Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)
2. Oktober 2025(* )
„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Erdgasbinnenmarkt – Verordnung (EU) 2017/460 – Erdgasfernleitungsnetz – Referenzpreismethode – Art. 35 Abs. 1 – Ausnahme für Verträge, die vor dem 6. April 2017 geschlossen wurden und keine Änderung in der Höhe der Fernleitungsentgelte mit Ausnahme der Indexierung vorsehen – Begriff ‚Indexierung‘ “
In der Rechtssache C‑369/24
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn) mit Entscheidung vom 13. Mai 2024, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Mai 2024, in dem Verfahren
MET Magyarország Energiakereskedő Zrt.,
Global NRG ROM SRL
gegen
Magyar Energetikai és Közmű-szabályozási Hivatal,
Beteiligte:
FGSZ Földgázszállító Zrt.,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Gavalec sowie der Richter Z. Csehi und F. Schalin (Berichterstatter),
Generalanwältin: T. Ćapeta,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der MET Magyarország Energiakereskedő Zrt., vertreten durch M. Czesznak und G. Stanka, Ügyvédek,
– der Global NRG ROM SRL, vertreten durch B. Világi, Ügyvéd,
– der Magyar Energetikai és Közmű-szabályozási Hivatal, vertreten durch L. Hoschek als Bevollmächtigte,
– der FGSZ Földgázszállító Zrt., vertreten durch P. Németh als Bevollmächtigte,
– der ungarischen Regierung, vertreten durch D. Csoknyai und M. Z. Fehér als Bevollmächtigte,
– der bulgarischen Regierung, vertreten durch T. Mitova und R. Stoyanov als Bevollmächtigte,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch O. Beynet, T. Scharf und A. Tokár als Bevollmächtigte,
aufgrund der nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Entscheidung, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 35 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2017/460 der Kommission vom 16. März 2017 zur Festlegung eines Netzkodex über harmonisierte Fernleitungsentgeltstrukturen (ABl. 2017, L 72, S. 29).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der MET Magyarország Energiakereskedő Zrt. (im Folgenden: MET), einer ungarischen Gesellschaft, und der Global NRG ROM SRL (im Folgenden: Global NRG), einer rumänischen Gesellschaft, auf der einen Seite und der Magyar Energetikai és Közmű-szabályozási Hivatal (Ungarische Regulierungsbehörde der Energie- und Versorgungsunternehmen) (im Folgenden: MEKH) auf der anderen Seite über die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung der MEKH, mit der die Referenzpreismethode für den Gastransport festgelegt wurde und diese auf Verträge für anwendbar erklärt wurde, die vor dem 6. April 2017 zwischen der FGSZ Földgázszállító Zrt. (im Folgenden: FGSZ), der Betreiberin des ungarischen Gasfernleitungsnetzes, und diesen beiden Gesellschaften als Nutzerinnen dieses Netzes geschlossen wurden.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung (EG) Nr. 715/2009
3 Im siebten Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 715/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über die Bedingungen für den Zugang zu den Erdgasfernleitungsnetzen und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1775/2005 (ABl. 2009, L 211, S. 36) hieß es:
„Die Kriterien für die Festlegung der Tarife für den Netzzugang müssen angegeben werden, um sicherzustellen, dass sie dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung und den Erfordernissen eines gut funktionierenden Binnenmarktes vollständig entsprechen …“
4 Der 19. Erwägungsgrund dieser Verordnung lautete:
„Für die Verbesserung des Wettbewerbs durch liquide Großhandelsgasmärkte ist von entscheidender Bedeutung, dass Gas unabhängig davon, wo es sich im Netz befindet, gehandelt werden kann. Dies lässt sich nur dadurch erreichen, dass den Netznutzern die Möglichkeit eingeräumt wird, Ein- und Ausspeisekapazitäten unabhängig voneinander zu buchen, was zur Folge hat, dass der Gastransport durch Zonen erfolgt, statt Vertragswegen zu folgen. … Die Tarife sollten nicht von der Transportroute abhängig sein. Der für einen oder mehrere Einspeisepunkte festgelegte Tarif sollte daher nicht mit dem für einen oder mehrere Ausspeisepunkte festgelegten Tarif verknüpft sein und umgekehrt.“
5 Art. 13 („Tarife für den Netzzugang“) Abs. 1 Unterabs. 4 der Verordnung sah vor:
„Die Tarife für die Netznutzer müssen nichtdiskriminierend sein und werden pro Einspeisepunkt in das Fernleitungsnetz oder pro Ausspeisepunkt aus dem Fernleitungsnetz getrennt voneinander festgelegt. Kostenaufteilungsmechanismen und Ratenfestlegungsmethoden bezüglich der Ein- und Ausspeisepunkte werden von den nationalen Regulierungsbehörden gebilligt. Ab dem 3. September 2011 stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass nach einer Übergangsfrist keine Netzentgelte auf der Grundlage von Vertragspfaden erhoben werden.“
Verordnung 2017/460
6 Im dritten Erwägungsgrund der Verordnung 2017/460 heißt es:
„Nach der Einführung des Konzepts des Ein- und Ausspeisesystems in der Verordnung (EG) Nr. 715/2009 sind die Fernleitungskosten nicht mehr direkt mit einer bestimmten Route verbunden, da die Netznutzer Ein- und Ausspeisekapazitäten getrennt kontrahieren und Gas zwischen beliebigen Ein- und Ausspeisepunkten transportieren lassen können. In diesem Rahmen entscheidet der Fernleitungsnetzbetreiber über den effizientesten Weg, auf dem er das Gas durch das Netz leitet. …“
7 Art. 3 Nr. 1 der Verordnung 2017/460 bezeichnet den „Referenzpreis“ als „Preis für ein Kapazitätsprodukt für verbindliche Kapazität mit einer Laufzeit von einem Jahr, der an Ein- und Ausspeisepunkten gilt und zur Festlegung von kapazitätsbasierten Fernleitungsentgelten dient“.
8 Art. 6 („Anwendung der Referenzpreismethode“) Abs. 3 dieser Verordnung bestimmt:
„Auf alle Ein- und Ausspeisepunkte eines bestimmten Ein- und Ausspeisesystems wird vorbehaltlich der in den Artikeln 10 und 11 genannten Ausnahmen dieselbe Referenzpreismethode angewandt.“
9 Art. 35 („Bestehende Verträge“) Abs. 1 und 2 der Verordnung sieht vor:
„(1) Diese Verordnung lässt die Höhe der Fernleitungsentgelte im Rahmen von Verträgen oder Kapazitätsbuchungen unberührt, die vor dem 6. April 2017 geschlossen bzw. vorgenommen wurden, wenn diese Verträge oder Kapazitätsbuchungen keine Änderung in der Höhe der Kapazitäts- und/oder Arbeitsentgelte mit Ausnahme einer etwaigen Indexierung vorsehen.
(2) Die in Absatz 1 genannten vertraglichen Bestimmungen zu Fernleitungsentgelten und Kapazitätsbuchungen werden nach Ablauf ihrer Gültigkeit nicht erneuert, verlängert oder übertragen.“
Ungarisches Recht
10 § 104 Abs. 7 des A földgázellátásról szóló 2008. évi XL. törvény (Gesetz XL von 2008 über die Versorgung mit Erdgas) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung bestimmt:
„Ein Preis, der höher ist als der regulierte Preis, kann im Vertrag nicht wirksam vereinbart werden. Wurde der Preis zwischen den Parteien nicht vereinbart und gilt für die Ware oder die Dienstleistung ein regulierter Preis, so ist dieser Preis maßgebend. Der regulierte Preis ist auch dann maßgebend, wenn die Parteien unter Verstoß gegen die den regulierten Preis festsetzende Rechtsnorm oder Entscheidung einen anderen Preis vereinbart haben.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
11 Am 20. Oktober 2008 schlossen MET und Global NRG jeweils einen langfristigen Vertrag mit FGSZ über Kapazitätsbuchungen, Erdgaslieferung und Netzbetrieb (im Folgenden: HOT‑Vertrag) im Zusammenhang mit der Gasfernleitung zwischen Ungarn und Rumänien für den Zeitraum 2010–2030. Bis 2018 wurden die anwendbaren Entgelte durch zwischen den Parteien geschlossene Vertragsänderungen jährlich angepasst.
12 Was das Fernleitungsentgelt für den ungarisch-rumänischen Grenzausspeisepunkt betrifft, so sah die Formel in Ziffer 3 der HOT‑Verträge eine jährliche Indexierung auf der Grundlage des vom Zentralen Statistikamt festgesetzten Verbraucherpreisindexes vor.
13 Bei der jährlichen Festlegung des Fernleitungsentgelts berücksichtigten die Vertragsparteien auch das von der MEKH in regelmäßig aktualisierten Entgeltverordnungen festgesetzte Netznutzungsentgelt. Diese gemäß § 104 Abs. 7 des Gesetzes über die Versorgung mit Erdgas zwingend anzuwendenden Entgelte bildeten die Obergrenze für das von den Klägerinnen des Ausgangsverfahrens zu zahlende Entgelt. Diese hatten daher ab Inkrafttreten der HOT‑Verträge bis zum 30. September 2019 die Netznutzungsentgelte jährlich auf der Grundlage des niedrigeren der beiden Entgelte für den betreffenden Zeitraum – also des im HOT‑Vertrag vorgesehenen indexierten Entgelts oder aber des regulierten Entgelts – zu zahlen.
14 Bis zum 30. September 2019 setzte die MEKH die regulierten Netznutzungsentgelte in Bezug auf den ungarisch-rumänischen Grenzausspeisepunkt mit einer Methode fest, die von der für andere Punkte des ungarischen Gasfernleitungsnetzes angewandten Methode abwich, nämlich mit der Kapitalwertmethode, die eine Kapitalrendite für den Bau der Gasfernleitung sicherstellen sollte. Die MEKH berücksichtigte neben der Indexierung auch andere Gesichtspunkte wie neue Kapazitätsbuchungen und die daraus erzielten Einnahmen sowie den internen Zinsfuß.
15 Am 6. April 2017 trat die Verordnung 2017/460 in Kraft. Art. 6 Abs. 3 der Verordnung bestimmt, dass auf alle Ein- und Ausspeisepunkte eines bestimmten Ein- und Ausspeisesystems dieselbe Referenzpreismethode angewandt wird. Das Inkrafttreten dieser Verordnung hatte die zwingende Anwendung dieser Methode auf das gesamte ungarische Gasleitungsnetz zur Folge, das nunmehr als ein einziges Ein- und Ausspeisesystem angesehen wurde.
16 Die MEKH setzte diese neuen Vorschriften erstmals mit Wirkung vom 1. Oktober 2019 um und legte daher das von den Klägerinnen des Ausgangsverfahrens aufgrund der HOT‑Verträge für den ungarisch-rumänischen Grenzausspeisepunkt zu zahlende Entgelt in gleicher Weise fest wie für alle anderen Netzausspeisepunkte des gesamten ungarischen Netzes.
17 Da die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens mit dieser Änderung nicht einverstanden waren, unterzeichneten sie keine weiteren Änderungen der Verträge, so dass die letzte Vertragsänderung auf den 1. Oktober 2018 datiert. Seit dem 1. Oktober 2019 zahlen sie an die Fernleitungsnetzbetreiberin FGSZ unter Vorbehalt ihrer Rechte.
18 Mit Entscheidung vom 25. Oktober 2022 setzte die MEKH die Referenzpreismethode für den Preisregulierungszyklus vom 1. Oktober 2021 bis zum 30. September 2025 fest. Darin wies sie darauf hin, dass die in Art. 35 Abs. 1 der Verordnung 2017/460 vorgesehene Ausnahme, wonach diese Verordnung die Höhe der Fernleitungsentgelte im Rahmen von Verträgen oder Kapazitätsbuchungen unberührt lasse, die vor dem 6. April 2017 geschlossen bzw. vorgenommen worden seien, nicht für die HOT‑Verträge gelte. Diese Bestimmung gelte nämlich für Verträge, bei denen die jährliche Aktualisierung der Entgelte allein aus der Anwendung einer Indexierungsklausel resultiere. Die in den HOT‑Verträgen festgelegten Entgelte änderten sich aber nicht nur durch Indexierung, sondern berücksichtigten auch die Höhe des regulierten Entgelts.
19 MET und Global NRG haben beim Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn), dem vorlegenden Gericht, Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung vom 25. Oktober 2022 eingereicht und geltend gemacht, dass die HOT‑Verträge in den Anwendungsbereich von Art. 35 Abs. 1 der Verordnung 2017/460 fielen. Diese Bestimmung gestalte den Grundsatz des Vertrauensschutzes aus, da mit ihr sichergestellt werden solle, dass sich das Inkrafttreten dieser Verordnung nicht nachteilig auf die Rechte von Parteien langfristiger Verträge auswirke, die vor der Verordnung abgeschlossen worden seien.
20 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass nach der ungarischen Fassung von Art. 35 Abs. 1 der Verordnung 2017/460 die dort vorgesehene Ausnahme für Verträge gelte, die keine Änderungen der Entgelte vorsähen, die über eine etwaige Indexierung der auf der Grundlage der Kapazität und/oder der transportierten Gasmenge festgelegten Fernleitungsentgelte hinausgingen. Diese Voraussetzung könnte bei den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verträgen erfüllt sein. Aus der deutschen, englischen und französischen Fassung von Art. 35 Abs. 1 der Verordnung 2017/460 ergebe sich jedoch, dass das Kriterium für die Ausnahme nicht die Höhe der Entgeltänderung, sondern der ausschließliche Kausalzusammenhang allein mit dem Indexierungsmechanismus sei. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist in Bezug auf diese Verträge aber nicht klar, ob davon ausgegangen werden könne, dass sich die Entgelte nur durch die Indexierung änderten. Erstens werde nämlich das regulierte Entgelt berücksichtigt, das anwendbar sei, wenn es niedriger sei als das vertraglich vereinbarte Entgelt. Zweitens erfolgten die auf eine Anwendung des regulierten Entgelts folgenden Indexierungen nicht auf der Grundlage des ursprünglichen vertraglich vereinbarten Entgelts, sondern auf der Grundlage des angewandten regulierten Entgelts. Drittens stelle die Berücksichtigung des regulierten Entgelts eine gesetzliche Verpflichtung der Vertragsparteien dar. Viertens habe die MEKH bei der Festsetzung des regulierten Entgelts vor dem Inkrafttreten der Verordnung 2017/460 neben der Indexierung auch andere Gesichtspunkte berücksichtigt.
21 Unter diesen Umständen hat das Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist Art. 35 Abs. 1 der Verordnung 2017/460 unter Berücksichtigung der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes dahin auszulegen, dass diese Ausnahme auch für vor 2017 geschlossene langfristige Kapazitätsbuchungsverträge gilt, deren Preisbedingungen nicht ausschließlich eine Änderung eines zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses festgelegten Kapazitäts- und/oder Arbeitsentgelts, die auf der Grundlage einer vorher festgelegten Formel gemäß dem vom nationalen Statistikamt festgesetzten Verbraucherpreisindex berechnet wird, sondern – aufgrund einer zwingenden Bestimmung des nationalen Rechts – statt des berechneten Entgelts das regulierte Netznutzungsentgelt vorsehen, wenn dieses niedriger ist und die Parteien dieses dann in der Folgeperiode weiter indexieren und die Behörde bei der Festsetzung des regulierten Entgelts neben der Indexierung auch neue kurzfristige Kapazitätsbuchungen für die jeweiligen Verbindungsleitungen und die daraus erzielten Einnahmen sowie den internen Zinsfuß berücksichtigt?
Zur Vorlagefrage
22 Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 35 Abs. 1 der Verordnung 2017/460 unter Berücksichtigung der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes dahin auszulegen ist, dass die dort vorgesehene Ausnahme für vor dem 6. April 2017 geschlossene langfristige Verträge über Kapazitätsbuchungen für den Gastransport gilt, die eine Änderung der anhand der Kapazität und/oder der transportierten Gasmenge festgelegten Fernleitungsentgelte nicht nur auf der Grundlage einer – im vorliegenden Fall auf dem Verbraucherpreisindex beruhenden – Indexierung vorsehen, sondern auch unter Berücksichtigung eines regulierten Entgelts, in das wiederum eine Indexierung sowie andere Faktoren eingehen und das statt des vertraglich vereinbarten Entgelts angewandt werden kann.
23 In Bezug auf den Kontext der auszulegenden Bestimmung ist festzustellen, dass die Verordnung Nr. 715/2009 zum am 13. Juli 2009 erlassenen „Dritten Energiepaket“ gehört, das u. a. darauf abzielt, die Gasmärkte weiter zu liberalisieren und transparenter zu machen. Mit der Verordnung Nr. 715/2009 wurde das Konzept des Ein- und Ausspeisesystems eingeführt, mit dem, wie sich aus dem 19. Erwägungsgrund und Art. 13 dieser Verordnung ergibt, den Nutzern des Gasfernleitungsnetzes ermöglicht werden soll, mit Gas unabhängig von seiner konkreten physischen Bewegung zu handeln, wodurch die Tarife für die Nutzung des Fernleitungsnetzes unabhängig von bestimmten Gastransportrouten sind.
24 Mit der Verordnung 2017/460, deren Rechtsgrundlage die Verordnung Nr. 715/2009 ist, soll der Einführung des Konzepts des Ein- und Ausspeisesystems in der Verordnung Nr. 715/2009 entsprechend ein Netzkodex für harmonisierte Fernleitungsentgeltstrukturen festgelegt werden. So bestimmt Art. 6 Abs. 3 der Verordnung 2017/460, dass auf alle Ein- und Ausspeisepunkte eines bestimmten Ein- und Ausspeisesystems grundsätzlich dieselbe Referenzpreismethode angewandt wird.
25 Es ist unstreitig, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verträge Fernleitungsentgelte für eine bestimmte Route festlegen und daher nicht mit Art. 6 Abs. 3 der Verordnung 2017/460 im Einklang stehen.
26 Um die Beachtung der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes zu gewährleisten, sieht Art. 35 der Verordnung 2017/460 jedoch eine Ausnahme von der Anwendbarkeit der Verordnung für bestehende Verträge vor. So lässt diese Verordnung gemäß ihrem Art. 35 Abs. 1 „die Höhe der Fernleitungsentgelte im Rahmen von Verträgen oder Kapazitätsbuchungen unberührt, die vor dem 6. April 2017 geschlossen bzw. vorgenommen wurden, wenn diese Verträge oder Kapazitätsbuchungen keine Änderung in der Höhe der Kapazitäts- und/oder Arbeitsentgelte mit Ausnahme einer etwaigen Indexierung vorsehen“.
27 Was als Erstes den Wortlaut dieser Bestimmung betrifft, müssen für die Anwendung dieser Ausnahme zwei kumulative Voraussetzungen erfüllt sein. Nach der ersten Voraussetzung muss es sich um einen Vertrag handeln, der vor dem 6. April 2017, dem Tag des Inkrafttretens der Verordnung 2017/460, geschlossen wurde. Die zweite Voraussetzung besteht darin, dass dieser Vertrag keine Änderung in der Höhe der Kapazitäts- und/oder Arbeitsentgelte mit Ausnahme einer etwaigen Indexierung vorsieht.
28 Was die erste Voraussetzung anbelangt, so geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass die HOT‑Verträge am 20. Oktober 2008 geschlossen wurden, so dass diese Voraussetzung erfüllt ist.
29 Was die zweite Voraussetzung betrifft, geht aus den verschiedenen Sprachfassungen von Art. 35 der Verordnung 2017/460 mit Ausnahme der ungarischen Fassung hervor, dass die Ausnahme nur für vor dem 6. April 2017 geschlossene langfristige Verträge über Kapazitätsbuchungen für den Gastransport gilt, nach denen sich die Höhe der Fernleitungsentgelte nur durch Indexierung ändern kann. Während die deutsche, englische und französische Fassung dieser Bestimmung sowie die anderen vom Gerichtshof geprüften Sprachfassungen die Wendung „keine Änderung … mit Ausnahme einer … Indexierung“ enthalten, verwendet die ungarische Fassung die Wendung „keine Änderung … über das Maß einer … Indexierung hinaus“. Diese Wendung könnte so ausgelegt werden, dass sich die Höhe der Entgelte auch nach Maßgabe anderer Gesichtspunkte als der Indexierung ändern kann, sofern diese Aktualisierung der Entgelte nicht dazu führt, dass sie höher sind als nach einer etwaigen Indexierung.
30 Nach ständiger Rechtsprechung kann die in einer der Sprachfassungen einer Vorschrift des Unionsrechts verwendete Formulierung nicht als alleinige Grundlage für die Auslegung dieser Vorschrift herangezogen werden oder insoweit Vorrang vor den anderen Sprachfassungen beanspruchen. Ein solcher Ansatz wäre nämlich mit dem Erfordernis einer einheitlichen Anwendung des Unionsrechts unvereinbar. Weichen die verschiedenen Sprachfassungen voneinander ab, muss die fragliche Vorschrift daher nach der allgemeinen Systematik und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört (vgl. Urteile vom 27. Oktober 1977, Bouchereau, 30/77, EU:C:1977:172, Rn. 14, und vom 9. Juli 2020, Naturschutzbund Deutschland – Landesverband Schleswig-Holstein, C‑297/19, EU:C:2020:533, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Die Verordnung 2017/460 definiert den in ihrem Art. 35 Abs. 1 enthaltenen Begriff „Indexierung“ nicht. Daher sind die Bedeutung und Tragweite dieses Begriffs u. a. entsprechend seinem üblichen Sinn nach dem allgemeinen Sprachgebrauch zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Oktober 2020, Entoma, C‑526/19, EU:C:2020:769, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Unter Indexierung wird allgemein ein vertraglicher oder gesetzlicher Mechanismus verstanden, der darauf abzielt, einen ursprünglich festgelegten finanziellen Betrag im Lauf der Zeit automatisch an die Entwicklung eines bestimmten Referenzindexes anzupassen.
33 Im vorliegenden Fall enthalten die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verträge einen Indexierungsmechanismus, nach dem das für einen bestimmten Zeitraum geltende Fernleitungsentgelt anhand einer im Voraus festgelegten Formel auf der Grundlage der Entwicklung des vom Zentralen Statistikamt festgesetzten Verbraucherpreisindexes berechnet wird.
34 Aus der Vorlageentscheidung geht jedoch hervor, dass diese Verträge aufgrund einer zwingenden Bestimmung des nationalen Rechts auch die Anwendung des regulierten Netznutzungsentgelts statt des ursprünglich vereinbarten und indexierten Entgelts vorsehen, wenn Ersteres niedriger ist als Letzteres. Tatsächlich wurde das regulierte Entgelt mehrfach angewandt und diente dann anschließend als Grundlage für die vertragliche Indexierung für einen bestimmten Zeitraum. Aus der Vorlageentscheidung geht auch hervor, dass die MEKH bei der Festsetzung des regulierten Entgelts neben der Indexierung weitere Gesichtspunkte wie die neuen kurzfristigen Kapazitätsbuchungsverträge für die fragliche Gasfernleitung, die daraus erzielten Einnahmen sowie den internen Zinsfuß berücksichtigt hat. Das vertragliche Fernleitungsentgelt hat sich also offenbar im Lauf der Zeit nach Maßgabe anderer Faktoren als der vertraglich vereinbarten Indexierung entwickelt.
35 Was als Zweites den Zusammenhang betrifft, in den sich Art. 35 Abs. 1 der Verordnung 2017/460 einfügt, ist darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung, wie sich oben aus den Rn. 23 und 24 ergibt, eine Ausnahme von dem in Art. 6 Abs. 3 dieser Verordnung vorgesehenen Grundsatz derselben Referenzpreismethode, die auf alle Ein- und Ausspeisepunkte eines bestimmten Ein- und Ausspeisesystems angewandt wird, darstellt und daher eng auszulegen ist.
36 Dies wird durch Art. 35 Abs. 2 bestätigt, wonach die in Art. 35 Abs. 1 genannten vertraglichen Bestimmungen zu Fernleitungsentgelten und Kapazitätsbuchungen nach Ablauf ihrer Gültigkeit nicht erneuert, verlängert oder übertragen werden.
37 Was als Drittes die mit der Verordnung Nr. 715/2009 und der Verordnung 2017/460 verfolgten Ziele betrifft, so bezwecken diese gemäß den Erwägungsgründen 7 und 19 der Verordnung Nr. 715/2009, sicherzustellen, dass die Tarife für den Netzzugang dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung und den Erfordernissen eines gut funktionierenden Binnenmarktes vollständig entsprechen, und die Verbesserung des Wettbewerbs durch liquide Großhandelsgasmärkte. Im 19. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 715/2009 und im dritten Erwägungsgrund der Verordnung 2017/460 heißt es, dass es dafür von entscheidender Bedeutung ist, dass Gas unabhängig davon, wo es sich im Netz befindet, gehandelt werden kann und dass dies sich nur dadurch erreichen lässt, dass den Netznutzern die Möglichkeit eingeräumt wird, Ein- und Ausspeisekapazitäten unabhängig voneinander zu buchen, was zur Folge hat, dass der Gastransport durch Zonen erfolgt, statt Vertragswegen zu folgen, wobei die Tarife nicht von der Transportroute abhängig sein sollten. Der nicht diskriminierende Charakter der Tarife oder Methoden zu ihrer Berechnung wird auch in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 715/2009 hervorgehoben.
38 Daher bedeutet eine enge Auslegung der in Art. 35 Abs. 1 der Verordnung 2017/460 enthaltenen Ausnahme in Anbetracht des Kontexts und des Zwecks dieser Verordnung, wie sie oben in den Rn. 23 und 35 bis 37 dargelegt worden sind, dass diese Ausnahme keine Anwendung finden kann, wenn während der Laufzeit des Vertrags das darin vorgesehene Entgelt Anpassungen unterliegt, die andere Faktoren als die auf dem Verbraucherpreisindex beruhende Indexierung berücksichtigen.
39 Was die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes betrifft, so steht nach ständiger Rechtsprechung die Möglichkeit, sich auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes zu berufen, jedem Wirtschaftsteilnehmer offen, bei dem ein Organ begründete Erwartungen geweckt hat. Allerdings sind die Wirtschaftsteilnehmer, auch wenn der Grundsatz des Vertrauensschutzes zu den tragenden Grundsätzen der Union zählt, nicht berechtigt, auf die Beibehaltung einer bestehenden Situation zu vertrauen, die die Organe der Europäischen Union im Rahmen ihres Ermessens ändern können (Urteil vom 26. Juni 2012, Polen/Kommission, C‑335/09 P, EU:C:2012:385, Rn. 180 und die dort angeführte Rechtsprechung).
40 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 35 Abs. 1 der Verordnung 2017/460 unter Berücksichtigung der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes dahin auszulegen ist, dass die dort vorgesehene Ausnahme nur für vor dem 6. April 2017 geschlossene langfristige Verträge über Kapazitätsbuchungen für den Gastransport gilt, die eine Änderung der anhand der Kapazität und/oder der transportierten Gasmenge festgelegten Fernleitungsentgelte ausschließlich auf der Grundlage einer – insbesondere auf dem Verbraucherpreisindex beruhenden – Indexierung vorsehen. Diese Ausnahme gilt nicht für Verträge, bei denen die Änderung der Entgelte auf andere Faktoren zurückgeht, einschließlich einer entsprechenden Vereinbarung der Vertragsparteien oder der Anwendung eines regulierten Entgelts.
Kosten
41 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 35 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2017/460 der Kommission vom 16. März 2017 zur Festlegung eines Netzkodex über harmonisierte Fernleitungsentgeltstrukturen ist unter Berücksichtigung der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes
dahin auszulegen, dass
die dort vorgesehene Ausnahme nur für vor dem 6. April 2017 geschlossene langfristige Verträge über Kapazitätsbuchungen für den Gastransport gilt, die eine Änderung der anhand der Kapazität und/oder der transportierten Gasmenge festgelegten Fernleitungsentgelte ausschließlich auf der Grundlage einer – insbesondere auf dem Verbraucherpreisindex beruhenden – Indexierung vorsehen. Diese Ausnahme gilt nicht für Verträge, bei denen die Änderung der Entgelte auf andere Faktoren zurückgeht, einschließlich einer entsprechenden Vereinbarung der Vertragsparteien oder der Anwendung eines regulierten Entgelts.
Unterschriften