C-48/23 – Alajärven Sähkö u.a.

C-48/23 – Alajärven Sähkö u.a.

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2024:695

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

ATHANASIOS RANTOS

vom 5. September 2024(1)

Rechtssache C-48/23

Alajärven Sähkö Oy u. a.,

Elenia Verkko Oyj

gegen

Energiavirasto

(Vorabentscheidungsersuchen des Markkinaoikeus [Marktgericht, Finnland])

„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Elektrizitätsbinnenmarkt – Richtlinie (EU) 2019/944 – Art. 57 Abs. 4 und 5 – Unabhängigkeit der nationalen Regulierungsbehörden – Art. 59 – Aufgaben und Befugnisse dieser Behörden – Festlegung von Kontrollmethoden – Nationale Rechtsvorschriften, mit denen bezweckt wird, eine Senkung des Stromverteilungspreises zu bewirken, ohne unmittelbar in die Übertragungs- oder Verteilungstarife oder die entsprechenden Methoden einzugreifen – Entscheidung einer Regulierungsbehörde, ihre Kontrollmethoden infolgedessen anzupassen – Recht der Regierung eines Mitgliedstaats, allgemeine Leitlinien zu erlassen, die nicht die Aufgaben und Befugnisse der Regulierungsbehörde betreffen – Tragweite dieses Rechts “

I.      Einleitung

1.        Gemäß der Richtlinie (EU) 2019/944(2) müssen die Mitgliedstaaten die Unabhängigkeit der nationalen Regulierungsbehörden im Rahmen des Elektrizitätsbinnenmarkts gewährleisten. Diese Behörden sind insbesondere dafür zuständig, anhand transparenter Kriterien die Übertragungs- oder Verteilungstarife und/oder die entsprechenden Methoden festzulegen oder zu genehmigen.

2.        Inwieweit erlaubt es die genannte Richtlinie der Regierung eines Mitgliedstaats, das Kostenniveau der Betreiber von Stromverteilernetzen zu senken, um eine Senkung der Verbrauchertarife zu bewirken, ohne die Unabhängigkeit der nationalen Regulierungsbehörde zu beeinträchtigen? Dies ist im Wesentlichen die Frage des Markkinaoikeus (Marktgericht, Finnland).

3.        Das Vorabentscheidungsersuchen ergeht im Rahmen eines von der Alajärven Sähkö Oy u. a. und der Elenia Verkko Oyj (im Folgenden: Elenia), beides Netzbetreiber, eingeleiteten Verfahrens in Bezug auf Entscheidungen der Energiavirasto (Energiebehörde, Finnland), d. h. der nationalen Regulierungsbehörde, mit denen diese ihre Kontrollmethoden zur Bestimmung der Rendite von Netzbetreibern infolge des Erlasses eines Gesetzes änderte, mit dem eine Senkung des Stromverteilungspreises bewirkt werden sollte.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

4.        Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie 2019/944 bestimmt:

„Mit dieser Richtlinie werden gemeinsame Vorschriften für die Elektrizitätserzeugung, -übertragung, -verteilung und -versorgung, die Energiespeicherung sowie Vorschriften im Bereich des Verbraucherschutzes erlassen, um für die Schaffung wirklich integrierter, wettbewerbsgeprägter, verbraucherorientierter, fairer und transparenter Elektrizitätsmärkte in der Union zu sorgen.

Diese Richtlinie dient dazu, unter Nutzung der Vorteile eines integrierten Marktes für die Verbraucher erschwingliche und transparente Energiepreise und -kosten, ein hohes Maß an Versorgungssicherheit und einen reibungslosen Übergang zu einem nachhaltigen Energiesystem mit geringen CO2-Emissionen sicherzustellen. Sie enthält grundsätzliche Bestimmungen über die Organisation und Funktionsweise des Elektrizitätssektors der Union … sowie Vorschriften über die Unabhängigkeit der Regulierungsbehörden in den Mitgliedstaaten.

Mit dieser Richtlinie werden zudem Methoden der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, Regulierungsbehörden und Übertragungsnetzbetreibern festgelegt, um einen vollkommen vernetzten Elektrizitätsbinnenmarkt zu schaffen, auf dem die Einspeisung von Elektrizität aus erneuerbaren Quellen, der freie Wettbewerb und die Versorgungssicherheit gefördert werden.“

5.        Art. 57 („Benennung und Unabhängigkeit der Regulierungsbehörden“) der Richtlinie 2019/944 sieht vor:

„(1)      Jeder Mitgliedstaat benennt auf nationaler Ebene eine einzige Regulierungsbehörde.

(4)      Die Mitgliedstaaten gewährleisten die Unabhängigkeit der Regulierungsbehörde und stellen sicher, dass diese ihre Befugnisse unparteiisch und transparent ausübt. Hierzu stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass die Regulierungsbehörde bei der Wahrnehmung der ihr durch diese Richtlinie und zugehörige Rechtsvorschriften übertragenen Regulierungsaufgaben

a)      rechtlich getrennt und funktional unabhängig von anderen öffentlichen und privaten Einrichtungen ist

b)      und sicherstellt, dass ihr Personal und ihr Management

i)      unabhängig von Marktinteressen handelt und

ii)      bei der Wahrnehmung der Regulierungsaufgaben keine direkten Weisungen von Regierungsstellen oder anderen öffentlichen oder privaten Einrichtungen einholt oder entgegennimmt. Eine etwaige enge Zusammenarbeit mit anderen zuständigen nationalen Behörden oder allgemeine politische Leitlinien der Regierung, die nicht mit den Regulierungsaufgaben und -befugnissen gemäß Artikel 59 im Zusammenhang stehen, bleiben hiervon unberührt.

(5)      Zur Wahrung der Unabhängigkeit der Regulierungsbehörde stellen die Mitgliedstaaten insbesondere sicher,

a)      dass die Regulierungsbehörde unabhängig von allen politischen Stellen selbständige Entscheidungen treffen kann,

…“

6.        Art. 59 („Aufgaben und Befugnisse der Regulierungsbehörden“) der Richtlinie 2019/944 bestimmt:

„(1)      Die Regulierungsbehörde hat folgende Aufgaben:

a)      Sie ist dafür zuständig, anhand transparenter Kriterien die Übertragungs- oder Verteilungstarife oder die entsprechenden Methoden oder beides festzulegen oder zu genehmigen.

m)      Sie legt für die Dienstleistungs- und Versorgungsqualität geltende Normen und Anforderungen fest oder genehmigt sie oder leistet hierzu gemeinsam mit anderen zuständigen Behörden einen Beitrag, und sie überprüft die bisherige Wirkung der Regeln für die Sicherheit und Zuverlässigkeit des Netzes.

(7)      Den Regulierungsbehörden obliegt es, außer wenn die [Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ACER)] aufgrund ihrer Koordinierungsaufgaben nach Artikel 5 Absatz 2 der Verordnung (EU) 2019/942[(3)] für die Festlegung und Genehmigung der Bedingungen oder Methoden für die Durchführung von Netzkodizes und Leitlinien gemäß Kapitel VII der Verordnung (EU) 2019/943[(4)] zuständig ist, zumindest die nationalen Methoden zur Berechnung oder Festlegung folgender Bedingungen mit ausreichendem Vorlauf vor deren Inkrafttreten festzulegen oder zu genehmigen:

a)      die Bedingungen für den Anschluss an und den Zugang zu den nationalen Netzen, einschließlich der Tarife für die Übertragung und die Verteilung oder ihrer Methoden; diese Tarife oder Methoden sind so zu gestalten, dass die notwendigen Investitionen in die Netze auf eine Art und Weise vorgenommen werden können, dass die Lebensfähigkeit der Netze gewährleistet ist;

…“

B.      Finnisches Recht

7.        § 19 („Verpflichtung zur Weiterentwicklung des Netzes“) des Sähkömarkkinalaki (588/2013) (Strommarktgesetz [588/2013]) in der durch das Laki sähkömarkkinalain muuttamisesta (730/2021) (Gesetz zur Änderung des Strommarktgesetzes [730/2021](5)) geänderten Fassung (im Folgenden: Strommarktgesetz) bestimmt:

„Der Netzbetreiber hat, um für die Nutzer seines Netzes den Zugang zu Strom in hinreichend guter Qualität zu gewährleisten, sein Stromnetz sowie die Anbindungen an andere Netze nach Maßgabe der für den Betrieb von Stromnetzen geregelten Anforderungen und der angemessenen Bedürfnisse der Netzbenutzer in Stand zu halten, zu betreiben und weiterzuentwickeln.

Ein Stromnetz ist in der Weise zu planen, zu errichten und in Stand zu halten, dass:

1.      das Stromnetz die Qualitätsanforderungen an den Betrieb von Stromnetzen erfüllt und die technische Qualität der Stromübertragung sowie -verteilung auch im Übrigen gut ist;

6.      der Netzbetreiber die Übertragungs- und Verteilungsdienste an die Netzbenutzer in kosteneffizienter Weise erbringen kann;

…“

8.        § 51 („Qualitätsanforderungen an den Betrieb eines Verteilernetzes“) des Strommarktgesetzes enthält detaillierte Vorschriften zu der in seinem Titel genannten Materie.

9.        § 52 („Entwicklungsplan für das Verteilernetz“) des Strommarktgesetzes sieht vor:

„Die Entwicklung des Verteilernetzes eines Verteilernetzbetreibers hat auf einem transparenten Entwicklungsplan für das Verteilernetz zu beruhen, der Folgendes enthalten muss:

1.      einen Plan für zentrale Investitionen in das Verteilernetz, die zur Aufrechterhaltung der Übertragungskapazität des Verteilernetzes sowie für den Anschluss von neuen Stromproduktionskapazitäten und neuen Lasten an das Verteilernetz in den folgenden zehn Jahren unter Einschluss von Ladestationen für Elektroautos und landseitigen Stromversorgungsbedarf für See- und Binnenschiffe notwendig sind;

2.      Maßnahmen, deren Umsetzung dazu führt, dass die in den §§ 51 und 119 geregelten Anforderungen im Verteilernetz erfüllt und aufrechterhalten werden;

3.      einen Plan zur möglichen Nutzung von flexiblem Stromverbrauch, Stromspeicherung, Energieeffizienzmaßnahmen des Verteilernetzbetreibers und anderen Ressourcen als Alternativen zur Ausweitung der Übertragungskapazität des Verteilernetzes;

…“

10.      § 119 („Übergangsvorschrift zur Betriebszuverlässigkeit von Verteilernetzen“) des Strommarktgesetzes sieht vor:

„Bis zum 31. Dezember 2028 muss der Verteilernetzbetreiber in seinem Verantwortungsbereich die Anforderungen des § 51 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 erfüllen. Die Anforderungen müssen bis zum 31. Dezember 2019 für mindestens 50 % der Nutzer des Verteilernetzes, mit Ausnahme von Zweitwohnungen, und bis zum 31. Dezember 2023 für mindestens 75 % der Nutzer des Verteilernetzes, mit Ausnahme von Zweitwohnungen, erfüllt sein.

Beträgt der Anteil der Erdkabel des Mittelspannungsnetzes im Verantwortungsbereich des Verteilernetzbetreibers am 31. Dezember 2018 nicht mehr als 60 %, so muss der Verteilernetzbetreiber in seinem Verantwortungsbereich die Anforderungen des § 51 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 bis zum 31. Dezember 2036 erfüllen. In diesem Fall müssen bis zum 31. Dezember 2028 die Anforderungen für mindestens 75 % der Nutzer des Verteilernetzes, mit Ausnahme von Zweitwohnungen, erfüllt sein.“

11.      In den Vorarbeiten des Gesetzes Nr. 730/2021 wird in den detaillierten Begründungen zur Änderung von § 119 des Strommarktgesetzes u. a. Folgendes ausgeführt. Die Verlängerung der Frist für die Erfüllung der Anforderungen an die Betriebszuverlässigkeit von Verteilernetzen wird das Regelungsumfeld der Verteilernetzbetreiber erheblich verändern. Die Steuerungswirkungen von § 119 Abs. 2 und 3 des Strommarktgesetzes müssen mit der sonstigen Netzaufsicht gleichlaufen. Deshalb müssen wegen der vorgeschlagenen Änderungen der genannten Vorschriften auch bei den Methoden zur Kontrolle der Festsetzung der Netzentgelte die Verlängerung der Frist für die Erfüllung der Anforderungen an die Versorgungssicherheit und die damit verbundenen Änderungen an den Investitionen der Verteilernetzbetreiber und deren Finanzierung berücksichtigt werden. Die Auswirkungen der Veränderung des Regelungsumfelds müssen beispielsweise in verschiedenen, in den Methoden zur Berechnung der Tarife der Verteilernetzbetreiber enthaltenen Elementen berücksichtigt werden, die mit der Finanzierung von Investitionen verbunden sind und Anreize für Investitionen schaffen.

12.      § 6 („Aufgaben der Energiebehörde als nationale Regulierungsbehörde“) des Laki sähkö- ja maakaasumarkkinoiden valvonnasta (590/2013) (Gesetz über die Aufsicht über den Strom- und Erdgasmarkt [590/2013]) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Aufsichtsgesetz) bestimmt:

„Die Energiebehörde in ihrer Eigenschaft als nationale Regulierungsbehörde im Sinne der Rechtsvorschriften der Europäischen Union zum Strom- und Erdgassektor ist u. a. dafür zuständig:

1.      gemäß dem in diesem Gesetz vorgesehenen Verfahren die Methoden zur Festsetzung der Übertragungs- und Verteilungstarife für die Betreiber von Strom- und Erdgasnetzen festzusetzen;

7.      die Einhaltung der Vorschriften über die Sicherheit und Zuverlässigkeit der Strom- und Erdgasnetze zu überwachen, die bisherige Leistung der Netze zu bewerten und an der Festlegung der Anforderungen an die Qualität der Dienstleistungen der Strom- und Erdgasnetze und der Strom- und Erdgasversorgung mitzuwirken.

…“

13.      In § 10 („Von der Energiebehörde festgelegte Bedingungen und Methoden“) des Aufsichtsgesetzes heißt es:

„Die Energiebehörde hat für den Netzbetreiber, systemverantwortlichen Hauptnetzbetreiber, systemverantwortlichen Übertragungsnetzbetreiber sowie Betreiber von Anlagen für die Verarbeitung von Flüssigerdgas die Bedingungen für die Inanspruchnahme der Dienstleistungen und die Methoden für die Festsetzung der Tarife für die nachstehend aufgeführten Dienstleistungen durch Bescheid (Festsetzungsbescheid) festzusetzen, bevor diese eingeführt werden:

1.      die Methoden zur Bestimmung der Rendite des Netzbetriebs eines Netzbetreibers und der für die Übertragungsdienste zu erhebenden Entgelte während eines Kontrollzeitraums;

…“

14.      § 13 („Änderung des Festsetzungsbescheids“) des Aufsichtsgesetzes sieht vor:

„Die [Energieb]ehörde kann einen Festsetzungsbescheid auf Antrag des Adressaten oder von Amts wegen durch Erlass eines neuen Bescheids abändern. Ein befristet erteilter Festsetzungsbescheid kann auf Initiative des Adressaten oder von Amts wegen durch die [Energieb]ehörde abgeändert werden und ein unbefristet geltender Festsetzungsbescheid von Amts wegen durch die [Energieb]ehörde, wenn:

2.      die Abänderung auf einer Änderung der gesetzlichen Regelung beruht.

…“

III. Ausgangsverfahren, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

15.      Die Energiebehörde setzte durch Bescheide vom 30. November 2015 (im Folgenden: Bescheide vom 30. November 2015) für den vierten Kontrollzeitraum vom 1. Januar 2016 bis zum 31. Dezember 2019 und für den fünften Kontrollzeitraum vom 1. Januar 2020 bis zum 31. Dezember 2023 Kontrollmethoden fest, die die Bestimmung der Rendite der Betreiber für den Netzbetrieb und der für die Elektrizitätsübertragungsdienste zu erhebenden Entgelte betrafen (im Folgenden: ursprüngliche Kontrollmethoden).

16.      Die Energiebehörde änderte mit Bescheiden vom 15. Dezember 2021 (im Folgenden: Bescheide vom 15. Dezember 2021) die Bescheide vom 30. November 2015 für den Zeitraum vom 1. Januar 2022 bis zum 31. Dezember 2023 in Bezug auf die ursprünglichen Kontrollmethoden ab. In den Bescheiden vom 15. Dezember 2021 wurde ausgeführt, dass die Energiebehörde von Amts wegen in Bezug auf die Kontrollmethoden tätig geworden sei, nachdem am 1. August 2021 das Gesetz Nr. 730/2021 in Kraft getreten sei.

17.      Am 17. und 19. Januar 2022 erhoben Alajärven Sähkö und Elenia beim Markkinaoikeus (Marktgericht), dem vorlegenden Gericht, jeweils Klage u. a. auf Aufhebung der Bescheide vom 15. Dezember 2021, soweit die ursprünglichen Kontrollmethoden dahin geändert worden seien, dass die bei Berechnung der Rendite der Betreiber von Elektrizitätsnetzen anzuwendenden Einzelpreise aktualisiert worden seien und die bei Bestimmung des risikofreien Zinssatzes anwendbare alternative Berechnungsweise gestrichen worden sei. Die Klägerinnen trugen mit ihren Klagen vor, dass die Energiebehörde entgegen Art. 57 der Richtlinie 2019/944 diese Bescheide nicht selbständig als unabhängige Regulierungsbehörde erlassen habe.

18.      Die Energiebehörde beantragte in ihrer Klagebeantwortung, dass das vorlegende Gericht die Klagen abweist, und trug u. a. vor, dass Hintergrund der Änderung der ursprünglichen Kontrollmethoden Änderungen des Strommarkt- und des Aufsichtsgesetzes gewesen seien. Der nationale Gesetzgeber sei zu der Einschätzung gekommen, dass diese Änderungen die Anforderungen des Unionsrechts an die Unabhängigkeit der nationalen Regulierungsbehörde erfüllten. Bei den fraglichen Änderungen habe es sich lediglich um eine Regelung auf der Ebene allgemeiner Leitlinien gehandelt.

19.      Das vorlegende Gericht erläutert, dass es die Frage zu entscheiden habe, ob die Energiebehörde die ursprünglichen Kontrollmethoden mitten im Kontrollzeitraum durch die Bescheide vom 15. Dezember 2021 habe ändern können. Hierbei sei zu prüfen, ob durch die mit dem Gesetz Nr. 730/2021 eingeführten Änderungen des Strommarktgesetzes die Unabhängigkeit der Energiebehörde, bei der es sich um die nationale Regulierungsbehörde im Sinne von Art. 57 der Richtlinie 2019/944 handele, verletzt worden sei.

20.      Insoweit habe die Energiebehörde die vorstehend genannten Bescheide im Wesentlichen mit den Vorarbeiten des Gesetzes Nr. 730/2021 begründet. In diesen Bescheiden werde u. a. ausgeführt, dass die Energiebehörde nach den aus diesem Gesetz resultierenden Änderungen des Strommarktgesetzes begonnen habe, die ursprünglichen Kontrollmethoden zwecks Anpassung an die sich aus den nationalen Rechtsvorschriften ergebenden Anforderungen zu ändern. Den Bescheiden zufolge habe das zentrale Ziel der Änderungen des Strommarktgesetzes darin bestanden, der Energiebehörde neue Werkzeuge zur Verfügung zu stellen, mit deren Hilfe Einfluss auf die Entwicklung der Stromübertragungsentgelte genommen werden könne, ohne dabei die Entwicklung versorgungssicherer und intelligenter Stromnetze zu gefährden.

21.      Im Übrigen sei gemäß der Regierungsvorlage, die zum Erlass des Gesetzes Nr. 730/2021 geführt habe (im Folgenden: Regierungsvorlage), Ziel der Änderungen des Strommarktgesetzes gewesen, einen Anstieg der Preise für die Stromverteilung durch Maßnahmen zu dämpfen, die das Kostenniveau der Verteilernetzbetreiber senkten und einen Anstieg des Kostenniveaus flach hielten. In diesem Zusammenhang seien in der Regierungsvorlage die Änderungen der Kontrollmethoden behandelt worden, die die Energiebehörde nach Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 730/2021 vorgenommen habe, wobei zum Ausdruck gebracht worden sei, dass eine Überprüfung dieser Methoden nicht voraussetze, dass unmittelbar auf den Inhalt der Kontrollmethoden bezogene Rechtsvorschriften vorlägen.

22.      In der Regierungsvorlage heiße es ferner, dass die Energiebehörde in einem Hintergrundbericht, den sie für das Työ- ja elinkeinoministeriö (Arbeits- und Wirtschaftsministerium, Finnland) im Zusammenhang mit den Vorarbeiten des Gesetzes Nr. 730/2021 abgefasst habe, ausgeführt habe, dass sie anlässlich der vorgeschlagenen Änderungen der nationalen Rechtsvorschriften für Betreiber von Elektrizitätsnetzen die ursprünglichen Kontrollmethoden schon für den laufenden Kontrollzeitraum ändern müsse. Nach einer in der Regierungsvorlage referierten Einschätzung des Ministeriums hätten die von der Energiebehörde mitgeteilten Änderungen der Berechnungsmethoden für die Verteilungstarife erhebliche Auswirkungen auf die Einnahmen der Netzbetreiber und ihre bei ihren Eigentümern als Einnahmen zu verbuchenden Renditen. In der Regierungsvorlage würden außerdem Bewertungen der finanziellen Auswirkungen der Änderungen der Kontrollmethoden auf die zulässige Höhe der Rendite der Verteilernetzbetreiber sowie auf die bei den Kunden der Verteilernetzbetreiber erhobenen Verteilungsentgelte dargelegt.

23.      Außerdem werde in einem im Zusammenhang mit der parlamentarischen Beratung der Regierungsvorlage abgefassten Bericht des Wirtschaftsausschusses u. a. festgestellt, dass in die durch die angewandten Berechnungsmethoden ermöglichten unangemessenen Renditen der Netzbetreiber eingegriffen werden müsse. Gemäß diesem Bericht sei nach den ursprünglichen Kontrollmethoden die Festlegung des Netzwerts auf der Grundlage der von der Energiebehörde festgelegten komponentenbezogenen Einzelpreise erfolgt. Die Einzelpreise seien auf acht Jahre für die Jahre 2016 bis 2023 festgelegt worden, wodurch die Preise nicht mehr dem tatsächlichen Kostenniveau entsprächen. Im genannten Bericht werde hervorgehoben, dass ein wesentlicher Faktor, der den Regelungen zur Festsetzung der Übertragungsentgelte für Strom und den Berechnungsmethoden der Tarife zugrunde liege, die Bewertung des Stromnetzes sei, nach der sich die Rendite bestimme, und der Zweck der vorgeschlagenen Änderungen der nationalen Rechtsvorschriften ausdrücklich darin bestehe, eine Änderung des Kontrollmodells mitten in einem laufenden Kontrollzeitraum zu ermöglichen.

24.      Zudem hätten Alajärven Sähkö und Elenia vor dem vorlegenden Gericht vorgetragen, dass die Umsetzung der sich aus den Vorarbeiten des Gesetzes Nr. 730/2021 ergebenden Ziele und die Einflussnahme auf die Unabhängigkeit der Energiebehörde auch aus den von ihnen übermittelten Unterlagen ersichtlich gewesen seien, insbesondere aus dem Präsentationsmaterial des Arbeits- und Wirtschaftsministeriums für die Pressekonferenz vom 15. Oktober 2020 sowie dem Präsentationsmaterial des Wirtschaftsministers für die Pressekonferenz vom 28. Januar 2021.

25.      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die mit dem Gesetz Nr. 730/2021 eingeführten Änderungen des Strommarktgesetzes als solche die Methoden der Kontrolle der Netzbetreiber, die die Energiebehörde bei der Bestimmung der angemessenen Rendite der Verteilernetzgesellschaften anwende, nicht unmittelbar betroffen hätten. Ebenso wenig hätten diese Änderungen die bei der Berechnung der Rendite anzuwendenden Einzelpreise oder den bei der Bestimmung des angemessenen Renditesatzes anzuwendenden risikofreien Zinssatz unmittelbar betroffen. Wie auch in den Vorarbeiten des Gesetzes Nr. 730/2021 ausgeführt, habe der Zweck der Änderungen darin bestanden, eine Senkung des Stromverteilungspreises zu bewirken. Wie in den Vorarbeiten ausgeführt, seien der Energiebehörde Instrumente und Gründe an die Hand gegeben worden, um die Berechnungsmethoden bereits mitten im Kontrollzeitraum so zu ändern, dass eine Senkung des Stromverteilungspreises bewirkt werde, und diese Änderungen seien dargelegt und ihre Auswirkungen vorab bewertet worden. Diese Erwägungen schienen offenkundig auch für den Erlass der Bescheide der Energiebehörde vom 15. Dezember 2021 eine Rolle gespielt zu haben.

26.      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist eine Auslegung des Gerichtshofs zu der Frage erforderlich, ob das Ziel, den Anstieg des Stromverteilungspreises einzudämmen und eine Senkung dieses Preises zu bewirken, als eine Angelegenheit anzusehen ist, die nicht unter die Aufgaben und Befugnisse der nationalen Regulierungsbehörde nach Art. 59 der Richtlinie 2019/944 fällt, dies insbesondere, wenn das Ziel der Gesetzesänderung beispielsweise in einer Verbesserung der Kosteneffizienz der Netzunternehmen bestehe, oder ob es sich insoweit auch um allgemeine politische Leitlinien handeln kann, die nicht im Zusammenhang mit diesen Aufgaben und Befugnissen stünden, und, wenn ja, welches die Voraussetzungen hierfür wären. Ferner sei zu prüfen, welche Bedeutung dem Umstand beizumessen sei, dass die betreffenden Ausführungen in den Vorarbeiten des Gesetzes Nr. 730/2021 dargelegt worden seien(6), und ob diese Ausführungen als politische Leitlinien im Sinne von Art. 59 der Richtlinie angesehen werden könnten.

27.      Vor diesem Hintergrund hat das Markkinaoikeus (Marktgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Welche Kriterien sind bei der Bewertung heranzuziehen und zu beachten, in welchen Fällen es sich um ein Eingreifen in die zentralen Regulierungsaufgaben und -befugnisse der nationalen Regulierungsbehörde in einer Weise handelt, die die Unabhängigkeit der nationalen Regulierungsbehörde gemäß Art. 57 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2019/944 nicht wahrt, und in welchen Fällen es sich um allgemeine Leitlinien handelt, die nicht im Zusammenhang mit den Regulierungsaufgaben und ‑befugnissen im Sinne von Art. 59 der Richtlinie stehen?

2.      Ist eine Änderung nationaler Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, mit der bezweckt wurde, in der in den Vorarbeiten zu der Gesetzesänderung dargestellten Weise Einfluss auf die Stromverteilungspreise zu nehmen, indem Änderungen am nationalen Strommarktgesetz vorgenommen wurden, die das Regelungsumfeld der Netzbetreiber betreffen, durch die an sich zwar weder in die Übertragungs- oder Verteilungstarife noch in die Methoden zu ihrer Berechnung unmittelbar eingegriffen wurde, als deren Konsequenz die nationale Regulierungsbehörde ihre Kontrollmethoden jedoch mitten im Kontrollzeitraum ändern musste, im Hinblick auf die Anforderung der Unabhängigkeit der Regulierungsbehörde als mit Art. 57 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2019/944 vereinbar anzusehen?

28.      Alajärven Sähkö, Elenia, die Energiebehörde, die finnische und die zyprische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht.

IV.    Würdigung

29.      Mit seinen Vorlagefragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 57 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2019/944, der die Unabhängigkeit der nationalen Regulierungsbehörden betrifft, dahin auszulegen ist, dass er Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegensteht, mit denen, wie in den Vorarbeiten zu dem betreffenden Gesetz ausgeführt, bezweckt wird, den Stromverteilungspreis zu senken, ohne unmittelbar in die Stromübertragungs- oder ‑verteilungstarife und/oder die entsprechenden Methoden im Sinne von Art. 59 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie einzugreifen, die aber dazu geführt haben, dass die die nationale Regulierungsbehörde ihre Kontrollmethoden mitten im Kontrollzeitraum geändert hat.

30.      Zur Beantwortung dieser Frage werde ich zunächst den Umfang der Unabhängigkeit prüfen, die die Richtlinie 2019/944 den nationalen Regulierungsbehörden verleiht (dazu unter A), und sodann werde ich die Wahrung der Unabhängigkeit dieser Behörden in Bezug auf ihre Aufgabe prüfen, die Übertragungs- oder Verteilungstarife und/oder die entsprechenden Methoden festzulegen oder zu genehmigen (dazu unter B).

A.      Zum Umfang der Unabhängigkeit, die die Richtlinie 2019/944 den nationalen Regulierungsbehörden verleiht

31.      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass Art. 194 Abs. 1 AEUV vorsieht, dass die Energiepolitik der Union im Geiste der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten im Rahmen der Verwirklichung oder des Funktionierens des Binnenmarkts und unter Berücksichtigung der Notwendigkeit der Erhaltung und Verbesserung der Umwelt folgende Ziele verfolgt: Sicherstellung des Funktionierens des Energiemarkts, Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit in der Union, Förderung der Energieeffizienz und von Energieeinsparungen sowie Entwicklung neuer und erneuerbarer Energiequellen und Förderung der Interkonnektion der Energienetze(7). Art. 194 Abs. 2 AEUV bestimmt, dass unbeschadet der Anwendung anderer Bestimmungen der Verträge das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren die Maßnahmen erlassen, die erforderlich sind, um die Ziele nach Art. 194 Abs. 1 AEUV zu verwirklichen, und dass diese Maßnahmen unbeschadet von Art. 192 Abs. 2 Buchst. c AEUV nicht das Recht eines Mitgliedstaats berühren, die Bedingungen für die Nutzung seiner Energieressourcen, seine Wahl zwischen verschiedenen Energiequellen und die allgemeine Struktur seiner Energieversorgung zu bestimmen. Folglich begründet der AEU-Vertrag zwar die Zuständigkeit der Union im Energiebereich, räumt den Mitgliedstaaten aber ausdrücklich das Recht ein, u. a. über die Bedingungen für die Nutzung ihrer Energieressourcen zu bestimmen. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Zuständigkeiten, der europäischen und der nationalen, steht letztlich im Mittelpunkt der vorliegenden Rechtssache.

32.      Die Richtlinie 2019/944, die auf der Grundlage von Art. 194 Abs. 2 AEUV erlassen wurde, ist in Verbindung mit anderen Rechtsakten zum Strommarkt zu lesen, die am selben Tag veröffentlicht wurden, nämlich u. a. mit der Verordnung (EU) 2019/941(8) und der Verordnung 2019/943. Die Richtlinie 2019/944 enthält nach ihrem Art. 1 Abs. 2 grundsätzliche Bestimmungen über die Organisation und Funktionsweise des Elektrizitätssektors der Union, insbesondere Vorschriften über die Unabhängigkeit der Regulierungsbehörden in den Mitgliedstaaten. Aus Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie geht hervor, dass mit ihr zudem Methoden der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, Regulierungsbehörden und Übertragungsnetzbetreibern festgelegt werden, um einen vollkommen vernetzten Elektrizitätsbinnenmarkt zu schaffen, auf dem u. a. die Versorgungssicherheit gefördert wird.

33.      In diesem Zusammenhang bestimmt Art. 57 Abs. 4 der Richtlinie 2019/944, dass die Mitgliedstaaten die Unabhängigkeit der Regulierungsbehörde gewährleisten und sicherstellen, dass diese ihre Befugnisse unparteiisch und transparent ausübt. Zur Gewährleistung dieser Unabhängigkeit und bei der Wahrnehmung der Regulierungsaufgaben, die ihr durch diese Richtlinie und die damit zusammenhängenden Rechtsvorschriften übertragen werden, bestimmt Art. 57 Abs. 4 zum einen in Buchst. a, dass die Regulierungsbehörde rechtlich getrennt und funktional unabhängig von anderen öffentlichen und privaten Einrichtungen ist, und zum anderen in Buchst. b Ziff. i und ii, dass ihr Personal und ihr Management unabhängig von Marktinteressen handeln und bei der Wahrnehmung der Regulierungsaufgaben keine direkten Weisungen von Regierungsstellen oder anderen öffentlichen oder privaten Einrichtungen einholen oder entgegennehmen, wobei eine etwaige enge Zusammenarbeit mit anderen zuständigen nationalen Behörden oder allgemeine politische Leitlinien der Regierung, die nicht mit den Regulierungsaufgaben und ‑befugnissen gemäß Art. 59 der Richtlinie im Zusammenhang stehen, hiervon unberührt bleiben. Zu diesen Regulierungsaufgaben und -befugnissen gehört u. a. die in Art. 59 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie genannte Aufgabe, anhand transparenter Kriterien die Übertragungs- oder Verteilungstarife oder die entsprechenden Methoden oder beides festzulegen oder zu genehmigen. Darüber hinaus stellen gemäß Art. 57 Abs. 5 Buchst. a der Richtlinie die Mitgliedstaaten zur Wahrung der Unabhängigkeit der Regulierungsbehörde sicher, dass die Regulierungsbehörde unabhängig von allen politischen Stellen selbständige Entscheidungen treffen kann(9).

34.      Der Gerichtshof hatte zwar noch keine Gelegenheit, Art. 57 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2019/944 auszulegen, er hat jedoch mehrere Urteile zu Art. 35 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2009/72 erlassen, dessen Wortlaut dem von Art. 57 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2019/944 entspricht. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs lassen sich folgende Erkenntnisse für die vorliegende Rechtssache gewinnen.

35.      Der Begriff „Unabhängigkeit“ wird weder in Art. 57 noch in einer anderen Bestimmung der Richtlinie 2019/944 definiert. Insoweit hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass dieser Begriff in Bezug auf öffentliche Stellen seinem gewöhnlichen Sinn nach eine Stellung bezeichnet, die garantiert, dass die betreffende Stelle im Verhältnis zu den Einrichtungen, denen gegenüber ihre Unabhängigkeit zu wahren ist, völlig frei handeln kann und dabei vor jeglicher Weisung und Einflussnahme von außen geschützt ist(10). Diese Unabhängigkeit bei der Entscheidungsfindung bedeutet, dass die Regulierungsbehörde im Rahmen der in Art. 59 der Richtlinie 2019/944 genannten Regulierungsaufgaben und -befugnisse ihre Entscheidungen selbständig und allein auf der Grundlage des öffentlichen Interesses trifft, um die Einhaltung der mit dieser Richtlinie verfolgten Ziele zu gewährleisten, ohne externen Weisungen anderer öffentlicher oder privater Stellen unterworfen zu sein(11).

36.      Die Wahrung dieser Unabhängigkeit ist in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht zwingend. So sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die durch die Richtlinie 2019/944 ausschließlich der Regulierungsbehörde zugewiesenen Befugnisse sowie die Unabhängigkeit der Regulierungsbehörde gegenüber allen politischen Stellen zu gewährleisten, also nicht nur gegenüber der Regierung, sondern auch gegenüber dem nationalen Gesetzgeber, dem es nicht gestattet ist, einen Teil dieser Befugnisse der Regulierungsbehörde zu entziehen und sie anderen öffentlichen Stellen zuzuweisen(12). In diesem Sinne hat der Gerichtshof festgestellt, dass es nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist, einer anderen Behörde als der Regulierungsbehörde die Zuständigkeit für die Bestimmung der ausschlaggebenden Bestandteile zur Berechnung der Tarife in Bezug auf gewisse Stromleitungsanlagen, wie z. B. die Gewinnspanne, zu übertragen(13).

37.      Darüber hinaus ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass Art. 57 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2019/944 verlangt, dass die Vertreter der nationalen Ministerien ihre Beteiligung an Entgeltverfahren nicht dazu nutzen können, Druck auf die Regulierungsbehörde auszuüben oder ihr Weisungen zu erteilen, die geeignet wären, ihre Entscheidungen im Rahmen ihrer Aufgaben und Befugnisse aus Art. 59 zu beeinflussen. Die Richtlinie verbietet es zwar nicht, dass die Regierung eines Mitgliedstaats, insbesondere durch die Beteiligung von Vertretern ihrer Ministerien, vor der nationalen Regulierungsbehörde geltend macht, wie diese Behörde ihrer Auffassung nach das öffentliche Interesse im Rahmen ihrer Regulierungsaufgaben berücksichtigen könnte. Diese Beteiligung und insbesondere die Stellungnahmen, die diese Vertreter in den Entgeltverfahren abgeben, dürfen aber keinen verbindlichen Charakter haben und von der Regulierungsbehörde in keinem Fall als Weisungen angesehen werden, nach denen sie sich bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben und Befugnisse zu richten hätte(14). Darüber hinaus dürfen die Vorschriften in Bezug auf die Beteiligung von Vertretern nationaler Ministerien an den Entgeltverfahren die Tragweite der von der Regulierungsbehörde im Zusammenhang mit ihren Aufgaben und Befugnissen nach Art. 59 der Richtlinie erlassenen Entscheidungen nicht beeinträchtigen. Insbesondere dürfen dort, wo diese Aufgaben oder Befugnisse es erfordern, diese Beteiligungsregeln nicht den zwingenden Charakter und die unmittelbare Anwendbarkeit der Entscheidungen dieser Behörde berühren, indem sie beispielsweise vorschreiben, dass diese Entscheidungen vor ihrer Durchführung von diesen Vertretern angenommen oder genehmigt werden(15).

38.      So fallen die der Regulierungsbehörde vorbehaltenen Zuständigkeiten in den Bereich der Durchführung, und zwar auf der Grundlage einer technisch-fachlichen Beurteilung der Wirklichkeit, und diese Behörde unterliegt bei der Ausübung dieser Zuständigkeiten Grundsätzen und Regeln, die durch einen detaillierten normativen Rahmen auf Unionsebene festgelegt werden, ihren Wertungsspielraum beschränken und sie daran hindern, Entscheidungen politischer Art zu treffen(16).

39.      Warum muss die Unabhängigkeit der Regulierungsbehörde zwingend sein? Insoweit hat der Gerichtshof klargestellt, dass die völlige Unabhängigkeit der Regulierungsbehörden gegenüber Wirtschaftsteilnehmern und öffentlichen Einrichtungen, unabhängig davon, ob es sich bei Letzteren um Verwaltungsorgane oder politische Stellen und, im letztgenannten Fall, um Träger der exekutiven oder der legislativen Gewalt handelt, notwendig ist, um zu gewährleisten, dass die von den Regulierungsbehörden getroffenen Entscheidungen unparteiisch und nicht diskriminierend sind, was die Möglichkeit einer bevorzugten Behandlung der mit der Regierung, der Mehrheit oder jedenfalls der politischen Macht verbundenen Unternehmen und wirtschaftlichen Interessen ausschließt, und dass zudem die völlige Trennung von der politischen Macht den Regulierungsbehörden die Möglichkeit gibt, bei ihrem Handeln eine langfristige Perspektive zu verfolgen, die erforderlich ist, um die Ziele der Richtlinien zum Strommarkt zu verwirklichen(17). Die Unabhängigkeit dient somit dazu, für Verbraucher nachteilige Interessenkonflikte zu vermeiden. Ein Autor hat angemerkt, dass diese Unabhängigkeit gegenüber dem regulierten Bereich schrittweise, zunächst durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs und anschließend durch das sekundäre Recht, ihre Verankerung im Recht gefunden hat(18). Die Wahrung der Unabhängigkeit der Regulierungsbehörden umfasst verschiedene Aspekte, die u. a. vom Rat der europäischen Energieregulierungsbehörden (CEER) beleuchtet wurden(19).

40.      Das System des Unionsrechts gibt zwar einem weiten Begriff der Unabhängigkeit im Hinblick auf die spezifischen Befugnisse, die den nationalen Regulierungsbehörden übertragen sind, den Vorrang(20), es schließt jedoch nicht aus, dass die Mitgliedstaaten unter bestimmten Voraussetzungen in das Funktionieren des Strommarkts eingreifen können. Art. 59 der Richtlinie 2019/944 legt nämlich die Liste der den Regulierungsbehörden übertragenen Aufgaben und Befugnisse fest. Diese Liste erfasst zwar viele Bereiche, doch deckt sie nicht den gesamten Strommarkt ab. Die Mitgliedstaaten können somit außerhalb der genannten Aufgaben und Befugnisse ihre eigenen Regelungen für den nationalen Strommarkt erlassen. Außerdem bestimmt Art. 57 Abs. 4 Buchst. b Ziff. ii der Richtlinie 2019/944, dass das Erfordernis der Unabhängigkeit des Personals und des Managements der Regulierungsbehörde allgemeine politische Leitlinien der Regierung des betreffenden Mitgliedstaats unberührt lässt. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht aus dem Wortlaut dieser Bestimmung klar hervor, dass solche allgemeinen Leitlinien nicht mit den Regulierungsaufgaben und -befugnissen gemäß Art. 59 der Richtlinie im Zusammenhang stehen(21).

41.      Wie es im 87. Erwägungsgrund der Richtlinie 2019/944 heißt, wird durch diese Richtlinie und die Richtlinie 2009/73/EG(22) „den Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit genommen, ihre nationale Energiepolitik festzulegen und auszugestalten. Folglich könnte es – je nach der nationalen Verfassung – in die Zuständigkeit eines Mitgliedstaats fallen, den politischen Rahmen festzulegen, innerhalb dessen die Regulierungsbehörden handeln müssen, beispielsweise bei der Versorgungssicherheit. Jedoch soll mit den vom Mitgliedstaat herausgegebenen energiepolitischen Leitlinien nicht in die Unabhängigkeit oder Autonomie der Regulierungsbehörden eingegriffen werden.“

42.      Dieser Erwägungsgrund stellt somit eine ausdrückliche Verbindung her zwischen den allgemeinen politischen Leitlinien der Regierung eines Mitgliedstaats, die nicht nur das Personal und das Management der Regulierungsbehörde im Sinne von Art. 57 Abs. 4 Buchst. b Ziff. ii der Richtlinie 2019/944, sondern auch alle Akteure auf dem Strommarkt betreffen, und der Versorgungssicherheit, die gemäß Art. 59 Abs. 1 Buchst. m dieser Richtlinie nicht notwendigerweise in die Zuständigkeit der Regulierungsbehörde fällt(23). Ferner geht aus diesem Erwägungsgrund hervor, dass die Mitgliedstaaten, wie in Art. 194 Abs. 2 AEUV vorgesehen, ganz allgemein ihre nationale Energiepolitik festlegen können(24). Die Regierung eines Mitgliedstaats ist daher befugt, allgemeine Leitlinien zu erlassen, die insbesondere die „Stromversorgungssicherheit“ betreffen.

43.      Der Begriff der „Versorgungssicherheit“ wird in der Richtlinie 2019/944 nicht definiert. Insoweit bietet es sich an, die Verordnung 2019/941 heranzuziehen, in deren Art. 2 Nr. 1 die „Stromversorgungssicherheit“ als die „Fähigkeit eines Stromsystems, die Stromversorgung der Kunden auf einem klar von dem betreffenden Mitgliedstaat definierten Leistungsniveau sicherzustellen,“ bezeichnet wird. Diese Fähigkeit findet ihren Ausdruck in einem „Zuverlässigkeitsstandard“, aus dem in transparenter Weise das notwendige Maß an Versorgungssicherheit des Mitgliedstaats hervorgeht(25) und der mindestens anhand des Wertes der Zahlungsbereitschaft für die Beibehaltung der Stromversorgung und der Kosten des günstigsten Markteintritts für einen bestimmten Zeitraum berechnet und als „erwartete Energieunterdeckung“ und „Lastunterdeckungserwartung“ ausgedrückt wird(26).

44.      Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Richtlinie 2019/944, wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen dargelegt hat, darauf abzielt, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen dem Erfordernis der Unabhängigkeit der nationalen Regulierungsbehörden und dem Recht der Mitgliedstaaten zu schaffen, ihre nationale Energiepolitik in Bereichen festzulegen, die nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der Regulierungsbehörden fallen, insbesondere hinsichtlich der Stromversorgungssicherheit.

B.      Zur Wahrung der Unabhängigkeit der nationalen Regulierungsbehörden in Bezug auf ihre Aufgabe, die Übertragungs- oder Verteilungstarife und/oder die entsprechenden Methoden festzulegen oder zu genehmigen

45.      Nach Art. 59 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2019/944 ist die Regulierungsbehörde dafür zuständig, anhand transparenter Kriterien die Übertragungs- oder Verteilungstarife oder die entsprechenden Methoden oder beides festzulegen oder zu genehmigen(27). Darüber hinaus sieht Art. 59 Abs. 7 Buchst. a der Richtlinie vor, dass es grundsätzlich den Regulierungsbehörden obliegt, zumindest die nationalen Methoden zur Berechnung oder Festlegung der Bedingungen für den Anschluss an und den Zugang zu den nationalen Netzen einschließlich der Tarife für die Übertragung und die Verteilung oder ihrer Methoden mit ausreichendem Vorlauf vor deren Inkrafttreten festzulegen oder zu genehmigen, wobei diese Tarife oder Methoden so zu gestalten sind, dass die notwendigen Investitionen in die Netze auf eine Art und Weise vorgenommen werden können, dass die Lebensfähigkeit der Netze gewährleistet ist. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich, dass eine Auslegung der genannten Bestimmungen in dem Sinne, dass es einer nationalen Regierung freisteht, die Methoden zur Berechnung der Netzzugangstarife festzulegen oder zu genehmigen, den Zielen der Richtlinie zuwiderliefe(28).

46.      Im vorliegenden Fall ist das vorlegende Gericht, wie aus dem Wortlaut der zweiten Vorlagefrage hervorgeht, der Ansicht, dass durch das Gesetz Nr. 730/2021 an sich weder in die Übertragungs- oder Verteilungstarife noch in die entsprechenden Methoden unmittelbar eingegriffen worden sei. Es fragt sich jedoch, ob das Gesetz nicht mittelbar die Unabhängigkeit der Energiebehörde beeinträchtigt habe, die daraufhin ihre Kontrollmethoden mitten im Kontrollzeitraum geändert habe.

47.      Das vorlegende Gericht verweist zwar auf das Gesetz Nr. 730/2021, bezieht sich aber eher auf dessen Vorarbeiten, d. h. die Regierungsvorlage. Aus der Vorlageentscheidung sowie aus den schriftlichen Erklärungen von Alajärven Sähkö und der finnischen Regierung geht hervor, dass das finnische Parlament bei der Verabschiedung des Gesetzes die Gesetzgebungsvorschläge der Regierungsvorlage unverändert gebilligt hat. Unter diesen Umständen bin ich der Auffassung, dass die in Nr. 26 der vorliegenden Schlussanträge wiedergegebene Frage des vorlegenden Gerichts dahin beantwortet werden kann, dass die Vorarbeiten des genannten Gesetzes als allgemeine politische Leitlinien der Regierung des betreffenden Mitgliedstaats im Sinne der Richtlinie 2019/944 angesehen werden können(29). In Anbetracht der in Nr. 36 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Rechtsprechung ist die Unabhängigkeit der nationalen Regulierungsbehörde in jedem Fall gegenüber allen politischen Stellen zu gewährleisten, also nicht nur gegenüber der Regierung des betreffenden Mitgliedstaats, sondern auch gegenüber dem nationalen Gesetzgeber.

48.      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass gemäß den genannten Vorarbeiten mit dem Gesetz Nr. 730/2021 bezweckt worden sei, eine Senkung des Stromverteilungspreises in Finnland zu bewirken. Insoweit seien in der Regierungsvorlage u. a. Bewertungen der finanziellen Auswirkungen der Änderungen der Kontrollmethoden auf die zulässige Höhe der Rendite der Verteilernetzbetreiber sowie auf die bei den Kunden der Verteilernetzbetreiber erhobenen Verteilungsentgelte dargelegt worden. Alajärven Sähkö und Elenia tragen in ihren schriftlichen Erklärungen außerdem vor, dass die Regierungsvorlage sehr genaue Berechnungen dazu enthalten habe, wie sich das genannte Gesetz auf die Entscheidungen der Energiebehörde über die Berechnungsmethoden auswirke.

49.      Die finnische Regierung führt in ihren schriftlichen Erklärungen aus, dass Stürme und große Schneemengen in den 2000er Jahren erhebliche Störungen in den Stromverteilernetzen in Finnland verursacht hätten, was zu Stromausfällen geführt habe. Infolgedessen habe das Strommarktgesetz in seiner ursprünglichen Fassung, die am 1. September 2013 in Kraft getreten sei, den Netzbetreibern Ziele zur Verbesserung der Sicherheit der Verteilernetze auferlegt, die die Netzbetreiber in ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich schrittweise bis Ende 2028 hätten erfüllen müssen(30). Im Jahr 2016 hätten Stromversorger ihre Kunden über massive Preiserhöhungen in Kenntnis gesetzt, woraufhin die Regierung Bestimmungen in das genannte Gesetz aufgenommen habe, die am 1. September 2017 in Kraft getreten seien und die u. a. darauf abgezielt hätten, die Verlängerung der Frist für die Erfüllung der Sicherheitsanforderungen an die Verteilernetze zu erleichtern, um das Kostenniveau der Verteilernetzbetreiber zu senken und den Anstieg der Stromübertragungsentgelte einzudämmen. Die im Jahr 2019 ins Amt getretene Regierung habe die Fortführung dieser Maßnahmen beschlossen, indem sie Maßnahmen zur Entwicklung und Sicherheit der Verteilernetze vorgeschlagen habe, da die Energiebehörde für die Änderung der Methoden zur Berechnung der Stromübertragungs- und -verteilungsentgelte zuständig gewesen sei.

50.      Mit dem Gesetz Nr. 730/2021 seien folgende Änderungen eingeführt worden: Erstens sei durch den neuen § 119 des Strommarktgesetzes eine zusätzliche Frist von acht Jahren für die Erfüllung der Anforderungen an die Betriebszuverlässigkeit von Verteilernetzen festgelegt worden, zweitens sei § 19 Abs. 2 Nr. 6 in das Strommarktgesetz eingefügt worden, der vorsehe, dass der Netzbetreiber in der Lage sein müsse, die Übertragungs- und Verteilungsdienste an die Netzbenutzer in kosteneffizienter Weise zu erbringen, und drittens sei § 52 des Strommarktgesetzes über den Entwicklungsplan für das Verteilernetz ergänzt worden, damit dieser Plan künftig zur Förderung und Überwachung der Kosteneffizienz bei der Entwicklung des Verteilernetzes genutzt werden könne, indem insbesondere verlangt werde, dass der Plan angebe, ob der Netzbetreiber als Alternativen zur Ausweitung der Übertragungskapazität des Verteilernetzes die Laststeuerung, Maßnahmen zur Energieeffizienz oder zur Energiespeicherung oder andere Ressourcen einsetze. Im Hinblick darauf, dass die genannten Änderungen die Anforderungen an die Versorgungssicherheit gelockert hätten, sei die Energiebehörde berechtigt gewesen, die Berechnungsmethoden für die Verteilungstarife zu ändern, um zu verhindern, dass die Netzbetreiber überhöhte Verteilungsentgelte von ihren Kunden forderten.

51.      Insoweit ist zur Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Beantwortung der Vorlagefragen daran zu erinnern, dass das mit Art. 267 AEUV errichtete System der Zusammenarbeit auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht. Im Rahmen eines gemäß diesem Artikel eingeleiteten Verfahrens ist die Auslegung der nationalen Vorschriften Sache der Gerichte der Mitgliedstaaten und nicht des Gerichtshofs, und es kommt diesem nicht zu, sich zur Vereinbarkeit von Vorschriften des innerstaatlichen Rechts mit den Bestimmungen des Unionsrechts zu äußern. Dagegen ist der Gerichtshof befugt, dem nationalen Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die es diesem Gericht ermöglichen, die Vereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht zu beurteilen(31).

52.      Allgemein dürfte der bloße Umstand, dass die Regierung eines Mitgliedstaats bestrebt ist, eine Senkung des Stromverteilungspreises zu bewirken, als solcher nicht mit Art. 57 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2019/944 unvereinbar sein. Wie bereits ausgeführt, wird nämlich durch diese Richtlinie den Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit genommen, ihre nationale Energiepolitik festzulegen.

53.      Gewiss hat die Tatsache, dass ein Mitgliedstaat seine Befugnis ausübt, seine nationale Energiepolitik festzulegen, ihrem Wesen nach unweigerlich Auswirkungen auf die Betriebskosten des Stromnetzes. Daher sind in der Praxis die Umsetzung einer nationalen Energiepolitik und die Beachtung der Befugnisse der Regulierungsbehörde nicht immer leicht auseinanderzuhalten(32). Obwohl die Rechtsprechung des Gerichtshofs kritisiert wurde(33), bin ich jedoch der Ansicht, dass sie es ermöglicht, eine klare Trennlinie zwischen den Befugnissen der Regulierungsbehörde und denen des Mitgliedstaats zu ziehen.

54.      Ein Mitgliedstaat ist nämlich bei der Festlegung seiner nationalen Energiepolitik befugt, das Maß an Stromversorgungssicherheit zu bestimmen, wenn er diese Befugnis nicht der Regulierungsbehörde übertragen hat. So hat ein Mitgliedstaat das Recht, sich für einen niedrigeren Zuverlässigkeitsstandard für seine Energienetze zu entscheiden, ohne dabei die Lebensfähigkeit der Netze zu beeinträchtigen, wenn nach seiner Ansicht der vorherige Standard übermäßige Gesamtkosten verursacht. Diese Senkung des Zuverlässigkeitsstandards führt grundsätzlich zu einer Senkung der Investitionskosten der Übertragungs- und Verteilernetzbetreiber, die letztlich zu einer Senkung der Verbrauchertarife führen muss. Dies bedeutet nicht, dass der Mitgliedstaat de facto die Übertragungs- oder Verteilungstarife und/oder die entsprechenden Methoden festlegt. Der Einfluss auf die Berechnungsmethoden für die Tarife der Verteilernetzbetreiber dürfte nämlich eine ganz mittelbare Folge des berechtigten Interesses des Mitgliedstaats sein, das Maß seiner Stromversorgungssicherheit zu bestimmen.

55.      Im Übrigen ist ein Mitgliedstaat nach Art. 194 Abs. 2 AEUV befugt, die Bedingungen für die Nutzung seiner Energieressourcen zu bestimmen. Auf den ersten Blick scheint es in diese Befugnis zu fallen, dass ein Mitgliedstaat den Netzbetreibern vorschreibt, Übertragungs- und Verteilungsdienste an die Netzbenutzer in kosteneffizienter Weise zu erbringen, und dass der Entwicklungsplan für das Verteilernetz künftig die Förderung und Überwachung der Kosteneffizienz bei der Entwicklung dieses Netzes ermöglichen kann. Die Mitgliedstaaten sind nämlich berechtigt, die bestmögliche Nutzung ihrer Stromressourcen anzustreben.

56.      Da jedoch gemäß Art. 59 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2019/944 die Regulierungsbehörde dafür zuständig ist, die Übertragungs- oder Verteilungstarife und/oder die entsprechenden Methoden festzulegen oder zu genehmigen, ist es allein Sache dieser Behörde, die Methoden zur Berechnung und die Höhe dieser Tarife zu bestimmen. In diesem Sinne hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Regierung eines Mitgliedstaats nicht die Methoden zur Bestimmung der Entgelte für den Netzzugang festlegen und regeln kann, in welchen Fällen und unter welchen Voraussetzungen die nationale Regulierungsbehörde diese Bedingungen oder Methoden festlegen oder auf Antrag des Netzbetreibers genehmigen kann und in welchen Sonderfällen der Netznutzung und unter welchen Voraussetzungen die nationale Regulierungsbehörde im Einzelfall individuelle Entgelte für den Netzzugang genehmigen oder untersagen kann(34).

57.      Mithin sind, wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, Änderungen der nationalen Rechtsvorschriften, die ihre Auswirkungen auf die Übertragungs- oder Verteilungstarife und/oder die entsprechenden Methoden detailliert festlegen, nicht mit der Richtlinie 2019/944 vereinbar, da nach den Art. 57 und 59 dieser Richtlinie ausschließlich die Regulierungsbehörde dafür zuständig ist, die Folgen von Änderungen, insbesondere des Zuverlässigkeitsstandards, zu beurteilen und sie bei den Methoden zur Festsetzung der Preise zu berücksichtigen.

58.      In diesem Zusammenhang machen Alajärven Sähkö und Elenia geltend, dass das Arbeits- und Wirtschaftsministerium, der für den Strommarkt zuständige Minister und das finnische Parlament der Energiebehörde sehr detaillierte Anweisungen zu den Änderungen erteilt hätten, die diese nach dem Erlass des Gesetzes Nr. 730/2021 an den zuvor von ihr festgelegten Kontrollmethoden habe vornehmen müssen, was eine Festlegung der Übertragungs- oder Verteilungstarife und/oder der entsprechenden Methoden auf Umwegen darstelle. Die Energiebehörde macht ihrerseits geltend, dass sie ihren Hintergrundbericht zu den Methoden zur Kontrolle der Angemessenheit der Festsetzung der Tarife für den Betrieb des Stromnetzes selbständig erstellt habe und es im Interesse der Vorhersehbarkeit des Gesetzgebungsverfahrens wünschenswert sei, dass die Regulierungsbehörde ein unabhängiges Expertengutachten zu den möglichen Auswirkungen von Änderungen der nationalen Rechtsvorschriften abgeben könne. Da ein solches Gutachten den nationalen Gesetzgeber über die Auswirkungen dieser Änderungen auf die Übertragungs- oder Verteilungstarife und/oder die entsprechenden Methoden aufklären soll, beeinträchtigt sie meines Erachtens nicht die Unabhängigkeit der Regulierungsbehörde, wenn diese selbständig und allein auf der Grundlage des öffentlichen Interesses handeln konnte, um die Einhaltung der mit dieser Richtlinie verfolgten Ziele zu gewährleisten, ohne externen Weisungen anderer Stellen unterworfen zu sein(35), was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

59.      Ich möchte hinzufügen, dass nach dem Wortlaut der zweiten Vorlagefrage die Energiebehörde nach dem Erlass des Gesetzes Nr. 730/2021 „ihre Kontrollmethoden … ändern musste“, was dahin verstanden werden kann, dass ihr eine Verpflichtung auferlegt wurde. Gleichzeitig geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die Energiebehörde in den Bescheiden vom 15. Dezember 2021 ausgeführt hat, dass sie die Angelegenheit der Kontrollmethoden von Amts wegen aufgeworfen habe, nachdem dieses Gesetz in Kraft getreten sei. Ferner hat die Energiebehörde in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt, dass die korrekte Formulierung der Frage lauten müsse, dass sie „es für erforderlich hielt, ihre Kontrollmethoden … zu ändern“, da sie nach § 13 Abs. 1 Nr. 2 des Aufsichtsgesetzes ihre Bescheide zur Festsetzung der Kontrollmethoden angesichts der Entwicklung der nationalen Rechtsvorschriften abändern könne und diese Bestimmung der Regulierungsbehörde ausdrücklich die Befugnis einräume, die Erforderlichkeit und die Grundlagen der Kontrollmethoden und ihrer Änderungen zu beurteilen. Die Energiebehörde selbst ist daher der Ansicht, dass sie bei der Festlegung der Übertragungs- oder Verteilungstarife und/oder der entsprechenden Methoden nicht im Rahmen einer gebundenen Entscheidungsbefugnis gehandelt habe.

60.      Im Übrigen weist die zyprische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen darauf hin, dass nach dem Wortlaut der zweiten Vorlagefrage die nationale Regulierungsbehörde ihre Kontrollmethoden „mitten im Kontrollzeitraum“ geändert habe. Folglich sei eine solche Änderung nicht mit Art. 59 Abs. 7 der Richtlinie 2019/944 vereinbar, wonach es den Regulierungsbehörden obliege, zumindest die nationalen Methoden zur Berechnung oder Festlegung der Tarife für die Übertragung und die Verteilung oder ihre Methoden „mit ausreichendem Vorlauf vor deren Inkrafttreten“ festzulegen oder zu genehmigen, und beeinträchtige die Unabhängigkeit der nationalen Regulierungsbehörde, falls sie ihr auferlegt worden sei. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht den Gerichtshof nicht zur zeitlichen Geltung der Bescheide vom 15. Dezember 2021 befragt. Die Vorlageentscheidung enthält hierzu nämlich keine Ausführungen. Unter diesen Umständen braucht diese Frage nicht geprüft zu werden.

61.      Letztlich ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob das Gesetz Nr. 730/2021 unter die Zuständigkeiten fällt, die die Richtlinie 2019/944 den Mitgliedstaaten überträgt, d. h., ob die Maßnahme des betreffenden Mitgliedstaats strikt darauf beschränkt war, seine nationale Energiepolitik, insbesondere in Bezug auf die Versorgungssicherheit des Stromnetzes und die Bedingungen für die Nutzung seiner Energieressourcen, festzulegen, oder ob diese Maßnahme in die ausschließliche Zuständigkeit der nationalen Regulierungsbehörde eingegriffen hat, die Übertragungs- oder Verteilungstarife und/oder die entsprechenden Methoden festzulegen.

62.      Nach alledem bin ich der Ansicht, dass Art. 57 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2019/944 dahin auszulegen ist, dass er Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, mit denen, wie in den Vorarbeiten zu diesen Rechtsvorschriften ausgeführt, bezweckt wird, eine Senkung des Stromverteilungspreises zu bewirken, ohne als solche unmittelbar in die Stromübertragungs- oder ‑verteilungstarife und/oder die entsprechenden Methoden einzugreifen, die aber dazu geführt haben, dass die nationale Regulierungsbehörde ihre Kontrollmethoden geändert hat, sofern diese Rechtsvorschriften Ausdruck allgemeiner Leitlinien der Regierung des Mitgliedstaats in Bezug auf dessen nationale Energiepolitik, insbesondere hinsichtlich der Festlegung des Maßes an Versorgungssicherheit und der Bedingungen für die Nutzung der Energieressourcen, sind, die nicht unter die Aufgaben und Befugnisse der Regulierungsbehörde im Sinne von Art. 59 dieser Richtlinie fallen.

V.      Ergebnis

63.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Markkinaoikeus (Marktgericht, Finnland) wie folgt zu beantworten:

Art. 57 Abs. 4 und 5 der Richtlinie (EU) 2019/944 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2019 mit gemeinsamen Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Änderung der Richtlinie 2012/27/EU

ist dahin auszulegen, dass

er Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, mit denen, wie in den Vorarbeiten zu diesen Rechtsvorschriften ausgeführt, bezweckt wird, eine Senkung des Stromverteilungspreises zu bewirken, ohne als solche unmittelbar in die Stromübertragungs- oder ‑verteilungstarife und/oder die entsprechenden Methoden einzugreifen, die aber dazu geführt haben, dass die nationale Regulierungsbehörde ihre Kontrollmethoden geändert hat, sofern diese Rechtsvorschriften Ausdruck allgemeiner Leitlinien der Regierung des Mitgliedstaats in Bezug auf dessen nationale Energiepolitik, insbesondere hinsichtlich der Festlegung des Maßes an Versorgungssicherheit und der Bedingungen für die Nutzung der Energieressourcen, sind, die nicht unter die Aufgaben und Befugnisse der Regulierungsbehörde im Sinne von Art. 59 dieser Richtlinie fallen.





































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