C-422/23 – Daka

C-422/23 – Daka

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Language of document : ECLI:EU:C:2025:592

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

1. August 2025(*)

„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsstaatlichkeit – Wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Grundsätze der Unabsetzbarkeit und Unabhängigkeit der Richter – Nicht einvernehmliche vorübergehende Abordnung eines Richters eines obersten Gerichts an eine andere Kammer dieses Gerichts – Vorrang des Unionsrechts – Öffentliches Auftragswesen – Richtlinie 2004/17/EG – Zuschlagserteilung durch Auftraggeber – Anwendung auf eine Vereinbarung über die Übertragung von Eigentumsrechten an Herkunftsnachweisen für grünen Strom – Richtlinie 92/13/EWG – Art. 2d Abs. 1 – Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Aufträge – Unwirksamkeit des Vertrags – Auftraggeber, der die Nichtigerklärung eines unter Verstoß gegen die Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge geschlossenen Vertrags beantragt – Rechtsmissbrauch – Nichtvorliegen “

In den verbundenen Rechtssachen C‑422/23, C‑455/23, C‑459/23, C‑486/23 und C‑493/23 [Daka](i),

betreffend fünf Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) mit Entscheidungen vom 3. und 21. April 2023 sowie vom 13. Juni 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 10., 20., 21. und 31. Juli 2023 sowie am 3. August 2023, in den Verfahren

T. B.

gegen

C. B.,

Beteiligter:

D. B. (C‑422/23),

und

G. T.

gegen

T. S.A. (C‑455/23)

und

E. S.A.

gegen

W. sp. z o.o.,

Bank S.A. (C‑459/23)

und

S. sp. z o.o.

gegen

V. sp. z o.o. (C‑486/23)

und

Miasto W.

gegen

M. T.,

E. T.,

A. W. (C‑493/23),

Beteiligter:

Prokurator Prokuratury Okręgowej Warszawa-Praga w Warszawie,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin), des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Zweiten Kammer sowie der Richter M. Gavalec, Z. Csehi und M. Condinanzi,

Generalanwältin: T. Ćapeta,

Kanzler: M. Siekierzyńska, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. Januar 2025,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der E. S.A., vertreten durch P. Łącki, Adwokat,

–        der Prokuratura Okręgowa Warszawa-Praga w Warszawie, vertreten durch D. Winiarek, Zastępca Prokuratora Okręgowego Warszawa-Praga w Warszawie,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch A. Bodnar, B. Majczyna, M. Rzotkiewicz, M. Taborowski und S. Żyrek als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Herrmann, P. J. O. Van Nuffel und G. Wils als Bevollmächtigte,

aufgrund der nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Entscheidung, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) (Rechtssachen C‑422/23, C‑455/23, C‑459/23, C‑486/23 und C‑493/23), des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts (Rechtssachen C‑455/23, C‑459/23 und C‑486/23), von Art. 1 Abs. 2 Buchst. c und Abs. 4, Art. 2 Abs. 1 Buchst. b, Art. 3 Abs. 3 Buchst. b, Art. 14, Art. 16 Buchst. a und Art. 20 der Richtlinie 2004/17/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Koordinierung der Zuschlagserteilung durch Auftraggeber im Bereich der Wasser‑, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste (ABl. 2004, L 134, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1177/2009 der Kommission vom 30. November 2009 (ABl. 2009, L 314, S. 64) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2004/17), von Art. 2d Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 92/13/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Gemeinschaftsvorschriften über die Auftragsvergabe durch Auftraggeber im Bereich der Wasser‑, Energie- und Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor (ABl. 1992, L 76, S. 14) in der durch die Richtlinie 2007/66/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2007 (ABl. 2007, L 335, S. 31) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 92/13) und des allgemeinen Grundsatzes des Verbots des Rechtsmissbrauchs (Rechtssache C‑459/23).

2        Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von fünf Rechtsstreitigkeiten zwischen T. B. und C. B. über die Auseinandersetzung eines Gesamtguts und eine Nachlassteilung (Rechtssache C‑422/23), G. T. und der T. S.A. über die Freigabe einer Sicherheit und die Vollstreckung in Aktien, die von einer Gesellschaft gehalten werden (Rechtssache C‑455/23), der E. S.A. (im Folgenden: Gesellschaft E.) sowie der W. sp. z o.o. (im Folgenden: Gesellschaft W.) und der Bank S.A. über das rechtliche Nichtbestehen eines Schuldverhältnisses (Rechtssache C‑459/23), der S. sp. z o.o. und der V. sp. z o.o. über eine Zahlungsaufforderung (Rechtssache C‑486/23) bzw. Miasto W. sowie M. T., E. T. und A. W. über eine Verpflichtung zur Abgabe einer Willenserklärung (Rechtssache C‑493/23).

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 2003/88/EG

3        Art. 6 Buchst. b der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9) sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit nach Maßgabe der Erfordernisse der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer:

b)      die durchschnittliche Arbeitszeit pro Siebentageszeitraum 48 Stunden einschließlich der Überstunden nicht überschreitet.“

 Richtlinie 92/13

4        In Art. 2d Abs. 1 Buchst. a und Abs. 2 der Richtlinie 92/13 heißt es:

„(1)      Die Mitgliedstaaten tragen in folgenden Fällen dafür Sorge, dass ein Vertrag durch eine von dem Auftraggeber unabhängige Nachprüfungsstelle für unwirksam erklärt wird oder dass sich seine Unwirksamkeit aus der Entscheidung einer solchen Stelle ergibt,

a)      falls der Auftraggeber einen Auftrag ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union vergeben hat, ohne dass dies nach der [Richtlinie 2004/17] zulässig ist,

(2)      Die Folgen der Unwirksamkeit eines Vertrags richten sich nach einzelstaatlichem Recht.

Die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften können vorsehen, dass alle vertraglichen Verpflichtungen rückwirkend aufgehoben werden oder dass die Wirkung der Aufhebung auf die Verpflichtungen beschränkt ist, die noch zu erfüllen sind. Im letzteren Fall tragen die Mitgliedstaaten dafür Sorge, dass auch alternative Sanktionen im Sinne des Artikels 2e Absatz 2 Anwendung finden.“

5        Art. 2d Abs. 1 Buchst. a und Abs. 2 der Richtlinie 92/13 wurde durch die Richtlinie 2007/66 in die Richtlinie 92/13 eingefügt. In den Erwägungsgründen 2, 13, 14 und 20 der Richtlinie 2007/66 heißt es:

„(2)      … Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sollten die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass Entscheidungen der öffentlichen Auftraggeber und der Auftraggeber darüber, ob ein Auftrag in den persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der Richtlinien 2004/18/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge (ABl. 2004, L 134, S. 114)] und [2004/17] fällt, wirksam und rasch nachgeprüft werden können.

(13)      Um gegen die rechtswidrige freihändige Vergabe von Aufträgen vorzugehen, die der Gerichtshof als die schwerwiegendste Verletzung des Gemeinschaftsrechts im Bereich des öffentlichen Auftragswesens durch öffentliche Auftraggeber oder Auftraggeber bezeichnet hat, sollten wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen vorgesehen werden. Ein Vertrag, der aufgrund einer rechtswidrigen freihändigen Vergabe zustande gekommen ist, sollte daher grundsätzlich als unwirksam gelten. Die Unwirksamkeit sollte nicht automatisch gelten, sondern durch eine unabhängige Nachprüfungsstelle festgestellt werden oder auf der Entscheidung einer unabhängigen Nachprüfungsstelle beruhen.

(14)      Die Unwirksamkeit ist das beste Mittel, um den Wettbewerb wiederherzustellen und neue Geschäftsmöglichkeiten für die Wirtschaftsteilnehmer zu schaffen, denen rechtswidrig Wettbewerbsmöglichkeiten vorenthalten wurden. Eine freihändige Vergabe im Sinne dieser Richtlinie sollte alle Auftragsvergaben ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union im Sinne der Richtlinie [2004/18] umfassen. Dies entspricht dem Verfahren ohne vorherigen Aufruf zum Wettbewerb im Sinne der [Richtlinie 2004/17].

(20)      Diese Richtlinie sollte die Anwendung schärferer Sanktionen nach innerstaatlichem Recht nicht ausschließen.“

 Richtlinie 2004/17

6        In den Erwägungsgründen 2, 3 und 9 der Richtlinie 2004/17 hieß es:

„(2)      Ein wichtiger Grund für die Einführung von Vorschriften zur Koordinierung der Vergabeverfahren in diesen Sektoren ist die Vielzahl von Möglichkeiten, über die einzelstaatliche Behörden verfügen, um das Verhalten der Auftraggeber zu beeinflussen…

(3)      Ein weiterer wichtiger Grund, der eine Koordinierung der Vergabeverfahren durch Auftraggeber in diesen Sektoren notwendig macht, ist die Abschottung der Märkte, in denen sie tätig sind…

(9)      Um zu gewährleisten, dass die Vergabe von Aufträgen durch Auftraggeber im Bereich der Wasser‑, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste für den Wettbewerb geöffnet wird, ist es ratsam, Bestimmungen für eine Gemeinschaftskoordinierung von Aufträgen, die über einen bestimmten Wert hinausgehen, festzulegen. …“

7        In Art. 1 dieser Richtlinie hieß es:

„(1)      Für die Zwecke dieser Richtlinie gelten die Definitionen dieses Artikels.

(2)      …

c)      ‚Lieferaufträge‘ sind andere Aufträge als die unter Buchstabe b) genannten; sie betreffen den Kauf, das Leasing, die Miete, die Pacht oder den Ratenkauf, mit oder ohne Kaufoption, von Waren.

Ein Auftrag über die Lieferung von Waren, der das Verlegen und Anbringen lediglich als Nebenarbeiten umfasst, gilt als ‚Lieferauftrag‘.

(4)      ‚Rahmenvereinbarung‘ ist eine Vereinbarung zwischen einem oder mehreren Auftraggebern im Sinne des Artikels 2 Absatz 2 und einem oder mehreren Wirtschaftsteilnehmern, die zum Ziel hat, die Bedingungen für die Aufträge, die im Laufe eines bestimmten Zeitraums vergeben werden sollen, festzulegen, insbesondere in Bezug auf den Preis und gegebenenfalls die in Aussicht genommenen Mengen.“

8        Art. 2 Abs. 1 und 2 der genannten Richtlinie sah vor:

„(1)      Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:

b)      ‚öffentliches Unternehmen‘ jedes Unternehmen, auf das der Auftraggeber aufgrund von Eigentum, finanzieller Beteiligung oder der für das Unternehmen geltenden Vorschriften unmittelbar oder mittelbar einen beherrschenden Einfluss ausüben kann.

Es wird vermutet, dass der Auftraggeber einen beherrschenden Einfluss auf ein Unternehmen ausübt, wenn er unmittelbar oder mittelbar

–        die Mehrheit des gezeichneten Kapitals des Unternehmens hält …

(2)      Diese Richtlinie gilt für Auftraggeber, die

a)      öffentliche Auftraggeber oder öffentliche Unternehmen sind und eine Tätigkeit im Sinne der Artikel 3 bis 7 ausüben…

…“

9        Art. 3 Abs. 3 derselben Richtlinie bestimmte:

„Im Bereich der Elektrizität fallen unter diese Richtlinie:

a)      die Bereitstellung und das Betreiben fester Netze zur Versorgung der Allgemeinheit im Zusammenhang mit der Erzeugung, der Fortleitung und der Abgabe von Elektrizität,

b)      die Einspeisung von Elektrizität in diese Netze.“

10      Art. 14 der Richtlinie 2004/17 sah vor:

„(1)      Die Auftraggeber können eine Rahmenvereinbarung als Auftrag im Sinne von Artikel 1 Absatz 2 ansehen und gemäß dieser Richtlinie schließen.

(2)      Haben die Auftraggeber eine Rahmenvereinbarung gemäß dieser Richtlinie geschlossen, so können sie bei der Vergabe von Aufträgen, denen diese Rahmenvereinbarung zugrunde liegt, Artikel 40 Absatz 3 Buchstabe i) in Anspruch nehmen.

(3)      Ist eine Rahmenvereinbarung nicht gemäß dieser Richtlinie geschlossen worden, so können die Auftraggeber Artikel 40 Absatz 3 Buchstabe i) nicht in Anspruch nehmen.

(4)      Die Auftraggeber dürfen Rahmenvereinbarungen nicht dazu missbrauchen, den Wettbewerb zu verhindern, einzuschränken oder zu verfälschen.“

11      In Art. 16 Buchst. a dieser Richtlinie hieß es:

„Diese Richtlinie gilt für Aufträge, die nicht aufgrund der Ausnahme nach den Artikeln 19 bis 26 oder nach Artikel 30 in Bezug auf die Ausübung der betreffenden Tätigkeit ausgeschlossen sind und deren geschätzter Wert ohne Mehrwertsteuer (MwSt.) die folgenden Schwellenwerte nicht unterschreitet:

a)      387 000 [Euro] bei Liefer- und Dienstleistungsaufträgen“.

12      Art. 17 der genannten Richtlinie bestimmte:

„(1)      Grundlage für die Berechnung des geschätzten Auftragswerts ist der Gesamtwert ohne [MwSt.], der vom Auftraggeber voraussichtlich zu zahlen ist. Bei dieser Berechnung ist der geschätzte Gesamtwert einschließlich aller Optionen und der etwaigen Verlängerungen des Vertrags zu berücksichtigen.

(2)      Die Auftraggeber dürfen die Anwendung dieser Richtlinie nicht dadurch umgehen, dass sie Bauvorhaben oder Beschaffungsvorhaben einer bestimmten Menge von Waren und/oder Dienstleistungen aufteilen oder für die Berechnung des geschätzten Auftragswerts besondere Verfahren anwenden.

(3)      Der zu berücksichtigende geschätzte Wert einer Rahmenvereinbarung oder eines dynamischen Beschaffungssystems ist gleich dem geschätzten Gesamtwert ohne [MwSt.] aller für die gesamte Laufzeit der Rahmenvereinbarung oder des Beschaffungssystems geplanten Aufträge.

(7)      Bei regelmäßig wiederkehrenden Aufträgen oder Daueraufträgen über Lieferungen oder Dienstleistungen wird der geschätzte Auftragswert wie folgt berechnet:

a)      entweder auf der Basis des tatsächlichen Gesamtwerts entsprechender aufeinander folgender Aufträge aus den vorangegangenen zwölf Monaten oder dem vorangegangenen Haushaltsjahr; dabei sind voraussichtliche Änderungen bei Mengen oder Kosten während der auf den ursprünglichen Auftrag folgenden zwölf Monate nach Möglichkeit zu berücksichtigen;

b)      oder auf der Basis des geschätzten Gesamtwerts aufeinander folgender Aufträge, die während der auf die erste Lieferung folgenden zwölf Monate bzw. während des Haushaltsjahres, soweit dieses länger als zwölf Monate ist, vergeben werden.“

13      Art. 20 Abs. 1 derselben Richtlinie sah vor:

„Diese Richtlinie gilt nicht für Aufträge, die die Auftraggeber zu anderen Zwecken als der Durchführung ihrer in den Artikeln 3 bis 7 beschriebenen Tätigkeiten oder zur Durchführung derartiger Tätigkeiten in einem Drittland in einer Weise vergeben, die nicht mit der physischen Nutzung eines Netzes oder geografischen Gebiets in der [Europäischen] Gemeinschaft verbunden ist.“

14      Art. 40 Abs. 3 Buchst. i der Richtlinie 2004/17 bestimmte:

„Die Auftraggeber können in den folgenden Fällen auf ein Verfahren ohne vorherigen Aufruf zum Wettbewerb zurückgreifen:

i)      bei Aufträgen, die aufgrund einer Rahmenvereinbarung vergeben werden sollen, sofern die in Artikel 14 Absatz 2 genannte Bedingung erfüllt ist“.

 Richtlinie 2014/25/EU

15      Der 23. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/25/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die Vergabe von Aufträgen durch Auftraggeber im Bereich der Wasser‑, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/17/EG (ABl. 2014, L 94, S. 243) lautet:

„Ohne den Anwendungsbereich dieser Richtlinie in irgendeiner Weise zu erweitern, sollte klargestellt werden, dass der in dieser Richtlinie verwendete Begriff ‚Einspeisung von Elektrizität‘ die Erzeugung von Elektrizität und den Groß- und Einzelhandel damit umfasst.“

16      Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Für die Zwecke der Artikel 8, 9 und 10 umfasst ‚Einspeisung‘ die Erzeugung/Produktion sowie den Groß- und den Einzelhandel.“

17      Art. 9 Abs. 1 der genannten Richtlinie sieht vor:

„Im Bereich der Elektrizität fallen unter diese Richtlinie:

a)      die Bereitstellung und das Betreiben fester Netze zur Versorgung der Allgemeinheit im Zusammenhang mit der Erzeugung, der Fortleitung und der Abgabe von Elektrizität,

b)      die Einspeisung von Elektrizität in diese Netze.“

 Richtlinie 2009/28/EG

18      Art. 2 Abs. 2 Buchst. k und l der Richtlinie 2009/28/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen und zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinien 2001/77/EG und 2003/30/EG (ABl. 2009, L 140, S. 1) enthielt folgende Begriffsbestimmungen:

„k)      ‚Förderregelung‘ ein Instrument, eine Regelung oder einen Mechanismus, das bzw. die bzw. der von einem Mitgliedstaat oder einer Gruppe von Mitgliedstaaten angewendet wird und die Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen dadurch fördert, dass die Kosten dieser Energie gesenkt werden, ihr Verkaufspreis erhöht wird oder ihre Absatzmenge durch eine Verpflichtung zur Nutzung erneuerbarer Energie oder auf andere Weise gesteigert wird. Dazu zählen unter anderem Investitionsbeihilfen, Steuerbefreiungen oder ‑erleichterungen, Steuererstattungen, Förderregelungen, die zur Nutzung erneuerbarer Energiequellen verpflichten, einschließlich solcher, bei denen grüne Zertifikate verwendet werden, sowie direkte Preisstützungssysteme einschließlich Einspeisetarife und Prämienzahlungen;

l)      ‚Verpflichtung zur Nutzung erneuerbarer Energie‘ eine nationale Förderregelung, durch die Energieproduzenten dazu verpflichtet werden, ihre Erzeugung zu einem bestimmten Anteil durch Energie aus erneuerbaren Quellen zu decken, durch die Energieversorger dazu verpflichtet werden, ihre Versorgung zu einem bestimmten Anteil durch Energie aus erneuerbaren Quellen zu decken, oder durch die Energieverbraucher dazu verpflichtet werden, ihren Verbrauch zu einem bestimmten Anteil durch Energie aus erneuerbaren Quellen zu decken. Dazu zählen auch Regelungen, bei denen derartige Verpflichtungen durch Verwendung grüner Zertifikate erfüllt werden können“.

 Polnisches Recht

 Gesetz über das Oberste Gericht

19      Art. 23 der Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. 2018, Pos. 5) in der geänderten (Dz. U. 2021, Pos. 1904) und auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz über das Oberste Gericht) lautet:

„Die Zivilkammer ist zuständig für Rechtsstreitigkeiten, die das Zivilrecht, das Handelsrecht, das Recht des geistigen Eigentums, das Familien- und Vormundschaftsrecht sowie die Eintragung von Unternehmen und Sicherheiten betreffen.“

20      Art. 25 dieses Gesetzes sieht vor:

„Die [Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen] ist zuständig für Rechtsstreitigkeiten, die das Arbeitsrecht, die Sozialversicherung … betreffen.“

21      Art. 35 § 3 des genannten Gesetzes bestimmt:

„Ein Richter kann vom Ersten Präsidenten des Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht, Polen] benannt werden, um an der Prüfung einer bestimmten Rechtssache in einer anderen Kammer teilzunehmen, und mit seiner Zustimmung vorübergehend an eine andere Kammer abgeordnet werden. Ein Richter kann ohne seine Zustimmung für einen Zeitraum von bis zu sechs Monaten pro Jahr an eine andere Kammer abgeordnet werden. Nach Ablauf des Zeitraums der Abordnung des Richters an eine andere Kammer kümmert sich der betreffende Richter bis zu ihrem Abschluss um die Rechtssachen, mit denen er in dieser Kammer betraut worden ist.“

 Gesetz über die Vergabe öffentlicher Aufträge

22      Art. 132 Abs. 1 der Ustawa – Prawo zamówień publicznych (Gesetz über die Vergabe öffentlicher Aufträge) vom 29. Januar 2004 (Dz. U. Nr. 19, Pos. 177) in der auf den Ausgangsrechtsstreit betreffend die Rechtssache C‑459/23 anwendbaren Fassung bestimmte:

„Die Bestimmungen dieses Kapitels gelten vorbehaltlich von Art. 3 Abs. 1 Nr. 5 für Aufträge von öffentlichen Auftraggebern im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Nr. 3 und deren Vereinigungen sowie von öffentlichen Auftraggebern im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Nr. 4 …, wenn die Aufträge zur Durchführung einer der folgenden Tätigkeiten vergeben werden:

3.      die Schaffung von Netzen zur Versorgung der Allgemeinheit mit Dienstleistungen in Verbindung mit der Erzeugung, Fortleitung oder Abgabe von Elektrizität, Gas oder Wärme, die Einspeisung von Elektrizität, Gas oder Wärme in diese Netze oder das Netzmanagement …“

23      Art. 146 dieses Gesetzes sah in der auf den Ausgangsrechtsstreit betreffend die Rechtssache C‑459/23 anwendbaren Fassung vor:

„(1)      Ein Auftrag wird für nichtig erklärt, wenn der Auftraggeber

2.      keine Bekanntmachung im Biuletynie Zamówień Publicznych [Amtsblatt für das öffentliche Auftragswesen] veröffentlicht oder dem Amt für Veröffentlichungen [der Europäischen Union] keine Bekanntmachung über einen Auftrag übermittelt hat;

(4)      Aus den in den Abs. 1 und 6 genannten Gründen kann die Nichtigkeit eines Auftrags nicht gemäß Art. 189 der Ustawa – Kodeks postępowania cywilnego [(Gesetz über die Zivilprozessordnung) vom 17. November 1964 (Dz. U. Nr. 43, Pos. 296) in der geänderten Fassung] geltend gemacht werden.“

 Ausgangsrechtsstreitigkeiten und Vorlagefragen

 Sämtlichen Rechtssachen gemeinsame Umstände und Fragen

24      Die Zivilkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) (im Folgenden: Zivilkammer), das vorlegende Gericht, ist mit fünf Kassationsbeschwerden befasst.

25      Die Präsidentin der Zivilkammer benannte auf dem Verfügungswege aus drei Richtern bestehende Kollegialorgane, die jeweils über eine dieser fünf Rechtssachen zu entscheiden hatten, und für jede Rechtssache einen Berichterstatter.

26      In jedem der auf diese Weise benannten Spruchkörper mit drei Richtern tagen neben einem Richter der Zivilkammer zwei Richter, die der Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) zugewiesen sind. Die beiden letztgenannten Richter wurden durch auf Art. 35 § 3 des Gesetzes über das Oberste Gericht gestützte Verfügungen der Ersten Präsidentin dieses Gerichts für einen Zeitraum von drei Monaten vom 1. April bis zum 30. Juni 2023 an die Zivilkammer abgeordnet. In drei der fünf Rechtssachen gingen die Abordnungen mit einer Auswechslung des Berichterstatters zugunsten einiger der so abgeordneten Richter einher.

27      Das vorlegende Gericht hegt aufgrund mehrerer Umstände Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der auf diese Weise gebildeten Spruchkörper.

28      Erstens hebt es hervor, dass die betreffenden Richter ohne ihre Zustimmung vorübergehend an die Zivilkammer abgeordnet worden seien. Sie seien im Übrigen zuvor nicht einmal konsultiert worden.

29      Zweitens seien die Abordnungen nicht begründet worden. Unter Verweis auf Presseberichte über die vorübergehende Abordnung einer großen Anzahl von Richtern an die Zivilkammer führt das vorlegende Gericht aus, dass die Arbeitsbelastung und der große Rückstand unbearbeiteter Rechtssachen dieser Kammer auf deren Leitung in jüngerer Vergangenheit zurückzuführen seien und solche Abordnungen nicht rechtfertigen könnten.

30      Drittens genössen die abgeordneten Richter nach polnischem Recht keinen gerichtlichen Rechtsschutz. Eine Entscheidung über die vorübergehende Abordnung eines Richters an eine andere Kammer könne nämlich nur von der Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen) überprüft werden. Unter Berücksichtigung der derzeitigen Zusammensetzung dieses Rates stelle eine solche Überprüfung aber keinen Rechtsbehelf vor einem unabhängigen, unparteiischen und durch Gesetz errichteten Gericht dar.

31      Das vorlegende Gericht zieht insoweit eine Parallele zwischen nicht einvernehmlichen vorübergehenden Abordnungen eines Richters an eine andere Kammer als diejenige, der er zugewiesen worden ist, und nicht einvernehmlichen Maßnahmen zur Versetzung eines Richters. In Rn. 118 des Urteils vom 6. Oktober 2021, W. Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798), habe der Gerichtshof aber entschieden, dass solche Versetzungsmaßnahmen die Grundsätze der Unabsetzbarkeit und Unabhängigkeit der Richter beeinträchtigen könnten und gerichtlich überprüfbar sein müssten.

32      Viertens seien sowohl die Präsidentin der Zivilkammer als auch die Erste Präsidentin des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verfügungen erlassen hätten, unter den gleichen – nicht ordnungsgemäßen – Umständen zu Richtern am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) ernannt worden, die der Gerichtshof anlässlich der Rechtssache geprüft habe, in der das Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798), ergangen sei. Gerichtsverfahren unter Beteiligung solcher Personen seien aber nichtig, da sie das Recht einer Partei auf ein faires Verfahren verletzten.

33      Fünftens seien die vorübergehend an die Zivilkammer abgeordneten Richter nicht von der Ausübung ihrer richterlichen Tätigkeiten in ihrer Stammkammer befreit worden. Sie müssten mithin eine doppelte Arbeitsbelastung bewältigen.

34      Zunächst finde diese Doppelbelastung keine Rechtsgrundlage im polnischen Recht. Art. 35 § 3 des Gesetzes über das Oberste Gericht gestatte eine nicht einvernehmliche Abordnung an eine andere Kammer nämlich nur für eine bestimmte Rechtssache oder einen begrenzten Zeitraum. Im letztgenannten Fall dürfe der betreffende Richter nur in dieser anderen Kammer und nicht gleichzeitig auch in seiner Stammkammer tagen.

35      Sodann verursache die genannte Doppelbelastung unter Berücksichtigung der fachlichen Spezialisierung der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die für das reibungslose Funktionieren dieses Gerichts erforderlich sei, Probleme im Zusammenhang mit der Qualität der Rechtsprechung. Eine Abordnung an eine andere Kammer führe dazu, dass der betreffende Richter in Rechtsbereichen entscheide, in denen er nicht spezialisiert sei.

36      Schließlich weist das vorlegende Gericht in einigen seiner Vorabentscheidungsersuchen darauf hin, dass die doppelte Arbeitsbelastung gegen Art. 6 Buchst. b der Richtlinie 2003/88 verstoßen könnte. Es sei nicht hinnehmbar, dass der Präsident eines Gerichts über ein Ermessen verfüge, das es ihm gestatte, einem Richter ohne Aussprache zusätzliche Aufgaben zuzuweisen, zumal wenn dadurch die europäischen und nationalen Höchstarbeitszeitnormen überschritten würden.

37      Vor diesem Hintergrund hegt das vorlegende Gericht Zweifel daran, dass die Spruchkörper, die über die fünf Kassationsbeschwerden zu entscheiden haben, den Anforderungen von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta genügen. In den Rechtssachen C‑455/23, C‑459/23 und C‑486/23 fragt es sich darüber hinaus, ob sich die Spruchkörper bei Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht weigern müssen, eine Entscheidung zu erlassen.

38      Unter den gegebenen Umständen hat der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) entschieden, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof in den Rechtssachen C‑422/23 und C‑493/23 folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist in einer Situation, in der eine nationale Rechtsvorschrift vorsieht, dass ein Richter eines letztinstanzlichen nationalen Gerichts (Richter am Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht]) aufgrund einer Ermessensentscheidung des dieses Gericht leitenden Präsidenten (Erster Präsident des Obersten Gerichts) ohne seine Zustimmung für einen bestimmten Zeitraum im Jahr von einer Kammer dieses Gerichts, in der er entsprechend seiner Ausbildung und seinen Fähigkeiten für gewöhnlich Recht spricht, an eine andere Kammer dieses Gerichts abgeordnet wird, die für andere Arten von Rechtssachen zuständig ist als die, mit denen sich dieser Richter bisher befasst hat, Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass er erfordert, dass dem abgeordneten Richter zum Schutz seiner Unabhängigkeit und Autonomie ein wirksamer Rechtsbehelf gegen die Abordnungsentscheidung bei einem unabhängigen und unparteiischen Gericht in einem Verfahren, das den Anforderungen aus den Art. 47 und 48 der Charta genügt, offenstehen muss?

2.      Ist Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass ein letztinstanzliches Gericht eines Mitgliedstaats (Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht]), zu dessen kollegialer Besetzung mit drei Richtern zwei Richter gehören, die ohne ihre Zustimmung durch den dieses Gericht leitenden Präsidenten von ihrer Stammkammer dieses Gerichts an die für die Entscheidung der betreffenden Rechtssache zuständige Kammer dieses Gerichts abgeordnet wurden, ohne dass sie davor die Möglichkeit hatten, die Abordnungsentscheidung bei einem unparteiischen und unabhängigen Gericht in einem Verfahren anzufechten, das den Anforderungen aus den Art. 47 und 48 der Charta genügt, kein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht ist, das den Einzelnen einen wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet?

39      In den Rechtssachen C‑455/23, C‑459/23 und C‑486/23 formulierte der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) seine Fragen wie folgt, wobei in der Rechtssache C‑459/23 die ersten drei von insgesamt sieben Fragen gestellt wurden:

1.      Ist Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV im Licht der vom Gerichtshof im Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798), vorgenommenen Auslegung dahin auszulegen, dass eine zeitlich befristete Abordnung eines Richters am Obersten Gericht ohne seine Zustimmung an eine andere Kammer des Obersten Gerichts den Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter und der richterlichen Unabhängigkeit in ähnlicher Weise verletzt wie die Versetzung eines Richters der ordentlichen Gerichtsbarkeit zwischen zwei Abteilungen desselben Gerichts, wenn

–        der Richter zur Entscheidungsfindung in Rechtssachen abgeordnet wird, deren Gegenstand nicht mit der sachlichen Zuständigkeit der Kammer übereinstimmt, der der Richter am Obersten Gericht zugeteilt wurde;

–        dem Richter gegen die Entscheidung über eine solche Abordnung kein gerichtlicher Rechtsbehelf zusteht, der den Anforderungen genügt, die in Rn. 118 des Urteils vom 6. Oktober 2021, W. Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798), aufgestellt wurden;

–        die Verfügung des Ersten Präsidenten des Obersten Gerichts über die Abordnung an eine andere Kammer und die Verfügung des Präsidenten, der die Zivilkammer … leitet, über die Zuweisung konkreter Verfahren von Personen erlassen wurden, die unter denselben Umständen wie in der Rechtssache W. Ż. (C‑487/19) zu Richtern am Obersten Gericht ernannt wurden, wobei im Licht der bisherigen Rechtsprechung Gerichtsverfahren unter Beteiligung solcher Personen nichtig sind oder das Recht einer Partei auf ein faires Verfahren nach Art. 6 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) verletzen;

–        die zeitlich befristete Abordnung eines Richters ohne seine Zustimmung an eine andere Kammer des Obersten Gerichts als die, in der er seinen Dienst versieht, bei gleichzeitiger Beibehaltung seiner richterlichen Pflichten in der Stammkammer keine Grundlage im nationalen Recht hat;

–        die zeitlich befristete Abordnung eines Richters ohne seine Zustimmung an eine andere Kammer des Obersten Gerichts als die, in der er seinen Dienst versieht, eine Verletzung von Art. 6 Buchst. b der Richtlinie 2003/88 darstellt?

2.      Unabhängig von der Antwort auf die erste Frage: Ist Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen, dass ein Gericht, das aufgrund einer Verfügung des Ersten Präsidenten des Obersten Gerichts über die Abordnung an eine andere Kammer des Obersten Gerichts und durch eine Verfügung des Präsidenten, der die Zivilkammer … leitet, über die Zuweisung konkreter Verfahren mit Personen besetzt ist, die unter den gleichen Umständen wie in der Rechtssache, in der das Urteil W. Ż. (C‑487/19) ergangen ist, zu Richtern am Obersten Gericht ernannt wurden, kein „durch Gesetz“ errichtetes Gericht ist, wenn im Licht der bisherigen Rechtsprechung Gerichtsverfahren unter Beteiligung solcher Personen nichtig sind oder das Recht einer Partei auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK verletzen?

3.      Falls die erste Frage bejaht oder die zweite Frage dahin beantwortet wird, dass das so errichtete Gericht kein „durch Gesetz“ errichtetes Gericht ist: Sind Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen, dass Richter, die einem Spruchkörper eines Gerichts zugeteilt wurden, der in der in der ersten und der zweiten Frage beschriebenen Weise errichtet wurde, die Vornahme von Prozesshandlungen in der ihnen zugewiesenen Rechtssache, insbesondere den Erlass von Entscheidungen, ablehnen können, weil sie die Verfügungen über die Abordnung an eine andere Kammer des Obersten Gerichts und über die Zuweisung konkreter Verfahren für nicht existent erachten, oder dahin, dass sie eine Entscheidung erlassen müssen und die etwaige Anfechtung der von ihnen erlassenen Entscheidung wegen Verletzung des Rechts einer Partei, den Rechtsstreit durch ein Gericht entscheiden zu lassen, das den Anforderungen in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta genügt, den Parteien überlassen müssen?

 Umstände und Fragen, die spezifisch für die Rechtssache C459/23 sind

40      Die Gesellschaft E., die Klägerin des Ausgangsverfahrens in der Rechtssache C‑459/23, betreibt einen Stromhandel. Der polnische Fiskus hält mehr als 50 % ihrer Aktien. Die Gesellschaft W., eine der Beklagten des Ausgangsverfahrens in dieser Rechtssache, ist in der Erzeugung, der Fortleitung und der Abgabe von Elektrizität tätig.

41      Am 24. Februar 2011 schlossen die Gesellschaften E. und W. einen Vertrag über den Verkauf von Eigentumsrechten (im Folgenden: im Ausgangsverfahren in Rede stehender Vertrag). Dieser Vertrag legte die Bedingungen für den Verkauf sämtlicher Eigentumsrechte aus grünen Zertifikaten, d. h. Herkunftsnachweisen für Strom aus einer erneuerbaren Energiequelle, fest. Die Gesellschaft W. verpflichtete sich, das Eigentum an allen Eigentumsrechten aus diesen Zertifikaten auf die Gesellschaft E. zu übertragen. Die Gesellschaft E. verpflichtete sich, die Zertifikate über OTC‑Geschäfte an der polnischen Energiebörse zu erwerben. Der Vertrag sah auch die Vergütungsbedingungen für den Verkauf der Zertifikate vor, indem er eine Preisformel festlegte.

42      Nach erfolglosen Versuchen, die in dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vertrag festgelegten Preisbedingungen neu auszuhandeln, beendete die Gesellschaft E. im September 2017 die Ausführung der ihr von der Gesellschaft W. erteilten Verkaufsorder.

43      In der Folge erhob die Gesellschaft E. Klage auf Feststellung des Nichtbestehens eines durch den Abschluss des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vertrags entstandenen Schuldverhältnisses, wobei sie sich auf eine Missachtung der Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge berief. Die Klage wurde sowohl im ersten Rechtszug durch ein Urteil des Sąd Okregowy w Gdańsku (Regionalgericht Danzig, Polen) vom 6. Dezember 2018 als auch im Berufungsstadium durch ein Urteil des Sąd Apelacyjny w Gdańsku (Berufungsgericht Danzig, Polen) vom 13. August 2019 abgewiesen. Diese Gerichte stellten im Wesentlichen fest, dass der Vertrag nicht unter das Vergaberecht falle.

44      Die Gesellschaft E. legte daraufhin beim vorlegenden Gericht Kassationsbeschwerde gegen das Urteil vom 13. August 2019 ein. Dieses Gericht fragt sich, ob die von den Tatsachengerichten vorgenommenen Beurteilungen hinsichtlich der Anwendbarkeit des Vergaberechts auf den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vertrag richtig sind. Dies wäre relevant, falls sich aus den Antworten auf seine ersten drei Fragen, die in Rn. 39 des vorliegenden Urteils wiedergegeben sind, ergibt, dass es sich in der Sache mit der bei ihm eingelegten Kassationsbeschwerde befassen muss.

45      Erstens möchte das besagte Gericht feststellen lassen, ob eine Stromhandelstätigkeit unter das Vergaberecht fällt. Hierzu ersucht es zum einen um Auslegung von Art. 3 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2004/17, um zu erfahren, ob die Wendung „Einspeisung von Elektrizität in [die] Netze“ den Verkauf von Elektrizität umfasst. Zum anderen sei unter Berücksichtigung von Art. 20 der Richtlinie 2004/17 zu klären, ob der Kauf grüner Zertifikate zum Zweck der Ausübung der Tätigkeit der Lieferung von Elektrizität erfolge und dem Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge unterworfen werden müsse. Wäre dieser Kauf auf eine gesetzliche Verpflichtung zurückzuführen und daher eine Folge der Ausübung der Tätigkeit der Lieferung von Elektrizität, wäre er demgegenüber nicht notwendig, um die Tätigkeit des Verkaufs von Elektrizität ausüben zu können.

46      Zweitens hält es das vorlegende Gericht für erforderlich, Klarheit über die Auslegung von Art. 1 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 14 der Richtlinie 2004/17 zu erlangen, um ermitteln zu können, ob ein Vertrag, der die Parteien verpflichtet, Durchführungsverträge zu bestimmten Preis- und Mengenbedingungen abzuschließen, eine Rahmenvereinbarung im Sinne dieser Richtlinie darstellt und dem Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge unterliegt. Im vorliegenden Fall würde der jährliche Gesamtwert der zwischen den Gesellschaften E. und W. im Rahmen solcher Durchführungsverträge geschlossenen Geschäfte die Schwellenwerte der Europäischen Union für Sektorenaufträge überschreiten. Einzeln betrachtet würden die Geschäfte diese Schwellenwerte hingegen nicht erreichen. Unter den gegebenen Umständen ist das vorlegende Gericht der Ansicht, es könne davon ausgegangen werden, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Vertrag weder eine Rahmenvereinbarung darstelle noch in den Anwendungsbereich des Vergaberechts der Union falle. Es hebt jedoch hervor, dass Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 2004/17 die Aufteilung eines Vertrags zur Umgehung der Schwellenwerte verbiete. Vor diesem Hintergrund sei zu ermitteln, ob der Gesamtwert der Durchführungsgeschäfte ex ante oder ex post beurteilt werden müsse.

47      Drittens fragt sich das vorlegende Gericht, welche Sanktion aufgrund der Direktvergabe des Auftrags unter völliger Missachtung der Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge zu verhängen ist, und zieht zwei Möglichkeiten in Betracht. Einerseits könnte eine solche Vergabe als ein Fall der Nichtveröffentlichung einer Bekanntmachung im Sinne von Art. 2d Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 92/13 angesehen und folglich der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Vertrag für nichtig erklärt werden. Andererseits schlage die Gesellschaft E. vor, zwischen dem Versäumnis, die Bekanntmachung zu veröffentlichen, und dem völligen Versäumnis, die Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge anzuwenden, zu unterscheiden. Die letztgenannte Fallkonstellation falle nicht unter die besagte Vorschrift, sondern unter die im polnischen Zivilrecht vorgesehenen strengeren Sanktionen.

48      Viertens möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der allgemeine Grundsatz des Verbots des Rechtsmissbrauchs der Nichtigerklärung eines Vertrags wegen Verstoßes gegen die unionsrechtlichen Bestimmungen über öffentliche Aufträge entgegensteht, wenn die Behauptung eines solchen Verstoßes nur ein Vorwand ist, um Ziele zu erreichen, die sich völlig von denen des Unionsgesetzgebers unterscheiden, wie z. B. das Ziel, einen Vertrag, dessen Rentabilität für die klagende Partei gesunken ist, nicht erfüllen zu müssen.

49      Unter diesen Umständen legte der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) neben den drei in Rn. 39 des vorliegenden Urteils dargelegten folgende für die Rechtssache C‑459/23 spezifische Fragen zur Vorabentscheidung vor:

4.      Falls die oben genannten Fragen dahin beantwortet werden, dass das vorlegende Gericht ein durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist: Ist Art. 3 Abs. 3 Buchst. b in Verbindung mit Art. 20 und Art. 1 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/17 dahin auszulegen, dass ein öffentliches Unternehmen im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie, das im Groß- und Einzelhandel mit Elektrizität tätig ist, verpflichtet ist, die in Art. 2 Abs. 2 Buchst. k und l der Richtlinie 2009/28 genannten grünen Zertifikate im Wege der Vergabe öffentlicher Aufträge zu erwerben?

5.      Falls die vierte Frage bejaht wird: Ist Art. 14 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 4 der Richtlinie 2004/17 dahin auszulegen, dass der Rahmenvertrag zwischen einem solchen Unternehmen und dem Erzeuger erneuerbarer Energien nach dem für die Vergabe öffentlicher Aufträge vorgesehenen Verfahren geschlossen werden muss, wenn der geschätzte (obwohl im Vertrag nicht angegebene) Gesamtwert der in Erfüllung dieses Vertrags erworbenen grünen Zertifikate den in Art. 16 Buchst. a dieser Richtlinie festgelegten Schwellenwert überschreitet, der Wert der einzelnen in Erfüllung dieses Vertrags geschlossenen Geschäfte diesen Schwellenwert dagegen nicht überschreitet?

6.      Falls die vierte und die fünfte Frage bejaht werden: Stellt der Abschluss eines Vertrags unter völliger Missachtung der Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge einen Fall dar, der in Art. 2d Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 92/13 genannt ist, oder handelt es sich um einen anderen Fall eines Verstoßes gegen das Vergaberecht der Union, der es ermöglicht, die Nichtigkeit des Vertrags außerhalb des Verfahrens, das das nationale Recht zur Umsetzung dieser Richtlinie vorsieht, festzustellen?

7.      Falls die Fragen 4 bis 6 bejaht werden: Ist der allgemeine Grundsatz des Verbots des Rechtsmissbrauchs dahin auszulegen, dass sich das den Auftrag erteilende Unternehmen im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/17 nicht auf die Nichtigkeit des Vertrags berufen kann, der von ihm mit dem Lieferanten unter Verstoß gegen die nationalen Vorschriften zur Umsetzung von Unionsrichtlinien über die Vergabe öffentlicher Aufträge geschlossen wurde, wenn der wahre Grund für das Begehren, den Vertrag für nichtig zu erklären, nicht die Einhaltung des Unionsrechts ist, sondern ein Verlust der Rentabilität der Durchführung dieses Vertrags durch den Auftraggeber?

50      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 10. Oktober 2023 sind die Rechtssachen C‑422/23, C‑455/23, C‑459/23, C‑486/23 und C‑493/23 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

 Zur Zulässigkeit der Vorabentscheidungsersuchen

51      Nach ständiger Rechtsprechung ist es Sache des Gerichtshofs selbst, die Umstände, unter denen er vom nationalen Gericht angerufen wurde, zu untersuchen, um seine eigene Zuständigkeit oder die Zulässigkeit des ihm vorgelegten Ersuchens zu überprüfen (Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

52      Da die Vorabentscheidungsersuchen von unterschiedlichen Spruchkörpern der Zivilkammer stammen, ist zu prüfen, ob die vorlegende Einrichtung, die Zweifel an ihrer eigenen Unabhängigkeit äußert, den Charakter eines „Gerichts“ im Sinne von Art. 267 AEUV hat.

53      Aus einer ständigen Rechtsprechung geht insoweit hervor, dass bei der Beurteilung der rein unionsrechtlichen Frage, ob es sich bei der jeweils vorlegenden Einrichtung um ein „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV handelt und ob das Vorabentscheidungsersuchen folglich zulässig ist, auf eine Reihe von Merkmalen abzustellen ist, wie z. B. die gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ihr ständiger Charakter, die obligatorische Gerichtsbarkeit, das streitige Verfahren, die Anwendung von Rechtsnormen durch die betreffende Einrichtung sowie ihre Unabhängigkeit (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 30. Juni 1966, Vaassen-Göbbels, 61/65, EU:C:1966:39, S. 602, vom 21. Dezember 2023, Krajowa Rada Sądownictwa [Verbleib eines Richters im Amt], C‑718/21, EU:C:2023:1015, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 7. Mai 2024, NADA u. a., C‑115/22, EU:C:2024:384, Rn. 35).

54      Der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) als solcher diese Anforderungen erfüllt, und klargestellt, dass, sofern ein Vorabentscheidungsersuchen von einem nationalen Gericht stammt, davon auszugehen ist, dass dieses die Anforderungen unabhängig von seiner konkreten Zusammensetzung erfüllt (Urteile vom 29. März 2022, Getin Noble Bank, C‑132/20, EU:C:2022:235, Rn. 68 und 69, sowie vom 21. Dezember 2023, Krajowa Rada Sądownictwa [Verbleib eines Richters im Amt], C‑718/21, EU:C:2023:1015, Rn. 41).

55      Diese Vermutung kann jedoch widerlegt werden, wenn eine rechtskräftige Entscheidung eines Gerichts eines Mitgliedstaats oder eines internationalen Gerichts zu der Annahme führen würde, dass der Richter, aus dem das vorlegende Gericht besteht, nicht die Eigenschaft eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta hat (Urteile vom 29. März 2022, Getin Noble Bank, C‑132/20, EU:C:2022:235, Rn. 72, und vom 21. Dezember 2023, Krajowa Rada Sądownictwa [Verbleib eines Richters im Amt], C‑718/21, EU:C:2023:1015, Rn. 44).

56      Von einem aus einem Einzelrichter der Zivilkammer bestehenden Spruchkörper angerufen, hat der Gerichtshof aber entschieden, dass in Anbetracht seiner eigenen Rechtsprechung zu Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta verschiedene Feststellungen und Beurteilungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Urteil vom 3. Februar 2022, Advance Pharma sp. z o.o./Polen (CE:ECHR:2022:0203JUD00146920), einerseits und des Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) in einem Urteil vom 6. Mai 2021 andererseits zu der Annahme führten, dass dieser Spruchkörper aufgrund der Modalitäten der Ernennung des ihn bildenden Richters nicht die Eigenschaft eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts im Sinne der genannten Bestimmungen des Unionsrechts hatte. Dementsprechend war die in Rn. 54 des vorliegenden Urteils erwähnte Vermutung als widerlegt anzusehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. November 2024, Prezes Urzędu Ochrony Konkurencji i Konsumentów, C‑326/23, EU:C:2024:940, Rn. 29 bis 37).

57      Im vorliegenden Fall enthalten die dem Gerichtshof vorliegenden Akten keine Anhaltspunkte dafür, dass die Richter, die die Spruchkörper bilden, von denen die Vorabentscheidungsersuchen stammen, am Ende eines Verfahrens in die Zivilkammer ernannt worden sind, das mit dem Verfahren zur Ernennung des Einzelrichters identisch ist, der das Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache gestellt hat, in der das Urteil vom 7. November 2024, Prezes Urzędu Ochrony Konkurencji i Konsumentów (C‑326/23, EU:C:2024:940), ergangen ist. Aus den Akten ergibt sich auch nicht, dass die Ernennungen dieser Richter in den Rechtssachen, in denen die in der vorstehenden Randnummer erwähnten Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) ergangen sind, in Frage gestellt worden wären.

58      Daher reichen die Zweifel des vorlegenden Gerichts an seiner eigenen Unabhängigkeit nicht aus, um die in Rn. 54 des vorliegenden Urteils genannte Vermutung zu widerlegen.

 Zu den Vorlagefragen

 Zu den Fragen in den Rechtssachen C422/23 und C493/23 sowie zur jeweils ersten und zweiten Frage in den Rechtssachen C455/23, C459/23 und C486/23

 Zur Zulässigkeit

59      Die Europäische Kommission ist der Ansicht, die jeweils erste Frage in den Rechtssachen C‑422/23 und C‑493/23 sowie die jeweils zweite Frage in den Rechtssachen C‑455/23, C‑459/23 und C‑486/23 seien unzulässig. Die Fragen seien für die Entscheidung der Ausgangsrechtsstreitigkeiten nicht erforderlich, da diese weder die Entscheidung der Ersten Präsidentin des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) über die Abordnung eines Richters an eine andere Gerichtskammer noch die Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens zur Ernennung der Ersten Präsidentin und der Präsidentin der Zivilkammer zu Richterinnen beträfen.

60      Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht, wie aus den Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, in den fünf Ausgangsrechtsstreitigkeiten vorab festzustellen, ob es ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta ist, obwohl mehrere Mitglieder der Spruchkörper der Zivilkammer, von denen die Vorabentscheidungsersuchen stammen, nur vorübergehend an diese Kammer abgeordnet worden sind und ihre Abordnung nicht anfechten können.

61      Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich, dass Vorlagefragen, die es einem vorlegenden Gericht ermöglichen sollen, vorab über verfahrensrechtliche Schwierigkeiten zu entscheiden, etwa im Zusammenhang mit seiner eigenen Zuständigkeit für die Entscheidung einer bei ihm anhängigen Rechtssache oder auch mit den Rechtswirkungen, die einer gerichtlichen Entscheidung, die der Fortsetzung der Prüfung einer solchen Rechtssache durch dieses Gericht potenziell entgegensteht, gegebenenfalls zuzuerkennen sind, nach Art. 267 AEUV zulässig sind (Urteile vom 13. Juli 2023, YP u. a. [Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters], C‑615/20 und C‑671/20, EU:C:2023:562, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 6. März 2025, D. K. [Entbindung eines Richters von seinen Verpflichtungen], C‑647/21 und C‑648/21, EU:C:2025:143, Rn. 53).

62      Daher sind die jeweils erste Frage in den Rechtssachen C‑422/23 und C‑493/23 sowie die jeweils zweite Frage in den Rechtssachen C‑455/23, C‑459/23 und C‑486/23 zulässig.

 In der Sache

–       Vorbemerkungen

63      Art. 19 EUV, mit dem der in Art. 2 EUV proklamierte Wert der Rechtsstaatlichkeit konkretisiert wird, überträgt den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof die Aufgabe, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den gerichtlichen Schutz, der den Einzelnen aus diesem Recht erwächst, zu gewährleisten (Urteile vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 108, sowie vom 16. November 2021, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a., C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931, Rn. 59).

64      Insoweit ist es, wie in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV vorgesehen, Sache der Mitgliedstaaten, ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, das den Einzelnen die Wahrung ihres Rechts auf wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet. Der Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Schutzes der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte, von dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Rede ist, ist ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt; er ist in den Art. 6 und 13 EMRK und nun auch in Art. 47 der Charta verankert. Art. 47 der Charta ist daher bei der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV gebührend zu berücksichtigen (Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 102 und die dort angeführte Rechtsprechung).

65      In sachlicher Hinsicht findet Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in „den vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ Anwendung, ohne dass es insoweit darauf ankäme, in welchem Kontext die Mitgliedstaaten Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 29, sowie vom 16. November 2021, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a., C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931, Rn. 62).

66      Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist daher u. a. auf jede nationale Einrichtung anwendbar, die als Gericht über Fragen der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts und somit über Fragen aus den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu entscheiden hat (Urteile vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 36).

67      Dies ist beim vorlegenden Gericht der Fall, das tatsächlich über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden haben kann und als „Gericht“ im Sinne dieses Rechts unter das polnische Rechtsbehelfssystem in „den vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV fällt, so dass es den Anforderungen an einen wirksamen Rechtsschutz genügen muss.

68      Außerdem bezieht sich das vorlegende Gericht in einigen seiner Vorabentscheidungsersuchen auch auf Art. 47 der Charta. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Bestimmungen der Charta gemäß deren Art. 51 Abs. 1 für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union gelten; diese Bestimmung bestätigt die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden (Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 31).

69      Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht keine Angaben dazu gemacht, dass die Ausgangsrechtsstreitigkeiten in den Rechtssachen C‑422/23, C‑455/23, C‑486/23 und C‑493/23 die Auslegung oder die Anwendung einer auf nationaler Ebene umgesetzten Vorschrift des Unionsrechts betreffen sollen. Unter diesen Umständen scheint Art. 47 der Charta in Anbetracht der dem Gerichtshof zur Verfügung stehenden Informationen in diesen Rechtssachen nicht anwendbar zu sein. Gleichwohl ist Art. 47 der Charta, obwohl er auf den Ausgangsrechtsstreit nicht anwendbar ist, bei der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV gebührend zu berücksichtigen (Urteile vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 44 und 45, sowie vom 25. Februar 2025, Sąd Rejonowy w Białymstoku und Adoreikė, C‑146/23 und C‑374/23, EU:C:2025:109, Rn. 43).

70      Aus dem Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑459/23 geht hingegen hervor, dass sich die Gesellschaft E. im Ausgangsverfahren auf einen Verstoß gegen die Unionsvorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge, insbesondere gegen die Richtlinie 2004/17, beruft. Mit seinen auf diese Rechtssache bezogenen Fragen befasst das vorlegende Gericht den Gerichtshof u. a. mit der Auslegung des Anwendungsbereichs der Richtlinie. Daher ist davon auszugehen, dass der Ausgangsrechtsstreit in der genannten Rechtssache die Anwendung einer auf nationaler Ebene umgesetzten Vorschrift des Unionsrechts betrifft, wobei es Sache des vorlegenden Gerichts sein wird, im Licht der Antworten des Gerichtshofs auf die für die Rechtssache C‑459/23 spezifischen Fragen festzustellen, ob die Richtlinie 2004/17 tatsächlich auf das Ausgangsverfahren anwendbar ist; in diesem Fall wäre auch Art. 47 der Charta anwendbar.

71      Unter den gegebenen Umständen ist über die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta zu entscheiden.

–       Zu den Fragen

72      Mit seinen Fragen in den Rechtssachen C‑422/23 und C‑493/23 sowie seiner jeweils ersten und jeweils zweiten Frage in den Rechtssachen C‑455/23, C‑459/23 und C‑486/23 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er Maßnahmen des Präsidenten eines nationalen Gerichts, die darin bestehen, Richter einer Kammer dieses Gerichts vorübergehend an eine andere Gerichtskammer abzuordnen, ihren Dienst gleichzeitig aber weiterhin in ihrer Stammkammer versehen zu lassen, selbst dann entgegensteht, wenn die betreffenden Richter der Abordnung nicht zugestimmt haben und über keinerlei Rechtsbehelf verfügen, um sie anzufechten, die Abordnung eine Erhöhung ihrer Arbeitsbelastung mit sich bringt und von ihnen verlangt, sich mit Sachgebieten zu befassen, die nichts mit ihrer Spezialisierung zu tun haben, und der Gerichtspräsident unter Bedingungen zum fraglichen Gericht ernannt worden ist, die mit den sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergebenden Anforderungen unvereinbar sind.

73      Insoweit ist als Erstes darauf hinzuweisen, dass jeder Mitgliedstaat nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dafür zu sorgen hat, dass Einrichtungen, die als „Gerichte“ im unionsrechtlichen Sinne dazu berufen sind, über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden, und damit Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz, u. a. dem Erfordernis der Unabhängigkeit, gerecht werden (Urteile vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 6. März 2025, D. K. [Entbindung eines Richters von seinen Verpflichtungen], C‑647/21 und C‑648/21, EU:C:2025:143, Rn. 65).

74      Dieses Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das dem Auftrag des Richters inhärent ist, gehört zum Wesensgehalt des Rechts auf wirksamen Rechtsschutz und des Grundrechts auf ein faires Verfahren, dem als Garant für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommt (Urteile vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 6. März 2025, D. K. [Entbindung eines Richters von seinen Verpflichtungen], C‑647/21 und C‑648/21, EU:C:2025:143, Rn. 66).

75      Dieses Erfordernis der Unabhängigkeit umfasst zwei Aspekte. Der erste, das Außenverhältnis betreffende Aspekt erfordert, dass die betreffende Einrichtung ihre Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, so dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten. Der zweite, das Innenverhältnis betreffende Aspekt steht mit dem Begriff der „Unparteilichkeit“ in Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass den Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen am Streitgegenstand mit dem gleichen Abstand begegnet wird. Dieser Aspekt verlangt, dass Sachlichkeit obwaltet und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht (Urteile vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 50 und 51 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 6. März 2025, D. K. [Entbindung eines Richters von seinen Verpflichtungen], C‑647/21 und C‑648/21, EU:C:2025:143, Rn. 67).

76      Zwar zielt der das „Außenverhältnis“ betreffende Aspekt der Unabhängigkeit in erster Linie darauf ab, die Unabhängigkeit der Gerichte gegenüber der Legislative und der Exekutive gemäß dem für einen Rechtsstaat kennzeichnenden Grundsatz der Gewaltenteilung zu wahren, er soll die Richter aber auch vor unzulässigen Einflussnahmen innerhalb des betreffenden Gerichts schützen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 6. März 2025, D. K. [Entbindung eines Richters von seinen Verpflichtungen], C‑647/21 und C‑648/21, EU:C:2025:143, Rn. 68).

77      Ferner ist hervorzuheben, dass die Ausübung des Richteramts nicht nur vor jeder unmittelbaren Einflussnahme in Form von Weisungen geschützt sein muss, sondern auch vor Formen der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung von Gerichtsentscheidungen geeignet sein könnten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 14. November 2024, S. [Änderung des Spruchkörpers], C‑197/23, EU:C:2024:956, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).

78      Diese Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit setzen voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der betreffenden Einrichtung gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsuchenden jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Urteile vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 52, sowie vom 6. März 2025, D. K. [Entbindung eines Richters von seinen Verpflichtungen], C‑647/21 und C‑648/21, EU:C:2025:143, Rn. 70).

79      Als Zweites verlangt Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV auch, dass es sich um ein „zuvor durch Gesetz errichtetes“ Gericht handelt, angesichts des untrennbaren Zusammenhangs, der zwischen dem Zugang zu einem solchen Gericht und den Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter besteht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 14. November 2024, S. [Änderung des Spruchkörpers], C‑197/23, EU:C:2024:956, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).

80      Der Begriff des „zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts“, der auch in Art. 47 Abs. 2 der Charta enthalten ist und insbesondere das Rechtsstaatsprinzip widerspiegelt, umfasst nicht nur die Rechtsgrundlage für die Existenz des Gerichts, sondern auch die Zusammensetzung des Spruchkörpers in der jeweiligen Rechtssache sowie alle weiteren Vorschriften des innerstaatlichen Rechts, deren Nichtbeachtung dazu führt, dass die Teilnahme eines oder mehrerer Richter an der Verhandlung über die Rechtssache eine Regelwidrigkeit darstellt. Dieser Begriff umfasst daher die Vorschriften über die Zuweisung und Neuzuweisung von Rechtssachen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. März 2025, D. K. [Entbindung eines Richters von seinen Verpflichtungen], C‑647/21 und C‑648/21, EU:C:2025:143, Rn. 73 und 74 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

81      Folglich verlangt Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV insoweit auch, dass sich mit den Vorschriften über die Besetzung der Spruchkörper ausschließen lässt, dass Personen, die nicht dem mit einer bestimmten Rechtssache befassten Spruchkörper angehören und vor denen die Parteien nicht Stellung nehmen konnten, in den diese Rechtssache betreffenden Entscheidungsprozess unzulässigerweise eingreifen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 59, sowie vom 6. März 2025, D. K. [Entbindung eines Richters von seinen Verpflichtungen], C‑647/21 und C‑648/21, EU:C:2025:143, Rn. 75).

82      Im vorliegenden Fall fragt sich das vorlegende Gericht, ob Maßnahmen, mit denen die Erste Präsidentin des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) Richter aus der Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen für einen begrenzten Zeitraum von drei Monaten an die Zivilkammer abgeordnet hat, wobei diese gleichzeitig aber weiterhin in ihrer Stammkammer tätig waren, mit den in den Rn. 73 bis 81 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Anforderungen vereinbar sind.

83      Insoweit ist zunächst festzustellen, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, in ihrem nationalen Recht festzulegen, unter welchen Voraussetzungen der Präsident eines Gerichts befugt ist, Maßnahmen zu ergreifen, mit denen den Richtern dieses Gerichts vorübergehend eine doppelte Zuweisung zu ihrer Stamm- und einer anderen Gerichtskammer auferlegt wird. Solche Maßnahmen können nämlich für die interne Organisation der Arbeit eines Gerichts unerlässlich sein, da sie der Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Rechtspflege und der Einhaltung des Grundsatzes der angemessenen Frist dienen.

84      Was sodann die Voraussetzungen betrifft, unter denen solche Maßnahmen ergriffen werden können, so fragt sich das vorlegende Gericht als Erstes, welche Auswirkungen die Tatsache hat, dass die Erste Präsidentin des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die die betreffenden Richter vorübergehend an die Zivilkammer abgeordnet hat – ebenso wie im Übrigen deren Präsidentin, die diesem Spruchkörper die Rechtssachen betreffend die Ausgangsrechtsstreitigkeiten zugewiesen hat –, unter Bedingungen zu Richterinnen am fraglichen Gericht ernannt wurden, die mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV unvereinbar sind.

85      In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof, wie das vorlegende Gericht ausführt, in den Rn. 155 und 160 seines Urteils vom 6. Oktober 2021, W. Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798), zwar entschieden, dass ein nationales Gericht einen Beschluss, der von einem Spruchkörper erlassen wurde, der kein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne des Unionsrechts ist, nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts als nicht existent anzusehen hat.

86      Daraus folgt jedoch nicht, dass jede Maßnahme zur internen Organisation der Arbeit eines Gerichts, wie beispielsweise die Maßnahme, Richter vorübergehend an eine andere Kammer als diejenige abzuordnen, der sie zugewiesen sind, oder ihnen Rechtssachen zuzuteilen, als nicht existent anzusehen ist, wenn sie vom Gerichtspräsidenten oder vom Präsidenten eines Spruchkörpers ergriffen wurde, die beide kein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne des Unionsrechts sind. Die Rechtssache, in der die in der vorstehenden Randnummer angeführten Rechtsprechung ergangen ist, betraf nämlich – anders als die vorliegenden Rechtssachen – die Existenz von Gerichtsentscheidungen, mit denen ein Verfahren beendet wurde.

87      Folglich reicht der Umstand, dass die Präsidentin des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und die Präsidentin der Zivilkammer, die nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts die betreffenden Richter an diese Kammer abgeordnet bzw. den Spruchkörpern Rechtssachen betreffend die Ausgangsrechtsstreitigkeiten zugewiesen haben, unter mit den Anforderungen von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV unvereinbaren Bedingungen ernannt worden sind, als solcher nicht aus, um zu rechtfertigen, dass die so gebildeten und mit den fraglichen Rechtssachen befassten Spruchkörper ebenfalls nicht als unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne des Unionsrechts angesehen werden dürfen.

88      Als Zweites muss zur Gewährleistung der Vereinbarkeit von Maßnahmen, mit denen den Richtern eines Gerichts vorübergehend eine doppelte Zuweisung zu ihrer Stamm- und einer anderen Gerichtskammer auferlegt wird, mit den Grundsätzen der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit sowie dem Erfordernis eines zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts dafür Sorge getragen werden, dass diese Maßnahmen kein Mittel zur Kontrolle des Inhalts gerichtlicher Entscheidungen sind.

89      Dies wäre möglicherweise der Fall, wenn solche Maßnahmen nicht nur den Umfang der Befugnisse der betreffenden Richter und die Bearbeitung der ihnen zugewiesenen Fälle nachhaltig beeinflussen könnten, sondern auch erhebliche Auswirkungen auf ihr Leben und ihre Laufbahn haben könnten, da sie beispielsweise eine Zurückstufung dieser Richter oder eine Verschlechterung ihrer beruflichen Situation zur Folge hätten. Auch könnten derartige Maßnahmen bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter wecken, falls sie in das freie Ermessen des Präsidenten des nationalen Gerichts fielen und bestimmte Richter aufgrund ihrer früheren Positionen, insbesondere gegen die jüngsten Reformen der polnischen Justiz, ins Visier nähmen oder wenn sie als Reaktion auf gerichtliche Entscheidungen dieser Richter ergriffen würden (vgl. entsprechend Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 115 und 119).

90      Dies gilt hingegen nicht für Maßnahmen zur Abordnung von Richtern an eine Kammer, die auf legitimen – insbesondere mit einer ordnungsgemäßen Rechtspflege zusammenhängenden – Gründen beruhen, auf der Grundlage der für das fragliche Gericht geltenden nationalen Vorschriften ergriffen werden, unbeschadet ihrer etwaigen Verlängerung vorübergehend und zeitlich streng begrenzt sind, die Zuweisung der betreffenden Richter zu ihrer Stammkammer nicht in Frage stellen und weder eine Entziehung der Rechtssachen, die diesen Richtern übertragen worden sind, noch deren Zurückstufung zur Folge haben. Die vorstehende Schlussfolgerung ist umso mehr geboten, wenn derartige rein organisatorische Maßnahmen eine große Zahl von Richtern betreffen und weder zum Ziel noch zur Folge haben, bestimmte Richter aufgrund der von ihnen in der Vergangenheit möglicherweise vertretenen Standpunkte ins Visier zu nehmen. Der Umstand, dass solche Maßnahmen vorübergehend zu einer – wenn auch erheblichen – Erhöhung der Arbeitsbelastung der betreffenden Richter führen können und diese zwingen, sich mit Sachgebieten zu befassen, die nicht zu ihrem Fachgebiet gehören, ist insoweit irrelevant.

91      Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof zur Verfügung stehenden Unterlagen hervor, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Maßnahmen den in der vorstehenden Randnummer genannten entsprechen.

92      Denn erstens sind die Maßnahmen, mit denen die Erste Präsidentin des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) Richter aus der Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen für einen begrenzten Zeitraum von drei Monaten an die Zivilkammer abgeordnet hat, auf der Grundlage von Art. 35 § 3 des Gesetzes über das Oberste Gericht ergriffen worden. Diese seit Langem bestehende Vorschrift legt ausdrücklich fest, dass solche ohne Zustimmung der betreffenden Richter ergriffenen Maßnahmen höchstens sechs Monate pro Jahr gelten dürfen. Ihr zweiter Satz scheint einen Verbleib der Richter in ihrer Stammkammer im Übrigen nicht auszuschließen.

93      Das vorlegende Gericht führt jedoch aus, dass Art. 35 § 3 des Gesetzes über das Oberste Gericht eine solche Abordnung ohne die Zustimmung des betreffenden Richters nicht gestatte und auch nicht vorsehe, dass dieser Richter während der Dauer der Abordnung in seiner Stammkammer verbleibe. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es nicht Aufgabe des Gerichtshofs ist, die Auslegung des nationalen Rechts durch das vorlegende Gericht in Frage zu stellen. Selbst wenn unterstellt wird, dass die besagte Vorschrift die fraglichen Abordnungen nicht gestattet, würde dieser Umstand allein allerdings nicht ausreichen, um die Vereinbarkeit der das vorlegende Gericht bildenden Spruchkörper mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta in Zweifel zu ziehen.

94      Zweitens geht aus den dem Gerichtshof zur Verfügung stehenden Unterlagen hervor, dass die Maßnahmen, obwohl nicht begründet, offenbar ergriffen worden sind, um einem Anstieg der Rechtsstreitigkeiten vor der Zivilkammer zu begegnen und einen erheblichen Rückstau in dieser Kammer abzubauen. Sie verfolgen somit ein legitimes Ziel – unabhängig von den Umständen, die diesen erheblichen Rückstau verursacht haben.

95      Drittens sind die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Maßnahmen vorübergehender Natur, da die betreffenden Richter für einen Zeitraum von drei Monaten an die Zivilkammer abgeordnet werden, während Art. 35 § 3 des Gesetzes über das Oberste Gericht eine Höchstdauer von sechs Monaten pro Jahr vorsieht. Eine etwaige Verlängerung oder Erneuerung der Abordnungen, wodurch die Zuweisung zur Zivilkammer gewissermaßen dauerhaften Charakter erhielte, ist angesichts der dem Gerichtshof vorliegenden Informationen insoweit ein hypothetisches Ereignis.

96      Viertens scheinen diese Maßnahmen nach den dem Gerichtshof zur Verfügung stehenden Informationen weder eine Zurückstufung der betreffenden Richter noch eine Verschlechterung ihrer beruflichen Situation zur Folge gehabt zu haben, da diese Richter weiterhin Kassationsbeschwerden bearbeiten, die in die Zuständigkeit des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) fallen. Sie haben nicht dazu geführt, dass die Richter, die während der gesamten Geltungsdauer der Maßnahmen weiterhin Dienst in ihrer Stammkammer versehen haben, von den Rechtssachen, die sie zuvor bearbeitet hatten, entbunden worden sind. Wie in Rn. 90 des vorliegenden Urteils festgestellt, ist der Umstand, dass die Maßnahmen zu einer vorübergehenden Erhöhung der Arbeitsbelastung der betreffenden Richter führen oder sie dazu zwingen, sich mit Sachgebieten zu befassen, die nicht zu ihrem Fachgebiet gehören, in diesem Zusammenhang irrelevant.

97      Fünftens haben die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Maßnahmen insgesamt etwa zwanzig Richter betroffen. In Anbetracht der dem Gerichtshof vorliegenden Informationen scheinen diese Maßnahmen nicht auf bestimmte Richter abgezielt zu haben, beispielsweise weil sie die Reformen der polnischen Justiz kritisiert haben sollen.

98      Unter den gegebenen Umständen kann die Tatsache, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Maßnahmen ohne Zustimmung der betreffenden Richter ergriffen worden sind und diese Richter über keinen Rechtsbehelf verfügen, um sie anzufechten, keinen Verstoß gegen die Grundsätze der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit sowie das Erfordernis eines zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts darstellen. Da nichts darauf hindeutet, dass die Maßnahmen entsprechende Wirkungen wie eine Disziplinarstrafe haben können, sind solche Umstände nämlich nicht geeignet, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter zu wecken.

99      Außerdem ist jedenfalls hinzuzufügen, dass die Ordnungsmäßigkeit der Zusammensetzung der das vorlegende Gericht bildenden Spruchkörper im Hinblick auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gerichtlich überprüft werden können muss (vgl. entsprechend Urteil vom 14. November 2024, S. [Änderung des Spruchkörpers], C‑197/23, EU:C:2024:956, Rn. 67). Im vorliegenden Fall zeigen die Ausgangsrechtssachen aber gerade, dass das nationale Recht dem vorlegenden Gericht die Möglichkeit bietet, die Ordnungsmäßigkeit seiner eigenen Zusammensetzung zu überprüfen.

100    Nach alledem ist auf die beiden Fragen in den Rechtssachen C‑422/23 und C‑493/23 sowie auf die jeweils erste und die jeweils zweite Frage in den Rechtssachen C‑455/23, C‑459/23 und C‑486/23 zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er Maßnahmen des Präsidenten eines nationalen Gerichts, die darin bestehen, Richter einer Kammer dieses Gerichts vorübergehend an eine andere Gerichtskammer abzuordnen, ihren Dienst gleichzeitig aber weiterhin in ihrer Stammkammer versehen zu lassen, selbst dann nicht entgegensteht, wenn die betreffenden Richter der Abordnung nicht zugestimmt haben und über keinerlei Rechtsbehelf verfügen, um sie anzufechten, die Abordnung eine Erhöhung ihrer Arbeitsbelastung mit sich bringt und von ihnen verlangt, sich mit Sachgebieten zu befassen, die nichts mit ihrem Fachgebiet zu tun haben, und der Gerichtspräsident unter Bedingungen zum fraglichen Gericht ernannt worden ist, die mit den sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergebenden Anforderungen unvereinbar sind, sofern diese Maßnahmen auf legitimen – insbesondere mit einer ordnungsgemäßen Rechtspflege zusammenhängenden – Gründen beruhen, auf der Grundlage der für das fragliche Gericht geltenden nationalen Vorschriften ergriffen werden, vorübergehend und zeitlich streng begrenzt sind, die Zuweisung der betreffenden Richter zu ihrer Stammkammer nicht in Frage stellen und weder eine Zurückstufung dieser Richter noch eine Entziehung der ihnen übertragenen Rechtssachen zur Folge haben.

 Zur jeweils dritten Frage in den Rechtssachen C455/23, C459/23 und C486/23

101    Die jeweils dritte Frage in den Rechtssachen C‑455/23, C‑459/23 und C‑486/23 wird für den Fall gestellt, dass sich aus der Antwort auf die jeweils erste und die jeweils zweite Frage in diesen Rechtssachen im Wesentlichen ergibt, dass ein unter Voraussetzungen wie denen des vorlegenden Gerichts zusammengesetztes Gericht kein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist. Unter Berücksichtigung der Antwort auf die letztgenannten Fragen braucht über die jeweils dritte Frage in den erwähnten Rechtssachen nicht mehr entschieden zu werden.

 Zur vierten Frage in der Rechtssache C459/23

102    Mit seiner vierten Frage in der Rechtssache C‑459/23 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 3 Buchst. b in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie 2004/17 dahin auszulegen ist, dass der Erwerb grüner Zertifikate im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. k und l der Richtlinie 2009/28 durch ein öffentliches Stromhandelsunternehmen eine Tätigkeit darstellt, die zum Zweck der Einspeisung von Elektrizität in feste Netze zur Versorgung der Allgemeinheit im Zusammenhang mit der Erzeugung, der Fortleitung und der Abgabe von Elektrizität durchgeführt wird.

103    Einleitend ist zunächst darauf hinzuweisen, dass grundsätzlich diejenige Richtlinie anwendbar ist, die zu dem Zeitpunkt gilt, zu dem der öffentliche Auftraggeber die Art des durchzuführenden Verfahrens auswählt und endgültig entscheidet, ob die Verpflichtung zu einem vorherigen Aufruf zum Wettbewerb für die Vergabe eines öffentlichen Auftrags besteht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Oktober 2000, Kommission/Frankreich, C‑337/98, EU:C:2000:543, Rn. 37, vom 10. Juli 2014, Impresa Pizzarotti, C‑213/13, EU:C:2014:2067, Rn. 31, und vom 14. September 2017, Casertana Costruzioni, C‑223/16, EU:C:2017:685, Rn. 21). Da der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Vertrag im Jahr 2011 geschlossen wurde, ist im vorliegenden Fall daher die Richtlinie 2004/17 zeitlich anwendbar.

104    Sodann ist hervorzuheben, dass diese Richtlinie gemäß ihrem Art. 2 Abs. 2 Buchst. a für Auftraggeber gilt, die u. a. öffentliche Unternehmen sind, die eine Tätigkeit im Sinne der Art. 3 bis 7 der Richtlinie ausüben. Art. 2 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/17 stellt in diesem Zusammenhang eine Vermutung auf, wonach ein „öffentliches Unternehmen“ im Sinne der letztgenannten Vorschrift ein Unternehmen ist, an dem der Auftraggeber unmittelbar oder mittelbar die Mehrheit des Kapitals hält.

105    Im vorliegenden Fall geht aus den Feststellungen des vorlegenden Gerichts hervor, dass die Gesellschaft E. ein solches öffentliches Unternehmen ist, da mehr als 50 % ihres Kapitals vom polnischen Staat gehalten werden.

106    Es bleibt somit festzustellen, worum mit der vierten Frage in der Rechtssache C‑459/23 ersucht wird, ob davon ausgegangen werden kann, dass dieses Unternehmen eine Tätigkeit im Sinne von Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2004/17 ausübt.

107    Insoweit ist als Erstes daran zu erinnern, dass im Bereich der Elektrizität unter die Richtlinie 2004/17 nach deren Art. 3 Abs. 3 Buchst. b die Einspeisung von Elektrizität in feste Netze zur Versorgung der Allgemeinheit im Zusammenhang mit der Erzeugung, der Fortleitung und der Abgabe von Elektrizität fällt.

108    Weder die genannte noch eine andere Bestimmung der Richtlinie 2004/17 definieren, was unter dem in ihr enthaltenen Begriff „Einspeisung von Elektrizität“ in diese Netze zu verstehen ist.

109    Folglich sind nach ständiger Rechtsprechung bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur deren Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteile vom 17. November 1983, Merck, 292/82, EU:C:1983:335, Rn. 12, und vom 13. Februar 2025, Latvijas Sabiedriskais Autobuss, C‑684/23, EU:C:2025:90, Rn. 48).

110    Erstens ist unter dem Begriff „Einspeisung“ in seiner üblichen Bedeutung die Handlung des Versorgens, Belieferns, Bereitstellens und Nachfüllens zu verstehen. Die Einspeisung von Elektrizität in Netze verweist somit auf deren Versorgung mit Elektrizität. Zu diesem Zweck kann der Begriff „Einspeisung von Elektrizität“ über die Erzeugung von Elektrizität hinaus auch den Groß- oder Einzelhandel mit Elektrizität umfassen.

111    Zweitens ergibt sich aus den Erwägungsgründen 2 und 3 der Richtlinie 2004/17, dass diese Richtlinie Vorschriften zur Koordinierung der Vergabeverfahren „in [den in der Richtlinie genannten] Sektoren“ – darunter der Energiesektor – „durch Auftraggeber in diesen Sektoren“ vorsieht. Mit den genannten Erwägungsgründen hat der Unionsgesetzgeber daher klar zum Ausdruck gebracht, dass er im Elektrizitätssektor nicht nur die Erzeugung von oder die Versorgung mit Elektrizität, sondern auch den Handel mit Elektrizität erfassen will.

112    Drittens steht die vorstehende Auslegung auch im Einklang mit den Zielen der Unionsvorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge, nämlich der Öffnung hin zu einem möglichst umfassenden Wettbewerb (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. Dezember 2009, CoNISMa, C‑305/08, EU:C:2009:807, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 26. September 2024, Luxone und Sofein, C‑403/23 und C‑404/23, EU:C:2024:805, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

113    Viertens wird diese Auslegung noch durch die Richtlinie 2014/25 zur Aufhebung der Richtlinie 2004/17 untermauert, durch die der Unionsgesetzgeber u. a. eine Klarstellung des Begriffs „Einspeisung von Elektrizität“ im geltenden Recht vorgenommen hat. So geht aus Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2014/25 in Verbindung mit deren 23. Erwägungsgrund hervor, dass der Begriff „Einspeisung“ für die Zwecke der letztgenannten Richtlinie die Erzeugung/Produktion sowie den Groß- und den Einzelhandel umfasst. Mit der Aufnahme dieser Definition in die Richtlinie 2014/25 und der gleichzeitigen Klarstellung in deren 23. Erwägungsgrund, dass sie erfolge, „[o]hne den Anwendungsbereich dieser Richtlinie in irgendeiner Weise zu erweitern“, hat der Unionsgesetzgeber bestätigt, dass nach der Richtlinie 2004/17 unter den Begriff „Einspeisung von Elektrizität“ neben deren Erzeugung auch bereits der Groß- und der Einzelhandel mit Elektrizität subsumiert wurde.

114    Folglich stellt eine Stromhandelstätigkeit wie die von der Gesellschaft E. ausgeübte eine Tätigkeit im Sinne von Art. 3 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2004/17 dar. Die Gesellschaft E. ist daher als Auftraggeber im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie anzusehen.

115    Als Zweites ist allerdings noch zu beachten, dass die Richtlinie 2004/17 gemäß ihrem Art. 20 Abs. 1 nicht für Aufträge gilt, die die Auftraggeber zu anderen Zwecken als der Durchführung ihrer Tätigkeiten in den in den Art. 3 bis 7 dieser Richtlinie beschriebenen Sektoren vergeben.

116    Daher fallen nur Aufträge unter die Richtlinie 2004/17, die ein Auftraggeber im Sinne dieser Richtlinie im Zusammenhang mit und für die Ausübung von Tätigkeiten in den in den Art. 3 bis 7 der Richtlinie aufgeführten Sektoren vergibt (Urteil vom 10. April 2008, Ing. Aigner, C‑393/06, EU:C:2008:213, Rn. 33).

117    Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof zur Verfügung stehenden Unterlagen hervor, dass die Gesellschaft E. verpflichtet ist, grüne Zertifikate im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. k und l der Richtlinie 2009/28 zu erwerben, um der ihr obliegenden gesetzlichen Verpflichtung zur Förderung erneuerbarer Energiequellen nachzukommen. Folglich steht der Erwerb der Zertifikate in engem Zusammenhang mit der Ausübung der Stromhandelstätigkeit – einer Tätigkeit im Sinne von Art. 3 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2004/17 – durch diese Gesellschaft.

118    Bei einem derart engen Zusammenhang ist aber davon auszugehen, dass der Erwerb der grünen Zertifikate zum Zweck der Durchführung dieser Tätigkeit erfolgt, so dass er nicht als „zu anderen Zwecken“ als der Durchführung der Tätigkeit im Sinne von Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie 2004/17 getätigt angesehen werden kann.

119    Nach alledem ist auf die vierte Frage in der Rechtssache C‑459/23 zu antworten, dass Art. 3 Abs. 3 Buchst. b in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie 2004/17 dahin auszulegen ist, dass der Erwerb grüner Zertifikate im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. k und l der Richtlinie 2009/28 durch ein öffentliches Stromhandelsunternehmen eine Tätigkeit darstellt, die zum Zweck der Einspeisung von Elektrizität in feste Netze zur Versorgung der Allgemeinheit im Zusammenhang mit der Erzeugung, der Fortleitung und der Abgabe von Elektrizität durchgeführt wird.

 Zur fünften Frage in der Rechtssache C459/23

 Zur Zulässigkeit

120    Die Gesellschaft E. ist der Ansicht, die fünfte Frage in der Rechtssache C‑459/23 sei für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits irrelevant. Zunächst habe sie nämlich vor dem vorlegenden Gericht geltend gemacht, der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Vertrag sei absolut nichtig, weil er bezwecke, die Parteien unter Missachtung der Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge zum Abschluss von Verträgen zu verpflichten. Sie habe hingegen nicht vorgetragen, dieser Vertrag hätte als solcher nach den Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge geschlossen werden müssen. Sodann sei der Vertrag keine Rahmenvereinbarung im Sinne von Art. 1 Abs. 4 der Richtlinie 2004/17, da er den Auftraggeber zwingend dazu verpflichte, den Auftrag an den mitvertragschließenden Wirtschaftsteilnehmer zu vergeben. Schließlich ergebe sich aus Art. 14 Abs. 2 und 3 dieser Richtlinie, dass der Abschluss einer Rahmenvereinbarung nach dem für öffentliche Aufträge vorgesehenen Verfahren nicht zwingend vorgeschrieben sei.

121    Insoweit ist daran zu erinnern, dass Art. 267 AEUV nach ständiger Rechtsprechung ein Verfahren des unmittelbaren Zusammenwirkens des Gerichtshofs und der Gerichte der Mitgliedstaaten vorsieht. Im Rahmen dieses Verfahrens, das auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, fällt jede Beurteilung des Sachverhalts in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts, das im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen hat, während der Gerichtshof nur befugt ist, sich auf der Grundlage des ihm vom nationalen Gericht unterbreiteten Sachverhalts zur Auslegung oder zur Gültigkeit einer Unionsvorschrift zu äußern (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. März 1978, Oehlschläger, 104/77, EU:C:1978:69, Rn. 4, und vom 4. Oktober 2024, Schrems [Mitteilung von Daten an die breite Öffentlichkeit], C‑446/21, EU:C:2024:834, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

122    Zum einen will die Gesellschaft E. mit ihrem Vorbringen, mit dem die Zulässigkeit der fünften Frage in der Rechtssache C‑459/23 in Zweifel gezogen werden soll, letztlich die Darstellung des beim vorlegenden Gericht angeführten Vorbringens durch dieses und seine Beurteilung der Art des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vertrags in Frage stellen. Nach der in der vorstehenden Randnummer angeführten Rechtsprechung kann ein solches Vorbringen nicht zu der Schlussfolgerung führen, dass eine Vorlagefrage unzulässig ist.

123    Zum anderen geht die Gesellschaft E. mit der Erörterung der Definition des Begriffs „Rahmenvereinbarung“ und dem Vorbringen, dass eine Rahmenvereinbarung nicht unbedingt unter Einhaltung der Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge geschlossen werden müsse, auf die inhaltliche Beantwortung und nicht auf die Zulässigkeit dieser Frage ein.

124    Folglich ist die fünfte Frage in der Rechtssache C‑459/23 zulässig.

 In der Sache

125    Mit seiner fünften Frage in der Rechtssache C‑459/23 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 1 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 14 und Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 2004/17 dahin auszulegen ist, dass ein Vertrag, der die Parteien dazu verpflichtet, Durchführungsverträge zu bestimmten Preis- und Mengenbedingungen abzuschließen, unter den Begriff „Rahmenvereinbarung“ im Sinne von Art. 1 Abs. 4 dieser Richtlinie fällt und nach den Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge geschlossen werden muss.

126    Als Erstes ist eine Rahmenvereinbarung gemäß Art. 1 Abs. 4 der Richtlinie 2004/17 eine Vereinbarung zwischen einem oder mehreren Auftraggebern und einem oder mehreren Wirtschaftsteilnehmern, die zum Ziel hat, die Bedingungen für die Aufträge, die im Laufe eines bestimmten Zeitraums vergeben werden sollen, festzulegen, insbesondere in Bezug auf den Preis und gegebenenfalls die in Aussicht genommenen Mengen.

127    Zum einen ergibt sich bereits aus dem Wortlaut dieser Vorschrift, dass in der Rahmenvereinbarung der Zeitraum, in dem sie gilt, und die Bedingungen für die zu vergebenden Aufträge festgelegt werden müssen.

128    Zum anderen ist der Begriff „Rahmenvereinbarung“ in Art. 1 Abs. 4 der Richtlinie 2004/17 unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs u. a. im Licht von Art. 17 Abs. 2 und 3 dieser Richtlinie, der beim Abschluss einer Rahmenvereinbarung geltenden tragenden Grundsätze des Unionsrechts, wie der Gleichbehandlung und der Transparenz, wie sich dies aus Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie ergibt, sowie des in Art. 14 Abs. 4 derselben Richtlinie vorgesehenen Verbots auszulegen, Rahmenvereinbarungen dazu zu missbrauchen, den Wettbewerb zu verhindern, einzuschränken oder zu verfälschen. Aus einer Gesamtbetrachtung dieser Vorschriften und Grundsätze folgt, dass in der Rahmenvereinbarung von Anfang an der Gesamtwert der Lieferungen, die Gegenstand von Folgeaufträgen sein können, festgelegt sowie deren Höchstmenge und/oder Höchstwert angegeben werden müssen (vgl. entsprechend Urteile vom 19. Dezember 2018, Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato – Antitrust und Coopservice, C‑216/17, EU:C:2018:1034, Rn. 60, 62 bis 67 und 69, sowie vom 17. Juni 2021, Simonsen & Weel, C‑23/20, EU:C:2021:490, Rn. 54 bis 58, 61 bis 65, 67, 68 und 74).

129    Es wird Sache des vorlegenden Gerichts sein, zu prüfen, ob diese Voraussetzungen bei dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vertrag erfüllt sind. Insoweit wird es sich erstens zu vergewissern haben, ob in diesem Vertrag tatsächlich festgelegt war, in welchem Zeitraum zu seiner Durchführung Verträge über den Erwerb grüner Zertifikate geschlossen werden konnten. Zweitens ist klarzustellen, dass die bloße Angabe einer Preisformel für die Berechnung des Verkaufspreises der grünen Zertifikate und die Verpflichtung des Auftraggebers, sämtliche erhaltenen grünen Zertifikate zu erwerben, ohne Angabe einer bestimmten Menge nicht ausreichen, um davon auszugehen, dass im Vertrag der Gesamtwert der Lieferungen festgelegt ist, die Gegenstand von Folgeaufträgen sein können.

130    Als Zweites ist unbeschadet des Vorstehenden darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2004/17 nach ihrem Art. 16 Buchst. a vorbehaltlich der in dieser Vorschrift genannten Ausnahmen für Liefer- und Dienstleistungsaufträge gilt, deren geschätzter Wert ohne Mehrwertsteuer (MwSt.) mindestens 387 000 Euro beträgt.

131    Was die Methoden zur Berechnung des geschätzten Werts der Aufträge und Rahmenvereinbarungen angeht, so geht aus Art. 17 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2004/17 hervor, dass Grundlage für die Berechnung des geschätzten Auftragswerts der Gesamtwert ohne MwSt. ist, der vom Auftraggeber voraussichtlich zu zahlen ist. Nach Art. 17 Abs. 2 dieser Richtlinie dürfen die Auftraggeber die Anwendung der Richtlinie nicht dadurch umgehen, dass sie Bauvorhaben oder Beschaffungsvorhaben einer bestimmten Menge von Waren und/oder Dienstleistungen aufteilen oder für die Berechnung des geschätzten Auftragswerts besondere Verfahren anwenden. Gemäß Art. 17 Abs. 3 derselben Richtlinie ist der zu berücksichtigende geschätzte Wert einer Rahmenvereinbarung gleich dem geschätzten Gesamtwert ohne MwSt. aller für die gesamte Laufzeit der Rahmenvereinbarung geplanten Aufträge. Schließlich wird der geschätzte Auftragswert bei regelmäßig wiederkehrenden Aufträgen oder Daueraufträgen über Lieferungen oder Dienstleistungen nach Art. 17 Abs. 7 der Richtlinie 2004/17 entweder auf der Basis des tatsächlichen Gesamtwerts entsprechender aufeinanderfolgender Aufträge aus den vorangegangenen zwölf Monaten oder dem vorangegangenen Haushaltsjahr oder auf der Basis des geschätzten Gesamtwerts aufeinanderfolgender Aufträge berechnet, die während der auf die erste Lieferung folgenden zwölf Monate bzw. während des Haushaltsjahrs, soweit dieses länger als zwölf Monate ist, vergeben werden.

132    Aus den vorstehend angeführten Vorschriften geht hervor, dass sowohl im Fall einer Rahmenvereinbarung im Sinne von Art. 17 Abs. 3 der Richtlinie 2004/17 als auch im Fall eines regelmäßig wiederkehrenden Auftrags oder eines Dauerauftrags über Lieferungen oder Dienstleistungen im Sinne von Art. 17 Abs. 7 dieser Richtlinie der „geschätzte Wert“ der Rahmenvereinbarung bzw. des Auftrags berücksichtigt wird. Dieser Wert ist im ersten Fall der geschätzte Gesamtwert der Rahmenvereinbarung und im zweiten Fall der nach den in der letztgenannten Vorschrift vorgesehenen alternativen Modalitäten für einen Zeitraum von zwölf Monaten geschätzte Wert.

133    Im vorliegenden Fall stellt das vorlegende Gericht klar, dass der Wert der einzelnen auf der Grundlage des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vertrags monatlich geschlossenen Durchführungsverträge unter dem in Art. 16 Buchst. a der Richtlinie 2004/17 vorgesehenen Schwellenwert von 387 000 Euro liege. Dagegen überschreite der Jahreswert der Durchführungsverträge zusammengenommen diesen Schwellenwert.

134    Aus dem Vorstehenden folgt, dass sich der Auftraggeber in einem solchen Fall nicht auf den Einzelwert der einzelnen Verträge zur Durchführung des betreffenden Auftrags stützen kann, um diese Verträge ohne vorherigen Aufruf zum Wettbewerb abzuschließen. Ein solches Vorgehen verstieße nämlich gegen das in Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 2004/17 vorgesehene Verbot, die Anwendung dieser Richtlinie durch Aufteilung der Vorhaben zu umgehen.

135    Zur Einhaltung des vorstehend angeführten sowie des in Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie 2004/17 aufgestellten Verbots, Rahmenvereinbarungen dazu zu missbrauchen, den Wettbewerb zu verhindern, einzuschränken oder zu verfälschen, kann der Auftraggeber in einem solchen Fall zwischen zwei Möglichkeiten wählen.

136    Die erste Möglichkeit besteht darin, aufeinanderfolgende Aufträge zu vergeben und bei den einzelnen Aufträgen die in dieser Richtlinie vorgesehenen Verfahren einzuhalten.

137    Die zweite Möglichkeit besteht darin, den Zuschlag für eine Rahmenvereinbarung im Einklang mit der Richtlinie 2004/17 im Sinne und unter Erfüllung der – in den Rn. 126 bis 128 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen – Voraussetzungen von Art. 1 Abs. 4 dieser Richtlinie zu erteilen. Nach Art. 40 Abs. 3 Buchst. i in Verbindung mit Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2004/17 kann der Auftraggeber dann für Folgeaufträge auf ein Verfahren ohne vorherigen Aufruf zum Wettbewerb zurückgreifen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. April 2009, Kommission/Belgien, C‑287/07, EU:C:2009:245, Rn. 104).

138    Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass der Auftraggeber die Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge in einem Fall wie dem des Ausgangsrechtsstreits entweder zum Zeitpunkt des Abschlusses der einzelnen aufeinanderfolgenden Durchführungsverträge oder zum Zeitpunkt des Abschlusses des betreffenden Vertrags als Rahmenvereinbarung unter Erfüllung der in den Rn. 126 bis 128 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen einhalten musste.

139    Nach alledem ist auf die fünfte Frage in der Rechtssache C‑459/23 zu antworten, dass Art. 1 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 14 und Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 2004/17 dahin auszulegen ist, dass

–        ein Vertrag, der die Parteien dazu verpflichtet, Durchführungsverträge zu bestimmten Preis- und Mengenbedingungen abzuschließen, nur dann unter den Begriff „Rahmenvereinbarung“ im Sinne von Art. 1 Abs. 4 dieser Richtlinie fällt, wenn seine Laufzeit angegeben und der Gesamtwert der Lieferungen, die Gegenstand von Folgeaufträgen sein können, unter Angabe ihrer Höchstmenge und/oder ihres Höchstwerts festgelegt wird, wobei die bloße Angabe einer Preisformel für die Berechnung des Werts der abzuschließenden Verträge und einer nicht quantifizierten Verpflichtung zum Abschluss von Durchführungsverträgen hierfür nicht ausreicht;

–        der Auftraggeber, wenn der geschätzte Wert der in Anwendung einer Rahmenvereinbarung oder im Rahmen regelmäßig wiederkehrender Aufträge oder von Daueraufträgen abzuschließenden Verträge, der gemäß Art. 17 Abs. 3 bzw. 5 der Richtlinie 2004/17 berechnet wird, den in Art. 16 Buchst. a dieser Richtlinie festgelegten Schwellenwert überscheitet, entweder die einzelnen aufeinanderfolgenden Aufträge unter Einhaltung der in der erwähnten Richtlinie vorgesehenen Verfahren vergeben oder den Zuschlag für eine Rahmenvereinbarung im Einklang mit der Richtlinie im Sinne und unter Erfüllung der Voraussetzungen von Art. 1 Abs. 4 derselben Richtlinie erteilen muss.

 Zur sechsten Frage in der Rechtssache C459/23

 Zur Zulässigkeit

140    Die Gesellschaft E. ist der Ansicht, die sechste Frage in der Rechtssache C‑459/23 sei unzulässig, weil sie für den Ausgangsrechtsstreit irrelevant sei. Entgegen der dieser Frage zugrunde liegenden Annahme handele es sich bei dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vertrag nämlich nicht um einen Auftrag, sondern um einen Vertrag, der die Vergabe eines Auftrags vorschreibe. Er dürfe somit nicht unter Missachtung der Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge geschlossen werden.

141    Im Licht der in Rn. 121 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung und aus dem in dessen Rn. 122 dargelegten Grund ist dieser Einwand zurückzuweisen. Die sechste Frage in der Rechtssache C‑459/23 ist folglich zulässig.

 In der Sache

142    Mit seiner sechsten Frage in der Rechtssache C‑459/23 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 2d Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 92/13 dahin auszulegen ist, dass der Abschluss eines Vertrags unter Missachtung der Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge unter die in dieser Vorschrift vorgesehene Sanktion fällt.

143    Art. 2d Abs. 1 der Richtlinie 92/13 bestimmt, dass die fehlende vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union, ohne dass dies nach der Richtlinie 2004/17 zulässig ist, den betreffenden Auftrag unwirksam macht.

144    Art. 2d der Richtlinie 92/13 wurde durch die Richtlinie 2007/66 in die ursprüngliche Fassung der Richtlinie 92/13 eingefügt. Zur Erläuterung der vorgenommenen Änderungen führte der Unionsgesetzgeber im 13. Erwägungsgrund der Richtlinie 2007/66 aus, dass wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen vorgesehen werden sollten, um gegen die rechtswidrige freihändige Vergabe von Aufträgen vorzugehen, die der Gerichtshof im Urteil vom 11. Januar 2005, Stadt Halle und RPL Lochau (C‑26/03, EU:C:2005:5, Rn. 36 und 37), als die schwerwiegendste Verletzung des Unionsrechts im Bereich des öffentlichen Auftragswesens durch öffentliche Auftraggeber oder Auftraggeber bezeichnet hat, und dass ein Vertrag, der aufgrund einer rechtswidrigen freihändigen Vergabe zustande gekommen ist, daher grundsätzlich als unwirksam gelten sollte. Im 14. Erwägungsgrund der Richtlinie 2007/66 stellte er klar, dass die Unwirksamkeit das beste Mittel ist, um den Wettbewerb wiederherzustellen und neue Geschäftsmöglichkeiten für die Wirtschaftsteilnehmer zu schaffen, denen rechtswidrig Wettbewerbsmöglichkeiten vorenthalten wurden, und dass eine freihändige Vergabe im Sinne der Richtlinie 2007/66 alle Auftragsvergaben ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union umfassen sollte, was einem Verfahren ohne Aufruf zum Wettbewerb im Sinne der Richtlinie 2004/17 entspricht (vgl. entsprechend Urteil vom 17. Juni 2021, Simonsen & Weel, C‑23/20, EU:C:2021:490, Rn. 85).

145    Aus Art. 2d Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 92/13, gelesen im Licht der Erwägungsgründe 13 und 14 der Richtlinie 2007/66, ergibt sich folglich, dass der Unionsgesetzgeber beim Erlass der Richtlinie 2007/66 eine strenge Sanktion in das anwendbare Recht einführen wollte, die jedoch nur auf die schwersten Verstöße gegen das Vergaberecht der Union angewandt werden sollte, nämlich auf Fälle, in denen ein Auftrag ohne vorherige Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union freihändig vergeben wird (vgl. entsprechend Urteil vom 17. Juni 2021, Simonsen & Weel, C‑23/20, EU:C:2021:490, Rn. 86).

146    Daraus folgt, dass Art. 2d Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 92/13 auf jede Situation Anwendung findet, in der der Auftraggeber einen Auftrag ungerechtfertigt vergeben hat, ohne zuvor eine Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht zu haben.

147    Zwar richten sich die Folgen der Unwirksamkeit eines Auftrags gemäß Art. 2d Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 92/13 nach einzelstaatlichem Recht. Gleichwohl sieht diese Vorschrift keineswegs die Aufrechterhaltung oder Fortführung des vergebenen Auftrags ohne angemessene vorherige Bekanntmachung vor.

148    Nach alledem ist auf die sechste Frage in der Rechtssache C‑459/23 zu antworten, dass Art. 2d Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 92/13 dahin auszulegen ist, dass der Abschluss eines Vertrags unter Missachtung der Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge unter die in dieser Vorschrift vorgesehene Sanktion fällt.

 Zur siebten Frage in der Rechtssache C459/23

 Zur Zulässigkeit

149    Die Gesellschaft E. macht geltend, die siebte Frage in der Rechtssache C‑459/23 sei für den Ausgangsrechtsstreit irrelevant. Zum einen wiederholt diese Gesellschaft den bereits in Rn. 140 des vorliegenden Urteils dargelegten Grund. Zum anderen liege ein Rechtsmissbrauch nur dann vor, wenn eine Partei die Feststellung der relativen Nichtigkeit des betreffenden Vertrags beantrage. Vor dem vorlegenden Gericht begehre die Gesellschaft E. aber die Feststellung der absoluten Nichtigkeit des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vertrags, d. h. die Feststellung seiner Inexistenz.

150    Dieses Vorbringen ist im Einklang mit der in Rn. 121 des vorliegenden Urteils in Erinnerung gerufenen Rechtsprechung und aus den in dessen Rn. 122 und 123 dargelegten Gründen zurückzuweisen. Folglich ist die siebte Frage in der Rechtssache C‑459/23 zulässig.

 In der Sache

151    Mit seiner siebten Frage in der Rechtssache C‑459/23 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Grundsatz des Verbots des Rechtsmissbrauchs dahin auszulegen ist, dass er einen Auftraggeber daran hindert, die Nichtigerklärung eines Vertrags mit einem Lieferanten zu beantragen, weil dieser Vertrag unter Verstoß gegen die Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge geschlossen worden sein soll, während der wahre Grund für den Antrag eine Verringerung der Rentabilität der Durchführung des Vertrags ist.

152    Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs können sich die Rechtsunterworfenen nicht in betrügerischer oder missbräuchlicher Weise auf die Rechtsvorschriften der Europäischen Union berufen. Der Grundsatz des Verbots von Betrug und Rechtsmissbrauch stellt einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar, der von den Rechtsunterworfenen zu beachten ist. Die Anwendung der Unionsrechtsvorschriften kann nicht so weit gehen, dass Vorgänge geschützt werden, die zu dem Zweck durchgeführt werden, betrügerisch oder missbräuchlich in den Genuss von im Unionsrecht vorgesehenen Vorteilen zu gelangen (Urteile vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 48 und 49 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 11. Juli 2018, Kommission/Belgien, C‑356/15, EU:C:2018:555, Rn. 99).

153    Die Feststellung eines missbräuchlichen Verhaltens verlangt das Vorliegen eines objektiven und eines subjektiven Tatbestandsmerkmals (Urteile vom 13. März 2014, SICES u. a., C‑155/13, EU:C:2014:145, Rn. 31, sowie vom 28. Juli 2016, Kratzer, C‑423/15, EU:C:2016:604, Rn. 38).

154    Was zum einen das objektive Tatbestandsmerkmal betrifft, muss sich aus einer Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergeben, dass trotz formaler Einhaltung der von der Unionsregelung vorgesehenen Bedingungen das Ziel dieser Regelung nicht erreicht wurde (Urteile vom 14. Dezember 2000, Emsland-Stärke, C‑110/99, EU:C:2000:695, Rn. 52, und vom 28. Juli 2016, Kratzer, C‑423/15, EU:C:2016:604, Rn. 39).

155    Zum anderen erfordert eine solche Feststellung ein subjektives Tatbestandsmerkmal: Es muss aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich sein, dass wesentlicher Zweck der fraglichen Handlungen die Erlangung eines ungerechtfertigten Vorteils ist. Denn das Missbrauchsverbot greift nicht, wenn die fraglichen Handlungen eine andere Erklärung haben können als nur die Erlangung eines Vorteils (Urteile vom 14. Dezember 2000, Emsland-Stärke, C‑110/99, EU:C:2000:695, Rn. 53, und vom 28. Juli 2016, Kratzer, C‑423/15, EU:C:2016:604, Rn. 40).

156    Es wird Sache des nationalen Gerichts sein, gemäß den Beweisregeln des nationalen Rechts – soweit dadurch die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigt wird – festzustellen, ob die Tatbestandsvoraussetzungen eines missbräuchlichen Verhaltens im Ausgangsverfahren erfüllt sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Dezember 2000, Emsland-Stärke, C‑110/99, EU:C:2000:695, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 28. Juli 2016, Kratzer, C‑423/15, EU:C:2016:604, Rn. 42).

157    Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, ist gleichwohl klarzustellen, dass es am objektiven Tatbestandsmerkmal fehlt, wenn ein Auftrag unter Verstoß gegen die Bestimmungen der Richtlinie 2004/17 ohne vorherigen Aufruf zum Wettbewerb vergeben wird. In einem solchen Fall kann nämlich nicht davon ausgegangen werden, dass die von der Unionsregelung vorgesehenen Bedingungen formal eingehalten worden sind.

158    Folglich kann, da die Voraussetzungen im Zusammenhang mit dem Vorliegen eines objektiven und eines subjektiven Tatbestandsmerkmals kumulativ sind, in dem in Rn. 151 des vorliegenden Urteils genannten Fall, der Gegenstand der siebten Frage in der Rechtssache C‑459/23 ist, kein Missbrauch festgestellt werden.

159    Nach alledem ist auf die siebte Frage in der Rechtssache C‑459/23 zu antworten, dass der Grundsatz des Verbots des Rechtsmissbrauchs dahin auszulegen ist, dass er einen Auftraggeber nicht daran hindert, die Nichtigerklärung eines Vertrags mit einem Lieferanten zu beantragen, weil dieser Vertrag unter Verstoß gegen die Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge geschlossen worden sein soll, während der wahre Grund für den Antrag eine Verringerung der Rentabilität der Durchführung des Vertrags ist.

 Kosten

160    Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

ist dahin auszulegen, dass

er Maßnahmen des Präsidenten eines nationalen Gerichts, die darin bestehen, Richter einer Kammer dieses Gerichts vorübergehend an eine andere Gerichtskammer abzuordnen, ihren Dienst gleichzeitig aber weiterhin in ihrer Stammkammer versehen zu lassen, selbst dann nicht entgegensteht, wenn die betreffenden Richter der Abordnung nicht zugestimmt haben und über keinerlei gerichtlichen Rechtsbehelf verfügen, um sie anzufechten, die Abordnung eine Erhöhung ihrer Arbeitsbelastung mit sich bringt und von ihnen verlangt, sich mit Sachgebieten zu befassen, die nichts mit ihrem Fachgebiet zu tun haben, und der Gerichtspräsident unter Bedingungen zum fraglichen Gericht ernannt worden ist, die mit den sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergebenden Anforderungen unvereinbar sind, sofern diese Maßnahmen auf legitimen – insbesondere mit einer ordnungsgemäßen Rechtspflege zusammenhängenden – Gründen beruhen, auf der Grundlage der für das fragliche Gericht geltenden nationalen Vorschriften ergriffen werden, vorübergehend und zeitlich streng begrenzt sind, die Zuweisung der betreffenden Richter zu ihrer Stammkammer nicht in Frage stellen und weder eine Zurückstufung dieser Richter noch eine Entziehung der ihnen übertragenen Rechtssachen zur Folge haben.

2.      Art. 3 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2004/17/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Koordinierung der Zuschlagserteilung durch Auftraggeber im Bereich der Wasser, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1177/2009 der Kommission vom 30. November 2009 geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie 2004/17 in der geänderten Fassung

ist dahin auszulegen, dass

der Erwerb grüner Zertifikate im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. k und l der Richtlinie 2009/28/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen und zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinien 2001/77/EG und 2003/30/EG durch ein öffentliches Stromhandelsunternehmen eine Tätigkeit darstellt, die zum Zweck der Einspeisung von Elektrizität in feste Netze zur Versorgung der Allgemeinheit im Zusammenhang mit der Erzeugung, der Fortleitung und der Abgabe von Elektrizität durchgeführt wird.

3.      Art. 1 Abs. 4 der Richtlinie 2004/17 in der durch die Verordnung Nr. 1177/2009 geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 14 und Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 2004/17 in der geänderten Fassung

ist dahin auszulegen, dass

–        ein Vertrag, der die Parteien dazu verpflichtet, Durchführungsverträge zu bestimmten Preis- und Mengenbedingungen abzuschließen, nur dann unter den Begriff „Rahmenvereinbarung“ im Sinne von Art. 1 Abs. 4 der Richtlinie 2004/17 in der geänderten Fassung fällt, wenn seine Laufzeit angegeben und der Gesamtwert der Lieferungen, die Gegenstand von Folgeaufträgen sein können, unter Angabe ihrer Höchstmenge und/oder ihres Höchstwerts festgelegt wird, wobei die bloße Angabe einer Preisformel für die Berechnung des Werts der abzuschließenden Verträge und einer nicht quantifizierten Verpflichtung zum Abschluss von Durchführungsverträgen hierfür nicht ausreicht;

–        der Auftraggeber, wenn der geschätzte Wert der in Anwendung einer Rahmenvereinbarung oder im Rahmen regelmäßig wiederkehrender Aufträge oder von Daueraufträgen abzuschließenden Verträge, der gemäß Art. 17 Abs. 3 bzw. 5 der Richtlinie 2004/17 in der geänderten Fassung berechnet wird, den in Art. 16 Buchst. a der Richtlinie 2004/17 in der geänderten Fassung festgelegten Schwellenwert überscheitet, entweder die einzelnen aufeinanderfolgenden Aufträge unter Einhaltung der in der Richtlinie 2004/17 in der geänderten Fassung vorgesehenen Verfahren vergeben oder den Zuschlag für eine Rahmenvereinbarung im Einklang mit dieser Richtlinie im Sinne und unter Erfüllung der Voraussetzungen von Art. 1 Abs. 4 der Richtlinie 2004/17 in der geänderten Fassung erteilen muss.

4.      Art. 2d Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 92/13/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Gemeinschaftsvorschriften über die Auftragsvergabe durch Auftraggeber im Bereich der Wasser, Energie- und Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor in der durch die Richtlinie 2007/66/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2007 geänderten Fassung

ist dahin auszulegen, dass

der Abschluss eines Vertrags unter Missachtung der Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge unter die in dieser Vorschrift vorgesehene Sanktion fällt.

5.      Der Grundsatz des Verbots des Rechtsmissbrauchs ist dahin auszulegen, dass er einen Auftraggeber nicht daran hindert, die Nichtigerklärung eines Vertrags mit einem Lieferanten zu beantragen, weil dieser Vertrag unter Verstoß gegen die Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge geschlossen worden sein soll, während der wahre Grund für den Antrag eine Verringerung der Rentabilität der Durchführung des Vertrags ist.

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