C-554/24 P – Polen/ Kommission (Annulation rétroactive de mesures provisoires)

C-554/24 P – Polen/ Kommission (Annulation rétroactive de mesures provisoires)

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Language of document : ECLI:EU:C:2025:564

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 10. Juli 2025(1)

Rechtssache C554/24 P

Republik Polen

gegen

Europäische Kommission

„ Rechtsmittel – Einstweiliger Rechtsschutz – Art. 279 AEUV – Vollstreckung eines Beschlusses der Vizepräsidentin des Gerichtshofs über die Anordnung einstweiliger Maßnahmen – Festsetzung eines täglichen Zwangsgelds bis zur Durchführung des Beschlusses – Versäumnis Polens, die notwendigen Maßnahmen zu treffen – Gütliche Einigung – Streichung der Hauptsache – Einziehung des Zwangsgelds – Akzessorischer Charakter des einstweiligen Rechtsschutzes – Ausgleich von Vermögensnachteilen aufgrund von einstweiligen Anordnungen “

I.      Einleitung

1.        Im Streit um den Schutz des Waldes von Białowieża hat der Gerichtshof aus Art. 279 AEUV die Befugnis abgeleitet, zur Durchsetzung von einstweiligen Maßnahmen Zwangsgelder zu verhängen.(2) Bislang gibt es allerdings weder Erfahrungen mit diesem Instrument noch besondere Regelungen dazu. Der vorliegende Fall gibt dem Gerichtshof daher Gelegenheit, die Natur und die Konsequenzen der Verhängung von Zwangsgeld im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zu konkretisieren.

2.        Der Rechtsstreit betrifft das erste Verfahren, in dem der Gerichtshof ein Zwangsgeld verhängt hat und in dem dieses (zumindest vorläufig) auch angefallen ist. Die Tschechische Republik stritt mit Polen darüber, ob Polen im Zusammenhang mit einer Verlängerung der Genehmigung der Gewinnung von Braunkohle im Tagebau von Turów (Polen) die UVP-Richtlinie,(3) die Wasserrahmenrichtlinie,(4) die Umweltinformationsrichtlinie(5) und den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verletzt hatte.(6) In diesem Verfahren hatte die Vizepräsidentin des Gerichtshofs auf Antrag der Tschechischen Republik zunächst angeordnet, die Gewinnung von Braunkohle in dem Tagebau unverzüglich und bis zur Beendigung des Rechtsstreits einzustellen,(7) und später ein tägliches Zwangsgeld verhängt, das Polen so lange zahlen sollte, bis es der Anordnung Folge geleistet hätte.(8)

3.        Nachdem danach insgesamt 68 500 000 Euro Zwangsgeld angefallen waren, haben sich die verfahrensbeteiligten Mitgliedstaaten allerdings verglichen und der Gerichtshof hat das Hauptsacheverfahren aus seinem Register gestrichen.(9) Nunmehr streitet Polen mit der Kommission darüber, ob es den genannten Betrag entrichten muss oder ob sich diese Verpflichtung durch den Vergleich und die Streichung der Rechtssache erledigt hat.

II.    Rechtlicher Rahmen

4.        Rechtsgrundlage des einstweiligen Rechtsschutzes vor den Unionsgerichten ist Art. 279 AEUV:

„Der Gerichtshof der Europäischen Union kann in den bei ihm anhängigen Sachen die erforderlichen einstweiligen Anordnungen treffen.“

5.        In Art. 39 Abs. 4 der Satzung des Gerichtshofs wird die Natur der einstweiligen Anordnung präzisiert:

„Die von dem Präsidenten oder seinem Vertreter getroffene Anordnung stellt eine einstweilige Regelung dar und greift der Entscheidung des Gerichtshofs in der Hauptsache nicht vor.“

6.        Die gütliche Einigung über einen Rechtsstreit ist in Art. 147 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehen:

„Einigen sich die Parteien auf eine Lösung zur Beilegung des Rechtsstreits, bevor der Gerichtshof entschieden hat, und erklären sie gegenüber dem Gerichtshof, dass sie auf die Geltendmachung ihrer Ansprüche verzichten, so beschließt der Präsident durch Beschluss die Streichung der Rechtssache im Register und entscheidet gemäß Art. 141 über die Kosten, gegebenenfalls unter Berücksichtigung der insoweit von den Parteien gemachten Vorschläge.“

7.        Die Voraussetzungen einer einstweiligen Anordnung können Art. 160 Abs. 1 bis 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs entnommen werden:

„(1)      Anträge auf Aussetzung der Vollziehung von Handlungen eines Organs im Sinne der Art. 278 AEUV und 157 EAGV sind nur zulässig, wenn der Antragsteller die betreffende Handlung durch Klage beim Gerichtshof angefochten hat.

(2)      Anträge auf sonstige einstweilige Anordnungen im Sinne des Art. 279 AEUV sind nur zulässig, wenn sie von einer Partei eines beim Gerichtshof anhängigen Rechtsstreits gestellt werden und sich auf diesen beziehen.

(3)      Die in den vorstehenden Absätzen genannten Anträge [auf einstweiligen Rechtsschutz] müssen den Streitgegenstand bezeichnen und die Umstände, aus denen sich die Dringlichkeit ergibt, sowie die den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung dem ersten Anschein nach rechtfertigenden Sach- und Rechtsgründe anführen.“

8.        Art. 162 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs regeln die Festsetzung einer Sicherheit und Geltungsdauer der einstweiligen Anordnung:

„(2)      Die Vollstreckung des Beschlusses kann von der Leistung einer Sicherheit durch den Antragsteller abhängig gemacht werden, deren Höhe und Art nach Maßgabe der Umstände festzusetzen sind.

(3)      In dem Beschluss kann ein Zeitpunkt festgesetzt werden, zu dem die Anordnung außer Kraft tritt. Geschieht dies nicht, tritt die Anordnung mit der Verkündung des Endurteils außer Kraft.“

9.        Art. 163 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs betrifft die Änderung der Umstände:

„Auf Antrag einer Partei kann der Beschluss jederzeit infolge einer Änderung der Umstände abgeändert oder wieder aufgehoben werden.“

III. Vorgeschichte und Verfahren

10.      Im angefochtenen Urteil wird die Vorgeschichte des Rechtsstreits wie folgt dargestellt.

A.      Maßgebliche Entwicklungen in Rechtssache C121/21

11.      Am 26. Februar 2021 erhob die Tschechische Republik gemäß Art. 259 AEUV Klage auf Feststellung, dass Polen dadurch gegen seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht verstoßen hat, dass es den Braunkohleabbau im Tagebau Turów (Polen) in der Nähe der Grenzen der Tschechischen Republik und Deutschlands erweitert und verlängert hat (Rechtssache C‑121/21).

12.      Gleichzeitig stellte die Tschechische Republik einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz, der darauf abzielte, Polen aufzugeben, den Braunkohleabbau im Bergwerk Turów bis zur Entscheidung des Gerichtshofs in der Hauptsache unverzüglich einzustellen.

13.      Mit Beschluss vom 21. Mai 2021, Tschechische Republik/Polen (C‑121/21 R, EU:C:2021:420), gab die Vizepräsidentin des Gerichtshofs diesem Antrag statt und ordnete an, dass Polen den Abbau in diesem Bergwerk unverzüglich und bis zur Verkündung des das Verfahren in der Rechtssache C‑121/21 abschließenden Urteils einstellt.

14.      Da die Tschechische Republik der Ansicht war, dass Polen seinen Verpflichtungen aus dem Beschluss vom 21. Mai 2021, Tschechische Republik/Polen (C‑121/21 R, EU:C:2021:420), nicht nachgekommen sei, stellte sie am 7. Juni 2021 einen neuen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz, mit dem sie beantragte, Polen zur Zahlung eines täglichen Zwangsgelds von 5 Mio. Euro an den Unionshaushalt zu verurteilen.

15.      Mit gesondertem Schriftsatz, der am 29. Juni 2021 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, beantragte Polen, den Beschluss vom 21. Mai 2021, Tschechische Republik/Polen (C‑121/21 R, EU:C:2021:420), gemäß Art. 163 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs aufzuheben.

16.      Mit Beschluss vom 20. September 2021, Tschechische Republik/Polen (C‑121/21 R, EU:C:2021:752), wies die Vizepräsidentin des Gerichtshofs zum einen den Antrag Polens auf Aufhebung des Beschlusses vom 21. Mai 2021, Tschechische Republik/Polen (C‑121/21 R, EU:C:2021:420), zurück und verurteilte Polen zum anderen, an die Kommission ein Zwangsgeld von 500 000 Euro pro Tag zu zahlen, und zwar ab dem Tag der Zustellung dieses Beschlusses und bis zu dem Zeitpunkt, zu dem Polen den Beschluss vom 21. Mai 2021, Tschechische Republik/Polen (C‑121/21 R, EU:C:2021:420), befolgt.

17.      Polen ist dem Beschluss vom 21. Mai 2021, Tschechische Republik/Polen (C‑121/21 R, EU:C:2021:420), nie nachgekommen, sondern hat am 20. Oktober 2021 erneut beantragt, diesen Beschluss aufzuheben.

18.      Am 3. Februar 2022 schlossen die Tschechische Republik und Polen jedoch eine Vereinbarung zur Beilegung des der Rechtssache C‑121/21 zugrunde liegenden Rechtsstreits (im Folgenden: gütliche Einigung). Nach Medienberichten verpflichtete sich Polen, der Tschechischen Republik 45 Mio. Euro zu zahlen und eine Barriere zum Schutz des Grundwassers zu errichten.(10)

19.      Am 4. Februar 2022 erklärten die beiden Mitgliedstaaten gegenüber dem Gerichtshof, dass sie im Anschluss an die gütliche Einigung auf die Geltendmachung ihrer Ansprüche in der Rechtssache C‑121/21 verzichteten. Am selben Tag beantragten die polnischen Behörden bei der Kommission, das Verfahren zur Vollstreckung der vom Gerichtshof verhängten Zwangsgelder zu beenden, und fügten ihrem Antrag den Wortlaut dieser gütlichen Einigung bei.

20.      Mit Beschluss vom 4. Februar 2022, Tschechische Republik/Polen (Tagebau Turów) (C‑121/21, EU:C:2022:82), hat der Präsident des Gerichtshofs die Rechtssache C‑121/21 aus dem Register des Gerichtshofs gestrichen.

21.      Am selben Tag beantragte Polen gemäß Art. 163 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, den Beschluss vom 20. September 2021, Tschechische Republik/Polen (C‑121/21 R, EU:C:2021:752), aufzuheben.

22.      Mit Beschluss vom 19. Mai 2022, Tschechische Republik/Polen (Tagebau Turów) (C‑121/21 R, EU:C:2022:408), erklärte der Vizepräsident des Gerichtshofs den Antrag der Republik Polen auf Aufhebung des Beschlusses vom 21. Mai 2021, Tschechische Republik/Polen (C‑121/21 R, EU:C:2021:420), für erledigt, soweit er sich auf die Wirkungen dieses Beschlusses nach dem 4. Februar 2022 bezog. Im Übrigen wies er die Anträge Polens zurück.

B.      Einziehung des Zwangsgelds

23.      Die Kommission forderte Polen sodann auf, das bis zur Streichung der Rechtssache C‑121/21 aufgelaufene Zwangsgeld zuzüglich Verzugszinsen zu zahlen, und drohte an, diese Beträge im Fall der Nichtzahlung im Wege der Verrechnung gemäß Art. 101 Abs. 1 und Art. 102 der Haushaltsordnung(11) einzuziehen.

24.      Mit den angefochtenen Beschlüssen teilte die Kommission Polen mit, dass sie seine Verbindlichkeiten mit seinen verschiedenen gegenüber der Union bestehenden Forderungen verrechne. Der so im Wege der Verrechnung eingezogene Betrag beläuft sich in der Hauptforderung auf 68 500 000 Euro und entspricht den für den Zeitraum vom 20. September 2021 bis zum 3. Februar 2022 geschuldeten täglichen Zwangsgeldern.

C.      Verfahren vor dem Gericht

25.      Vor dem Gericht beantragte Polen, die angefochtenen Beschlüsse für nichtig zu erklären und der Kommission die Kosten aufzuerlegen. Das Gericht wies die Klage jedoch mit dem angefochtenen Urteil vom 29. Mai 2024, Polen/Kommission (T‑200/22 und T‑314/22, EU:T:2024:329), entsprechend der Anträge der Kommission ab und erlegte Polen die Kosten auf.

D.      Rechtsmittel

26.      Mit dem am 14. August 2024 eingelegten Rechtsmittel beantragt die Republik Polen,

–        das angefochtene Urteil in vollem Umfang aufzuheben;

–        die angefochtenen Beschlüsse aufzuheben;

–        der Kommission die Kosten beider Rechtszüge aufzuerlegen.

27.      Die Europäische Kommission beantragt,

–        das Rechtsmittel als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen;

–        Polen die Kosten aufzuerlegen.

28.      Die Beteiligten haben sich schriftlich geäußert. Auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung hat der Gerichtshof nach Art. 76 Abs. 2 seiner Verfahrensordnung verzichtet, weil er sich für ausreichend unterrichtet hält, um die Rechtssache zu entscheiden.

IV.    Rechtliche Würdigung

29.      Mit seinem Rechtsmittel rügt Polen erstens die Anwendung von Art. 279 AEUV durch das Gericht (dazu unter A) und zweitens eine unzureichende Begründung des angefochtenen Urteils (dazu unter B).

A.      Art. 279 AEUV

30.      Der erste Rechtsmittelgrund enthält vier Rügen, die auf die Auslegung von Art. 279 AEUV hinsichtlich der Konsequenzen einer gütlichen Einigung abzielen. Eine solche Einigung müsse eine Verhängung von Zwangsgeld rückwirkend beseitigen, weil der einstweilige Rechtsschutz von der Hauptsache abhängig sei (dazu unter 1). Das sei auch notwendig, um Vermögensnachteile bei den Adressaten einstweiliger Anordnungen zu verhindern (dazu unter 2). Andernfalls hätte das Zwangsgeld die Funktion einer Sanktion (dazu ebenfalls unter 1). Auch aus dem Beschluss vom 19. Mai 2022 folge nichts anderes (dazu unter 3).

1.      Akzessorischer Charakter des einstweiligen Rechtsschutzes und fehlender Sanktionscharakter

31.      Mit dem ersten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes beanstandet Polen, das Gericht habe in den Rn. 42 und 47 des angefochtenen Urteils das akzessorische Verhältnis des einstweiligen Rechtsschutzes zur Hauptsache verkannt. In die gleiche Richtung geht der dritte Teil des ersten Rechtsmittelgrundes, wonach das Gericht in den Rn. 47 und 48 des angefochtenen Urteils dem Zwangsgeld die Funktion einer Sanktion für die Verletzung von Verpflichtungen zugesprochen habe.

32.      Nach Rn. 42 des angefochtenen Urteils hat sich die Streichung der Hauptsache zwar auf die Dauer der Anwendung des Zwangsgelds ausgewirkt, aber nicht zum Erlöschen der Verpflichtung Polens geführt, den als Zwangsgeld bereits geschuldeten Betrag zu zahlen. Eine andere Schlussfolgerung würde dem Gericht zufolge dazu führen, sich vom Zweck des Zwangsgelds zu entfernen, der darin besteht, die wirksame Anwendung des Unionsrechts sicherzustellen.

33.      In Rn. 47 des angefochtenen Urteils stellte das Gericht zudem fest, im vorliegenden Fall sollte das Zwangsgeld nicht nur die Wirksamkeit des Endurteils sicherstellen, sondern es zielte auch darauf ab, dass Polen den mit dem Beschluss vom 21. Mai 2021, Tschechische Republik/Polen (C‑121/21 R, EU:C:2021:420), vorgeschriebenen einstweiligen Anordnungen nachkomme und davon abgehalten werde, die Anpassung seines Verhaltens an diesen Beschluss hinauszuzögern.

34.      Daraus schließt das Gericht in Rn. 48 des angefochtenen Urteils, dass das Vorbringen der Republik Polen darauf hinausliefe, den Mechanismus des nach Art. 279 AEUV verhängten Zwangsgelds jeglicher Substanz zu berauben, indem man hinnehme, dass die verpflichtete Partei vorsätzlich gegen die Verpflichtung verstößt, den im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes erlassenen einstweiligen Anordnungen bis zum Ende des Rechtsstreits in der Hauptsache nachzukommen, und damit die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt.

35.      Polen geht zutreffend davon aus, dass der vorläufige Rechtsschutz in einem akzessorischen Verhältnis zum Hauptsacheverfahren steht. Er soll die volle Wirksamkeit des künftigen Endurteils gewährleisten, um eine Lücke im vom Gerichtshof gewährten Rechtsschutz zu verhindern.(12) Dagegen soll der einstweilige Rechtsschutz keine Sanktion für die Verletzung des Unionsrechts bewirken.

36.      Die Akzessorietät kommt auch in Art. 160 Abs. 1 und 2 der Verfahrensordnung zum Ausdruck. Art. 160 Abs. 1 betrifft die Aussetzung von Handlungen der Organe, die nur beantragt werden kann, wenn der Antragsteller die Handlung auch angefochten hat. Und nach Art. 160 Abs. 2 sind Anträge auf einstweilige Anordnungen im Sinne von Art. 279 AEUV nur zulässig, wenn sie von einer Partei eines beim Gerichtshof anhängigen Rechtsstreits gestellt werden und sich auf diesen beziehen.

37.      Darüber hinaus betont Polen zutreffend die Parteiherrschaft über den einstweiligen Rechtsschutz, da er den Antrag einer Partei voraussetzt. Eine Entscheidung von Amts wegen ist nur in Art. 160 Abs. 7 der Verfahrensordnung im Hinblick auf Anordnungen vorgesehen, die der Gerichtshof ohne Anhörung der Gegenpartei, aber immer noch auf Antrag einer Partei getroffen hat.

38.      Aufgrund dieser Akzessorietät und der Parteiherrschaft über den einstweiligen Rechtsschutz müssen bei der Streichung einer Rechtssache aufgrund einer gütlichen Einigung auch die zur Sicherung des Endurteils getroffenen einstweiligen Anordnungen entfallen.

39.      Daher sind nach der Beendigung des Hauptsacheverfahrens durch die Streichung(13) der Rechtssache C‑121/21 aufgrund der gütlichen Einigung die im Zusammenhang mit diesem Verfahren ergangenen Anordnungen im einstweiligen Rechtsschutz außer Kraft getreten,(14) wie das Gericht zutreffend in den Rn. 36 und 37 des angefochtenen Urteils darlegt.

40.      Doch bedeutet das auch, dass aufgrund der gütlichen Einigung und der Streichung der Rechtssache die Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes als von Anfang an inexistent anzusehen oder rückwirkend entfallen sind?

41.      Art. 147 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs lässt die Frage der Rückwirkung offen. Diese Bestimmung sieht lediglich einen Beschluss über die Streichung der Rechtssache und die Kosten vor, wenn sich die Parteien auf eine Lösung zur Beilegung des Rechtsstreits einigen, bevor der Gerichtshof entschieden hat, und gegenüber dem Gerichtshof erklären, dass sie auf die Geltendmachung ihrer Ansprüche verzichten.

42.      Die Wirkungen der Streichung werden nicht ausdrücklich geregelt. Daher ist es vorstellbar, dass die bisherigen Verfahrenshandlungen, einschließlich aller Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes, rückwirkend entfallen.

43.      Für dieses Ergebnis spricht die Akzessorietät des einstweiligen Rechtsschutzes. Da er nur die Wirksamkeit des künftigen Endurteils gewährleisten soll, ist er nicht mehr notwendig, wenn es kein Endurteil geben wird.

44.      Auch der für eine Streichung gemäß Art. 147 Abs. 1 der Verfahrensordnung vorausgesetzte Verzicht auf die Geltendmachung der Ansprüche deutet in diese Richtung. Damit müssen die Parteien nämlich auch auf etwaige Ansprüche auf einstweiligen Rechtsschutz verzichten. Die rückwirkende Beseitigung von Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes entspricht insoweit der Parteiherrschaft über diesen Rechtsschutz.

45.      Die Bezugnahme auf die wirksame Anwendung des Unionsrechts in den Rn. 42 und 48 des angefochtenen Urteils steht einer rückwirkenden Beseitigung der Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes ebenfalls nicht entgegen. Es trifft zwar zu, dass der einstweilige Rechtsschutz auch zur wirksamen Anwendung des Unionsrechts beiträgt, aber das ist nur eine notwendige Folge seiner primären Funktion, die Wirksamkeit des künftigen Endurteils zu gewährleisten. Soweit diese primäre Funktion die Aufrechterhaltung der Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes nicht mehr erfordert, kann auch die wirksame Anwendung des Unionsrechts sie nicht mehr rechtfertigen. Andernfalls würde der einstweilige Rechtsschutz vom Hauptsacheverfahren abgelöst und einen autonomen Charakter erwerben.

46.      Eine rückwirkende Beseitigung der Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes stünde allerdings in einem Spannungsverhältnis zur Strukturierung des Zwangsgelds.

47.      Die Vizepräsidentin hat Polen verurteilt, bis zum Zeitpunkt der Einstellung des Abbaus ein Zwangsgeld von 500 000 Euro pro Tag zu zahlen. Somit soll jede weitere Verzögerung der Umsetzung der einstweiligen Anordnung zu einem höheren Betrag führen. Das Zwangsgeld zielte daher nicht nur darauf ab, dass die ursprüngliche einstweilige Anordnung überhaupt umgesetzt wird, sondern auch auf eine möglichst schnelle Umsetzung, was das Gericht in Rn. 47 des angefochtenen Urteils zum Ausdruck bringt.

48.      Diese zusätzliche Zwangswirkung ginge aber verloren, wenn das Zwangsgeld auch bei einer verzögerten Umsetzung vollständig entfiele. Insofern kommt dem kumulierten Zwangsgeld, im Nachhinein betrachtet, tatsächlich eine Sanktionswirkung für die verzögerte Umsetzung der einstweiligen Anordnung zu. Diese Sanktionswirkung ist aber nicht Zweck der Anordnung des kumulierten Zwangsgelds, sondern lediglich ein notwendiges Strukturmerkmal dieses Beugemittels.

49.      Als notwendiges Strukturmerkmal steht diese Sanktionswirkung nicht im Widerspruch zum akzessorischen Charakter des einstweiligen Rechtsschutzes. Zur Absicherung der Wirksamkeit des künftigen Endurteils kann es nämlich notwendig sein, eine vorläufige Anordnung möglichst schnell durchzuführen, etwa um eine weitere Vergrößerung von Schäden zu verhindern.

50.      Gleichwohl steht auch diese Strukturierung des Zwangsgelds einer Einigung der Parteien nicht entgegen, bereits angefallenes kumuliertes Zwangsgeld rückwirkend zu beseitigen. Denn als Maßnahme des einstweiligen Rechtsschutzes unterliegt auch ein in dieser Form strukturiertes Zwangsgeld der Parteiherrschaft. Andernfalls würde man dieser Maßnahme einen autonomen Charakter zuschreiben, der mit der Akzessorietät des einstweiligen Rechtsschutzes nicht mehr vereinbar wäre.

51.      Es ist zwar nicht auszuschließen, dass trotz der rückwirkenden rechtlichen Beseitigung von einstweiligen Anordnungen auf tatsächlicher Ebene Schwierigkeiten entstehen. Wenn Polen die einstweilige Anordnung vom 21. Mai 2021 befolgt und den Abbau von Braunkohle eingestellt hätte, wären erhebliche Nachteile für diesen Mitgliedstaat eingetreten, die die gütliche Einigung nicht beseitigt hätte. Einnahmen wären entfallen, während weiterhin Kosten für die Unterhaltung des Tagebaus angefallen wären, insbesondere für das Abpumpen von einlaufendem Grundwasser. Außerdem wäre nach dem Vorbringen Polens in der Rechtssache C‑121/21 der weitere Betrieb des Braunkohlekraftwerks Turów und damit die lokale Versorgung mit Fernwärme und die Produktion von Elektrizität in Frage gestellt worden. Polen äußerte sogar die Befürchtung, dass die Arbeitnehmer des Tagebaus während einer Einstellung des Abbaus anderweitige Beschäftigung gesucht hätten und für eine Wiederaufnahme des Abbaus nicht mehr zur Verfügung gestanden hätten. Das liefe möglicherweise sogar auf eine Vorwegnahme der Hauptsache hinaus.

52.      Aber tatsächliche Probleme sind auch der Aufrechterhaltung der Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes bis zum Zeitpunkt der Streichung entgegenzuhalten. Denn danach müsste Polen einen erheblichen Betrag als Zwangsgeld entrichten, obwohl sich die einstweilige Anordnung, deren Durchsetzung es bezweckte, im Nachhinein als überflüssig erwiesen hat.

53.      Den tatsächlichen Folgen einstweiliger Anordnungen, die sich im Nachhinein als überflüssig erweisen, muss man daher in jedem Fall auf andere Weise begegnen.(15)

54.      Somit sind der erste und der dritte Teil des ersten Rechtsmittelgrundes begründet, da das Gericht in den Rn. 42, 47 und 48 des angefochtenen Urteils den akzessorischen Charakter des einstweiligen Rechtsschutzes und die damit einhergehende Parteiherrschaft nicht hinreichend beachtet hat, was praktisch auf eine unzulässige autonome Sanktionswirkung des Zwangsgelds hinausläuft. Aufgrund dieser Rechtsfehler ist das angefochtene Urteil aufzuheben.

2.      Vermögensnachteil

55.      Mit dem zweiten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes beanstandet Polen, das angefochtene Urteil führe zu irreparablen Vermögensnachteilen aufgrund des einstweiligen Rechtsschutzes. Derartige nicht wiedergutzumachende Nachteile seien aber mit der vorläufigen Natur des einstweiligen Rechtsschutzes unvereinbar.

56.      Dieses Vorbringen ist unzulässig, da es den Streitgegenstand gegenüber der Klage vor dem Gericht erweitert. Daher kann Polen auch keinen Punkt des angefochtenen Urteils bezeichnen, den es damit angreift.

57.      Darüber hinaus geht dieses Vorbringen ins Leere, wenn der Gerichtshof meiner Auffassung zum ersten und zum dritten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes folgt, denn danach würden zumindest im vorliegenden Fall auf polnischer Seite keine Vermögensnachteile entstehen.

58.      Für den Fall, dass der Gerichtshof das Vorbringen dennoch für zulässig erachtet, aber meiner Auffassung zum ersten und zum dritten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes nicht folgt, ist jedoch anzumerken, dass das Unionsrecht Instrumente für den Ausgleich solcher Vermögensnachteile enthält.

59.      Es trifft zu, dass die Entscheidung des für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständigen Richters die künftige Entscheidung zur Hauptsache nicht vorwegnehmen darf, indem sie ihr die praktische Wirksamkeit nimmt.(16)

60.      Gleichwohl können tatsächliche endgültige Vermögensschäden aufgrund von einstweiligen Anordnungen nicht vollständig ausgeschlossen werden. Die im vorliegenden Fall zu befürchtenden erheblichen Nachteile bei der Umsetzung der einstweiligen Anordnung vom 21. Mai 2021 habe ich bereits dargelegt.(17)

61.      Falls das Endurteil gezeigt hätte, dass die in der Rechtssache C‑121/21 streitige Genehmigung rechtswidrig war, so bestünde überhaupt kein Anlass, solche Nachteile auszugleichen. Wenn das Endurteil dagegen die Rechtmäßigkeit des Vorhabens bestätigt und dadurch gezeigt hätte, dass die Anordnung nicht notwendig war, würde sich die Frage nach dem Ausgleich von Vermögensnachteilen aufgrund des einstweiligen Rechtsschutzes stellen.

62.      Für diesen Fall könnte man an eine Sicherheitsleistung denken, aber auch an einen Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung gegen die Kommission sowie an Schadensersatzansprüche gegen die Gegenpartei oder gegen den Gerichtshof.

63.      Erstens könnte grundsätzlich eine Sicherheitsleistung Nachteile ausgleichen, wenn sich im Nachhinein zeigt, dass der einstweilige Rechtsschutz nicht gerechtfertigt war. Wie Polen vorträgt, erlaubt Art. 162 Abs. 2 der Verfahrensordnung, die Vollstreckung einer einstweiligen Anordnung von einer Sicherheit abhängig zu machen.

64.      Im vorliegenden Fall hätte man daran denken können, der Tschechischen Republik eine solche Sicherheitsleistung aufzuerlegen. Allerdings wäre eine Sicherheitsleistung für die nachteiligen Folgen der sofortigen Einstellung des Braunkohleabbaus schwer abzuschätzen, insbesondere, wenn diese im Ergebnis auf eine endgültige Einstellung hinauslaufen sollte. Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes hat sich diese Frage aber nicht gestellt, weil Polen keine Stellung einer solchen Sicherheit beantragt hatte.

65.      Zweitens wäre ein Anspruch auf Rückzahlung des Zwangsgelds gegen die Kommission aus ungerechtfertigter Bereicherung denkbar. Eine Person, die einen Verlust erlitten hat, der zu einem Vermögenszuwachs bei einer anderen Person geführt hat, ohne dass ein Rechtsgrund für diese Bereicherung besteht, hat im Allgemeinen nach den Grundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind, gegen den Bereicherten einen Herausgabeanspruch bis zur Höhe dieses Verlusts.(18) Wenn Polen vor der gütlichen Einigung bereits Zwangsgeld an die Kommission abgeführt hätte, die Anordnung des Zwangsgelds aber – wie von mir vorgeschlagen – rückwirkend entfallen wäre, könnte Polen diese Zahlungen folglich zurückfordern. Falls der Gerichtshof meiner Auffassung zur Rückwirkung der gütlichen Einigung aber nicht folgt, bestünde für den Zeitraum davor dagegen weiterhin ein Rechtsgrund für die Leistung des Zwangsgelds an die Kommission.

66.      Drittens könnte ein unionsrechtlicher Schadensersatzanspruch den Ausgleich von Vermögensschäden aufgrund einer einstweiligen Anordnung ermöglichen. Ein Anspruch auf Schadensersatz entweder in Form der außervertraglichen Haftung der Mitgliedstaaten oder der Union besteht nach ständiger Rechtsprechung, sofern drei Voraussetzungen erfüllt sind: Der Schädiger hat gegen eine unionsrechtliche Norm verstoßen, die bezweckt, dem Geschädigten Rechte zu verleihen, der Verstoß gegen diese Norm ist hinreichend qualifiziert und zwischen diesem Verstoß und dem geltend gemachten Schaden besteht ein unmittelbarer Kausalzusammenhang.(19)

67.      Einerseits könnte in sehr seltenen Fällen ein solcher Schadensersatzanspruch gegen den Antragsteller, hier die Tschechische Republik, bestehen. Ein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz verletzt jedoch das Unionsrecht nur, wenn der Antragsteller ihn missbräuchlich stellt, etwa indem er das Gericht bewusst über die Voraussetzungen des einstweiligen Rechtsschutzes täuscht (Prozessbetrug). Dafür liegen im vorliegenden Fall im Hinblick auf die Anträge der Tschechischen Republik keine Anhaltspunkte vor. Zwar wären weiter reichende Haftungsgrundlagen aufgrund der Beantragung einstweiliger Maßnahmen vorstellbar,(20) doch bislang fehlen entsprechende Regelungen.

68.      Andererseits kommt ein Schadensersatzanspruch gegen die Union in Betracht, der auf eine Verletzung des Unionsrechts durch den Gerichtshof bei der Entscheidung über den einstweiligen Rechtsschutz gestützt werden müsste.

69.      Der Gerichtshof hat bereits anerkannt, dass die Verletzung des Unionsrechts durch Gerichte Schadensersatzansprüche auslösen kann.(21) Auch die Rechtskraft steht dem Anspruch nicht entgegen, da ein Schadensersatzanspruch ein anderer Streitgegenstand ist als die ursprüngliche gerichtliche Entscheidung.(22)

70.      Praktisch dürfte es gleichwohl sehr schwer sein, einen solchen Anspruch zu begründen. In der Regel wird eine einstweilige Anordnung nicht rechtswidrig sein, geschweige denn einen qualifizierten Verstoß darstellen.

71.      Im vorliegenden Fall erschiene eine Schadensersatzklage gegen die Union allerdings nicht von vornherein aussichtslos.

72.      Eine einstweilige Anordnung kann im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur getroffen werden, wenn die Notwendigkeit der Anordnung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht glaubhaft gemacht wurde (fumus boni iuris) und wenn sie in dem Sinne dringend ist, dass sie zur Verhinderung eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens für die Interessen des Antragstellers bereits vor der Entscheidung zur Hauptsache erlassen werden und ihre Wirkungen entfalten muss. Der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter nimmt gegebenenfalls auch eine Abwägung der widerstreitenden Interessen vor.(23) Außerdem darf die Entscheidung des für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständigen Richters die künftige Entscheidung zur Hauptsache nicht vorwegnehmen.(24)

73.      Die Vizepräsidentin stützte im Beschluss vom 21. Mai 2021 den fumus boni iuris darauf, dass Polen die streitige Genehmigung für den Braunkohleabbau auf der Grundlage einer Bestimmung erteilt hatte, die es erlaubte, eine Genehmigung ohne vorherige Umweltverträglichkeitsprüfung zu verlängern.(25)

74.      Allerdings ergibt sich bereits aus dem Sachverhalt des Beschlusses vom 21. Mai 2021, dass der Betreiber des Tagebaus dem Antrag auf Verlängerung der Genehmigung eine UVP-Entscheidung beigefügt hatte.(26) Daher ist zweifelhaft, dass die Verlängerung auf dem behaupteten Mangel der Umsetzung der UVP-Richtlinie beruht.

75.      Darüber hinaus hat Polen in der Klagebeantwortung im Hauptsacheverfahren vom 7. Juni 2021, also nach Erlass der einstweiligen Anordnung, dargelegt, dass die zuständigen Stellen am 28. April 2021, also vor Erlass der einstweiligen Anordnung, bereits eine weitere langfristige Genehmigung für den Braunkohleabbau erteilt haben, die auf einer Umweltverträglichkeitsprüfung beruhte. Mit dieser weiteren Genehmigung hätte Polen einem etwaigen Mangel der streitigen Genehmigung abgeholfen. Das hätte die Vizepräsidentin spätestens im Beschluss vom 20. September 2021 bei der Anordnung des Zwangsgelds zur Durchsetzung der einstweiligen Anordnung berücksichtigen müssen.

76.      Es scheint, dass Generalanwalt Pikamäe vor diesem Hintergrund die Prüfung dieses Klagegrundes im Hauptsacheverfahren auf die Vereinbarkeit der polnischen Regelung mit der UVP-Richtlinie beschränkt und die Auffassung vertreten hat, es gehe nicht um die Rechtmäßigkeit der Genehmigung des Braunkohleabbaus.(27)

77.      Wenig überzeugend erscheint auch, dass die Vizepräsidentin keine Verbindung zwischen der angeblichen Verletzung der UVP-Richtlinie und dem schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden herstellt, der die Dringlichkeit begründet. Die Vizepräsidentin stellte fest, dass die Fortsetzung der Tätigkeiten des Braunkohleabbaus im Bergwerk Turów durch die Beeinträchtigung des Grundwassers die Umwelt und die menschliche Gesundheit schwer und irreparabel schädigen könnte.(28) Solche Auswirkungen wären sicherlich im Rahmen einer Umweltverträglichkeitsprüfung zu erörtern. Eine solche Erörterung würde derartige Auswirkungen aber nicht verhindern.(29)

78.      Im Übrigen scheint auch das Klagevorbringen der Tschechischen Republik im Hauptsacheverfahren nicht darauf abgezielt zu haben, dass solche Auswirkungen das Unionsrecht verletzen würden. Vielmehr ging die Tschechische Republik davon aus, dass eine derartige Verletzung der Ziele von Art. 4 Abs. 1 Buchst. a Ziff. ii und Buchst. b Ziff. ii der Wasserrahmenrichtlinie durch Ausnahmen nach Art. 4 Abs. 4 und 5 gerechtfertigt werde.(30)

79.      Und schließlich würde die Frage eine vertiefte Prüfung verdienen, ob die Vizepräsidentin im Rahmen der Interessenabwägung(31) und anlässlich der Verhängung des Zwangsgelds(32) das polnische Vorbringen zu den Nachteilen der Einstellung des Braunkohleabbaus(33) vertretbar gewürdigt oder die Schwelle zur Beweisverfälschung überschritten und damit vielleicht sogar die Hauptsache vorweggenommen hat.

80.      Zu diesen möglichen Grundlagen eines Schadensersatzanspruchs hat Polen im vorliegenden Verfahren jedoch nichts vorgetragen.

81.      Es kann im Übrigen auch nicht die Aufgabe der Kommission sein, einem entsprechenden Vorbringen zur Verletzung des Unionsrechts durch den Gerichtshof entgegenzutreten. Vielmehr müsste die Union in einem solchen Verfahren auch vor dem Gerichtshof durch denselben vertreten werden.(34)

82.      Das schließt es allerdings nicht aus, dass die Kommission sich, gegebenenfalls gemeinsam mit dem Rat und dem Parlament, um eine gütliche Einigung im Streit um das Zwangsgeld bemüht, falls der Gerichtshof meiner Auffassung zum ersten und zum dritten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes nicht folgen sollte. So wäre allen Beteiligten wahrscheinlich gedient, wenn die Union diese Mittel für ein Sonderprogramm zur Förderung der Energiewende in Polen einsetzt und der Mitgliedstaat dafür auf weitere Maßnahmen zur Rückgewinnung des Zwangsgelds verzichtet.

83.      Was den zweiten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes angeht, mit dem Polen nicht wiedergutzumachende Vermögensnachteile geltend macht, ist jedoch festzuhalten, dass er wegen der dargestellten Ausgleichsmechanismen unbegründet wäre, wenn der Gerichtshof ihn – entgegen meiner Auffassung – als zulässig ansehen würde.

3.      Falsche Auslegung des Beschlusses vom 19. Mai 2022

84.      Mit dem vierten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes wendet Polen sich gegen Rn. 40 des angefochtenen Urteils. Das Gericht hat dort u. a. festgestellt, aus Rn. 26 des Beschlusses des Vizepräsidenten vom 19. Mai 2022 gehe ausdrücklich hervor, dass die Verurteilung der Republik Polen, an die Kommission ein Zwangsgeld von 500 000 Euro pro Tag bis zur Einstellung des Braunkohleabbaus zu zahlen, (erst) ab dem 4. Februar 2022 als hinfällig anzusehen ist. Anders gesagt sei das von der Vizepräsidentin mit Beschluss vom 20. September 2021 verhängte tägliche Zwangsgeld (erst) seit dem 4. Februar 2022 ohne rechtlichen Bestand. Daher lief das tägliche Zwangsgeld nach Rn. 41 des angefochtenen Urteils vom 20. September 2021 bis zum 3. Februar 2022.

85.      Polen hält dem entgegen, der Vizepräsident habe im Beschluss vom 19. Mai 2022 lediglich festgestellt, dass er nach Art. 163 der Verfahrensordnung nur befugt sei, eine einstweilige Anordnung für die Zukunft zu ändern. Eine rückwirkende Aufhebung liege nicht in seiner Kompetenz.(35) Folglich enthalte dieser Beschluss keine Feststellung zur (automatischen) rückwirkenden Beseitigung der Festsetzung von Zwangsgeld durch die Streichung der Hauptsache.

86.      Polen legt richtigerweise dar, dass die Feststellungen in Rn. 26 des Beschlusses vom 19. Mai 2022 unmittelbar darauf abzielten, die Entscheidung des Vizepräsidenten zu stützen. Dafür war eine Feststellung, die Festsetzung von Zwangsgeld könne nicht rückwirkend entfallen, nicht notwendig. Vielmehr reichten die Feststellungen aus, der Vizepräsident könne die Festsetzung nicht rückwirkend aufheben und durch die Streichung sei die Festsetzung für die Zukunft entfallen.

87.      Allerdings trifft auch das Gericht in Rn. 40 des angefochtenen Urteils keine andere Feststellung.

88.      Für das polnische Anliegen ist vielmehr die auf Rn. 40 des angefochtenen Urteils gestützte Schlussfolgerung in Rn. 42 entscheidend, dass die Streichung der Hauptsache nicht zum Erlöschen der Verpflichtung geführt hat, den als Zwangsgeld geschuldeten Betrag zu zahlen. Diese Schlussfolgerung ist, wie bereits dargelegt,(36) mit einem Rechtsfehler behaftet und daher aufzuheben.

89.      Dagegen ist der vierte Teil des ersten Rechtsmittelgrundes unbegründet.

B.      Begründung des angefochtenen Urteils

90.      Mit dem zweiten Rechtsmittelgrund wendet sich Polen gegen Rn. 46 des angefochtenen Urteils. Dort weist das Gericht das Vorbringen Polens zurück, aus den meisten nationalen Rechtssystemen ergebe sich, dass die Sicherungsmaßnahmen, die in Erwartung einer Endentscheidung erlassen würden, rückwirkend außer Kraft träten, sobald das Verfahren zur Hauptsache gegenstandslos werde. Dies könne nicht für den Nachweis ausreichen, dass diese Verfahrensvorschriften zu den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten gehören und daher als Rechtsquelle Teil der Rechtsordnung der Europäischen Union sein könnten.

91.      Polen bestreitet mit diesem Rechtsmittelgrund nicht den Inhalt dieser Feststellung des Gerichts, sondern trägt nur vor, die Begründung sei unzureichend. Zu prüfen ist daher allein, ob aus der Begründung die Überlegungen des Gerichts klar und eindeutig hervorgehen, so dass die Betroffenen die Gründe für die Entscheidung des Gerichts erkennen können und der Gerichtshof seine Kontrollfunktion ausüben kann.(37)

92.      Diesen Anforderungen genügen die Ausführungen in Rn. 46 des angefochtenen Urteils. Danach haben die Angaben Polens das Gericht nicht überzeugt, dass eine allgemeine Verfassungsüberlieferung der Mitgliedstaaten existiert, wonach eine gütliche Einigung zur rückwirkenden Nichtigkeit einstweiliger Anordnungen und der entsprechenden Durchsetzungsmaßnahmen führt. Der Gerichtshof hat in einem ähnlichen Fall seine Feststellung noch deutlich knapper begründet.(38)

93.      Folglich ist diese Feststellung mit einer ausreichenden Begründung versehen und der zweite Rechtsmittelgrund unbegründet.

V.      Zur Klage vor dem Gericht

94.      Nach Art. 61 Abs. 1 seiner Satzung hebt der Gerichtshof die Entscheidung des Gerichts auf, wenn das Rechtsmittel begründet ist. Er kann sodann den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung reif ist, oder die Sache zur Entscheidung an das Gericht zurückverweisen.

95.      Nach meinen Überlegungen zum ersten und zum dritten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes hat die gütliche Einigung dazu geführt, dass die Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes rückwirkend entfallen sind. Daher hat die Kommission mit den angefochtenen Beschlüssen zu Unrecht das Zwangsgeld mit polnischen Ansprüchen verrechnet. Diese Beschlüsse sind daher aufzuheben.

VI.    Kosten

96.      Nach Art. 184 Abs. 2 der Verfahrensordnung entscheidet der Gerichtshof über die Kosten, wenn das Rechtsmittel begründet ist und er den Rechtsstreit selbst endgültig entscheidet. Gemäß Art. 138 Abs. 1, der nach Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

97.      Da Polen obsiegt und einen Kostenantrag stellt, sind der Kommission die Kosten Polens und ihre eigenen Kosten aufzuerlegen.

VII. Ergebnis

98.      Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, wie folgt zu entscheiden:

1)      Das Urteil des Gerichts vom 29. Mai 2024, Polen/Kommission (T‑200/22 und T‑314/22, EU:T:2024:329), wird aufgehoben.

2)      Die Beschlüsse der Europäischen Kommission vom 7. und 8. Februar, 16. und 31. März sowie vom 16. Mai 2022, mit denen sie die Beträge durch Verrechnung eingezogen hat, die die Republik Polen für die Zeiträume zum einen vom 20. September 2021 bis zum 17. Januar 2022 und zum anderen vom 18. Januar 2022 bis zum 3. Februar 2022 als tägliches Zwangsgeld schuldete, das von der Vizepräsidentin des Gerichtshofs mit Beschluss vom 20. September 2021, Tschechische Republik/Polen (C‑121/21 R, EU:C:2021:752), verhängt worden war, werden für nichtig erklärt.

3)      Die Europäische Kommission trägt die Kosten, die der Republik Polen sowie ihr selbst im Verfahren vor dem Gericht und dem Gerichtshof entstanden sind.








































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