Vorläufige Fassung
SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN
JULIANE KOKOTT
vom 15. Oktober 2020(1 )
Rechtssache C ‑562/19 P
Europäische Kommission
gegen
Republik Polen
„Rechtsmittel – Staatliche Beihilfen – Einzelhandelsteuer – Art. 107 Abs. 1 AEUV – Vorteil und Selektivität – Prüfungsmaßstab bei der Schaffung des Referenzsystems – Kohärenz des Referenzsystems – Vorteil bei progressivem Steuersatz – Ungleichbehandlung – Rechtfertigungsgründe für ungleiche Behandlung – Aufhebung des Negativbeschlusses und gleichzeitige Überprüfung des Eröffnungsbeschlusses und einer Aussetzungsanordnung“
I. Einleitung
1. Das vorliegende Rechtsmittel gibt dem Gerichtshof die Möglichkeit, sich erneut(2 ) mit der Überprüfung eines neu geschaffenen Steuergesetzes am Maßstab des Beihilfenrechts zu beschäftigen. Dem internationalen Trend folgend hat Polen eine direkte Unternehmenssteuer nicht am Gewinn, sondern am Umsatz ausgerichtet und dafür eine progressive Tarifstruktur gewählt. Damit sollen – ähnlich wie in der von der Kommission vorgeschlagenen EU-Digitalsteuer(3 ) – vor allem Unternehmen mit hohen Umsätzen (mithin große Unternehmen) erfasst und besteuert werden.
2. Da der durchschnittliche Steuersatz mit der Größe des Umsatzes steigt, erfolgt damit eine gewisse Verschonung bzw. Umverteilung der Steuerlast zugunsten der „kleineren“ Unternehmen. Auch wenn sich die geplante Digitalsteuer auf EU-Ebene und die Einzelhandelsteuer in Polen insoweit ähneln, sieht die Kommission in der polnischen Steuer eine Beihilfe zugunsten der „zu niedrig besteuerten“ kleineren Unternehmen. Deswegen hatte die Kommission bereits im Vorhinein die Durchführung dieses Gesetzes bis zum Abschluss des Prüfverfahrens untersagt, was Polen – ähnlich wie Ungarn in einem Parallelverfahren(4 ) – als Eingriff in seine Steuerautonomie wertet.
3. Damit wirft das Rechtsmittel nicht nur die Frage auf, ob eine progressive Unternehmenssteuer überhaupt einen selektiven Vorteil im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV darstellen kann. Einen solchen hat das Gericht in seinem erstinstanzlichen Urteil verneint.(5 ) Es stellt sich auch die Frage, ob das Beihilferecht das richtige Instrumentarium ist, um die nationale Steuergesetzgebung in dieser Tiefe zu überprüfen und, wie hier geschehen, über Jahre zu blockieren. Damit verbunden ist die Frage, ob im Beihilferecht der Prüfungsmaßstab bezüglich ganzer (allgemein gehaltener) Steuergesetze nicht ein anderer sein sollte als bei individuellen Zuwendungen.
4. Zu bedenken ist auch, dass über die Grundfreiheiten bereits eine intensive Diskriminierungskontrolle stattfindet. Vorliegend hat der Gerichtshof bereits zwei ähnliche umsatzbasierte direkte Unternehmenssteuern in Ungarn mit ihrer Umverteilungslogik als mit den Grundfreiheiten vereinbar beurteilt.(6 ) Zwar sind die Vergleichsgruppen unterschiedlich, worauf die Kommission in der mündlichen Verhandlung zutreffend hingewiesen hat: Die Grundfreiheiten verbieten im Steuerrecht eine Benachteiligung der ausländischen Unternehmen, das Beihilfeverbot einer Bevorzugung „bestimmter Unternehmen“. Beide Diskriminierungsverbote dienen aber der Verwirklichung des Binnenmarktes. Ist eine Maßnahme mit dem Diskriminierungsverbot der Grundfreiheiten vereinbar, dürfte sie in der Regel auch keine binnenmarktwidrige Beihilfe sein.
II. Rechtlicher Rahmen
5. Den rechtlichen Rahmen bilden die Art. 107 ff. AEUV. Das Verfahren bei rechtswidrigen Beihilfen ist in Kapitel III der Verordnung (EU) 2015/1589 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Art. 108 AEUV(7 ) (im Folgenden: Verordnung 2015/1589) geregelt.
6. Deren Art. 13 Abs. 1 lautet:
„Die Kommission kann, nachdem sie dem betreffenden Mitgliedstaat Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat, einen Beschluss erlassen, mit dem dem Mitgliedstaat aufgegeben wird, alle rechtswidrigen Beihilfen so lange auszusetzen, bis die Kommission einen Beschluss über die Vereinbarkeit der Beihilfe mit dem Binnenmarkt erlassen hat (im Folgenden ‚Aussetzungsanordnung‘).“
III. Hintergrund des Rechtsstreits
7. Zu Beginn des Jahres 2016 fasste die polnische Regierung die Einführung einer neuen Einzelhandelsteuer ins Auge. Diese sollte auf den Umsatz erhoben werden und progressiv ausgestaltet sein. Nachdem die Kommission von diesem Vorhaben Kenntnis erhalten hatte, übermittelte sie den polnischen Behörden ein Auskunftsersuchen und führte dabei Folgendes aus.
8. „Die Sätze der von den Unternehmen gezahlten progressiven Umsatzsteuer knüpfen de facto an die Größe des Unternehmens an und nicht an seine Rentabilität oder Solvenz. Sie führen zu einer Diskriminierung zwischen Unternehmen und sind geeignet, schwerwiegende Störungen des Marktes zu verursachen. Da sie zu einer Ungleichbehandlung von Unternehmen führen, wurden sie als selektiv angesehen. Da alle Voraussetzungen des Art. 107 Abs. 1 AEUV erfüllt sind“, führen sie zu staatlichen Beihilfen im Sinne dieses Artikels.
9. Am 6. Juli 2016 verabschiedete Polen das Gesetz über die Einzelhandelsteuer. Besteuerungsgegenstand ist der Verkauf von Waren im Einzelhandel an natürliche Personen als Verbraucher. Steuerschuldner sind alle Einzelhändler ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform. Bemessungsgrundlage ist der monatliche Umsatz, soweit er 17 Mio. Złoty (PLN) übersteigt, d. h. ungefähr 4 Mio. Euro. Der Steuersatz beträgt 0,8 % für die Umsatzstufe zwischen 17 und 170 Mio. PLN pro Monat und 1,4 % für den Teil des monatlichen Umsatzes, der darüber liegt. Das fragliche Gesetz trat am 1. September 2016 in Kraft.
10. Nach einigem Schriftwechsel zwischen den polnischen Behörden und der Kommission eröffnete diese mit Beschluss vom 19. September 2016 über die staatliche Beihilfe SA.44351 (2016/C) (ex 2016/NN) (im Folgenden: Eröffnungsbeschluss)(8 ) das Verfahren nach Art. 108 Abs. 2 AEUV in Bezug auf die in Rede stehende Maßnahme. Mit diesem Beschluss setzte die Kommission den Beteiligten nicht nur eine Frist zur Äußerung, sondern gab den polnischen Behörden auch gemäß Art. 13 Abs. 1 der Verordnung 2015/1589 auf, unverzüglich „die Anwendung des progressiven Steuersatzes [auszusetzen], bis die Kommission einen Beschluss über seine Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt erlassen hat“. Polen setzte daraufhin die Einführung der geplanten Steuer aus.
11. Die polnische Regierung klagte am 30. November 2016 beim Gericht parallel zu den Gesprächen mit der Kommission auf Nichtigerklärung des Eröffnungsbeschlusses (Rechtssache T‑836/16). Durch Beschluss des Präsidenten der Neunten Kammer des Gerichts vom 27. April 2017 ist Ungarn als Streithelfer der Republik Polen zugelassen worden.
12. Die Kommission beendete das Beihilfeverfahren mit dem Beschluss (EU) 2018/160 vom 30. Juni 2017 über die staatliche Beihilfe SA.44351 (2016/C) (ex 2016/NN), die Polen in Bezug auf die Einzelhandelsteuer gewährt hat (im Folgenden: Negativbeschluss).(9 )
13. Die Kommission führte darin aus, dass die in Rede stehende Maßnahme eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfe darstelle und rechtswidrig in Kraft gesetzt worden sei. Die polnischen Behörden müssten auf alle gemäß dem Eröffnungsbeschluss ausgesetzten Zahlungen endgültig verzichten. Da die in Rede stehende Maßnahme nicht tatsächlich durchgeführt worden war, sei keine Rückforderung eines Beihilfenelements von den Begünstigten vorzunehmen.
14. Die polnische Regierung klagte am 13. September 2017 beim Gericht ebenfalls auf Nichtigerklärung des Negativbeschlusses (Rechtssache T‑624/17). Durch Beschluss des Präsidenten der Neunten Kammer des Gerichts vom 12. Januar 2018 ist Ungarn als Streithelfer der Republik Polen zugelassen worden.
15. Im Eröffnungsbeschluss und im Negativbeschluss (im Folgenden gemeinsam: die angefochtenen Beschlüsse), mit ergänzenden Ausführungen zu bestimmten Aspekten im Negativbeschluss, begründete die Kommission die Einstufung der in Rede stehenden Maßnahme als staatliche Beihilfe im Hinblick auf die Definition in Art. 107 Abs. 1 AEUV im Wesentlichen wie folgt.
16. Zunächst profitierten Unternehmen mit geringem Umsatz aufgrund des Gesetzes über die Einzelhandelsteuer von einer steuerlichen Vergünstigung gegenüber anderen Unternehmen, die diese Steuer zu entrichten hätten. Der Verzicht des Staates auf Steuereinnahmen, die er verbucht hätte, wenn alle Unternehmen zu demselben effektiven Durchschnittssteuersatz besteuert worden wären, führe zu einer Übertragung von staatlichen Mitteln auf begünstigte Unternehmen. Dabei hätten der Null-Steuersatz bzw. der niedrigere Durchschnittssteuersatz für Unternehmen mit geringem Umsatz im Vergleich zu den höheren Durchschnittssteuersätzen für Unternehmen mit einem höheren Umsatz Ersteren einen Vorteil verschafft.
17. Darüber hinaus vertrat die Kommission die Ansicht, dass das maßgebliche Referenzsystem zur Bestimmung eines selektiven Vorteils die Einzelhandelsteuer sei, einschließlich der Unternehmen mit einem Umsatz unter 17 Mio. PLN, aber ohne die progressive Struktur der Besteuerung. Da die progressive Struktur der Besteuerung für die Unternehmen nicht nur unterschiedliche Grenzsteuersätze, sondern auch unterschiedliche Durchschnittssteuersätze zur Folge habe, stelle sie eine Abweichung vom Referenzsystem mit unterstelltem Einheitssteuersatz dar.
18. Die in der progressiven Struktur der Besteuerung liegende Abweichung vom Referenzsystem sei dabei nicht durch die Natur oder den inneren Aufbau des Systems gerechtfertigt. Im Eröffnungsbeschluss wies die Kommission darauf hin, dass Ziele sektorieller Politik wie der Regionalpolitik, der Umweltpolitik oder der Industriepolitik insoweit nicht berücksichtigt werden könnten. Die polnischen Behörden hatten angegeben, dass mit der progressiven Besteuerung ein Umverteilungsziel verfolgt werde. Dies begründeten sie damit, dass Unternehmen mit einem hohen Umsatz von Skaleneffekten, besseren Lieferbedingungen oder Steuerstrategien profitieren könnten, die kleineren Unternehmen nicht zugänglich seien.
19. Nach Auffassung der Kommission sei ein solches Umverteilungsziel mit einer umsatzbasierten Steuer unvereinbar, die die Unternehmen nur abhängig vom Umfang ihrer Tätigkeit, jedoch nicht abhängig von ihren Belastungen, ihrer Profitabilität, ihrer Zahlungskraft oder den Vorteilen treffe, die nach Auffassung der polnischen Behörden nur großen Unternehmen zugutekämen. Nach Ansicht der Kommission kann eine progressive Steuer auf den Umsatz gerechtfertigt sein, um den Eintritt bestimmter möglicher negativer und mit dem Umsatz steigender Auswirkungen der betreffenden Tätigkeit (negative externe Effekte) auszugleichen oder zu verhindern, aber eine solche Situation sei im vorliegenden Fall nicht nachgewiesen worden. Das Vorbringen der polnischen Behörden, wonach die progressive Besteuerung die Erhaltung kleiner Einzelhandelsbetriebe gegenüber großen Handelsketten ermögliche, wertete die Kommission als Beleg für den Versuch, die Wettbewerbsstruktur auf dem Markt zu beeinflussen.
20. Mit Beschluss vom 4. Juli 2018 hat das Gericht die Rechtssachen T‑836/16 und T‑624/17 zum gemeinsamen mündlichen Verfahren verbunden.
21. Das Gericht gab den beiden Klagen Polens gegen die angefochtenen Beschlüsse mit dem angefochtenen Urteil vom 16. Mai 2019 statt und erklärte sowohl den Eröffnungsbeschluss als auch den Negativbeschluss der Kommission für nichtig.
IV. Verfahren vor dem Gerichtshof
22. Am 24. Juli 2019 hat die Kommission gegen das Urteil des Gerichts das vorliegende Rechtsmittel eingelegt. Die Kommission beantragt,
– das angefochtene Urteil aufzuheben;
– die Klagegründe der Republik Polen gegen die angefochtenen Beschlüsse zurückzuweisen und ihr die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen;
– hilfsweise, die Rechtssache an das Gericht zurückzuverweisen, um über die noch nicht geprüften Klagegründe zu entscheiden.
23. Die Republik Polen, unterstützt durch Ungarn, beantragt,
– das Rechtsmittel als unbegründet zurückzuweisen;
– der Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
24. Vor dem Gerichtshof haben Polen, Ungarn und die Kommission schriftlich Stellung genommen und am 1. September 2020 mündlich über das Rechtsmittel verhandelt.
V. Zu den Rechtsmittelgründen
25. Die Kommission stützt sich auf zwei Rechtsmittelgründe. Mit dem ersten Rechtsmittelgrund macht die Kommission geltend, das Gericht habe Art. 107 Abs. 1 AEUV falsch angewendet, indem es einen selektiven Vorteil der polnischen Einzelhandelsteuer zugunsten der umsatzschwächeren Unternehmen verneint hat. Dem zweiten Rechtsmittelgrund zufolge habe das Gericht Art. 108 Abs. 2 AEUV und Art. 13 Abs. 1 der Verordnung 2015/1589 falsch ausgelegt, indem es auch den Eröffnungsbeschluss, der eine einstweilige Aussetzungsanordnung enthielt, für nichtig erklärt hat.
A. Zum ersten Rechtsmittelgrund: unrichtige Auslegung von Art. 107 Abs. 1 AEUV
26. Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund macht die Kommission einen Rechtsfehler des Gerichts bei der Auslegung von Art. 107 Abs. 1 AEUV geltend. Im Ergebnis rügt sie, dass das Gericht zu Unrecht einen selektiven Vorteil und damit eine Beihilfe verneint habe. Sie begründet dies in drei Teilen damit, dass das Gericht einen falschen Referenzrahmen gewählt (dazu 1.a), eine Vergleichbarkeit der Unternehmen im Hinblick auf ein nichtfiskalisches Ziel geprüft (dazu 2.a) und bei der Prüfung der Selektivität ein Ziel berücksichtigt habe, das nicht zwingend mit der Einzelhandelsteuer verbunden sei (dazu 2.b).
27. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs – von der das Gericht auch ausgegangen ist – verlangt die Qualifizierung als „staatliche Beihilfe“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV, dass es sich erstens um eine staatliche Maßnahme oder eine Maßnahme unter Inanspruchnahme staatlicher Mittel handelt. Zweitens muss sie geeignet sein, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Drittens muss dem Begünstigten durch sie ein selektiver Vorteil gewährt werden. Viertens muss sie den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen.(10 ) Zu überprüfen ist hier allein die Rechtsauffassung des Gerichts zum Merkmal des selektiven Vorteils.
28. Nach dem üblichen Prüfungsmaßstab ist entscheidend, ob die Voraussetzungen für den steuerrechtlichen Vorteil nach den Maßstäben des nationalen Steuersystems diskriminierungsfrei gewählt worden sind.(11 ) Dazu ist in einem ersten Schritt die in dem betreffenden Mitgliedstaat geltende allgemeine oder „normale“ Steuerregelung (der sogenannte Referenzrahmen) zu ermitteln. Anhand dieser allgemeinen oder „normalen“ Steuerregelung ist dann in einem zweiten Schritt zu beurteilen, ob der mit der fraglichen Steuermaßnahme gewährte Vorteil eine ungerechtfertigte Ausnahme und somit selektiv ist.(12 )
1. Zum Vorliegen eines selektiven Vorteils bzw . der richtigen Wahl des Referenzrahmens (erster Teil des ersten Rechtsmittelgrundes)
29. Die Kommission rügt insbesondere, dass das Gericht bei der Überprüfung, ob ein selektiver Vorteil vorliege, den falschen Referenzrahmen gewählt habe. Während die Kommission von einer umsatzbasierten Steuer mit einheitlichem (proportionalen) Tarif (unbekannter Höhe) ausgegangen ist, habe das Gericht fälschlicherweise auf den vom polnischen Gesetzgeber gewählten progressiven Tarif abgestellt.
a) Selektiver Vorteil durch ein allgemeines Steuergesetz: z um Prüfungsansatz bei der Schaffung eines Referenzrahmens
30. Da Art. 107 Abs. 1 AEUV das Tatbestandsmerkmal eines Referenzrahmens gar nicht enthält und dessen Überprüfung immer wieder größere Schwierigkeiten aufweist – ich verweise insoweit auf die mittlerweile von mehreren Generalanwälten aufgeworfenen Bedenken(13 ) –, ist dazu etwas weiter auszuholen.
31. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs gelten Maßnahmen gleich welcher Art, die mittelbar oder unmittelbar Unternehmen begünstigen oder die als ein wirtschaftlicher Vorteil anzusehen sind, den das begünstigte Unternehmen unter normalen Marktbedingungen nicht erhalten hätte, als staatliche Beihilfen.(14 )
32. Diese Rechtsprechung ist auf das Steuerrecht übertragen worden. Eine steuerliche Maßnahme, die zwar nicht mit der Übertragung staatlicher Mittel verbunden ist, aber die Begünstigten finanziell besser stellt als die übrigen Steuerpflichtigen, kann unter Art. 107 Abs. 1 AEUV fallen.(15 ) Als Beihilfen gelten dabei insbesondere Maßnahmen, die Belastungen vermindern, die ein Unternehmen normalerweise zu tragen hat, und die somit zwar keine Subventionen im strengen Sinne des Wortes darstellen, diesen aber nach Art und Wirkung gleichstehen.(16 )
33. Hintergrund dieser Rechtsprechung waren steuerrechtliche Ausnahmen, die ein einzelnes Unternehmen von der eigentlich geltenden steuerrechtlichen Belastung befreiten oder verschonten.(17 ) Da im vorliegenden Fall alle Unternehmen von dem Freibetrag (bis 17 Mio PLN) und auch alle Unternehmen von dem ermäßigten Steuersatz von 0,8 % für die Umsatzstufe zwischen 17 und 170 Mio. PLN pro Monat „profitieren“, kann dies nicht der selektive Vorteil sein. Allenfalls der sich aufgrund der progressiven Tarifstruktur ergebende unterschiedliche Durchschnittssteuersatz könnte einen selektiven Vorteil darstellen, der den umsatzschwächeren Steuerpflichtigen begünstigt.
1) Grundsatz: Bestimmung der „normalen“ Besteuerung durch die Kommission oder den Mitgliedstaat?
34. Im Ergebnis wirft das erste Rechtsmittel der Kommission die kompetenzrechtliche Frage auf, wer bestimmt, welche steuerliche Belastung ein Unternehmen normalerweise zu tragen hat, so dass die Nichtbesteuerung der anderen deren Vorteil wäre. Nach Ansicht der Kommission ist die „normale“ Besteuerung eine umsatzbasierte Ertragsteuer mit einem proportionalen Steuersatz (in unbekannter Höhe). Nach Ansicht des polnischen Gesetzgebers ist die „normale“ Besteuerung eine umsatzbasierte Ertragsteuer mit einem progressiven Steuersatz von 0 % bis knapp unter 1,4 %. Die aus dem progressiven Tarif resultierenden unterschiedlichen Durchschnittssteuersätze sind die zwingende Folge, mithin die normale Besteuerung. Polen beruft sich insoweit auf seine Steuersouveränität.
35. Auch in der Rechtsprechung des Gerichtshofs wird die Steuerautonomie der Mitgliedstaaten immer wieder betont und berücksichtigt. So hat er in der Großen Kammer erst unlängst wieder entschieden, dass es beim gegenwärtigen Stand der Harmonisierung des Steuerrechts der Union den Mitgliedstaaten freisteht, das ihnen am geeignetsten erscheinende Steuersystem einzuführen, so dass die Anwendung einer progressiven Besteuerung in das Ermessen jedes Mitgliedstaats fällt.(18 ) In diesem Kontext ist nach Auffassung der Großen Kammer „eine nach dem Umsatz bemessene progressive Besteuerung entgegen dem Vorbringen der Kommission möglich, da die Höhe des Umsatzes zum einen ein neutrales Unterscheidungskriterium darstellt und zum anderen ein relevanter Indikator für die Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen ist“.(19 )
36. Diese Rechtsprechung, die im Rahmen der Grundfreiheiten ergangen ist, gilt gleichermaßen im Beihilferecht. Auch hier hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass mangels einer einschlägigen Unionsregelung die Bestimmung der Bemessungsgrundlage und die Verteilung der Steuerbelastung auf die unterschiedlichen Produktionsfaktoren und Wirtschaftssektoren in die Steuerzuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen.(20 ) Im Grundsatz kann daher erst eine Ausnahme von diesem autonom gestalteten Steuersystem am Beihilferecht gemessen werden, nicht aber die Schaffung des Steuersystems selbst.
37. Die Kommission erkennt dies in Rn. 156 ihrer Bekanntmachung zum Begriff der staatlichen Beihilfe im Sinne des Artikels 107 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union(21 ) im Prinzip an, wenn sie dort ausführt, dass es „[d]en Mitgliedstaaten … frei[steht], ihre wirtschaftspolitischen Maßnahmen nach eigenem Ermessen [im Einklang mit dem Unionsrecht] festzulegen und insbesondere die Steuerlast gemäß ihren Vorstellungen auf die verschiedenen Produktionsfaktoren zu verteilen …“.
38. Im Übrigen ist mir keine unionsrechtliche Vorschrift bekannt, die den Mitgliedstaaten – jenseits der harmonisierten Steuern – eine konkrete Struktur ihrer nationalen Steuern vorgibt. Mithin kann aus dem Unionsrecht keine „normale“ Besteuerung abgeleitet werden. Ausgangspunkt kann immer nur die Entscheidung des jeweiligen nationalen Gesetzgebers sein, was er als die normale Besteuerung ansieht. Im vorliegenden Fall ist dies eine progressiv ausgestaltete Ertragsteuer für Einzelhandelsunternehmen, die für die Bemessungsgrundlage auf den Umsatz abstellt.
39. Der nationale Gesetzgeber kann mithin vor allem den Steuergegenstand, die Steuerbemessungsgrundlage und den Steuertarif bestimmen. Von dieser Befugnis hat Polen hier Gebrauch gemacht, indem es eine umsatzbasierte Ertragsteuer für Einzelhandelsunternehmen mit einem progressiven Durchschnittssteuersatz von 0 % bis knapp unter 1,4 % (der sich aus dem Freibetrag und zwei Tarifstufen ergibt) geschaffen hat. Dem steht das Beihilferecht grundsätzlich nicht entgegen.
2) Ausnahme: Kohärenzkontrolle durch den Gerichtshof im Urteil Gibraltar
40. Auch aus der immer wieder von der Kommission zitierten Entscheidung des Gerichtshofs im Urteil Gibraltar folgt nichts Gegenteiliges. Der Gerichtshof hat in dieser Entscheidung zwar das Körperschaftsteuersystem Gibraltars am Maßstab des Beihilferechts geprüft und eine Beihilfe bejaht. Er hat aber nicht seine Auffassung von einer allgemeinen normalen Besteuerung an die Stelle des Mitgliedstaates gesetzt.
41. In dieser Rechtssache hat der Gerichtshof keineswegs geurteilt, dass das Beihilferecht eine bestimmte Besteuerung vorgibt. Er hat das betroffene Gesetz „lediglich“ auf seine innere Logik überprüft. Ausweislich des damaligen Steuerreformvorhabens sollte eine gleichmäßige gewinnbasierte Ertragsbesteuerung aller Unternehmen, die in Gibraltar niedergelassen sind, eingeführt werden.(22 ) Die vom Gesetzgeber gewählten Faktoren wie Anzahl der Arbeitnehmer, Geschäftsräume und Eintragungsgebühr hatten aber mit einer gleichmäßigen Ertragsbesteuerung aller Unternehmen evident nichts zu tun. Das Vereinigte Königreich hatte auch gar keinen Versuch unternommen, diese Faktoren zu erklären.(23 )
42. Insofern stellt dieses Urteil des Gerichtshofs zwar eine Ausnahme(24 ) von dem oben dargestellten Grundsatz dar, wonach die Mitgliedstaaten bei der Bestimmung des Referenzrahmens autonom sind, weil der Gerichtshof in der Tat die Schaffung eines Referenzrahmens auf das Vorliegen einer Beihilfe hin überprüft hat. Aber der Gerichtshof hat hier nichts anderes als eine Art Missbrauchskontrolle bei der Ausübung der mitgliedstaatlichen Steuersouveränität ausgeübt. Im Ergebnis hat er nämlich lediglich überprüft, ob sich der Mitgliedstaat bei der Ausübung seiner Steuersouveränität kohärent (und nicht rechtsmissbräuchlich) verhalten hat.
43. Dies hat er damals zu Recht verneint. Das Steuergesetz von Gibraltar diente allein der Umgehung des Beihilferechts, indem mit Hilfe einer vermeintlich allgemeinen gewinnbasierten Ertragsbesteuerung eine sehr niedrige Besteuerung bestimmter gewinnorientierter Unternehmen (sogenannter Offshore-Unternehmen) erreicht werden sollte. Darin sahen die Kommission und der Gerichtshof zu Recht eine Beihilfe. Der selektive Vorteil bestand in dem inneren Widerspruch zwischen der Gesetzesbegründung bzw. dem Gesetzesziel und der Ausgestaltung des Gesetzes. Trotz einer bezweckten allgemeinen gewinnbasierten Ertragsbesteuerung aller in Gibraltar ansässigen Unternehmen wurden einzelne Unternehmen gezielt nur sehr niedrig besteuert.(25 )
44. Der Gerichtshof hat in diesem Urteil daher – anders als die Kommission im vorliegenden Fall meint – gerade nicht seine Auffassung von einer allgemeinen normalen Besteuerung an die Stelle des Mitgliedstaates gesetzt. Er hat auch nicht entschieden, dass das Unionsrecht eine bestimmte Steuersatzstruktur vorgibt. Er hat lediglich zutreffend entschieden, dass eine allgemeine Ertragsbesteuerung aller ansässigen Unternehmen nicht an wesensfremde Faktoren anknüpfen kann, die nichts anderes zum Ziel haben als die Begünstigung von bestimmten Unternehmen, die grundsätzlich ohne große Räume und ohne viel Personal auskommen, wie dies bei den sogenannten Offshore-Firmen der Fall war.(26 )
45. Im Ergebnis hat der Gerichtshof damit verhindert, dass die Mitgliedstaaten ihr allgemeines Steuerrecht dazu missbrauchen, um einzelnen Unternehmen dennoch Vorteile am Beihilferecht vorbei zu gewähren. Dieser Missbrauch der Steuerautonomie resultierte aus einer offensichtlich inkohärenten Ausgestaltung des Steuergesetzes für Gibraltar.
3) Kohärenz der polnischen Einzelhandelsteuer
46. Mehr ist bei allgemein geltenden Steuergesetzen nicht zu prüfen. Wenn das Unionsrecht die Steuersouveränität der Mitgliedstaaten achtet und wenn das Beihilferecht keine konkrete Ausgestaltung der nationalen Steuersysteme vorgibt, dann kann ein allgemein geltendes Steuergesetz – welches den Referenzrahmen gerade erst schafft – nur eine Beihilfe darstellen, wenn es offensichtlich inkohärent(27 ) ausgestaltet wurde.
47. Die Prüfung des selektiven Vorteils reduziert sich bei einem allgemein geltenden Steuergesetz dann lediglich auf diese eine Stufe. Die restlichen – und immer streitanfälligen – Stufen (wie bestimmt sich der richtige Referenzrahmen, gibt es Ausnahmen oder liegt eine Rückausnahme vor, sind die Differenzierungen en détail gerechtfertigt und wer trägt wofür die Beweislast) können dann entfallen.
48. Eine solche Inkohärenz der polnischen Einzelhandelsteuer hat das Gericht im Ergebnis zu Recht verneint. So führt es in den Rn. 67 ff. des angefochtenen Urteils aus, dass die normale Regelung das polnische Gesetz in seiner konkreten progressiven Ausgestaltung sei, die eine stärkere Besteuerung der umsatzstärkeren Unternehmen und eine geringere Besteuerung der umsatzschwächeren Unternehmen zur Folge habe (Rn. 75). Dies ergebe sich aus der mit einem progressiven Steuersatz verbundenen Umverteilungslogik (Rn. 83). Deswegen könne allein der progressiven Struktur kein selektiver Vorteil entnommen werden (Rn. 93). Da die Kommission auch keine anderweitige Inkohärenz vorgetragen und nachgewiesen habe (Rn. 94 ff.), könne das fragliche Gesetz nicht als staatliche Beihilfe angesehen werden.
49. Die von der Kommission dagegen im Rechtsmittel vorgebrachten Argumente überzeugen mich nicht.(28 )
i) Umsatzbasierte Ertragsteuer
50. So ist es nicht inkohärent, eine umsatzbasierte Ertragsteuer zu kreieren. Die Argumente der Kommission basieren letztendlich alle darauf, dass für die Besteuerung der finanziellen Leistungsfähigkeit allein auf den Gewinn (bzw. die Effizienz, d. h. Gewinnmarge) abgestellt werden müsse. Nur dieser gäbe die zu besteuernde Leistungsfähigkeit zutreffend wieder. Auch in der mündlichen Verhandlung hat die Kommission wiederholt vorgebracht, dass nur eine gewinnbasierte Ertragsteuer geeignet sei, die Leistungsfähigkeit zutreffend zu besteuern.
51. Dabei verkennt die Kommission, dass auch der Gewinn nur eine (fiktive) Messgröße ist, um die Leistungsfähigkeit gleichmäßig zu besteuern. Über eine reale Leistungsfähigkeit sagt diese Größe nur bedingt etwas aus, was gerade die sogenannte BEPS-Debatte(29 ) zeigt. Diese weltweite Debatte basiert auf der Tatsache, dass offensichtlich Unternehmen mit hohen Gewinnen nicht die entsprechenden Steuern zahlen, weil sie die Bemessungsgrundlage stark reduzieren („base erosion“) oder den Gewinn in Niedrigsteuerländer verlagern („profit shifting“) können.
52. Eine gewinnbasierte Ertragsbesteuerung hat – wie auch eine umsatzbasierte Ertragsbesteuerung – ihre Vor- und Nachteile. Diese hat aber nicht eine Behörde oder ein Gericht, sondern ein demokratisch legitimierter Gesetzgeber abzuwägen und zu verantworten. Der Steuergesetzgeber (hier der polnische Gesetzgeber) kann entscheiden, welche Steuer seiner Ansicht nach die geeignete ist. Das Beihilferecht verlangt jedenfalls nicht die Einführung der aus Sicht der Kommission geeignetsten Steuer.
53. Daher gehen auch die Berechnungen und Statistiken der Kommission in der Rechtsmittelbegründungschrift ins Leere, da sie mit einer Gewinnmarge arbeiten. Wenn der polnische Gesetzgeber gerade auf den Umsatz abstellt, um die Probleme einer Gewinnbesteuerung zu vermeiden, dann kann nicht auf eine Gewinnmarge abgestellt werden, die ihrerseits auf diesem leichter zu beeinflussenden Gewinn basiert, um zu zeigen, dass die umsatzbasierte Steuer „ungeeignet“ sei.
54. Anders als die Kommission vorträgt, ist eine gewinnbasierte Ertragsteuer auch nicht unumstritten vorzugswürdig (mit den Worten der Kommission „geeignet“). Im Gegenteil, weltweit sind umsatzbasierte Ertragsteuern auf dem Vormarsch, wie auch die von der Kommission vorgeschlagene Digitalsteuer(30 ) zeigt. Diese knüpft zur Besteuerung von Unternehmen an deren Jahresumsatz an. Insofern unterscheiden sich die polnische Einzelhandelsteuer und die geplante EU-Digitalsteuer nicht.
ii) Progressiver Tarif
55. Auch ein progressiver Tarif als solcher stellt keine Inkohärenz dar. So sind progressive Tarife in einer Ertragsbesteuerung durchaus üblich, um eine Besteuerung gemäß der finanziellen Leistungsfähigkeit zu erreichen. Dies gilt sowohl für eine gewinnbasierte Ertragsbesteuerung als auch für eine umsatzbasierte Ertragsbesteuerung. Auch hier zeigt die von der Kommission vorgeschlagene Digitalsteuer, dass eine progressive Tarifstruktur ein steuerrechtlich übliches Mittel ist, um besonders leistungsstarke Unternehmen zu besteuern.
56. Wenn die Kommission in ihrem Schriftsatz bestreitet, dass die vorgeschlagene EU-Digitalsteuer einen progressiven Tarif habe, so ist dies nur auf den ersten Blick richtig. Nach Art. 8 des Vorschlags beträgt der Steuersatz in der Tat einheitlich 3 % und ist damit proportional. Allerdings übersieht die Kommission, dass jeder Freibetrag einer proportionalen Steuer zu unterschiedlichen Durchschnittssteuersätzen und damit zu einer progressiven Tarifkurve führt.(31 ) Ähnliches gilt bei einer Freigrenze. Die Tarifkurve der vorgeschlagenen umsatzbasierten EU-Digitalsteuer reicht mit ihren (zwei Durchschnitts‑)Steuersätzen von 0 % bis 3 %, wobei der Durchschnittssteuersatz mit dem Ansteigen der Umsätze im Moment des Überschreitens der Schwellenwerte von 0 % auf 3 % steigt. Damit ist er auch progressiv.
57. Des Weiteren geht auch die Argumentation der Kommission ins Leere, wonach eine progressive Tarifstruktur nur für die Besteuerung von natürlichen Personen geeignet sei, weil nur bei diesen – nach der sogenannten Grenznutzentheorie – der individuelle Nutzenzuwachs mit steigenden Einkommen absinke. Deshalb würden progressive Tarife nur bei der Besteuerung von natürlichen Personen eingesetzt.
58. Die Kommission übersieht, dass die Grenznutzentheorie eine ökonomische Theorie und keine Rechtsregel ist. Angesichts der fehlenden Messbarkeit des „Nutzens“ ist es bislang nicht gelungen, aus dieser Theorie verbindliche (juristische) Aussagen zu dem richtigen Steuertarif abzuleiten.(32 ) In der Vergangenheit wurden umgekehrt sogar proportionale Tarife für diskriminierend gehalten.(33 )
59. Der Hintergrund, warum progressive Tarife – wie die Kommission zu Recht hervorhebt – vorzugsweise bei der Besteuerung von natürlichen Personen eingesetzt werden, liegt daher wohl eher darin, dass juristische Personen sich der progressiven Wirkung über Abspaltungen bzw. größere Konzernstrukturen beliebig entziehen können. Dieses Problem macht eine progressive Unternehmensbesteuerung, die sowohl natürliche als auch juristische Personen erfasst, aber nicht inkohärent.
60. Auch die von der Kommission aufgeführten und als ungerecht empfundenen Beispiele der Besteuerung demonstrieren keine Inkohärenz. So meint die Kommission, der polnische progressive Steuersatz sei kein geeignetes Mittel, denn bei einem zehnfachen Umsatz müsse eine 30-mal höhere Steuer gezahlt werden. Dieses Beispiel zeigt aber lediglich die logischen Folgen einer progressiven Steuerkurve auf. Bei der von der Kommission vorgeschlagenen EU-Digitalsteuer mit ihren Freigrenzen lassen sich noch extremere Ergebnisse(34 ) finden.
61. Abgesehen davon ist das Kriterium der Geeignetheit ohnehin das falsche Kriterium. Die Geeignetheit einer nationalen Steuer muss – wie oben ausgeführt (Nr. 52) – der nationale Gesetzeber beurteilen. Das Beihilferecht kann in einem solchen Fall, in dem der Referenzrahmen erst bestimmt wird, lediglich die Inkohärenzen beseitigen. Die polnische Einzelhandelsteuer setzt die progressive Steuerstruktur jedoch kohärent um.
b) Ergebnis
62. Das Gericht hat daher zu Recht das Vorliegen einer Beihilfe im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV verneint. Der erste Teil des ersten Rechtsmittelgrundes ist unbegründet und daher zurückzuweisen.
c) Hilfsweise: üblicher Prüfungsmaßstab eines selektiven Vorteils
63. Selbst wenn der Gerichtshof sich bei der Prüfung eines allgemeinen Steuergesetzes wie dem vorliegenden nicht auf eine Kohärenzkontrolle beschränken sollte, ist ein Rechtsfehler des Gerichts bei der Verneinung der Beihilfe nicht zu erkennen.
64. Nach dem üblichen Prüfungsmaßstab ist in einem ersten Schritt die in dem betreffenden Mitgliedstaat geltende allgemeine oder „normale“ Steuerregelung zu ermitteln. Anhand dieser allgemeinen oder „normalen“ Steuerregelung ist in einem zweiten Schritt zu beurteilen, ob der mit der fraglichen Steuermaßnahme gewährte Vorteil eine ungerechtfertigte Ausnahme und somit selektiv ist.(35 )
65. Letzteres setzt voraus, dass eine Ungleichbehandlung von Unternehmen in vergleichbarer Lage vorliegt, die nicht gerechtfertigt werden kann.(36 ) Eine Maßnahme, die eine Ausnahme von der Anwendung des allgemeinen Steuersystems darstellt, kann dabei gerechtfertigt sein, wenn der betreffende Mitgliedstaat nachweisen kann, dass sie unmittelbar auf den Grund- oder Leitprinzipien seines Steuersystems beruht.(37 ) Im Ergebnis ist diese Selektivitätsprüfung eine Diskriminierungsprüfung.(38 )
66. Das Gericht hat zu Recht festgestellt, dass die Kommission den falschen Referenzrahmen gewählt hat. Der maßgebende Referenzrahmen kann nur das vorliegende nationale Gesetz sein und kein hypothetisches oder fiktives Gesetz. Alles andere würde der Kommission erlauben, sich an die Stelle des jeweiligen nationalen Gesetzgebers zu setzen und das von ihr favorisierte Steuersystem zum Referenzrahmen zu bestimmen.
67. Soweit sich die Kommission diesbezüglich auf die Entscheidung des Gerichtshofs in dem Urteil Gibraltar beruft, verkennt sie – wie bereits oben unter den Nrn. 40 ff. ausgeführt – die dortigen Aussagen. Der Gerichtshof hat sich dort keineswegs selber einen fiktiven Referenzrahmen geschaffen.
68. Schon die Wahl des falschen Referenzrahmens durch die Kommission führt – wie der Gerichtshof bereits entschieden hat(39 ) – zwangsläufig dazu, „dass die gesamte Prüfung des Tatbestandsmerkmals der Selektivität mit einem Mangel behaftet ist“. Mithin ist bereits deshalb der angefochtene Negativbeschluss aufzuheben. Der erste Teil des ersten Rechtsmittelgrundes ist daher auch bei Anwendung des üblichen Prüfungsmaßstabs unbegründet.
2. Zu den beiden weiteren Teilen des ersten Rechtsmittelgrundes
69. Mit den beiden weiteren Teilen des ersten Rechtsmittelgrundes wendet sich die Kommission gegen die zusätzlichen Erwägungen des Gerichts und wirft diesem vor, dass das Vorliegen einer Beihilfe auch dort zu Unrecht verneint worden sei. Da die zusätzlichen Erwägungen des Gerichts ausweislich der Rn. 69 und 70 des angefochtenen Urteils nur prüfen, ob sich aus der Entscheidung des Gerichtshofs in dem Urteil Gibraltar etwas anderes ergibt, was bereits oben (Nrn. 40 ff.) verneint wurde, ist auf die weiteren Teile des ersten Rechtsmittelgrundes nicht mehr einzugehen.
70. Das Gericht hat jedoch weiter geprüft, ob eine Beihilfe dennoch vorliegt. Möglicherweise hat das Gericht in den Rn. 69 und 70 zugunsten der Kommission unterstellt, dass die Kommission in den angefochtenen Entscheidungen daneben auch von dem richtigen Referenzrahmen (einer progressiven umsatzbasierten Unternehmenssteuer) ausgegangen ist und auch aufgrund dieser Basis eine Beihilfe bejaht habe. Andernfalls würde die weitere Prüfung der Vergleichbarkeit der Sachverhalte und der Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung keinen Sinn ergeben. Das Gericht hat auch insoweit das Vorliegen einer Beihilfe verneint. Letzteres greift die Kommission mit den zwei weiteren Teilen des ersten Rechtsmittelgrundes an. In der mündlichen Verhandlung wurde dabei deutlich, dass die Kommission dem Gericht insbesondere vorwirft, dass dieses eine Vergleichbarkeit von Unternehmen mit hohen und geringen Umsätzen verneint habe.
a) Hilfsweise: zum zweiten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes – zur Vergleichbarkeit umsatzstärkerer und umsatzschwächerer Unternehmen
71. Daher – und weil in der mündlichen Verhandlung zwischen den Beteiligten lange darüber diskutiert wurde – wird hier noch hilfsweise geprüft, ob auch unter dieser Prämisse (Annahme des richtigen Referenzrahmens durch die Kommission) das Gericht rechtsfehlerfrei einen selektiven Vorteil verneint hat. Die Kommission sieht einen Rechtsfehler darin, dass das Gericht eine Vergleichbarkeit von umsatzschwächeren zu umsatzstärkeren Unternehmen verneint habe, indem es auf das falsche Gesetzesziel abstellte (zweiter Teil des ersten Rechtsmittelgrundes).
72. Auch dieser Teil des ersten Rechtsmittelgrundes ist unbegründet. Wenn die progressive umsatzbasierte Ertragsteuer der eigentliche Referenzrahmen ist, dann ist die konsequente Umsetzung dieses Referenzrahmens schon keine Ausnahme, die irgendwie gerechtfertigt werden müsste, sondern die Regel.
73. Darüber hinaus kann innerhalb dieses Referenzrahmens auch keine nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung von Unternehmen in vergleichbarer Lage gesehen werden. Größere und kleinere Einzelhandelsunternehmen unterscheiden sich in diesem Referenzsystem gerade durch ihren Umsatz und die daraus abgeleitete finanzielle Leistungsfähigkeit. Sie befinden sich aus Sicht des Mitgliedstaats – die hier nicht offensichtlich fehlerhaft ist (zur Kohärenz siehe oben, Nrn. 46 ff.) – nicht in einer rechtlich und tatsächlich vergleichbaren Situation.
74. Die Kommission meint hingegen offenbar, dass aus dem Ziel einer Steuer, Einnahmen für den Staatshaushalt zu erzielen, folge, dass jeder Steuerpflichtige in der gleichen (relativen) Höhe zu besteuern wäre. Deswegen hätte das Gericht für die Frage der Vergleichbarkeit nur auf das Ziel der Erzielung von Steuereinnahmen abstellen müssen. Im Hinblick auf dieses Ziel spiele die Höhe der Umsätze keine Rolle, weswegen eine niedrigere Besteuerung von Unternehmen mit niedrigen Umsätzen nicht zu rechtfertigen sei.
75. Dieser Argumentation kann nicht gefolgt werden. Das Ziel einer Steuer kann im Rahmen der Beihilfekontrolle nicht lediglich auf die Erzielung von Einnahmen beschränkt werden. Vielmehr ist das konkrete Besteuerungsziel des Steuergesetzgebers entscheidend,(40 ) welches sich aus der Art der Steuer und ihrer Ausgestaltung im Wege der Auslegung ergibt. Bei einer progressiven Steuer ist eine absolute und relativ höhere Besteuerung von Steuerpflichtigen mit einer höheren Leistungsfähigkeit ein inhärentes Ziel. Dies ist daher – wie zutreffend vom Gericht – auch bei der Prüfung der Vergleichbarkeit zu berücksichtigen.
76. Das Gericht hat in Rn. 75 des angefochtenen Urteils insoweit ausgeführt, dass davon ausgegangen werden kann, dass ein Unternehmen mit großem Umsatz wegen verschiedener Größenvorteile relativ geringere Kosten als ein Unternehmen mit niedrigem Umsatz hat und somit eine höhere Steuer entrichten kann. Auch dies ist rechtlich nicht zu beanstanden. Denn wie bereits der Gerichtshof(41 ) ausgeführt hat, kann die Höhe des Umsatzes durchaus einen relevanten Indikator steuerlicher Leistungsfähigkeit darstellen.
77. Dafür spricht zum einen, dass ohne hohe Umsätze hohe Gewinne gar nicht möglich sind, und zum anderen, dass in der Regel der Ertrag eines zusätzlichen Umsatzes (Grenzertrag) aufgrund sinkender Fixkosten pro Produkteinheit steigt. Es erscheint daher keinesfalls unvertretbar, den Umsatz als Ausdruck der Größe oder der Marktposition und potenzieller Gewinne eines Unternehmens auch als Ausdruck seiner finanziellen Leistungsfähigkeit zu werten und nach dieser Maßgabe zu besteuern.(42 )
78. Wie sich in der mündlichen Verhandlung herausstellte, hat sich die Kommission viele Gedanken über die richtige Besteuerung der Leistungsfähigkeit gemacht. Dabei wurden zutreffend die Nachteile einer umsatzbasierten Ertragsteuer herausgearbeitet und möglicherweise sinnvollere Alternativen aufgezeigt. Offengeblieben ist aber, was diese durchaus tiefgründigen steuerrechtlichen Erwägungen mit dem Beihilferecht zu tun haben. Auch eine diesbezügliche Nachfrage des Gerichtshofs in der mündlichen Verhandlung hat die Kommission nicht beantwortet. Es mag sein, dass eine Gewinnberechnung über einen Betriebsvermögensvergleich präziser ist als eine Anknüpfung an den Nettoumsatz. Entgegen der Auffassung der Kommission fragt das Beihilferecht aber nicht nach dem sinnvolleren oder dem präziseren Steuersystem, sondern nach der selektiven Bevorzugung bestimmter Unternehmen gegenüber anderen in der gleichen Lage.
79. Folglich ist auch der zweite Teil des ersten Rechtsmittelgrundes unbegründet.
b) Hilfsweise: zum dritten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes: Rechtfertigung einer Differenzierung
80. Mit dem dritten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes wirft die Kommission dem Gericht vor, es habe einen Rechtsfehler begangen, weil es bei der Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung externe Rechtfertigungsgründe berücksichtigt habe.
81. Dieser Teil des Rechtsmittels basiert auf der unzutreffenden Annahme, dass eine Ungleichbehandlung von vergleichbaren Steuerpflichtigen vorliege, denn nur dann stellt sich die Frage nach einer Rechtfertigung. Da dem, wie oben ausgeführt, nicht so ist, wird dieser Teil des Rechtsmittels nur hilfsweise für den Fall geprüft, dass der Gerichtshof wider Erwarten eine vergleichbare Lage eines Einzelhandelsunternehmens mit z. B. 50 000 Euro/PLN Nettoumsatz im Monat und eines Einzelhandelsunternehmens mit z. B. 200 Mio. Euro/PLN Nettoumsatz im Monat bejaht.
82. Dann wäre zu prüfen, ob das Gericht die mit dem unterschiedlichen Durchschnittssatz einer progressiven Steuer einhergehende Ungleichbehandlung unzutreffend für gerechtfertigt gehalten hat. Entgegen der Ansicht der Kommission kommen für eine Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung auch andere als rein fiskalische Rechtfertigungsgründe in Betracht. Insofern können auch nachvollziehbare außersteuerrechtliche Gründe eine Differenzierung rechtfertigen, wie dies in der Rechtssache ANGED z. B. für umwelt- und raumplanerische Gründe im Zusammenhang mit einer Einzelhandelsflächenabgabe bejaht wurde.(43 )
83. Im vorliegenden Fall hat das Gericht keine unzutreffenden Rechtfertigungsgründe berücksichtigt. Das Gericht hat in den Rn. 75 und 76 des angefochtenen Urteils den unterschiedlichen Durchschnittssteuersatz vor dem Hintergrund des Prinzips der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit und der damit auch verfolgten Umverteilung der Steuerlast zwischen stärker leistungsfähigen Steuerpflichtigen und weniger leistungsfähigen Steuerpflichtigen für gerechtfertigt angesehen.
84. Dies ist rechtlich nicht zu beanstanden. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass der progressive Tarifverlauf der polnischen Einzelhandelsteuer seinen Grund nicht im konkreten Steuergesetz selbst findet, sondern außerhalb davon liegende, sachfremde Zwecke(44 ) verfolgt. Die Größe des Umsatzes indiziert (jedenfalls nicht offensichtlich fehlerhaft) eine gewisse finanzielle Leistungsfähigkeit. Insofern kann der Umsatz – wie die Kommission selbst mit dem Entwurf für eine Digitalsteuer zeigt(45 ) – auch als (etwas gröberer) Indikator für eine größere Wirtschaftskraft, mithin eine größere finanzielle Leistungsfähigkeit, betrachtet werden.
85. Darüber hinaus rechtfertigt auch der Gedanke des Sozialstaatsprinzips – zu dem sich die Europäische Union in Art. 3 Abs. 3 EUV bekennt – einen progressiven Steuersatz, der die finanziell leistungsfähigeren Steuerpflichtigen auch relativ gesehen stärker belastet als die finanziell weniger leistungsfähigen Steuerpflichtigen. Dies gilt jedenfalls für eine Steuer, die auch natürliche Personen erfasst, wie dies hier der Fall ist.
86. Soweit die Kommission dem Gericht in Rn. 94 des angefochtenen Urteils noch eine Verkennung der Beweislast vorwirft, geht auch dieser Vorwurf ins Leere. Er beruht auf der unzutreffenden Ansicht, dass umsatzbasierte progressive Steuern per se rechtfertigungsbedürftige Beihilfen seien.
3. Ergebnis
87. Der erste Rechtsmittelgrund der Kommission ist mithin in Gänze unbegründet.
B. Zum zweiten Rechtsmittelgrund: falsche Auslegung von Art. 108 Abs. 2 AEUV und von Art. 13 der Verordnung 2015/1589
88. Mit dem zweiten Rechtsmittelgrund macht die Kommission geltend, das Gericht habe bei Nichtigerklärung des Eröffnungsbeschlusses und der Aussetzungsanordnung verkannt, dass die Voraussetzungen von Art. 108 Abs. 2 AEUV und die des Art. 13 der Verordnung 2015/1589 vorlagen. Deswegen wären der Eröffnungsbeschluss und die Aussetzungsanordnung weiterhin rechtmäßig und könnten nicht allein deshalb aufgehoben werden, weil der Negativbeschluss für nichtig erklärt wurde.
89. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs – die das Gericht berücksichtigt hat – folgt, dass für die Eröffnung eines Beihilfeverfahrens nach Art. 108 Abs. 2 AEUV Zweifel an dem Vorliegen einer Beihilfe ausreichen.(46 ) Folglich kann eine isolierte Anfechtung des Eröffnungsbeschlusses nur Erfolg haben, wenn der Kommission offensichtliche Beurteilungsfehler unterlaufen sind.(47 ) Dies gilt auch für die Anordnung der vorläufigen Aussetzung gemäß Art. 13 der Verordnung 2015/1589. Eine solche Anordnung ist grundsätzlich unabhängig davon möglich, ob es sich bei der fraglichen Maßnahme letztendlich wirklich um eine Beihilfe handelt.(48 )
90. Die Kommission beruft sich mithin auf einen milderen Prüfungsmaßstab hinsichtlich des Eröffnungsbeschlusses, den der Gerichtshof für den Fall einer isolierten Anfechtung des Eröffnungsbeschlusses bzw. der Aussetzungsanordnung entwickelt hat.(49 )
91. Dieser besondere Prüfungsmaßstab (Nr. 89) soll es der Kommission ermöglichen, das entsprechende Beihilfeverfahren schon aufgrund eines begründeten Beihilfeverdachts durchführen zu können und die notwendigen Gesichtspunkte zu ermitteln, auch wenn noch nicht sicher ist, ob wirklich eine Beihilfe vorliegt. Dies ist Grundlage, Sinn und Zweck des milderen Prüfungsmaßstabs im Zeitpunkt der Eröffnung des Beihilfeverfahrens bis zum Erlass der abschließenden Entscheidung.
92. Die durch den besonderen Prüfungsmaßstab berücksichtigte Unsicherheit bezieht sich zum einen wohl eher auf eine tatsächliche Unsicherheit und nicht auf eine rechtliche Unsicherheit. Eine rechtliche Unsicherheit kann durch das weitere Beihilfeverfahren der Kommission schwerlich ausgeräumt werden. Dies zeigt sich hier deutlich: Entweder ein progressiver Tarif einer umsatzbasierten Ertragsteuer ist per se ein selektiver Vorteil, oder er ist es nicht. Diese rechtliche Würdigung war zum Zeitpunkt des Eröffnungsbeschlusses die gleiche wie zum Zeitpunkt des Negativbeschlusses, da sich die rechtlichen Rahmenbedingungen in der Zwischenzeit nicht verändert haben. Die Kommission trägt mithin – so wie sonst auch – bei der gerichtlichen Überprüfung ihres Handelns das Risiko, dass sich ihre rechtliche Würdigung als falsch herausstellt.
93. Zum anderen besteht kein Grund für den besonderen (milden) Prüfungsmaßstab, wenn der angefochtene Negativbeschluss wie hier gleichzeitig mit dem Eröffnungsbeschluss und der Aussetzungsanordnung überprüft wird und feststeht, dass materiell nie eine Beihilfe vorlag. Ein Bedürfnis an einer ungestörten Durchführung eines Beihilfeverfahrens besteht nicht mehr, wenn dieses bereits zum Abschluss gekommen ist und – mangels Beihilfe – so auch nicht wieder eröffnet werden kann.
94. Ob die Fehleinschätzung der Kommission im Sinne des besonderen Prüfungsmaßstabs auch offensichtlich war – wozu ich angesichts der vorhergehenden Ausführungen (Nrn. 26 ff.) tendiere(50 ) –, kann daher dahinstehen.
95. Eine automatische Aufhebung des Eröffnungsbeschlusses kommt hier nämlich auch dann in Betracht, wenn der Gerichtshof eine offensichtlich fehlende Beihilfe im Moment des Eröffnungsbeschlusses nicht annehmen sollte. Die Regelungen, die der Kommission den Erlass eines Eröffnungsbeschlusses (Art. 108 Abs. 2 AEUV) und den Erlass einer Aussetzungsanordnung (Art. 13 der Verordnung 2015/1589) bereits bei Zweifeln über das Vorliegen einer Beihilfe ermöglichen, basieren erkennbar auf der Vermutung, dass möglicherweise eine Beihilfe vorliegt.(51 ) Wenn letztere Möglichkeit aber aufgrund der rechtskräftigen Nichtigkeitserklärung des abschließenden Beschlusses endgültig ausgeschlossen ist, dann besteht kein Grund mehr, das Schicksal dieser Bescheide nicht an das Schicksal der Nichtigkeitserklärung des Negativbeschlusses zu koppeln. Dies gilt jedenfalls, wenn alle Beschlüsse gemeinsam angefochten werden und an dem gleichen materiellen Rechtsfehler – d. h. dem Fehlen einer Beihilfe – leiden.
96. Beide Beschlüsse (Eröffnungsbeschluss und Aussetzungsanordnung) – die sich entweder mit der Bestandskraft des Negativbeschlusses(52 ) oder wie hier mit der Nichtigkeitserklärung des Negativbeschlusses endgültig erledigen – teilen in dem Fall der gemeinsamen Prüfung auch aus prozessökonomischen Gründen das materielle Schicksal des Beschlusses, der das entsprechende Verfahren abschließt. Die Nichtigkeitserklärung des angefochtenen Eröffnungsbeschlusses und der darin enthaltenen Aussetzungsanordnung ist insoweit nur eine deklaratorische Aufhebung, die den Unionsgerichten eine Feststellung der Erledigung des Eröffnungsbeschlusses und die daran anknüpfenden Rechtsfolgen erspart.
97. Damit sind auch der zweite Rechtsmittelgrund und somit das gesamte Rechtsmittel der Kommission unbegründet.
VI. Kosten
98. Nach Art. 184 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs entscheidet der Gerichtshof über die Kosten, wenn das Rechtsmittel unbegründet ist. Gemäß Art. 138 Abs. 1, der nach Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission unterliegt, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.
99. Nach Art. 184 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 140 Abs. 1 trägt Ungarn als Streithelfer seine eigenen Kosten.
VII. Ergebnis
100. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, wie folgt zu entscheiden:
1. Das Rechtsmittel der Kommission wird zurückgewiesen.
2. Die Europäische Kommission trägt ihre eigenen Kosten und die Kosten der Republik Polen.
3. Ungarn trägt seine eigenen Kosten.