Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)
15. Mai 2025(* )
„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Richtlinie 79/7/EWG – Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit – Art. 4 Abs. 1 und 2 – Art. 7 Abs. 1 – Nationale Rechtsvorschriften, die eine Rentenzulage für Frauen vorsehen, die eine beitragsbezogene Altersrente beziehen und ein oder mehrere leibliche oder adoptierte Kinder hatten – Zusätzliche Voraussetzungen dafür, dass Männer diese Zulage erhalten können – Unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts – Art. 23 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Positive Maßnahmen “
In den verbundenen Rechtssachen C‑623/23 [Melbán] und C‑626/23 [Sergamo](i )
betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Juzgado de lo Social n° 3 de Pamplona (Arbeits- und Sozialgericht Nr. 3 Pamplona, Spanien) und vom Tribunal Superior de Justicia de Madrid (Obergericht Madrid, Spanien) mit Entscheidungen vom 21. September 2023 und vom 13. September 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Oktober 2023 und am 12. Oktober 2023, in den Verfahren
UV (C‑623/23),
XXX (C‑626/23)
gegen
Instituto Nacional de la Seguridad Social (INSS),
Beteiligte:
OP (C‑623/23),
Ministerio Fiscal (C‑623/23),
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten D. Gratsias sowie der Richter E. Regan und B. Smulders (Berichterstatter),
Generalanwalt: R. Norkus,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– des Instituto Nacional de la Seguridad Social (INSS), vertreten durch A. Álvarez Moreno und A. R. Trillo García, Letrados,
– der spanischen Regierung, vertreten durch M. Morales Puerta als Bevollmächtigte,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch I. Galindo Martín und E. Schmidt als Bevollmächtigte,
aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (ABl. 1979, L 6, S. 24) sowie der Art. 20, 21, 23 und Art. 34 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Sie ergehen im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten zwischen zum einen UV (C‑623/23), Vater zweier Kinder, sowie zum anderen XXX (C‑626/23), Vater dreier Kinder, und dem Instituto Nacional de la Seguridad Social (INSS) (Staatliche Sozialversicherungsanstalt, Spanien) wegen dessen Weigerung, UV und XXX eine Rentenzulage (im Folgenden: in Rede stehende Rentenzulage) zu gewähren, die im nationalen Recht zugunsten von Frauen und Männern, die ein oder mehrere Kinder hatten, vorgesehen ist, deren Gewährung an Männer jedoch zusätzlichen Voraussetzungen unterliegt.
Unionsrecht
3 Art. 1 der Richtlinie 79/7 lautet:
„Diese Richtlinie hat zum Ziel, dass auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit und der sonstigen Bestandteile der sozialen Sicherung im Sinne von Artikel 3 der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit – im Folgenden ‚Grundsatz der Gleichbehandlung‘ genannt – schrittweise verwirklicht wird.“
4 Art. 2 dieser Richtlinie bestimmt:
„Diese Richtlinie findet Anwendung auf die Erwerbsbevölkerung – einschließlich der selbständigen, deren Erwerbstätigkeit durch Krankheit, Unfall oder unverschuldete Arbeitslosigkeit unterbrochen ist, und der Arbeitsuchenden – sowie auf die im Ruhestand befindlichen oder arbeitsunfähigen Arbeitnehmer und Selbständigen.“
5 In Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie heißt es:
„Diese Richtlinie findet Anwendung
a) auf die gesetzlichen Systeme, die Schutz gegen folgende Risiken bieten:
– Krankheit,
– Invalidität,
– Alter,
– Arbeitsunfall und Berufskrankheit,
– Arbeitslosigkeit;
…“
6 Art. 4 der Richtlinie 79/7 lautet:
„(1) „Der Grundsatz der Gleichbehandlung beinhaltet den Fortfall jeglicher unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe- oder Familienstand, und zwar im Besonderen betreffend:
– den Anwendungsbereich der Systeme und die Bedingungen für den Zugang zu den Systemen,
– die Beitragspflicht und die Berechnung der Beiträge,
– die Berechnung der Leistungen, einschließlich der Zuschläge für den Ehegatten und für unterhaltsberechtigte Personen, sowie die Bedingungen betreffend die Geltungsdauer und die Aufrechterhaltung des Anspruchs auf die Leistungen.
(2) Der Grundsatz der Gleichbehandlung steht den Bestimmungen zum Schutz der Frau wegen Mutterschaft nicht entgegen.“
7 Art. 7 dieser Richtlinie sieht vor:
„(1) Diese Richtlinie steht nicht der Befugnis der Mitgliedstaaten entgegen, Folgendes von ihrem Anwendungsbereich auszuschließen:
…
b) die Vergünstigungen, die Personen, welche Kinder aufgezogen haben, auf dem Gebiet der Altersversicherung gewährt werden; den Erwerb von Ansprüchen auf Leistungen im Anschluss an Zeiträume der Beschäftigungsunterbrechung wegen Kindererziehung;
…
(2) Die Mitgliedstaaten überprüfen in regelmäßigen Abständen die aufgrund des Absatzes 1 ausgeschlossenen Bereiche, um festzustellen, ob es unter Berücksichtigung der sozialen Entwicklung in dem Bereich gerechtfertigt ist, die betreffenden Ausnahmen aufrechtzuerhalten.“
Spanisches Recht
8 Art. 60 („Mutterschaftszulage bei den beitragsbezogenen Renten des Systems der sozialen Sicherheit“) Abs. 1 der Ley General de la Seguridad Social (Allgemeines Gesetz über die soziale Sicherheit) in ihrer durch das Real Decreto Legislativo 8/2015 (Königliches gesetzesvertretendes Dekret 8/2015) vom 30. Oktober 2015 (BOE Nr. 261 vom 31. Oktober 2015, S. 103291) gebilligten Fassung (im Folgenden: LGSS a. F.) sah vor:
„Frauen, die leibliche oder adoptierte Kinder hatten und von irgendeiner Untergliederung des Systems der sozialen Sicherheit eine beitragsbezogene Alters- oder Witwenrente oder Rente wegen dauernder Invalidität erhalten, wird aufgrund ihres demografischen Beitrags zur sozialen Sicherheit eine Rentenzulage gewährt.
Diese Zulage, die mit allen Folgewirkungen die Rechtsnatur einer beitragsbezogenen öffentlichen Rente hat, besteht in einem Betrag in Höhe eines bestimmten, auf den Ausgangsbetrag der entsprechenden Renten angewandten Prozentsatzes, der sich je nach der Zahl der Kinder wie folgt bemisst:
a) bei zwei Kindern: 5 %;
b) bei drei Kindern: 10 %;
c) bei vier oder mehr Kindern: 15 %.
…“
9 Die LGSS a. F. wurde infolge des Erlasses des Real Decreto-Ley 3/2021, por el que se adoptan medidas para la reducción de la brecha de género y otras materias en los ámbitos de la Seguridad Social y économico (Königliches Gesetzesdekret 3/2021 über Maßnahmen zur Verringerung des geschlechtsspezifischen Gefälles und in Bezug auf andere Angelegenheiten in den Bereichen soziale Sicherheit und Wirtschaft) vom 2. Februar 2021 (BOE Nr. 29 vom 3. Februar 2021, S. 12268) (im Folgenden: Königliches Gesetzesdekret 3/2021) geändert (im Folgenden: LGSS g. F.). Art. 60 („Zulage zu beitragsbezogenen Renten zur Verringerung des geschlechtsspezifischen Gefälles“) LGSS g. F. bestimmt:
„1. Frauen, die ein oder mehrere Kinder hatten und eine beitragsbezogene Altersrente, Rente wegen dauernder Invalidität oder Witwenrente beziehen, haben wegen der Auswirkung, die das geschlechtsspezifische Gefälle im Allgemeinen auf die Höhe der beitragsbezogenen Renten der sozialen Sicherheit von Frauen hat, Anspruch auf eine Zulage für jedes Kind. Der Anspruch auf die Zulage für jedes Kind wird der Frau zuerkannt oder bleibt ihr erhalten, solange die Zulage nicht zugunsten des anderen Elternteils beantragt und gewährt wird, und wenn dieser andere Elternteil ebenfalls eine Frau ist, wird die Zulage der Frau gewährt, die in Summe niedrigere öffentliche Renten bezieht.
Männer können die Gewährung der Zulage nur beanspruchen, wenn eine der folgenden Voraussetzungen erfüllt ist:
a) Es wurde eine Witwerrente wegen des Todes des anderen Elternteils der gemeinsamen Kinder zuerkannt, wobei eines dieser Kinder Anspruch auf eine Waisenrente haben muss.
b) Es fällt eine beitragsbezogene Altersrente oder Rente wegen dauernder Invalidität an, und die berufliche Laufbahn hat anlässlich der Geburt oder Adoption eine Unterbrechung oder Beeinträchtigung erfahren, wobei folgende Maßgabe gilt:
1.ª Bei bis zum 31. Dezember 1994 geborenen oder adoptierten Kindern müssen in den neun Monaten vor der Geburt und den darauf folgenden drei Jahren bzw. im Fall einer Adoption in den drei Jahren ab der gerichtlichen Adoptionsentscheidung über mehr als 120 Tage keine Beiträge entrichtet worden sein, und die zuerkannten Renten müssen ihrer Höhe nach in Summe niedriger sein als die der Frau zustehenden Renten.
2.ª Bei ab dem 1. Januar 1995 geborenen oder adoptierten Kindern muss die Summe der Beträge, die die Beitragsbemessungsgrundlage bilden, für die 24 Monate, die auf den Geburtsmonat oder den Monat der gerichtlichen Adoptionsentscheidung folgen, um mehr als 15 % niedriger sein als die entsprechende Summe für die 24 unmittelbar vorangegangenen Monate, und die zuerkannten Renten müssen ihrer Höhe nach in Summe niedriger sein als die der Frau zustehenden Renten.
3.ª Sind beide Elternteile Männer und erfüllen beide die vorstehend genannten Voraussetzungen, so wird die Zulage demjenigen gewährt, der in Summe niedrigere öffentliche Renten bezieht.
…
2. Mit der Gewährung der Zulage an den zweiten Elternteil erlischt die bereits dem ersten Elternteil zuerkannte Zulage unter Eintritt der finanziellen Wirkungen am ersten Tag des Monats, der auf den Monat folgt, in dem die entsprechende Entscheidung ergangen ist …
Bevor die Entscheidung ergeht, mit der der Anspruch dem zweiten Elternteil zuerkannt wird, wird der bisherige Zulagenbezieher gehört.
3. Diese Zulage hat mit allen Folgewirkungen die Rechtsnatur einer beitragsbezogenen öffentlichen Rente.
Die Höhe der Zulage je Kind wird durch das jeweilige Allgemeine Haushaltsgesetz bestimmt. Der zustehende Betrag ist auf das Vierfache der je Kind festgesetzten monatlichen Höhe begrenzt und erhöht sich zu Beginn jedes Jahres um denselben Prozentsatz, wie er im jeweiligen Allgemeinen Haushaltsgesetz für die beitragsbezogenen Renten vorgesehen ist.“
10 Die 37. Zusatzbestimmung („Zeitlicher Geltungsbereich der Zulage zu beitragsbezogenen Renten zur Verringerung des geschlechtsspezifischen Gefälles“) zur LGSS g. F. lautet:
„1. Der Anspruch auf Gewährung der Zulage zu beitragsbezogenen Renten zur Verringerung des geschlechtsspezifischen Gefälles gemäß Art. 60 bleibt bestehen, solange das geschlechtsspezifische Gefälle bei den im Vorjahr angefallenen Altersrenten mehr als 5 % beträgt.
2. Für die Zwecke dieses Gesetzes ist unter dem geschlechtsspezifischen Gefälle bei den Altersrenten der prozentuale Unterschied zwischen Männern und Frauen hinsichtlich der durchschnittlichen Höhe ihrer beitragsbezogenen Altersrenten in einem Jahr zu verstehen.
3. Damit die Angemessenheit der zur Verringerung des geschlechtsspezifischen Rentengefälles eingeführten Korrekturmaßnahme gewährleistet ist, muss die spanische Regierung im Rahmen des sozialen Dialogs regelmäßig alle fünf Jahre eine Bewertung der Auswirkungen dieser Maßnahme vornehmen.
4. Sobald das geschlechtsspezifische Gefälle in einem Jahr unter 5 % sinkt, übermittelt die Regierung nach Anhörung der Sozialpartner den [Cortes Generales (spanisches Parlament)] einen Gesetzentwurf zur Aufhebung von Art. 60.“
11 Die 33. Übergangsbestimmung („Vorübergehende Beibehaltung der Mutterschaftszulage bei den beitragsbezogenen Renten des Systems der sozialen Sicherheit“) zur LGSS g. F. sieht vor:
„Wer zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der in Art. 60 vorgesehenen Änderung die Mutterschaftszulage für den demografischen Beitrag bezog, behält diesen Bezug.
Der Bezug dieser Mutterschaftszulage ist unvereinbar mit der Zulage zu beitragsbezogenen Renten zur Verringerung des geschlechtsspezifischen Gefälles, auf die aufgrund der Gewährung einer neuen öffentlichen Rente Anspruch bestehen könnte; die Wahl der Zulage liegt dann bei den Betroffenen.
Beantragt der andere Elternteil eines der Kinder, das für die Mutterschaftszulage für den demografischen Beitrag anspruchsbegründend war, die Zulage zu beitragsbezogenen Renten zur Verringerung des geschlechtsspezifischen Gefälles und hat er nach Art. 60 dieses Gesetzes … Anspruch auf diese Zulage, so wird der ihm zuerkannte monatliche Betrag von der bezogenen Mutterschaftszulage in Abzug gebracht …“
12 Art. 3 der Ley Orgánica 3/2007 para la igualdad efectiva de mujeres y hombres (Organgesetz 3/2007 zur tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern) vom 22. März 2007 (BOE Nr. 71 vom 23. März 2007, S. 12611) lautet:
„Der Grundsatz der Gleichbehandlung von Frauen und Männern bedeutet, dass es keinerlei – unmittelbare oder mittelbare – Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und insbesondere keine Diskriminierungen infolge von Mutterschaft, der Übernahme familiärer Verpflichtungen und des Personenstands geben darf.“
13 Art. 11 Abs. 1 dieses Gesetzes bestimmt:
„Im Hinblick auf die Verwirklichung des verfassungsmäßigen Rechts auf Gleichheit ergreifen die Behörden spezifische Maßnahmen zugunsten von Frauen, um dort Abhilfe zu schaffen, wo offenkundig eine faktische Ungleichheit gegenüber Männern besteht. Diese Maßnahmen, die anwendbar sind, solange solche Konstellationen fortbestehen, müssen angemessen und im Hinblick auf das jeweils verfolgte Ziel verhältnismäßig sein.“
Ausgangsrechtsstreitigkeiten, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof
Rechtssache C ‑623/23
14 UV, Vater von zwei Kindern, wurde vom INSS eine Altersrente in Höhe von monatlich 1 637,08 Euro brutto mit Wirkung zum 1. Juli 2021 gewährt.
15 Am 16. Juni 2022 beantragte UV beim INSS die Rentenzulage zur Verringerung des geschlechtsspezifischen Gefälles gemäß Art. 60 LGSS g. F. ab dem 1. Juli 2021.
16 Mit Bescheid vom 14. November 2022 lehnte das INSS den Antrag mit der Begründung ab, dass UV die in Art. 60 LGSS g. F. vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfülle.
17 Außerdem gewährte das INSS mit Bescheid vom 22. Dezember 2022 der Mutter der beiden betreffenden Kinder mit Wirkung zum 10. Dezember 2022 eine vorgezogene Altersrente in Höhe von monatlich 2 790,99 Euro brutto zuzüglich der in Rede stehenden Rentenzulage in Höhe von monatlich 56 Euro.
18 UV erhob gegen den Bescheid vom 14. November 2022 Klage beim Juzgado de lo Social n° 3 de Pamplona (Arbeits- und Sozialgericht Nr. 3 Pamplona, Spanien), dem vorlegenden Gericht in der Rechtssache C‑623/23, und machte geltend, dass Art. 60 LGSS g. F. gegen die Richtlinie 79/7 verstoße, da er eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts bewirke.
19 Das INSS erinnert daran, dass Art. 60 LGSS a. F. vom Gerichtshof mit Urteil vom 12. Dezember 2019, Instituto Nacional de la Seguridad Social (Rentenzulage für Mütter) (C‑450/18, EU:C:2019:1075), für diskriminierend befunden wurde, und vertritt die Auffassung dass er nach seiner Änderung, die erfolgt sei, um jenem Urteil Rechnung zu tragen, nunmehr den Anforderungen der Richtlinie 79/7 entspreche.
20 Das vorlegende Gericht stellt eingangs fest, dass die in Rede stehende Rentenzulage zum Betrag der Altersrente, der auf der Grundlage der während des Erwerbslebens entrichteten Beiträge berechnet werde, hinzukomme und in den Anwendungsbereich der Richtlinie 79/7 falle, da sie Teil eines gesetzlichen Systems zum Schutz gegen eines der in Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie aufgeführten Risiken sei.
21 Es weist außerdem darauf hin, dass das INSS, obwohl sich UV tatsächlich der Erziehung seiner beiden Kinder gewidmet habe, den Antrag auf Gewährung der in Rede stehenden Rentenzulage deshalb abgelehnt habe, weil die Beitragsfehlzeiten von UV im System der sozialen Sicherheit nicht die Mindestdauer erreicht hätten, die für Männer in Art. 60 LGSS g. F. vorgesehen sei, da UV in der Tat in den neun Monaten vor der Geburt und den darauf folgenden drei Jahren nicht über mehr als 120 Tage keine Beiträge entrichtet habe.
22 Das vorlegende Gericht sieht sich mithin gehalten, darüber zu entscheiden, ob in Art. 60 LGSS g. F. eine gegen die Richtlinie 79/7 verstoßende Diskriminierung aufgrund des Geschlechts liege, und führt aus, dass mit Blick auf Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie außer Zweifel stehe, dass Männer nach Art. 60 LGSS g. F. weniger günstig behandelt würden als Frauen, da Frauen, die eine Altersrente bezögen und ein oder mehrere Kinder gehabt hätten, der Anspruch auf die in Rede stehende Rentenzulage ohne Weiteres zuerkannt werde, während Männer, die sich in einer vergleichbaren Situation befänden, zusätzliche Voraussetzungen erfüllen müssten, die u. a. mit einer tatsächlichen Unterbrechung ihrer beruflichen Laufbahn und ihrer Beitragsleistung zum System der sozialen Sicherheit zusammenhingen.
23 Allerdings stelle sich als Erstes die Frage, ob eine solche unterschiedliche Behandlung aufgrund des Geschlechts eine Rechtfertigung in der allgemein bekannten Tatsache finden könne, dass die Kindererziehung in Spanien überwiegend von Frauen erbracht werde, was an einer historischen und strukturellen Diskriminierung der Frauen liege und sich nachteilig auf deren berufliche Laufbahn und damit auf ihre Beitragsleistung zum System der sozialen Sicherheit auswirke. Die in Rede stehende Rentenzulage nach Art. 60 LGSS g. F. solle so, wie sich aus der Begründung des Königlichen Gesetzesdekrets 3/2021 ergebe, einen von den Frauen während ihrer Berufslaufbahn erlittenen Nachteil ausgleichen.
24 Sie werde aber unterschiedslos allen Frauen zuerkannt, die Kinder gehabt hätten, unabhängig davon, ob sie sich tatsächlich um die Erziehung ihrer Kinder gekümmert hätten, und unabhängig von der Höhe ihrer Rente, die die durchschnittliche Rente übersteigen oder sogar der zulässigen Höchstrente in Spanien entsprechen könne. Daher sei nicht ersichtlich, dass diese Maßnahme wirklich geeignet sei, das Ziel der Verringerung des geschlechtsspezifischen Altersrentengefälles zu erreichen.
25 Unter diesen Umständen sieht sich das vorlegende Gericht insbesondere vor die Frage gestellt, ob in Anbetracht des Bestehens eines solchen Gefälles die Gewährung der in Rede stehenden Rentenzulage als positive Maßnahme zugunsten der Frauen gewertet werden könne.
26 Es spricht insoweit die Möglichkeit an, ob die in Art. 60 LGSS g. F. vorgesehene Maßnahme eine nach Art. 157 Abs. 4 AEUV zulässige Maßnahme sein könne, und zwar im Hinblick insbesondere auf das Urteil vom 12. Dezember 2019, Instituto Nacional de la Seguridad Social (Rentenzulage für Mütter) (C‑450/18, EU:C:2019:1075), das dies auszuschließen scheine.
27 Allerdings sei nicht ausgeschlossen, dass sich etwa mit Blick auf die Zielsetzung von Art. 60 LGSS g. F. – nämlich die finanziellen Folgen auszugleichen, die sich aus der durch ihre traditionelle Hauptrolle bei der Kindererziehung bedingten Situation der Frauen auf dem Arbeitsmarkt ergäben – Männer in Wirklichkeit nicht in der gleichen Situation wie Frauen befänden, so dass es im Verhältnis zwischen ihnen keine Diskriminierung geben könne.
28 Im Übrigen stehe die in Rede stehende Rentenzulage, die in Art. 60 LGSS g. F. vorgesehen sei, in keinem Zusammenhang mit dem besonderen Schutz der Frau wegen Schwangerschaft, Entbindung oder Mutterschaft, so dass sie nicht unter die Ausnahme von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 79/7 zu fallen scheine. Gleiches gelte für die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie vorgesehene Ausnahme, da die Gewährung dieser Zulage an Frauen gerade nicht an die Erziehung ihrer Kinder geknüpft sei.
29 Als Zweites stelle sich für den Fall, dass Art. 60 LGSS g. F. mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung nicht vereinbar sein sollte, die Frage nach den Folgen der Feststellung einer solchen Unvereinbarkeit im Hinblick auf die fragliche Bestimmung, nach der die in Rede stehende Rentenzulage nur einem Elternteil gewährt werden könne, nämlich demjenigen mit der niedrigeren beitragsbezogenen Altersrente.
30 Im vorliegenden Fall sei die Zulage bereits der Mutter der beiden betreffenden Kinder gewährt worden. Das INSS habe daher geltend gemacht, dass, falls eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts in Anwendung der Richtlinie 79/7 festgestellt werde, die Gewährung der in Rede stehenden Rentenzulage an den Vater zur Folge haben müsse, dass die Zahlung der bis dahin an die Mutter geleisteten Zulage eingestellt werde, weil die beitragsbezogene Altersrente der Mutter höher sei als die Rente des Vaters.
31 Das vorlegende Gericht, das klarstellt, dass die Mutter vor Gericht geladen worden und Beteiligte sei, auch wenn sie zum Termin nicht erschienen sei, äußert jedoch die Auffassung, dass die Zuerkennung dieser Zulage einzig an den Rentner mit der niedrigeren Rente der Feststellung des Vorliegens einer Diskriminierung jede praktische Wirksamkeit nähme, wenn die höhere Altersrente vom Vater bezogen werde. Überdies sehe Art. 60 LGSS g. F. ausdrücklich vor, dass die in Rede stehende Zulage an nur einen der beiden Elternteile gezahlt werden könne, wenn beide Elternteile die gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen erfüllten, so dass diese Bestimmung von Art. 60 LGSS g. F. nicht zur Anwendung kommen dürfe, wenn die in Rede stehende Rentenzulage dem Vater gewährt werde, der die Voraussetzungen einer nationalen Vorschrift, die eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts bewirke, nicht erfülle.
32 Vor diesem Hintergrund hat der Juzgado de lo Social nº 3 de Pamplona (Arbeits- und Sozialgericht Nr. 3 Pamplona) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist die Richtlinie 79/7 dahin auszulegen, dass der in ihren Art. 1 und 4 anerkannte Grundsatz der Gleichbehandlung, der jegliche Diskriminierung aufgrund des Geschlechts verbietet, durch eine nationale Regelung wie die von Art. 60 („Zulage zu beitragsbezogenen Renten zur Verringerung des geschlechtsspezifischen Gefälles“) LGSS g. F. nicht beachtet wird, nach der Frauen, die leibliche oder adoptierte Kinder hatten und eine beitragsbezogene Altersrente oder Rente wegen dauernder Invalidität beziehen, der Anspruch auf eine Zulage zu solchen Renten ohne weitere Bedingungen und unabhängig von der Höhe ihrer Rente zuerkannt wird, während er Männern in der gleichen Situation nicht unter den gleichen Bedingungen zuerkannt wird, indem bestimmte beitragsfreie Zeiten oder niedrigere Beiträge nach der Geburt der Kinder oder der Adoption von ihnen verlangt werden, um die Zulage zu ihrer Altersrente oder Rente wegen dauernder Invalidität zu erhalten, und zwar bei bis zum 31. Dezember 1994 geborenen oder adoptierten Kindern mehr als 120 beitragsfreie Tage in den neun Monaten vor der Geburt und den drei darauf folgenden Jahren oder im Fall einer Adoption in den drei Jahren ab der gerichtlichen Adoptionsentscheidung, unter der zusätzlichen Voraussetzung, dass die zuerkannten Renten ihrer Höhe nach in Summe niedriger sind als die der Frau zustehenden Renten, und bei ab dem 1. Januar 1995 geborenen oder adoptierten Kindern, dass die Summe der Beträge, die die Beitragsbemessungsgrundlage bilden, für die 24 Monate, die auf den Geburtsmonat oder den Monat der gerichtlichen Adoptionsentscheidung folgen, um mehr als 15 % niedriger ist als die entsprechende Summe für die 24 unmittelbar vorangegangenen Monate, wiederum unter der zusätzlichen Voraussetzung, dass die zuerkannten Renten ihrer Höhe nach in Summe niedriger sind als die der Frau zustehenden Renten?
2. Sollte eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts festgestellt werden, erfordert die Richtlinie 79/7 als Folge der sich aus dem Ausschluss des männlichen Rentenberechtigten ergebenden Diskriminierung, dass ihm die Zulage zur Altersrente gewährt wird, obwohl Art. 60 LGSS g. F. vorsieht, dass die Zulage nur einem der Elternteile gewährt werden kann, und darf zugleich die Gewährung der Zulage an den männlichen Rentenberechtigten aufgrund des Urteils des Europäischen Gerichtshofs und der Nichtkonformität der nationalen Regelung mit der Richtlinie 79/7 nicht zum Wegfall der der weiblichen Altersrentenberechtigten gewährten Zulage führen, da sie die gesetzliche Voraussetzung erfüllt, Mutter eines oder mehrerer Kinder zu sein?
Rechtssache C ‑626/23
33 XXX, Vater von drei Kindern, wurde mit ihm am 6. April 2022 zugestelltem Bescheid des INSS eine Altersrente mit Wirkung zum 11. Januar 2022 zuerkannt.
34 Da er der Ansicht war, dass der Rentenbetrag falsch berechnet worden sei und auch die in Rede stehende Rentenzulage umfassen müsse, legte er gegen diesen Bescheid Widerspruch beim INSS ein.
35 Nachdem dieser Widerspruch unbeantwortet blieb, reichte XXX am 16. September 2022 beim Juzgado de lo Social no 4 de Madrid (Arbeits- und Sozialgericht Nr. 4 Madrid, Spanien) Klage ein, die mit Urteil vom 15. Februar 2023 in vollem Umfang abgewiesen wurde.
36 Gegen dieses Urteil legte XXX beim Tribunal Superior de Justicia de Madrid (Obergericht Madrid, Spanien), dem vorlegenden Gericht in der Rechtssache C‑626/23, Rechtsmittel ein, mit dem er geltend machte, dass die sich aus Art. 60 LGSS a. F. ergebende unterschiedliche Behandlung von Männern und Frauen im Rahmen von Art. 60 LGSS g. F. in Bezug auf die Gewährung der in Rede stehenden Rentenzulage fortbestehe, da das Erfordernis einer „Unterbrechung der beruflichen Laufbahn“ – unter Verstoß gegen die Richtlinie 79/7 – nur für Männer gelte.
37 Das vorlegende Gericht hält es deshalb für erforderlich, zu klären, ob Art. 60 LGSS g. F. mit der Richtlinie 79/7 sowie mit den Art. 20, 21, 23 und Art. 34 Abs. 1 der Charta vereinbar ist.
38 Es weist insoweit darauf hin, dass Art. 60 LGSS a. F. geändert worden sei, um den Erkenntnissen aus dem Urteil vom 12. Dezember 2019, Instituto Nacional de la Seguridad Social (Rentenzulage für Mütter) (C‑450/18, EU:C:2019:1075), Rechnung zu tragen. Die Gewährung der Rentenzulage, die in Art. 60 LGSS g. F. vorgesehen sei und nicht mehr als „Mutterschaftszulage bei den beitragsbezogenen Renten des Systems der sozialen Sicherheit“, sondern als „Zulage zu beitragsbezogenen Renten zur Verringerung des geschlechtsspezifischen Gefälles“ qualifiziert werde, sei an das Vorhandensein eines oder mehrerer Kinder geknüpft, und die Zulagehöhe variiere je nach der Zahl der Kinder.
39 Im Übrigen sei in der LGSS g. F. vorgesehen worden, dass die Zulage nicht mehr gewährt werde, wenn der prozentuale Unterschied zwischen Männern und Frauen hinsichtlich der durchschnittlichen Höhe ihrer beitragsbezogenen Altersrenten in einem Jahr nicht länger mehr als 5 % betrage.
40 Im Unterschied zu Frauen, die ein oder mehrere Kinder gehabt hätten und eine Altersrente bezögen, denen der Anspruch auf die Rentenzulage nach Art. 60 LGSS g. F. ohne Weiteres zukomme, könnten Männer die Zulage jedoch nur dann beanspruchen, wenn bestimmte zusätzliche Voraussetzungen erfüllt seien, die entweder darauf abstellten, dass eine Witwerrente wegen des Todes des anderen Elternteils bezogen und einem der Kinder eine Waisenrente gewährt werde, oder darauf, dass sie in ihrer beruflichen Laufbahn und infolgedessen bei ihren Beitragszeiten im System der sozialen Sicherheit Einbußen hätten hinnehmen müssen.
41 Bei solchen Maßnahmen, die eine Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts bewirkten, könne es für ihre Rechtfertigung nicht ausreichen, zu erklären, dass sie auf die Wiederherstellung der materiellen Gleichheit von Frauen und Männern gerichtet seien, sondern es müsse darüber hinaus nachgewiesen werden, dass der mit ihnen verbundene Eingriff in das formelle Recht auf Gleichbehandlung gemessen an dem verfolgten Ziel verhältnismäßig sei.
42 Hier gehe aus der Begründung des Königlichen Gesetzesdekrets 3/2021 hervor, dass die durch Art. 60 LGSS g. F. bewirkte Ungleichbehandlung mit dem Ziel gerechtfertigt werde, das Gefälle zwischen Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit zu verringern, das die durch ihre traditionelle Hauptrolle bei der Kindererziehung bedingte Situation der Frauen auf dem Arbeitsmarkt widerspiegle. Mit Art. 60 LGSS g. F. werde somit eine positive Maßnahme zugunsten der Frauen eingeführt, zu der Männer gleichwohl Zugang hätten, sofern sie sich in einer vergleichbaren Situation befänden.
43 Es sei jedoch zweifelhaft, ob diese Rechtfertigung hinreichend sei. Die Voraussetzungen für die Gewährung der in Rede stehenden Rentenzulage verstellten nämlich nicht nur faktisch den meisten Männern den Zugang zu dieser Zulage, sondern sie hinderten überdies nicht daran, dass die Zulage auch Frauen gewährt werde, deren berufliche Laufbahn durch die Erziehung ihrer Kinder nicht beeinträchtigt worden sei. Da die in Rede stehende Rentenzulage ihrer Höhe nach einen Prozentsatz des Betrags der Altersrente ausmache, profitierten zudem Personen mit hohen Altersrenten stärker davon, während bei diesen Personen die Wahrscheinlichkeit am geringsten sei, dass sie durch die Erziehung ihrer Kinder einen Nachteil in ihrer beruflichen Laufbahn erlitten, da sie insbesondere über die finanziellen Mittel verfügten, um Dritte für die Kindererziehung einzustellen.
44 Schließlich sehe die LGSS g. F. nunmehr vor, dass, wenn beide Elternteile Anspruch auf die betreffende Rentenzulage hätten, allein die niedrigere der Altersrenten beider Elternteile durch diese Zulage ergänzt werde. Auch wenn es im vorliegenden Fall allein um den Anspruch des Vaters auf die Zulage gehe, stelle sich insoweit gleichwohl die Frage, ob es zur Erreichung des mit der LGSS g. F. verfolgten Ziels, das Gefälle zwischen Frauen und Männern bei den Altersrenten zu verringern, und zur Gewährleistung der Vereinbarkeit von Art. 60 LGSS g. F. mit Art. 23 der Charta oder gegebenenfalls mit Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 79/7 nicht ausgereicht hätte, die Rentenzulage unabhängig vom Geschlecht des Elternteils nur dem Elternteil zu gewähren, der die geringere Altersrente beziehe.
45 Vor diesem Hintergrund hat das Tribunal Superior de Justicia de Madrid (Obergericht Madrid) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Sind die Richtlinie 79/7 sowie die Art. 20, 21, 23 und Art. 34 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegenstehen, die für Empfänger beitragsbezogener Altersrenten, die leibliche oder adoptierte Kinder hatten, einen Anspruch auf eine Rentenzulage vorsieht, der Frauen jedoch ohne Weiteres zuerkannt wird, während in Bezug auf Männer verlangt wird, dass sie entweder eine Witwerrente wegen des Todes des anderen Elternteils beziehen und eines der Kinder eine Waisenrente bezieht oder dass ihre berufliche Laufbahn anlässlich der Geburt oder der Adoption des Kindes eine Unterbrechung oder Beeinträchtigung (im Sinne der gesetzlichen Regelung und wie zuvor beschrieben) erfahren hat?
46 Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 13. Dezember 2023 sind die Rechtssachen C‑623/23 und C‑626/23 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren sowie zu gemeinsamem Urteil verbunden worden.
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage in der Rechtssache C ‑623/23 und zur einzigen Frage in der Rechtssache C ‑626/23
47 Vorab ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht in der Rechtssache C‑626/23 mit seiner Frage um die Auslegung nicht nur der Richtlinie 79/7, sondern auch der Art. 20, 21, 23 und Art. 34 Abs. 1 der Charta ersucht.
48 Was die Art. 20 und 21 der Charta betrifft, sind darin der Grundsatz der Gleichheit jeder Person vor dem Gesetz (Art. 20) und das Verbot jeder Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts (Art. 21) normiert. Außerdem geht es bei Art. 34 Abs. 1 der Charta u. a. um die Anerkennung und die Achtung des Rechts auf Zugang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit durch die Europäische Union.
49 In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die Richtlinie 79/7 den Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit konkretisiert, so dass die Mitgliedstaaten unter Beachtung dieser Richtlinie vorgehen müssen, wenn sie Maßnahmen treffen, die in deren Anwendungsbereich fallen. Folglich ist die vom vorlegenden Gericht in der Rechtssache C‑626/23 gestellte Frage anhand der Richtlinie 79/7 und nicht der genannten Bestimmungen der Charta zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. September 2020, YS [Betriebspensionen leitender Angestellter] , C‑223/19, EU:C:2020:753, Rn. 83 und 84, sowie vom 2. September 2021, INPS [Geburts- und Mutterschaftsbeihilfen für Inhaber einer kombinierten Erlaubnis] , C‑350/20, EU:C:2021:659, Rn. 46 und 47).
50 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass die vorlegenden Gerichte mit der ersten Frage in der Rechtssache C‑623/23 und der einzigen Frage in der Rechtssache C‑626/23, die zusammen zu prüfen sind, im Wesentlichen wissen möchten, ob die Richtlinie 79/7, insbesondere ihr Art. 4 und ihr Art. 7 Abs. 1 Buchst. b, im Licht von Art. 23 der Charta dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der zur Verringerung des durch die Kindererziehung bedingten Gefälles zwischen Männern und Frauen bei Leistungen der sozialen Sicherheit Frauen, die eine beitragsbezogene Altersrente beziehen und ein oder mehrere Kinder hatten, eine Rentenzulage gewährt wird, während die Gewährung dieser Zulage an Männer, die sich in der gleichen Situation befinden, an zusätzliche Voraussetzungen dahin geknüpft ist, dass ihre berufliche Laufbahn anlässlich der Geburt oder der Adoption ihrer Kinder eine Unterbrechung oder Beeinträchtigung erfahren hat.
51 Nach ihrem Art. 3 Abs. 1 Buchst. a findet die Richtlinie 79/7 Anwendung auf die gesetzlichen Systeme, die Schutz u. a. gegen Alter bieten. Außerdem beinhaltet gemäß Art. 4 Abs. 1 dritter Gedankenstrich dieser Richtlinie der Grundsatz der Gleichbehandlung den Fortfall jeglicher unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe- oder Familienstand, bei der Berechnung der Leistungen.
52 Wie die vorlegenden Gerichte ausführen, hat der Gerichtshof in den Rn. 39, 41, 66 und 67 seines Urteils vom 12. Dezember 2019, Instituto Nacional de la Seguridad Social (Rentenzulage für Mütter) (C‑450/18, EU:C:2019:1075), im Wesentlichen bereits geurteilt, dass die Richtlinie 79/7 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, die für Frauen, die zwei oder mehr leibliche oder adoptierte Kinder hatten und von einer Untergliederung des Systems der nationalen sozialen Sicherheit eine beitragsbezogene Rente – namentlich bei dauernder Invalidität – erhalten, einen Anspruch auf eine Rentenzulage vorsieht, während Männer, die sich in der gleichen Situation befinden, keinen solchen Anspruch haben, da eine solche Regelung eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Sinne von Art. 4 Abs. 1 dritter Gedankenstrich dieser Richtlinie darstellt.
53 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Erläuterungen der vorlegenden Gerichte, dass die nationale Regelung, zu der jenes Urteil erging, nämlich die Regelung von Art. 60 Abs. 1 LGSS a. F., u. a. dahin geändert wurde, dass nunmehr nicht mehr nur Frauen Anspruch auf eine solche Rentenzulage haben, sondern auch Männer, sofern sie zusätzliche Voraussetzungen dahin erfüllen, dass ihre berufliche Laufbahn anlässlich der Geburt oder der Adoption ihrer Kinder eine Unterbrechung oder Beeinträchtigung erfahren hat, und insbesondere, was die Ausgangsrechtsstreitigkeiten betrifft, die Voraussetzung, dass sie in den neun Monaten vor und den drei Jahren nach der Geburt ihrer Kinder über mehr als 120 Tage keine Beiträge entrichtet haben.
54 Nach Angabe des INSS und der spanischen Regierung gründet die LGSS g. F., wie sich aus der dazugehörigen Gesetzesbegründung ergebe, auf der Annahme, dass grundsätzlich die Kindererziehung von den Frauen übernommen werde, und zwar zulasten ihres beruflichen Fortkommens. Diese Annahme wiederum beruhe auf der empirischen Feststellung, dass die Erziehung der Kinder durch ihre Mutter die berufliche Laufbahn der Mutter entscheidend beeinträchtige. Widerlegt werden könne die Annahme nur, wenn feststehe, dass die für Männer gemäß Art. 60 Abs. 1 LGSS g. F. geltenden Voraussetzungen erfüllt seien. Die Erfüllung dieser Voraussetzungen erlaube dann die Annahme, dass sich in Wirklichkeit der Mann der Kindererziehung gewidmet habe.
55 Hierzu ist als Erstes zum einen mit den vorlegenden Gerichten und der Europäischen Kommission festzustellen, dass mit den Änderungen der LGSS a. F. die im Vergleich zu den Frauen ungünstigere Behandlung der Männer nicht abgestellt wurde.
56 Nur Männer müssen nämlich, um Anspruch auf die in Rede stehende Rentenzulage zu haben, die oben in Rn. 53 angeführten zusätzlichen Voraussetzungen erfüllen. Somit reicht die Eigenschaft als Elternteil nicht aus, damit Männer, die eine Altersrente beziehen, diese Zulage gewährt bekommen können, während sie für Frauen in gleicher Stellung ausreichend ist.
57 Zum anderen ist entsprechend den Erwägungen in den Rn. 42 bis 45 des Urteils vom 12. Dezember 2019, Instituto Nacional de la Seguridad Social (Rentenzulage für Mütter) (C‑450/18, EU:C:2019:1075), zu prüfen, ob die unterschiedliche Behandlung von Männern und Frauen, die durch die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung herbeigeführt wird, Personengruppen betrifft, die sich in vergleichbaren Situationen befinden.
58 Zu beurteilen ist die Vergleichbarkeit der Situationen insbesondere nicht allgemein und abstrakt, sondern spezifisch und konkret anhand aller diese Situationen kennzeichnenden Merkmale im Licht namentlich des Gegenstands und Ziels der nationalen Regelung, mit der die fragliche Unterscheidung eingeführt wird, sowie gegebenenfalls der Grundsätze und Ziele des Regelungsbereichs, dem diese nationale Regelung unterfällt (Urteil vom 12. Dezember 2019, Instituto Nacional de la Seguridad Social [Rentenzulage für Mütter], C‑450/18, EU:C:2019:1075, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
59 Im vorliegenden Fall geht aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte und dem Wortlaut der nationalen Regelung selbst hervor, dass mit dieser bezweckt wird, das geschlechtsspezifische Gefälle im Bereich der sozialen Sicherheit durch den Ausgleich des finanziellen Nachteils zu verringern, den die Mütter in ihrer beruflichen Laufbahn aufgrund ihrer führenden Rolle bei der Erziehung ihrer Kinder erlitten und der sich insbesondere in der Zahlung verminderter Beiträge zum System der sozialen Sicherheit und damit in der Gewährung geringerer Leistungen der sozialen Sicherheit äußere.
60 Der Gerichtshof hat aber bereits entschieden, dass sich im Hinblick auf ein solches Ziel nicht ausschließen lässt, dass sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die die Erziehung ihrer Kinder übernommen haben, in einer vergleichbaren Situation befinden, da die einen wie die anderen wegen ihres Einsatzes bei der Erziehung ihrer Kinder die gleichen Laufbahnnachteile erleiden können. Diese Beurteilung wird nicht durch den vom INSS und der spanischen Regierung hervorgehobenen Umstand in Frage gestellt, dass die mit der Kindererziehung verbundenen Aufgaben etwa in der Praxis mehrheitlich von Frauen wahrgenommen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Dezember 2019, Instituto Nacional de la Seguridad Social [Rentenzulage für Mütter], C‑450/18, EU:C:2019:1075, Rn. 50 bis 52).
61 Demnach erfahren Männer durch eine nationale Regelung wie Art. 60 Abs. 1 LGSS g. F. eine weniger günstige Behandlung als Frauen, obwohl sich beide in vergleichbaren Situationen befinden können.
62 Eine solche Regelung begründet somit eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7.
63 Als Zweites ist daran zu erinnern, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Abweichung von dem in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7 aufgestellten Verbot jeglicher unmittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts nur in den in der Richtlinie abschließend aufgezählten Fällen zulässig ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Dezember 2019, Instituto Nacional de la Seguridad Social [Rentenzulage für Mütter], C‑450/18, EU:C:2019:1075, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).
64 Insoweit ist, was zum einen Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 79/7 betrifft, wonach der Grundsatz der Gleichbehandlung den Bestimmungen zum Schutz der Frau wegen Mutterschaft nicht entgegensteht, festzustellen, dass, wie auch das vorlegende Gericht in der Rechtssache C‑623/23 ausführt, Art. 60 Abs. 1 LGSS g. F. nichts enthält, was einen Zusammenhang zwischen der Gewährung der in Rede stehenden Rentenzulage und der Inanspruchnahme von Mutterschaftsurlaub oder den Nachteilen herstellen würde, die einer Frau etwa in ihrer Berufslaufbahn entstehen, weil sie in der Zeit nach der Entbindung nicht erwerbstätig ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Dezember 2019, Instituto Nacional de la Seguridad Social [Rentenzulage für Mütter], C‑450/18, EU:C:2019:1075, Rn. 57).
65 Diese Feststellung findet auch, wie von der Kommission ausgeführt, schon darin Bestätigung, dass die in Rede stehende Rentenzulage unter den oben in Rn. 53 angeführten zusätzlichen Voraussetzungen nunmehr auch Männern gewährt werden kann.
66 Daher fällt eine Rentenzulage wie die in den Ausgangsverfahren streitige nicht in den Anwendungsbereich der in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 79/7 vorgesehenen Ausnahme vom Diskriminierungsverbot.
67 Zum anderen steht die Richtlinie 79/7 nach ihrem Art. 7 Abs. 1 Buchst. b nicht der Befugnis der Mitgliedstaaten entgegen, die Vergünstigungen, die Personen, welche Kinder aufgezogen haben, auf dem Gebiet der Altersversicherung gewährt werden, und den Erwerb von Ansprüchen auf Leistungen im Anschluss an Zeiträume der Beschäftigungsunterbrechung wegen Kindererziehung von ihrem Anwendungsbereich auszuschließen.
68 Insoweit trifft zwar zu, dass Art. 60 Abs. 1 Buchst. b Nrn. 1 und 2 LGSS g. F. für Männer Voraussetzungen aufstellt, die namentlich darauf abzielen, die Gewährung der in Rede stehenden Rentenzulage allein auf diejenigen Arbeitnehmer zu beschränken, deren berufliche Laufbahn anlässlich der Geburt oder der Adoption ihrer Kinder eine Unterbrechung oder Beeinträchtigung erfahren hat, doch geht aus den Erläuterungen der vorlegenden Gerichte hervor, dass diese Vorschrift die entsprechende Gewährung für Frauen weiterhin nicht von der Kindererziehung oder vom Vorhandensein von Zeiten der Unterbrechung ihrer beruflichen Laufbahn wegen der Erziehung ihrer Kinder abhängig macht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Dezember 2019, Instituto Nacional de la Seguridad Social [Rentenzulage für Mütter] , C‑450/18, EU:C:2019:1075, Rn. 62).
69 Mithin kann Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 79/7 auf eine solche Rentenzulage keine Anwendung finden.
70 Als Drittes ist zu prüfen, ob die oben in Rn. 62 festgestellte Diskriminierung, die in Art. 60 Abs. 1 LGSS g. F. begründet liegt, nach Art. 23 der Charta gerechtfertigt werden kann.
71 Art. 23 Abs. 2 der Charta zufolge steht der Grundsatz der Gleichheit der Beibehaltung oder der Einführung spezifischer Vergünstigungen für das unterrepräsentierte Geschlecht nicht entgegen. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass Art. 23 Abs. 2 der Charta, wie sich aus den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) ergibt, „in einer kürzeren Formulierung“ Art. 157 Abs. 4 AEUV übernimmt, diesen aber „[nicht] ändert“.
72 Nach Art. 157 Abs. 4 AEUV hindert der Grundsatz der Gleichbehandlung im Hinblick auf die effektive Gewährleistung der vollen Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsleben die Mitgliedstaaten nicht daran, zur Erleichterung der Berufstätigkeit des unterrepräsentierten Geschlechts oder zur Verhinderung bzw. zum Ausgleich von Benachteiligungen in der beruflichen Laufbahn spezifische Vergünstigungen beizubehalten oder zu beschließen.
73 Das INSS ist der Auffassung, dass Art. 60 Abs. 1 LGSS g. F. unter diese Bestimmung falle, da er als eine positive Maßnahme im Rahmen der Verfolgung des in seiner Bedeutung auf Unionsebene anerkannten Ziels anzusehen sei, das Gefälle zwischen Männern und Frauen bei den Altersrenten auszugleichen, das darauf zurückgehe, dass die Frauen historisch gesehen eine Hauptrolle bei der Kindererziehung eingenommen hätten. Die in Rede stehende Rentenzulage sei Teil eines vom Königreich Spanien erlassenen Maßnahmenpakets, bei dem es u. a. um Maßnahmen gehe, mit denen die gemeinschaftliche Verantwortung der Eltern bei der Vereinbarung von Familien- und Berufsleben gefördert werden solle, um so die in Art. 157 Abs. 4 AEUV genannten Ziele zu erreichen. Art. 60 Abs. 1 LGSS g. F. erlaube es so, diese anderen Maßnahmen zu ergänzen, indem die Nachteile ausgeglichen würden, die Frauen in ihrer beruflichen Laufbahn aufgrund der Erziehung ihrer Kinder erlitten hätten und die sich am Ende ihres Berufslebens auf ihre Altersrenten niederschlügen.
74 Hierzu ist daran zu erinnern, dass der Gerichtshof in Rn. 65 des Urteils vom 12. Dezember 2019, Instituto Nacional de la Seguridad Social (Rentenzulage für Mütter) (C‑450/18, EU:C:2019:1075), im Wesentlichen geurteilt hat, dass Art. 157 Abs. 4 AEUV keine Anwendung auf eine nationale Regelung wie Art. 60 Abs. 1 LGSS a. F. finden kann, nach der Frauen lediglich mit der Verrentung eine Rentenzulage gewährt wird, ohne den Schwierigkeiten abzuhelfen, auf die sie während ihrer beruflichen Laufbahn stoßen können, da eine solche Rentenzulage nicht geeignet ist, die Nachteile, die Frauen hinzunehmen haben, dadurch auszugleichen, dass ihnen in der beruflichen Laufbahn geholfen wird, und damit die volle Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsleben effektiv zu gewährleisten.
75 Dieselben Erwägungen gelten auch, was Art. 60 Abs. 1 LGSS g. F. betrifft. Insoweit kann der Umstand, dass diese Bestimmung – soweit dies erwiesen sein sollte – andere Maßnahmen ergänzt, die ihrerseits dazu bestimmt sind, die in Art. 157 Abs. 4 AEUV genannten Ziele zu erreichen, als solcher an dieser Schlussfolgerung nichts ändern.
76 Daher ist festzustellen, dass eine nationale Regelung wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht nach Art. 23 der Charta gerechtfertigt werden kann.
77 Nach alledem ist auf die erste Frage in der Rechtssache C‑623/23 und die einzige Frage in der Rechtssache C‑626/23 zu antworten, dass die Richtlinie 79/7, insbesondere ihr Art. 4 und ihr Art. 7 Abs. 1 Buchst. b, im Licht von Art. 23 der Charta dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der zur Verringerung des durch die Kindererziehung bedingten Gefälles zwischen Männern und Frauen bei Leistungen der sozialen Sicherheit Frauen, die eine beitragsbezogene Altersrente beziehen und ein oder mehrere Kinder hatten, eine Rentenzulage gewährt wird, während die Gewährung dieser Zulage an Männer, die sich in der gleichen Situation befinden, an zusätzliche Voraussetzungen dahin geknüpft ist, dass ihre berufliche Laufbahn anlässlich der Geburt oder der Adoption ihrer Kinder eine Unterbrechung oder Beeinträchtigung erfahren hat.
Zur zweiten Frage in der Rechtssache C ‑623/23
Zur Zulässigkeit
78 Das INSS und die spanische Regierung machen geltend, die zweite Frage in der Rechtssache C‑623/23, bei der es darum gehe, welche Auswirkung die Gewährung der in Rede stehenden Rentenzulage an den Vater auf die Beibehaltung der bereits der Mutter gewährten Zulage haben könne, sei unzulässig, da der etwaige Wegfall dieser Zulage für die Mutter der betreffenden Kinder im Ausgangsrechtsstreit nicht in Rede stehe.
79 Nach ständiger Rechtsprechung ist es insoweit im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 24. Februar 2022, TGSS [Arbeitslosigkeit von Hausangestellten] , C‑389/20, EU:C:2022:120, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).
80 Folglich gilt für Fragen, die das Unionsrecht betreffen, eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, das Problem hypothetischer Natur ist oder er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 24. Februar 2022, TGSS [Arbeitslosigkeit von Hausangestellten] , C‑389/20, EU:C:2022:120, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
81 Im vorliegenden Fall scheint zwar die Frage des Wegfalls der Rentenzulage für die Mutter als solche nicht Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits zu sein. Allerdings „erlischt“ nach Art. 60 Abs. 2 LGSS g. F. „[m]it der Gewährung der Zulage an den zweiten Elternteil … die bereits dem ersten Elternteil zuerkannte Zulage“, so dass dieser Elternteil zu hören ist, „[b]evor die Entscheidung ergeht, mit der der Anspruch dem zweiten Elternteil zuerkannt wird“. Im Übrigen ergibt sich aus den Angaben des vorlegenden Gerichts, dass die Mutter im Ausgangsrechtsstreit als Beteiligte vor Gericht geladen wurde.
82 Unter diesen Umständen kann nicht ausgeschlossen werden, dass das vorlegende Gericht bei der Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits unter Beachtung der anwendbaren Verfahrensvorschriften die Möglichkeit eines solchen Wegfalls in Erwägung ziehen muss. Folglich steht die Vereinbarkeit eines solchen Wegfalls mit dem Unionsrecht nicht offensichtlich in keinem Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits.
83 Die spanische Regierung ist des Weiteren der Ansicht, die Richtlinie 79/7 stehe in keinem Zusammenhang mit dem Gegenstand der zweiten Frage in der Rechtssache C‑623/23, da das vorlegende Gericht nicht angegeben habe, gegen welche der Bestimmungen dieser Richtlinie verstoßen würde, wenn die Feststellung des diskriminierenden Charakters der im Ausgangsverfahren streitigen nationalen Regelung den Wegfall der in Rede stehenden Rentenzulage für die Mutter nach sich zöge.
84 Hierzu genügt die Feststellung, dass die Zweifel des vorlegenden Gerichts darauf zurückgehen, dass ein solcher Wegfall seiner Ansicht nach der Feststellung des diskriminierenden Charakters dieser nationalen Regelung im Hinblick auf die Richtlinie 79/7 jede praktische Wirksamkeit nehmen könnte. Somit lässt sich der Zusammenhang verstehen, den das vorlegende Gericht zwischen dem Wegfall der in Rede stehenden Rentenzulage für die Mutter und den Anforderungen dieser Richtlinie herstellt.
85 Demnach ist die zweite Frage in der Rechtssache C‑623/23 zulässig.
Zur Beantwortung der Frage
86 Mit seiner zweiten Frage in der Rechtssache C‑623/23 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 79/7 dahin auszulegen ist, dass sie daran hindert, dass in dem Fall, dass ein Antrag auf Rentenzulage abgelehnt wurde, den ein Vater nach einer nationalen Regelung gestellt hat, die für im Sinne dieser Richtlinie unmittelbar aufgrund des Geschlechts diskriminierend befunden wird, und dem Vater diese Zulage daher gemäß den für Mütter geltenden Voraussetzungen zu gewähren ist, eine solche Gewährung den Wegfall der bereits der Mutter gewährten Rentenzulage nach sich zieht, da die Zulage nach der betreffenden Regelung nur dem Elternteil gewährt werden kann, der eine niedrigere Altersrente bezieht, und dieser Elternteil der Vater ist.
87 Nach gefestigter Rechtsprechung kann die Wahrung des Gleichheitsgrundsatzes, wenn eine unionsrechtswidrige Diskriminierung festgestellt worden ist und solange keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Gleichbehandlung erlassen worden sind, nur dadurch sichergestellt werden, dass den Angehörigen der benachteiligten Gruppe dieselben Vorteile gewährt werden wie den Angehörigen der begünstigten Gruppe. In einem derartigen Fall ist das nationale Gericht gehalten, eine diskriminierende nationale Bestimmung außer Anwendung zu lassen, ohne dass es ihre vorherige Aufhebung durch den Gesetzgeber beantragen oder abwarten müsste, und auf die Angehörigen der benachteiligten Gruppe eben die Regelung anzuwenden, die für die Angehörigen der anderen Gruppe gilt (Urteil vom 14. September 2023, TGSS [Verweigerung der Mutterschaftszulage] , C‑113/22, EU:C:2023:665, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
88 Im vorliegenden Fall führt zwar, was die in Rede stehende Rentenzulage betrifft, die Anwendung der für die Mutter geltenden Regelung auch auf den Vater dazu, dass dem Vater diese Zulage gewährt wird und gleichzeitig die bereits der Mutter gewährte Zulage wegfällt, da zum einen die betreffende Zulage nach der nationalen Regelung nur einem Elternteil, nämlich demjenigen mit der niedrigeren Rente, gewährt werden kann und zum anderen die Mutter die höhere Rente bezieht, doch kann nicht davon ausgegangen werden, dass mit diesem Wegfall der Feststellung des diskriminierenden Charakters der nationalen Regelung, nach der den Vätern diese Zulage vorenthalten wurde, die praktische Wirksamkeit genommen wird.
89 Der Wegfall ist nämlich nur die Folge dessen, dass auf den Vater dieselben Voraussetzungen angewandt werden, die auch für die Mütter gelten, wenn es um die Gewährung der in Rede stehenden Rentenzulage geht.
90 Ebenso verhielte es sich bei der vom vorlegenden Gericht angesprochenen Konstellation, in der die höhere Rente vom Vater bezogen und die Zulage deshalb allein der Mutter gewährt würde.
91 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, das nationale Recht auszulegen und zu beurteilen, ob dieses die Beibehaltung der bereits der Mutter gewährten Rentenzulage zulässt, wenn der Vater die in Rede stehende Rentenzulage unter denselben Voraussetzungen wie Mütter beanspruchen kann, wobei das vorlegende Gericht offenbar davon ausgeht, dass die Bestimmung, wonach diese Zulage allein dem Elternteil mit der niedrigeren Rente gewährt wird, nicht anwendbar ist, „wenn die Zulage dem Vater gewährt wird, der die Voraussetzungen einer nationalen Vorschrift, die eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts begründet, nicht erfüllt“.
92 Wenn das vorlegende Gericht feststellt, dass das nationale Recht eine solche Beibehaltung zulässt, verlangt das Unionsrecht, wie die Kommission zu Recht ausgeführt hat, nicht, dass eine Rentenzulage wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende der Personengruppe, die bereits in ihren Genuss kommt, entzogen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2011, Landtová , C‑399/09, EU:C:2011:415, Rn. 53).
93 Nach alledem ist auf die zweite Frage in der Rechtssache C‑623/23 zu antworten, dass die Richtlinie 79/7 dahin auszulegen ist, dass sie nicht daran hindert, dass in dem Fall, dass ein Antrag auf Rentenzulage abgelehnt wurde, den ein Vater nach einer nationalen Regelung gestellt hat, die für im Sinne dieser Richtlinie unmittelbar aufgrund des Geschlechts diskriminierend befunden wird, und dem Vater diese Zulage daher gemäß den für Mütter geltenden Voraussetzungen zu gewähren ist, eine solche Gewährung den Wegfall der bereits der Mutter gewährten Rentenzulage nach sich zieht, da die Zulage nach der betreffenden Regelung nur dem Elternteil gewährt werden kann, der eine niedrigere Altersrente bezieht, und dieser Elternteil der Vater ist.
Kosten
94 Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil der bei den vorlegenden Gerichten anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieser Gerichte. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:
1. Die Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit, insbesondere ihr Art. 4 und ihr Art. 7 Abs. 1 Buchst. b,
ist im Licht von Art. 23 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass
sie einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der zur Verringerung des durch die Kindererziehung bedingten Gefälles zwischen Männern und Frauen bei Leistungen der sozialen Sicherheit Frauen, die eine beitragsbezogene Altersrente beziehen und ein oder mehrere Kinder hatten, eine Rentenzulage gewährt wird, während die Gewährung dieser Zulage an Männer, die sich in der gleichen Situation befinden, an zusätzliche Voraussetzungen dahin geknüpft ist, dass ihre berufliche Laufbahn anlässlich der Geburt oder der Adoption ihrer Kinder eine Unterbrechung oder Beeinträchtigung erfahren hat.
2. Die Richtlinie 79/7
ist dahin auszulegen, dass
sie nicht daran hindert, dass in dem Fall, dass ein Antrag auf Rentenzulage abgelehnt wurde, den ein Vater nach einer nationalen Regelung gestellt hat, die für im Sinne dieser Richtlinie unmittelbar aufgrund des Geschlechts diskriminierend befunden wird, und dem Vater diese Zulage daher gemäß den für Mütter geltenden Voraussetzungen zu gewähren ist, eine solche Gewährung den Wegfall der bereits der Mutter gewährten Rentenzulage nach sich zieht, da die Zulage nach der betreffenden Regelung nur dem Elternteil gewährt werden kann, der eine niedrigere Altersrente bezieht, und dieser Elternteil der Vater ist.
Unterschriften