts der Gebietskörperschaften verfolgt wird, die Kriterien des besonderen Zwecks im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118 erfüllen würde (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 9. November 2021, Agenzia delle dogane e dei monopoli – Ufficio delle dogane di Gaeta, C‑255/20, EU:C:2021:926, Rn. 38 und 39).

55      In Bezug auf die zweite der oben in Rn. 49 genannten Voraussetzungen lässt der Umstand, dass für den Zuschlag dieselben Regeln der Berechnung, Festsetzung und Erhebung wie für die Verbrauchsteuer auf elektrischen Strom gelten, den Schluss zu, dass der Zuschlag vom nationalen Gesetzgeber von Anfang an als eine Steuer konzipiert wurde, die mit den unionsrechtlichen Vorschriften für die Verbrauchsteuer im Einklang stehen muss.

56      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118 dahin auszulegen ist, dass ein Zuschlag, der zwar nur als Bruchteil oder Vielfaches der Verbrauchsteuer auf bereits dieser Steuer unterliegende Waren erhoben wird, dessen Einnahmen jedoch anderen Körperschaften des öffentlichen Rechts als derjenigen zugeführt werden, der die Verbrauchsteuer zugewiesen ist, und der nicht den für die Verbrauchsteuer geltenden Befreiungsvorschriften folgt, als eine von der Verbrauchsteuer getrennte Steuer angesehen werden kann und somit unter den Begriff „andere indirekte Steuern“ im Sinne dieser Bestimmung fallen kann, die von den Mitgliedstaaten erhoben werden können, sofern mit ihnen ein besonderer, von der Verbrauchsteuer verschiedener Zweck verfolgt wird.

 Zur zweiten Frage

57      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118 in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen über die Erstattung einer rechtsgrundlos gezahlten Steuer mit der Begründung geltend gemacht werden kann, dass die nationale Bestimmung, mit der diese Steuer eingeführt wurde, gegen Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118 verstoße, so dass ein mit einem solchen Rechtsstreit befasstes nationales Gericht allein auf der Grundlage des Unionsrechts verpflichtet ist, diese nationale Bestimmung unangewendet zu lassen.

58      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass sich der Gerichtshof in der Rechtssache, in der das Urteil vom 11. April 2024, Gabel Industria Tessile und Canavesi (C‑316/22, EU:C:2024:301), ergangen ist, bereits zu ähnlichen Fragen geäußert hat, die in einem identischen rechtlichen Rahmen aufgeworfen worden waren.

59      Hierzu hat der Gerichtshof festgestellt, dass gemäß Art. 288 Abs. 3 AEUV die Verbindlichkeit einer Richtlinie, aufgrund deren eine Berufung auf sie möglich ist, nur in Bezug auf „jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird“, besteht. Nach ständiger Rechtsprechung kann eine Richtlinie folglich nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen, so dass diesem gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche vor nationalen Gerichten nicht möglich ist (Urteil vom 11. April 2024, Gabel Industria Tessile und Canavesi, C‑316/22, EU:C:2024:301, Rn. 22 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

60      Daraus folgt, dass ein nationales Gericht nicht allein aufgrund des Unionsrechts verpflichtet ist, eine Bestimmung seines innerstaatlichen Rechts, die mit einer Bestimmung des Unionsrechts in Widerspruch steht, unangewendet zu lassen, wenn die letztgenannte Bestimmung keine unmittelbare Wirkung hat. Davon unbeschadet kann dieses Gericht sowie jede zuständige nationale Verwaltungsbehörde die Anwendung jeder Bestimmung des innerstaatlichen Rechts, die gegen eine Bestimmung des Unionsrechts ohne unmittelbare Wirkung verstößt, aufgrund des innerstaatlichen Rechts ausschließen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Januar 2022, Thelen Technopark Berlin, C‑261/20, EU:C:2022:33, Rn. 33).

61      Daher kann ein nationales Gericht es einem Einzelnen ungeachtet des Fehlens einer horizontalen Wirkung einer Richtlinie ermöglichen, sich angesichts einer klaren, genauen und unbedingten Bestimmung einer Richtlinie auf die Rechtswidrigkeit einer Steuer zu berufen, die ein Verkäufer zu Unrecht auf ihn abgewälzt hat, um die letztlich von ihm zu tragende zusätzliche wirtschaftliche Belastung zu neutralisieren, wenn dem Einzelnen gemäß den nationalen Rechtsvorschriften eine solche Befugnis eingeräumt ist; es ist Sache des vorlegenden Gerichts, dies im Ausgangsverfahren festzustellen (Urteil vom 11. April 2024, Gabel Industria Tessile und Canavesi, C‑316/22, EU:C:2024:301, Rn. 25).

62      Der Gerichtshof hat außerdem anerkannt, dass sich die Einzelnen auf unbedingte und hinreichend genaue Bestimmungen einer Richtlinie nicht nur gegenüber einem Mitgliedstaat und allen Trägern seiner Verwaltung berufen können, sondern auch gegenüber Organisationen oder Einrichtungen, die dem Staat oder dessen Aufsicht unterstehen oder mit besonderen Rechten ausgestattet sind, die über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten (Urteil vom 11. April 2024, Gabel Industria Tessile und Canavesi, C‑316/22, EU:C:2024:301, Rn. 26 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

63      Der Gerichtshof hat daher entschieden, dass Art. 288 Abs. 3 AEUV ein nationales Gericht daran hindert, in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen eine nationale Rechtsvorschrift, mit der eine indirekte Steuer eingeführt wird, die gegen eine klare, genaue und unbedingte Bestimmung einer nicht umgesetzten oder mangelhaft umgesetzten Richtlinie verstößt, unangewendet zu lassen, es sei denn, das innerstaatliche Recht bestimmt etwas anderes oder die Einrichtung, der gegenüber die Rechtswidrigkeit dieser Steuer geltend gemacht wird, untersteht dem Staat oder dessen Aufsicht oder ist mit besonderen Rechten ausgestattet, die über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten (Urteil vom 11. April 2024, Gabel Industria Tessile und Canavesi, C‑316/22, EU:C:2024:301, Rn. 27). Im vorliegenden Fall wird es Sache des vorlegenden Gerichts sein, die erforderlichen Prüfungen vorzunehmen, um festzustellen, ob der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Lieferer in eine dieser Kategorien fällt.

64      Es ist jedenfalls festzuhalten, dass die Mitgliedstaaten nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs grundsätzlich verpflichtet sind, unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobene Steuern und Abgaben zu erstatten, da der Anspruch auf Erstattung dieser Steuern und Abgaben eine Folge und eine Ergänzung der Rechte darstellt, die den Einzelnen aus den Bestimmungen des Unionsrechts erwachsen, die diesen Abgaben entgegenstehen (Urteil vom 20. Oktober 2011, Danfoss und Sauer-Danfoss, C‑94/10, EU:C:2011:674, Rn. 20 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

65      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es in Ermangelung einer Unionsregelung auf diesem Gebiet Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten ist, die genauen Verfahren für die Ausübung dieses Anspruchs auf Erstattung einer solchen wirtschaftlichen Belastung zu regeln, wobei diese Verfahren den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität entsprechen müssen (Urteil vom 11. April 2024, Gabel Industria Tessile und Canavesi, C‑316/22, EU:C:2024:301, Rn. 33 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

66      Insbesondere geböte der Grundsatz der Effektivität, dass der Endverbraucher seinen Erstattungsantrag unmittelbar an den betreffenden Mitgliedstaat richten kann, wenn es unmöglich oder übermäßig schwer wäre, eine Erstattung von den betreffenden Lieferern zu erhalten (Urteil vom 11. April 2024, Gabel Industria Tessile und Canavesi, C‑316/22, EU:C:2024:301, Rn. 34 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

67      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass ein mit einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen – in dem die Erstattung einer rechtsgrundlos gezahlten Steuer mit der Begründung geltend gemacht wird, dass die nationalen Rechtsvorschriften, mit denen diese Steuer eingeführt wurde, gegen Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118 verstießen – befasstes nationales Gericht, das feststellt, dass diese nationalen Rechtsvorschriften nicht im Einklang mit dem Unionsrecht ausgelegt werden können, nicht allein auf der Grundlage des Unionsrechts verpflichtet ist, diese nationalen Rechtsvorschriften unangewendet zu lassen. Das Unionsrecht gebietet es jedoch, dass der Endverbraucher seinen Erstattungsantrag unmittelbar an den betreffenden Mitgliedstaat richten kann, wenn es unmöglich oder übermäßig schwer ist, vom Lieferer die Erstattung der rechtsgrundlos gezahlten Steuer zu erhalten.

 Kosten

68      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG

ist dahin auszulegen, dass

ein Zuschlag, der zwar nur als Bruchteil oder Vielfaches der Verbrauchsteuer auf bereits dieser Steuer unterliegende Waren erhoben wird, dessen Einnahmen jedoch anderen Körperschaften des öffentlichen Rechts als derjenigen zugeführt werden, der die Verbrauchsteuer zugewiesen ist, und der nicht den für die Verbrauchsteuer geltenden Befreiungsvorschriften folgt, als eine von der Verbrauchsteuer getrennte Steuer angesehen werden kann und somit unter den Begriff „andere indirekte Steuern“ im Sinne dieser Bestimmung fallen kann, die von den Mitgliedstaaten erhoben werden können, sofern mit ihnen ein besonderer, von der Verbrauchsteuer verschiedener Zweck verfolgt wird.

2.      Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass ein mit einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen – in dem die Erstattung einer rechtsgrundlos gezahlten Steuer mit der Begründung geltend gemacht wird, dass die nationalen Rechtsvorschriften, mit denen diese Steuer eingeführt wurde, gegen Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118 verstießen – befasstes nationales Gericht, das feststellt, dass diese nationalen Rechtsvorschriften nicht im Einklang mit dem Unionsrecht ausgelegt werden können, nicht allein auf der Grundlage des Unionsrechts verpflichtet ist, diese nationalen Rechtsvorschriften unangewendet zu lassen. Das Unionsrecht gebietet es jedoch, dass der Endverbraucher seinen Erstattungsantrag unmittelbar an den betreffenden Mitgliedstaat richten kann, wenn es unmöglich oder übermäßig schwer ist, vom Lieferer die Erstattung der rechtsgrundlos gezahlten Steuer zu erhalten.

Unterschriften



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