C-325/24 – Bissilli

C-325/24 – Bissilli

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2025:491

Vorläufige Fassung

Schlussanträge des Generalanwalts

ATHANASIOS RANTOS

vom 26. Juni 2025(1)

Rechtssache C325/24 [Bissilli](i)

HG

Strafverfahren

Beteiligte:

Procura della Repubblica presso il Tribunale di Firenze

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale ordinario di Firenze [Gericht Florenz, Italien])

„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2014/41/EU – Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen – Sachlicher Anwendungsbereich – Begriff ‚Ermittlungsmaßnahme‘ – Art. 24 – Vernehmung der beschuldigten Person per Videokonferenz – Art. 10 – Rückgriff auf eine Ermittlungsmaßnahme anderer Art – Art. 11 Abs. 1 Buchst. f – Gründe für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung – Grundrechte – Art. 24 Abs. 2 Buchst. b – Wesentliche Grundsätze des Rechts des Vollstreckungsmitgliedstaats – Art. 22 – Zeitweilige Überstellung der inhaftierten Person an den Anordnungsmitgliedstaat zum Zweck der Durchführung einer Ermittlungsmaßnahme – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 – Recht auf ein faires Verfahren “

I.      Einleitung

1.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 und 10, Art. 11 Abs. 1 Buchst. f, Art. 22 Abs. 1 und Art. 24 der Richtlinie 2014/41/EU über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (im Folgenden: EEA)(2) sowie von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2.        Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Antrags auf Vollstreckung einer EEA in Belgien, die vom Tribunale ordinario di Firenze (Gericht Florenz, Italien), dem vorlegenden Gericht, in Bezug auf HG, einer in Belgien inhaftierten Person, in einem Strafverfahren erlassen wurde (im Folgenden: in Rede stehende EEA). Konkret ersuchte das Gericht mit dieser EEA gemäß Art. 24 der Richtlinie 2014/41 die belgischen Justizbehörden, in Zusammenarbeit mit dem vorlegenden Gericht HG in seiner Eigenschaft als beschuldigte Person per Videokonferenz zu vernehmen, um durch seine Vernehmung Beweise zu erlangen und ihm die Teilnahme an der ihn betreffenden Verhandlung zu ermöglichen, wobei das Gericht davon ausging, dass die EEA eine wirksame Alternative zu einem Europäischen Haftbefehl (im Folgenden: EuHb) darstellte, da die Voraussetzungen für die Ausstellung eines EuHb nicht mehr vorgelegen hätten(3). Außerdem beantragte das vorlegende Gericht als Alternative zur Vernehmung per Videokonferenz die zeitweilige Überstellung nach Italien gemäß Art. 22 der Richtlinie. Die belgischen Justizbehörden versagten die Vollstreckung der EEA mit der Begründung, dass die beantragte Ermittlungsmaßnahme im belgischen Recht nicht vorgesehen sei und das Erscheinen der beschuldigten Person per Videokonferenz nach dem nationalen Recht deren Grundrecht auf ein faires Verfahren verletze. Ebenso wurde der alternative Antrag auf zeitweilige Überstellung mit der Begründung abgelehnt, dass die Vernehmung der beschuldigten Person in einem Verfahren im belgischen Recht nicht als Ermittlungsmaßnahme angesehen werde. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts steht die Auffassung der belgischen Justizbehörden nicht im Einklang mit den Bestimmungen der Richtlinie 2014/41, in der die Gründe für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung einer EEA abschließend aufgeführt seien; es hat daher eine Reihe von Fragen zur Vereinbarkeit dieser Ablehnungsentscheidungen mit dem Unionsrecht zur Vorabentscheidung vorgelegt.

3.        Der Gerichtshof hatte zwar bereits Gelegenheit, den sachlichen Anwendungsbereich der EEA und insbesondere die Bedeutung des Begriffs „Ermittlungsmaßnahme“, deren Vollstreckung mit einer solchen EEA beantragt werden kann(4), zu konkretisieren, die vorliegende Rechtssache wird es ihm indessen erstmalig ermöglichen, zum einen das Verhältnis der einzelnen in der Richtlinie 2014/41 genannten Versagungsgründe zueinander zu prüfen und zum anderen die Frage der Vereinbarkeit des Erscheinens einer beschuldigten Person per Videokonferenz in Strafsachen mit den Grundrechten zu klären, eine Frage, die im Übrigen bereits Gegenstand mehrerer Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR)(5) war.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Richtlinie 2014/41

4.        In den Erwägungsgründen 6 bis 8, 10, 12, 19, 24 bis 26 und 34 der Richtlinie 2014/41 heißt es:

„(6)      In dem vom Europäischen Rat vom 10./11. Dezember 2009 angenommenen Stockholmer Programm hat der Europäische Rat die Auffassung vertreten, dass die Einrichtung eines umfassenden Systems für die Beweiserhebung in Fällen mit grenzüberschreitenden Bezügen, das auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung basiert, weiter verfolgt werden sollte. …

(7)      Diesem neuen Ansatz liegt ein einheitliches Instrument zugrunde, das als Europäische Ermittlungsanordnung (im Folgenden ‚EEA‘) bezeichnet wird. Die EEA sollte zur Durchführung einer oder mehrerer spezifischer Ermittlungsmaßnahmen im Staat, in dem die EEA vollstreckt wird … im Hinblick auf die Erhebung von Beweismitteln erlassen werden. …

(8)      Die EEA sollte übergreifenden Charakter haben und sollte daher für alle Ermittlungsmaßnahmen gelten, die der Beweiserhebung dienen. …

(10)      Die EEA sollte sich auf die durchzuführende Ermittlungsmaßnahme konzentrieren. Die Anordnungsbehörde ist aufgrund ihrer Kenntnis der Einzelheiten der betreffenden Ermittlung am besten in der Lage zu entscheiden, welche Ermittlungsmaßnahme anzuwenden ist. Jedoch sollte die Vollstreckungsbehörde, wann immer möglich, eine Ermittlungsmaßnahme anderer Art anwenden, wenn die angegebene Maßnahme nach ihrem nationalen Recht nicht existiert oder in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall nicht zur Verfügung stünde. … Die Vollstreckungsbehörde ist befugt, auch auf eine Ermittlungsmaßnahme anderer Art zurückgreifen, wenn damit mit weniger stark in die Grundrechte der betroffenen Person eingreifenden Mitteln das gleiche Ergebnis wie mit der in der EEA angegebenen Ermittlungsmaßnahme erreicht würde.

(12)      Die Anordnungsbehörde sollte beim Erlass einer EEA in besonderem Maße darauf achten, dass die in Artikel 48 der Charta … verankerten Rechte uneingeschränkt gewahrt werden. Die Unschuldsvermutung und die Verteidigungsrechte in Strafsachen sind Eckpfeiler der Grundrechte, die in der Charta im Bereich der Strafgerichtsbarkeit anerkannt werden. Jede Einschränkung derartiger Rechte durch eine nach dieser Richtlinie angeordnete Ermittlungsmaßnahme sollte in jeder Hinsicht den Anforderungen des Artikels 52 der Charta hinsichtlich ihrer Erforderlichkeit, Verhältnismäßigkeit und ihrer Zielsetzungen, insbesondere dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer, entsprechen.

(19)      Die Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts innerhalb der Union beruht auf dem gegenseitigen Vertrauen sowie auf der Vermutung, dass andere Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die Grundrechte einhalten. Diese Vermutung ist jedoch widerlegbar. Wenn berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung einer in der EEA angegebenen Ermittlungsmaßnahme einen Verstoß gegen ein Grundrecht der betreffenden Person zur Folge hätte und der Vollstreckungsstaat seine Verpflichtungen zum Schutz der in der Charta anerkannten Grundrechte nicht achten würde, so sollte die Vollstreckung der EEA verweigert werden.

(24)      Die EEA schafft eine einheitliche Regelung für die Erlangung von Beweismitteln. Bei einigen Arten von Ermittlungsmaßnahmen, wie beispielsweise der zeitweiligen Überstellung inhaftierter Personen, der Vernehmung per Video- oder Telefonkonferenz …, bedarf es jedoch zusätzlicher Vorschriften, die in der EEA angegeben werden sollten. …

(25)      Diese Richtlinie legt Vorschriften über die Durchführung von Ermittlungsmaßnahmen zur Erhebung von Beweismitteln in sämtlichen Phasen des Strafverfahrens, einschließlich der Gerichtsphase, fest, erforderlichenfalls mit Beteiligung der betroffenen Person. So kann zum Beispiel eine EEA für die zeitweilige Überstellung dieser Person an den Anordnungsstaat oder zur Durchführung einer Vernehmung per Videokonferenz erlassen werden. Dient die Überstellung dieser Person an einen anderen Mitgliedstaat jedoch Verfolgungszwecken, einschließlich der Verbringung der Person vor ein Gericht, um sich dort zu verantworten, so sollte ein [EuHb] gemäß dem [Rahmenbeschluss 2002/584] erlassen werden.

(26)      Um die Verhältnismäßigkeit der Verwendung eines EuHb zu gewährleisten, sollte die Anordnungsbehörde prüfen, ob eine EEA ein wirksames und verhältnismäßiges Mittel zur weiteren Strafverfolgung wäre. Die Anordnungsbehörde sollte insbesondere prüfen, ob der Erlass einer EEA zum Zwecke der Vernehmung einer verdächtigen oder beschuldigten Person mittels Videokonferenz eine wirksame Alternative sein könnte.

(34)      Diese Richtlinie erfasst aufgrund ihres Anwendungsbereichs einstweilige Maßnahmen nur im Hinblick auf die Beweiserhebung. …“

5.        Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:

„Eine [EEA] ist eine gerichtliche Entscheidung, die von einer Justizbehörde eines Mitgliedstaats (‚Anordnungsstaat‘) zur Durchführung einer oder mehrerer spezifischer Ermittlungsmaßnahme(n) in einem anderen Mitgliedstaat (‚Vollstreckungsstaat‘) zur Erlangung von Beweisen gemäß dieser Richtlinie erlassen oder validiert wird.

Die [EEA] kann auch in Bezug auf die Erlangung von Beweismitteln, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats befinden, erlassen werden.“

6.        In Art. 3 der Richtlinie heißt es:

„Die EEA erfasst alle Ermittlungsmaßnahmen, mit Ausnahme der … Bildung einer gemeinsamen Ermittlungsgruppe und der Erhebung von Beweismitteln innerhalb einer solchen Ermittlungsgruppe …“

7.        Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie lautet:

„Die Vollstreckungsbehörde hält die von der Anordnungsbehörde ausdrücklich angegebenen Formvorschriften und Verfahren ein, soweit in dieser Richtlinie nichts anderes bestimmt ist und sofern die angegebenen Formvorschriften und Verfahren nicht im Widerspruch zu den wesentlichen Rechtsgrundsätzen des Vollstreckungsstaats stehen.“

8.        In Art. 10 der Richtlinie 2014/41 heißt es:

„(1)      Die Vollstreckungsbehörde greift, wann immer möglich, auf eine nicht in der EEA vorgesehene Ermittlungsmaßnahme zurück, wenn

a)      die in der EEA angegebene Ermittlungsmaßnahme nach dem Recht des Vollstreckungsstaats nicht besteht oder

b)      die in der EEA angegebene Ermittlungsmaßnahme in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall nicht zur Verfügung stehen würde.

(2)      Unbeschadet des Artikels 11 gilt Absatz 1 nicht für folgende Ermittlungsmaßnahmen, die nach dem Recht des Vollstreckungsstaats stets zur Verfügung stehen müssen:

c)      die Vernehmung eines Zeugen, eines Sachverständigen, eines Opfers, einer verdächtigen oder beschuldigten Person oder einer dritten Partei im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaats;

(3)      Die Vollstreckungsbehörde kann auch auf eine andere als die in der EEA angegebene Ermittlungsmaßnahme zurückgreifen, wenn die von der Vollstreckungsbehörde gewählte Ermittlungsmaßnahme mit weniger einschneidenden Mitteln das gleiche Ergebnis wie die in der EEA angegebene Ermittlungsmaßnahme erreichen würde.

(5)      Wenn die in der EEA angegebene Maßnahme gemäß Absatz 1 nach dem Recht des Vollstreckungsstaats nicht besteht oder in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall nicht zur Verfügung stehen würde und es keine andere Ermittlungsmaßnahme gibt, die zu dem gleichen Ergebnis führen würde wie die erbetene Ermittlungsmaßnahme, so teilt die Vollstreckungsbehörde der Anordnungsbehörde mit, dass es nicht möglich war, die erbetene Unterstützung zu leisten.“

9.        Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:

„Unbeschadet des Artikels 1 Absatz 4 kann die Anerkennung oder Vollstreckung einer EEA im Vollstreckungsstaat versagt werden, wenn

f)      berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung einer in der EEA angegebenen Ermittlungsmaßnahme mit den Verpflichtungen des Vollstreckungsstaats nach Artikel 6 EUV und der Charta unvereinbar wäre;

…“

10.      Art. 22 Abs. 1 und 2 der Richtlinie bestimmt:

„(1)      Eine EEA kann für die zeitweilige Überstellung einer im Vollstreckungsstaat inhaftierten Person zum Zwecke der Durchführung einer Ermittlungsmaßnahme zur Erhebung von Beweismitteln erlassen werden, bei der die Anwesenheit dieser Person im Hoheitsgebiet des Anordnungsstaats erforderlich ist, sofern die Person innerhalb der vom Vollstreckungsstaat gesetzten Frist zurücküberstellt wird.

(2)      Zusätzlich zu den Gründen für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung nach Artikel 11 kann die Vollstreckung der EEA auch versagt werden, wenn

a)      die inhaftierte Person nicht zustimmt oder

b)      die Überstellung geeignet ist, die Haft der inhaftierten Person zu verlängern.“

11.      In Art. 24 Abs. 1 bis 5 der Richtlinie heißt es:

„(1)      Befindet sich eine Person im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaats und soll diese Person als Zeuge oder Sachverständiger von den zuständigen Behörden des Anordnungsstaats vernommen werden, so kann die Anordnungsbehörde eine EEA erlassen, um den Zeugen oder Sachverständigen per Videokonferenz oder sonstiger audiovisueller Übertragung nach Maßgabe der Absätze 5 bis 7 zu vernehmen.

Die Anordnungsbehörde kann eine EEA auch zum Zweck der Vernehmung einer verdächtigen oder beschuldigten Person per Videokonferenz oder sonstiger audiovisueller Übertragung erlassen.

(2)      Zusätzlich zu den Gründen für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung nach Artikel 11 kann die Vollstreckung einer EEA versagt werden, wenn

a)      die verdächtige oder beschuldigte Person nicht zustimmt oder

b)      die Durchführung dieser Ermittlungsmaßnahme in einem spezifischen Fall im Widerspruch zu den wesentlichen Grundsätzen des Rechts des Vollstreckungsstaats stünde.

(3)      Die Anordnungsbehörde und die Vollstreckungsbehörde vereinbaren die praktischen Vorkehrungen für die Vernehmung. …

(4)      Falls die Vollstreckungsbehörde unter den Umständen des Einzelfalls nicht über die technischen Vorrichtungen für eine mittels Videokonferenz abgehaltene Vernehmung verfügt, so können ihr diese von dem Anordnungsstaat in gegenseitigem Einvernehmen zur Verfügung gestellt werden.

(5)      Für eine Vernehmung per Videokonferenz oder sonstiger audiovisueller Übertragung gelten folgende Regeln:

a)      Bei der Vernehmung ist ein Vertreter der zuständigen Behörde des Vollstreckungsstaats, bei Bedarf unterstützt von einem Dolmetscher, anwesend, der auch die Identität der zu vernehmenden Person feststellt und auf die Einhaltung der wesentlichen Grundsätze des Rechts des Vollstreckungsstaats achtet.

Werden nach Ansicht der Vollstreckungsbehörde bei der Vernehmung die wesentlichen Grundsätze des Rechts des Vollstreckungsstaats verletzt, so trifft er sofort die Maßnahmen, die erforderlich sind, damit bei der weiteren Vernehmung diese Prinzipien beachtet werden;

c)      die Vernehmung wird unmittelbar von oder unter Leitung der zuständigen Behörde des Anordnungsstaats nach deren nationalem Recht durchgeführt;

…“

B.      Richtlinie (EU) 2016/343

12.      Art. 8 Abs. 1 und 2 der Richtlinie (EU) 2016/343(6) bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein.

(2)      Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass eine Verhandlung, die zu einer Entscheidung über die Schuld oder Unschuld eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person führen kann, in seiner bzw. ihrer Abwesenheit durchgeführt werden kann, sofern

a)      der Verdächtige oder die beschuldigte Person rechtzeitig über die Verhandlung und über die Folgen des Nichterscheinens unterrichtet wurde oder

b)      der Verdächtige oder die beschuldigte Person, nachdem er bzw. sie über die Verhandlung unterrichtet wurde, von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt vertreten wird, der entweder von dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person oder vom Staat bestellt wurde.“

III. Ausgangsrechtsstreit, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

13.      HG wird in Italien wegen Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung und wegen Handels mit Betäubungsmitteln strafrechtlich verfolgt. Er wird insbesondere verdächtigt, von Belgien aus eine kriminelle Vereinigung mit operativen Untergliederungen in verschiedenen Mitgliedstaaten, darunter auch Italien, gegründet und geführt zu haben und in diesem Rahmen am Handel mit Betäubungsmitteln beteiligt gewesen zu sein(7).

14.      Mit dem Strafverfahren gegen HG wurde das vorlegende Gericht befasst.

15.      Da HG im Hauptverfahren des Strafverfahrens nicht persönlich vor dem Gericht erschien, wurde er für abwesend erklärt, da ihm das Verfahren bekannt war und er durch einen von ihm selbst bestellten Rechtsanwalt vertreten wurde.

16.      In der Folge beantragte der Rechtsanwalt die Vernehmung von HG vor diesem Gericht, das die Vernehmung anordnete.

17.      Am 24. Mai 2022, als nur noch die Vernehmung von HG und die abschließende Erörterung ausstanden, teilte die Staatsanwaltschaft dem Gericht mit, HG befinde sich seit dem 15. Februar 2022 im Zusammenhang mit einem in Belgien anhängigen Verfahren in der Justizvollzugsanstalt Brügge (Belgien) in Untersuchungshaft.

18.      Unter diesen Umständen erließ das vorlegende Gericht mit Zustimmung von HG eine EEA, mit der die belgischen Behörden ersucht wurden, in Zusammenarbeit mit dem Gericht HG in seiner Eigenschaft als beschuldigte Person per Videokonferenz zu vernehmen. Diese Vernehmung, die unter Hinzuziehung eines Dolmetschers erfolgt wäre, hätte insbesondere die Möglichkeit eröffnet, HG zu befragen.

19.      Mit Schreiben vom 17. Februar 2023 teilte die Staatsanwaltschaft Brügge (Belgien) dem vorlegenden Gericht erstens mit, HG sei nicht nur in Form der Untersuchungshaft, sondern auch zur Verbüßung einer Strafe inhaftiert, und zweitens, die auf die Vernehmung von HG per Videokonferenz gerichtete EEA werde nicht vollstreckt. Ohne auf einen der in der Richtlinie 2014/41 geregelten besonderen Versagungsgründe Bezug zu nehmen, stellte die Staatsanwaltschaft zunächst fest, es sei nach dem belgischen Recht nicht möglich, eine beschuldigte Person in einer sie betreffenden Verhandlung per Videokonferenz zu vernehmen, da sie vor dem für die Hauptverhandlung zuständigen Gericht persönlich erscheinen müsse(8). Sodann wies die Staatsanwaltschaft Brügge darauf hin, das belgische Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2014/41 knüpfe die Möglichkeit der Vernehmung einer beschuldigten Person per Videokonferenz an die doppelte Voraussetzung, dass erstens die Person einverstanden sei und zweitens die Durchführung der Maßnahme nicht im Widerspruch zu wesentlichen Grundsätzen des belgischen Rechts stehe. Unter Verweis auf ein Urteil des Verfassungsgerichtshofs (Belgien)(9) und die vom Kollegium der Generalprokuratoren (Belgien) erlassenen Leitlinien(10) teilte die Staatsanwaltschaft Brügge schließlich mit, das Erscheinen einer beschuldigten Person per Videokonferenz in einer sie betreffenden Verhandlung verletze derzeit das Recht auf ein faires Verfahren.

20.      Da HG nicht verurteilt werden konnte, weil seine Inhaftierung im Ausland einen berechtigten Grund für sein Nichterscheinen darstellte, wurde das Verfahren auf einen späteren Zeitpunkt vertagt. Um diese schwierige Situation zu lösen, wandte sich das vorlegende Gericht an Eurojust und beantragte Unterstützung im Verfahren der justiziellen Zusammenarbeit, was jedoch ohne Ergebnis blieb, da sich die belgischen Justizbehörden zum einen weiterhin weigerten, HG per Videokonferenz zu vernehmen, und zum anderen im November 2022 die Möglichkeit einer zeitweiligen Überstellung der inhaftierten Person nach Italien, wie dies von Eurojust als alternative Ermittlungsmaßnahme zur Vernehmung per Videokonferenz beantragt worden war, ausschlossen.

21.      In diesem Zusammenhang stellt das vorlegende Gericht fest, dass es zu prüfen habe, ob die Versagung der Vollstreckung der EEA mit dem Unionsrecht im Einklang steht, um zu entscheiden, ob der Erlass einer neuen EEA für die Fortsetzung des Verfahrens gegen HG angezeigt ist.

22.      Als Erstes führt das Gericht aus, nach dem italienischen Recht sei eine beschuldigte Person nicht verpflichtet, in einer sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein, da die Regelung des Abwesenheitsverfahrens seit dessen Einführung im Jahr 2014 anwendbar sei(11). Folglich könne das Verfahren in Abwesenheit der beschuldigten Person durchgeführt werden, sofern sicher sei, dass die Person Kenntnis vom Verfahren habe und aufgrund einer freiwilligen Entscheidung nicht am Verfahren teilnehme. Das Gericht müsse jedoch, wenn die beschuldigte Person, die ein Recht auf Anwesenheit in der sie betreffenden Verhandlung habe, insbesondere wegen eines berechtigten Hinderungsgrundes, wie eine Inhaftierung im Ausland, nicht erscheinen könne, die Verhandlung vertagen, bis ihre Teilnahme wieder möglich sei, es sei denn, dem Gericht gehe eine förmliche und ausdrückliche Erklärung der Person zu, dass sie auf das Erscheinen verzichte. Außerdem könne die Verfahrensbeteiligung einer im Ausland inhaftierten beschuldigten Person in Präsenz durch eine zeitweilige Überstellung in das italienische Hoheitsgebiet(12) oder, wenn dies durch internationale Übereinkünfte vorgesehen sei, nach Maßgabe der darin enthaltenen Bestimmungen per Videokonferenz erfolgen.

23.      Zudem würden im italienischen Strafprozess, der auf dem Prinzip des akkusatorischen Verfahrens beruhe, die Beweismittel nur im Hauptverfahren vor dem Gericht in einem kontradiktorisch geführten Verfahren erhoben und zu den Akten genommen. Daher diene die Vernehmung der beschuldigten Person, die die Vernehmung beantrage oder ihr im Verfahren zustimme, auch der Erhebung von Beweisen.

24.      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts würde außerdem der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung untergraben, wenn der Vollstreckungsmitgliedstaat den Beweiszweck der erbetenen Ermittlungsmaßnahme auf der Grundlage seines nationalen Rechts in Frage stellen und die Vollstreckung einer EEA mit der Begründung versagen könnte, dass sie nicht der Erhebung von Beweisen diene. In Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung sei es nämlich allein Sache der Anordnungsbehörde, zu beurteilen, ob die mit der EEA erbetene Maßnahme nach dem nationalen Recht dem Ziel der Beweiserhebung dient. Das vorlegende Gericht wirft jedoch die Frage auf, ob der Erlass einer EEA auch dann noch möglich ist, wenn, wie im vorliegenden Fall, die Vernehmung der beschuldigten Person per Videokonferenz auch dazu dient, ihre Teilnahme an der Verhandlung zu gewährleisten.

25.      Als Zweites geht nach Ansicht des vorlegenden Gerichts aus den Erläuterungen der Staatsanwaltschaft Brügge hervor, dass die Versagung der Vollstreckung der in Rede stehenden EEA zum einen damit begründet werde, dass die angegebene Ermittlungsmaßnahme in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall nicht zur Verfügung stehe, und zum anderen damit, dass die Maßnahme im Widerspruch zu wesentlichen Grundsätzen des belgischen Rechts stehe. Zum ersten Grund für die Versagung der Vollstreckung der EEA führt das Gericht aus, die Vernehmung einer beschuldigten Person per Videokonferenz gehöre zu den in Kapitel IV der Richtlinie 2014/41 vorgesehenen besonderen Ermittlungsmaßnahmen. Anders als bei den Regelungen dieser Richtlinie für einige dieser Maßnahmen, wie z. B. verdeckte Ermittlungen, sehe Art. 24 der Richtlinie, der die Vernehmung per Videokonferenz regele, jedoch keinen Versagungsgrund vor, der sich darauf stütze, dass die Ermittlungsmaßnahme in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall nicht zur Verfügung stehe. Zum zweiten Versagungsgrund führt das vorlegende Gericht aus, die belgischen Justizbehörden hätten in Bezug auf Art. 24 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie nicht dargelegt, aus welchen Gründen sie, insbesondere in Anbetracht der im italienischen Recht vorgesehenen besonderen Verfahrensgarantien, davon ausgingen, dass eine solche Maßnahme im Widerspruch zu den wesentlichen Grundsätzen des belgischen Rechts stehe. Das Gericht ergänzt, die Vollstreckung der von ihm erlassenen EEA habe nicht nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2014/41 mit der Begründung versagt werden können, dass eine solche Anordnung mit den Grundrechten der Union unvereinbar sei, wenn die Vereinbarkeit der einschlägigen Vorschriften des italienischen Rechts mit der Rechtsprechung des EGMR nicht zuvor geprüft worden sei.

26.      Als Drittes und Letztes führt das vorlegende Gericht aus, als alternative Ermittlungsmaßnahme erwäge es den Erlass einer EEA für eine zeitweilige Überstellung von HG nach Italien zum Zweck seiner Vernehmung durch das Gericht.

27.      Unter diesen Umständen hat das Tribunale ordinario di Firenze (Gericht Florenz) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Erlaubt Art. 24 in Verbindung mit Art. 3 der Richtlinie 2014/41 den Erlass einer EEA zur Vernehmung einer im Vollstreckungsstaat inhaftierten beschuldigten Person per Videokonferenz in der Hauptverhandlung mit dem Zweck, mittels ihrer Vernehmung Beweis zu erheben, und mit dem zusätzlichen Zweck, ihre Verfahrensbeteiligung zu garantieren, und zwar im Licht von Art. 24 und der Erwägungsgründe 25 und 26 dieser Richtlinie, insbesondere in dem Fall, dass die Voraussetzungen für den Erlass eines EuHb nicht vorliegen und im Recht des Anordnungsstaats das Recht der beschuldigten Person verankert ist, sich am Verfahren zu beteiligen und sich der Vernehmung auch per Videokonferenz zu unterziehen, um beweiskräftige Erklärungen abzugeben?

2.      Kann für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird, Art. 10 der Richtlinie 2014/41, der den Vollstreckungsstaat ermächtigt, die Vollstreckung einer EEA zu versagen, falls die Ermittlungsmaßnahme in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall nicht zulässig wäre, im Licht von Art. 24 dieser Richtlinie, der Sonderregeln für die Vernehmung per Videokonferenz enthält, ohne den in Rede stehenden Versagungsgrund mit aufzuführen, dahin ausgelegt werden, dass er den Vollstreckungsstaat ermächtigt, die Vollstreckung einer EEA zur Vernehmung der im Ausland inhaftierten beschuldigten Person per Videokonferenz im Verfahren zu versagen?

3.      Ist Art. 11 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2014/41 im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass die Vollstreckung einer EEA zur Vernehmung einer im Ausland inhaftierten beschuldigten Person per Videokonferenz in der Hauptverhandlung nicht versagt werden darf, wenn die für eine solche Videokonferenz nach dem Recht des Anordnungsstaats geltenden Verfahrensgarantien im konkreten Fall geeignet sind, der beschuldigten Person die konkrete Ausübung ihrer Verteidigungsrechte und ihr Grundrecht auf ein faires Verfahren im Sinne von Art. 47 der Charta zu garantieren?

4.      Kann der Begriff der wesentlichen Grundsätze des Rechts des Vollstreckungsstaats, der nach Art. 24 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2014/41 einen speziellen Versagungsgrund begründen kann, auf der Grundlage einer allgemeinen nationalen Regelung, die für alle vollstreckenden Justizbehörden verbindlich ist, und ohne Würdigung der Besonderheiten des Einzelfalls und der im konkreten Fall anwendbaren, im nationalen Recht des Anordnungsstaats zur Garantie der Verteidigungsrechte der beschuldigten Person enthaltenen Vorschriften eine Grenze für die Vollstreckung eines jeden beliebigen Ersuchens zur gerichtlichen Vernehmung der beschuldigten Person per Videokonferenz darstellen, oder ist nicht die Versagung der Vollstreckung im Gegenteil und richtigerweise wie eine Einwendung zu verstehen, die unter Bezugnahme auf die vom nationalen Recht des Anordnungsstaats vorgesehenen spezifischen prozessualen Aspekte und auf die bedeutsamen besonderen Umstände des Einzelfalls eng auszulegen ist?

5.      Erlaubt Art. 22 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 der Richtlinie 2014/41 den Erlass einer EEA zur zeitweiligen Überstellung der im Ausland inhaftierten beschuldigten Person, um ihre Vernehmung in einer Hauptverhandlung zu ermöglichen, sofern diese Vernehmung nach den nationalen Vorschriften des Anordnungsstaats Beweiskraft besitzt?

28.      Die italienische, die belgische, die niederländische und die österreichische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht. Mit Ausnahme der belgischen Regierung haben diese Verfahrensbeteiligten in der Sitzung vom 2. April 2025 auch mündliche Ausführungen gemacht.

IV.    Würdigung

A.      Zur Zulässigkeit der Vorlagefragen

29.      Die belgische Regierung trägt in ihren schriftlichen Erklärungen vor, ohne jedoch ausdrücklich eine Einrede der Unzulässigkeit zu erheben, dass die zweite und die dritte Vorlagefrage hypothetischer Natur seien, da sie sich auf andere Versagungsgründe bezögen als diejenigen, auf die die Versagung der Vollstreckung der in Rede stehenden EEA gestützt worden sei. Die belgische Regierung weist insoweit darauf hin, dass aus der Vorlageentscheidung hervorgehe, dass die Versagung der Vollstreckung der vom vorlegenden Gericht erlassenen EEA damit begründet worden sei, dass die beantragte Ermittlungsmaßnahme im Widerspruch zu den wesentlichen Grundsätzen des Rechts des Vollstreckungsmitgliedstaats stehe. Die zweite und die dritte Vorlagefrage bezögen sich jedoch auf andere Versagungsgründe, die in Art. 10 bzw. Art. 11 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2014/41 vorgesehen seien.

30.      Insoweit weise ich darauf hin, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs für eine Vorlagefrage, die das Unionsrecht betrifft, eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit gilt. Der Gerichtshof kann die Entscheidung über eine solche Frage nur dann ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, das Problem hypothetischer Natur ist oder er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind(13).

31.      Im vorliegenden Fall stelle ich zum einen fest, dass aus der Begründung der Staatsanwaltschaft Brügge für die Versagung der Vollstreckung der in Rede stehenden EEA(14) hervorgeht, dass sie die Versagung insbesondere darauf gestützt hat, dass die Ermittlungsmaßnahme im belgischen Recht nicht zur Verfügung stehe, was einen allgemeinen Versagungsgrund darstellt, der eindeutig unter Art. 10 der Richtlinie 2014/41 fällt, und zum anderen, dass die Unvereinbarkeit der beantragten Ermittlungsmaßnahme mit wesentlichen Grundsätzen des belgischen Rechts untrennbar mit dem Versagungsgrund zusammenhängt, dass berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung der Ermittlungsmaßnahme mit den Grundrechten unvereinbar wäre, der unter Art. 11 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie fällt.

32.      Unter diesen Umständen halte ich sämtliche Vorabentscheidungsfragen des vorlegenden Gerichts für zulässig.

B.      Zur Beantwortung der Vorlagefragen

1.      Zur ersten Vorlagefrage

33.      Mit seiner ersten Frage möchte das Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 24 der Richtlinie 2014/41 in Verbindung mit Art. 3 und im Licht der Erwägungsgründe 25 und 26 dieser Richtlinie es einer Justizbehörde eines Mitgliedstaats erlaubt, eine EEA mit dem Zweck zu erlassen, dass die zuständigen Behörden eines anderen Mitgliedstaats die Vernehmung einer beschuldigten Person per Videokonferenz in einer sie betreffenden Verhandlung durchführen, um zum einen durch deren Vernehmung Beweise zu erlangen und zum anderen der Person die Teilnahme an der sie betreffenden Verhandlung zu ermöglichen.

34.      Vorab weise ich darauf hin, dass nach Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2014/41 eine EEA eine gerichtliche Entscheidung ist, die von einer Justizbehörde eines Mitgliedstaats zur Durchführung einer oder mehrerer spezifischer Ermittlungsmaßnahme(n) in einem anderen Mitgliedstaat zur Erlangung von Beweisen erlassen oder validiert wurde(15). Nach Art. 3 der Richtlinie erfasst die EEA außerdem grundsätzlich alle Ermittlungsmaßnahmen(16). Nach dem achten Erwägungsgrund der Richtlinie sollte die EEA nämlich insbesondere „übergreifenden Charakter haben und … daher für alle Ermittlungsmaßnahmen gelten, die der Beweiserhebung dienen“(17). Im 25. Erwägungsgrund der Richtlinie heißt es schließlich, dass die Richtlinie Vorschriften über die Durchführung von Ermittlungsmaßnahmen zur Erhebung von Beweismitteln in sämtlichen Phasen des Strafverfahrens, einschließlich der Gerichtsphase, festlegt, erforderlichenfalls mit Beteiligung der betroffenen Person. Als Beispiel wird in dem Erwägungsgrund angegeben, dass eine EEA für die zeitweilige Überstellung der Person an den Anordnungsstaat oder zur Durchführung einer Vernehmung per Videokonferenz erlassen werden kann.

35.      Meines Erachtens geht aus der Zusammenschau dieser Bestimmungen hervor, dass der Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/41 sehr weit gefasst ist, und zwar sowohl hinsichtlich der Art der Maßnahmen, deren Vollstreckung durch eine EEA beantragt werden kann, als auch hinsichtlich der Phasen des Strafverfahrens, in denen von diesem Instrument Gebrauch gemacht werden kann, einschließlich der Gerichtsphase(18). Die Richtlinie gilt jedoch nur für Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, dass der Anordnungsstaat Beweismittel erlangt(19). Hieraus folgt, dass der Zweck der Maßnahme, deren Vollstreckung beantragt wird, von entscheidender Bedeutung für die Frage ist, ob eine Anordnungsbehörde zu diesem Zweck eine EEA erlassen kann.

36.      In diesem Zusammenhang ist zum einen festzustellen, dass der Gerichtshof im Urteil Delda bereits entschieden hat, dass eine mit einer EEA beantragte Maßnahme, die nur einem anderen Zweck dient als der Erhebung von Beweismitteln, wie eine verfahrensrechtliche Pflicht, mit der die gegen die betroffene Person eingeleitete Strafverfolgung vorangebracht werden soll, nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/41 fällt. Daher hat der Gerichtshof festgestellt, dass eine Entscheidung, mit der eine Justizbehörde eines Mitgliedstaats eine Justizbehörde eines anderen Mitgliedstaats darum ersucht, einer Person einen sie betreffenden Anklagebeschluss zu übermitteln, als solche keine EEA im Sinne dieser Richtlinie darstellt(20). Eine Ermittlungsmaßnahme kann nämlich nur dann in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen, wenn sie im Sinne dieser Richtlinie auf die Erlangung von Beweismitteln abzielt. Daher kann eine Entscheidung, mit der eine Justizbehörde eines Mitgliedstaats eine Justizbehörde eines anderen Mitgliedstaats darum ersucht, einer Person zu ermöglichen, zu dem ihr im Anklagebeschluss zur Last gelegten Sachverhalt Stellung zu nehmen, eine EEA im Sinne der Richtlinie 2014/41 darstellen, sofern mit diesem Vernehmungsersuchen die Erhebung von Beweisen bezweckt wird(21).

37.      Zum anderen ergibt sich aus diesem Urteil, dass dann, wenn eine EEA mehrere Durchführungsmaßnahmen enthält, darunter auch eine Maßnahme, die für sich allein genommen nicht der Erlangung von Beweismitteln dient, aber aus Sicht des Strafverfahrens des Anordnungsstaats für eine andere, in derselben EEA genannte Maßnahme akzessorisch oder unerlässlich ist, die ihrerseits der Beweiserhebung dient, diese Maßnahmen in diesem Fall als eine untrennbare Einheit anzusehen sind, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/41 fällt. Wenn z. B. in dem in der vorigen Nummer betrachteten Fall festgestellt wurde, dass das Vernehmungsersuchen die Beweiserhebung zum Gegenstand hat, und die Anordnungsbehörden in der EEA angegeben haben, dass nach ihrem nationalen Recht eine Vernehmung erst nach der Übermittlung des Anklagebeschlusses – eine Maßnahme, die als solche nicht der Erhebung von Beweismitteln dient – erfolgen kann, wäre anzunehmen, dass ungeachtet der Ausführungen in der vorstehenden Nummer der vorliegenden Schlussanträge eine solche Übermittlung mit einer EEA beantragt werden kann. Nach Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2014/41 muss nämlich die Vollstreckungsbehörde grundsätzlich die von der Anordnungsbehörde ausdrücklich angegebenen Formvorschriften und Verfahren einhalten(22).

38.      Im Licht dieser Vorbemerkungen ist Art. 24 der Richtlinie 2014/41 auszulegen, um festzustellen, ob eine EEA zur Vernehmung einer beschuldigten Person per Videokonferenz nicht nur zu dem Zweck erlassen werden kann, durch ihre Vernehmung in dem Verfahren Beweise zu erlangen, sondern auch mit dem Ziel, ihre Verfahrensbeteiligung zu gewährleisten.

39.      In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass Art. 24 der Richtlinie 2014/41 „besondere Bestimmungen“ für die „Vernehmung per Videokonferenz oder sonstiger audiovisueller Übertragung“ vorsieht. Nach Absatz 1 Unterabsatz 2 dieser Bestimmung kann die Anordnungsbehörde, wenn sich eine verdächtige oder beschuldigte Person im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaats befindet, „eine EEA auch zum Zweck der Vernehmung [dieser] verdächtigen oder beschuldigten Person per Videokonferenz oder sonstiger audiovisueller Übertragung erlassen“.

40.      Dem Wortlaut dieser Bestimmung und insbesondere der Formulierung „zum Zweck der Vernehmung einer verdächtigen oder beschuldigten Person“ lässt sich entnehmen, dass eine solche Ermittlungsmaßnahme mit dem alleinigen Ziel erlassen werden könnte, die Verfahrensbeteiligung dieser Person zu gewährleisten. Eine solche Auslegung ginge jedoch weit über den Anwendungsbereich von Art. 24 hinaus, und zwar sowohl im Hinblick auf den Kontext, in dem diese Bestimmung steht, als auch im Hinblick auf das mit ihr verfolgte Ziel.

41.      Was nämlich zum einen den Kontext anbelangt, geht aus dem 24. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/41 hervor, dass es für diese Ermittlungsmaßnahme zwar wie für die anderen in Kapitel IV der Richtlinie genannten Maßnahmen „zusätzlicher Vorschriften [bedarf], die in der EEA angegeben werden sollten“, sie aber dennoch Teil der einheitlichen Regelung für die Erlangung von Beweismitteln ist. Die Formulierung „zum Zweck der Vernehmung einer verdächtigen oder beschuldigten Person“ kann daher nicht dahin verstanden werden, dass sie darauf gerichtet ist, dass die Verteidigungsrechte der beschuldigten Person allgemein gewahrt werden, indem das Recht auf Teilnahme an den Gerichtsverfahren und Vernehmungen, bei denen eine beschuldigte Person gehört werden soll, sichergestellt wird. Wie jede andere Art von spezifischer Ermittlungsmaßnahme auch, die Gegenstand einer EEA sein kann, muss nämlich die Vernehmung per Videokonferenz, damit sie in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/41 fällt, gemäß deren Art. 1 Abs. 1 „zur Erlangung von Beweisen“ erlassen werden. Wie in Nr. 36 der vorliegenden Schlussanträge dargelegt, wurde diese Auslegung vom Gerichtshof bestätigt(23).

42.      Was zum anderen das mit der Richtlinie 2014/41 verfolgte Ziel anbelangt, weise ich darauf hin, dass diese Richtlinie den früheren fragmentierten und komplizierten Rahmen für die Erhebung von Beweismitteln in Verfahren mit grenzüberschreitenden Bezügen durch die Einführung eines vereinfachten und wirksameren Systems, das auf einem einheitlichen Instrument – nämlich der EEA – beruht, ersetzt hat. Dieses System soll die justizielle Zusammenarbeit erleichtern und beschleunigen, um zur Verwirklichung des der Union gesteckten Ziels beizutragen, zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu werden, und setzt ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten voraus(24). Eine Auslegung, nach der Art. 24 der Richtlinie mit dem alleinigen Ziel herangezogen werden könnte, die Rechte einer beschuldigten Person in einer sie betreffenden Verhandlung zu gewährleisten, stünde daher in keinem Zusammenhang mit der Erhebung von Beweismitteln und ginge über den Anwendungsbereich der Richtlinie hinaus. Dies wird implizit durch den 25. Erwägungsgrund der Richtlinie bestätigt, in dem es heißt: „Dient die Überstellung dieser Person an einen anderen Mitgliedstaat jedoch Verfolgungszwecken, einschließlich der Verbringung der Person vor ein Gericht, um sich dort zu verantworten, so sollte ein [EuHb] gemäß dem [Rahmenbeschluss 2002/584] erlassen werden“. Würde außerdem der Anwendungsbereich der Richtlinie zu großzügig ausgelegt, bestünde die Gefahr, dass die EEA für andere Zwecke als die Erhebung von Beweismitteln verwendet wird.

43.      Praktisch bedeutet dies, dass Art. 24 der Richtlinie 2014/41 nicht dahin ausgelegt werden kann, dass er der beschuldigten Person das Recht auf Teilnahme an den verschiedenen Phasen des Strafverfahrens einschließlich der Gerichtsphase sicherstellen soll, an denen sie nicht zur Erhebung von Beweisen teilnimmt, wie z. B. die Begründung der Beschuldigteneigenschaft oder die Prüfung von Verfahrensanträgen. Daher kann eine EEA, die „ausschließlich oder hauptsächlich“ dazu erlassen wurde, der beschuldigten Person die Verfahrensbeteiligung zu ermöglichen, nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen, so dass der Vollstreckungsstaat nicht verpflichtet ist, sie zu vollstrecken, selbst wenn keiner der in der Richtlinie ausdrücklich vorgesehenen Versagungsgründe gegeben ist.

44.      Ebenso fällt auch in der Situation, dass eine EEA sowohl zur Erhebung von Beweismitteln als auch im Hinblick auf die Teilnahme an einer der verschiedenen Phasen des Strafverfahrens erlassen wurde, nur der Teil der Anordnung in den Anwendungsbereich der Richtlinie, der auf die Vernehmung der beschuldigten Person zum Zweck der Ermittlung oder der Erhebung von Beweismitteln gerichtet ist. Diese Feststellung gilt auch dann, wenn die Behörde des Anordnungsstaats ausdrücklich angibt, dass der Antrag ergänzend zum Ziel hat, der beschuldigten Person die Teilnahme an einer Phase des Strafverfahrens zu ermöglichen.

45.      Hingegen kann, wie in Nr. 37 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt, da der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass eine EEA Maßnahmen umfassen kann, die keine Ermittlungsmaßnahmen sind, deren Durchführung aber für die wirksame Umsetzung der beantragten Ermittlungsmaßnahme notwendig ist, eine Maßnahme, die als solche nicht auf die Erlangung von Beweismitteln gerichtet ist, wie im vorliegenden Fall die Verfahrensbeteiligung, dennoch in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/41 fallen, wenn sie aus Sicht des Strafprozessrechts des Anordnungsstaats eine Etappe ist, die für die Durchführung einer anderen Ermittlungsmaßnahme, die der Erhebung von Beweisen dient, schlicht unverzichtbar ist. In einem solchen Fall sind diese Maßnahmen nämlich als eine untrennbare Einheit anzusehen, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie fällt, und der Vollstreckungsmitgliedstaat ist verpflichtet, die EEA zu vollstrecken, es sei denn, es liegen ein oder mehrere berechtigte Versagungsgründe gemäß Art. 24 und Art. 11 der Richtlinie vor.

46.      Genauso reicht es aus, wenn eine einzelne Maßnahme nach dem nationalen Recht des Anordnungsstaats zwei verschiedene Ziele verfolgt, dass eines dieser Ziele in der Erlangung von Beweismitteln besteht, damit die Maßnahme Gegenstand einer EEA sein kann. Insofern scheint im vorliegenden Fall das Ziel, die Teilnahme der beschuldigten Person am Verfahren in erster Linie zum Zweck der Erhebung von Beweisen sicherzustellen, nicht nur akzessorisch, sondern vielmehr der Grund für den Erlass der in Rede stehenden EEA zu sein. In jedem Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, den mit der EEA hauptsächlich verfolgten Zweck zu bestimmen und zu prüfen(25).

47.      Nach alledem schlage ich vor, auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 24 der Richtlinie 2014/41 in Verbindung mit Art. 3 und im Licht der Erwägungsgründe 25 und 26 dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er den Erlass einer EEA zur Vernehmung einer im Vollstreckungsstaat inhaftierten beschuldigten Person per Videokonferenz in der Hauptverhandlung erlaubt, wenn die EEA auf die Erhebung von Beweismitteln gerichtet ist, wobei der Umstand, dass die Anordnungsbehörde mit dieser Anordnung der beschuldigten Person auch die Teilnahme an der Verhandlung per Videokonferenz ermöglichen möchte, für sich genommen dem Erlass der EEA nicht entgegensteht.

2.      Zur zweiten Vorlagefrage

48.      Mit seiner zweiten Frage, die für den Fall gestellt wird, dass die erste Frage bejaht wird, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 10 der Richtlinie 2014/41 in Verbindung mit Art. 24 dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass eine vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung einer EEA, die auf die Vernehmung einer Person per Videokonferenz in ihrer Eigenschaft als beschuldigte Person in einer sie betreffenden Verhandlung gerichtet ist, mit der Begründung versagen kann, dass eine solche Maßnahme in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall nicht zulässig wäre.

49.      In diesem Zusammenhang stelle ich zunächst fest, dass Art. 10 der Richtlinie 2014/41, wie aus seiner Überschrift hervorgeht, den Rückgriff einer Vollstreckungsbehörde auf eine „Ermittlungsmaßnahme anderer Art“ regelt und nicht die Gründe für die Versagung der Vollstreckung, die ihrerseits in Art. 11 der Richtlinie abschließend aufgeführt sind. Diese Bestimmung bezweckt daher nicht, den Vollstreckungsstaat zu ermächtigen, die Vollstreckung einer EEA zu versagen.

50.      Als Erstes merke ich an, dass Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 vorsieht, dass die Vollstreckungsbehörde, wann immer möglich, auf eine nicht in der EEA vorgesehene Ermittlungsmaßnahme zurückgreifen muss, wenn die angegebene Ermittlungsmaßnahme nach dem Recht des Vollstreckungsstaats nicht besteht oder diese Maßnahme in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall nicht zur Verfügung stehen würde(26). Art. 10 Abs. 2 dieser Richtlinie stellt jedoch klar, dass diese Möglichkeit nicht für die in diesem Absatz genannten Ermittlungsmaßnahmen gilt, die nach dem Recht des Vollstreckungsstaats stets zur Verfügung stehen müssen. Zu diesen Maßnahmen gehört nach Art. 10 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2014/41 „die Vernehmung eines Zeugen, eines Sachverständigen, eines Opfers, einer verdächtigen oder beschuldigten Person oder einer dritten Partei im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaats“. Im vorliegenden Fall könnten sich die belgischen Justizbehörden daher grundsätzlich nicht auf Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie berufen, um eine andere als die in der EEA vorgesehene Maßnahme anzuwenden, selbst wenn die Vernehmung einer beschuldigten Person per Videokonferenz in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall nicht zur Verfügung stünde, da Art. 10 Abs. 2 Buchst. c die Anwendung von Art. 10 Abs. 1 u. a. auf die Vernehmung beschuldigter Personen ausschließt(27).

51.      Als Zweites stelle ich fest, dass die Vollstreckungsbehörde gemäß Art. 10 Abs. 5 der Richtlinie 2014/41, wenn die Voraussetzungen von Art. 10 Abs. 1 erfüllt sind und es keine andere Ermittlungsmaßnahme gibt, die zu dem gleichen Ergebnis führen würde wie die erbetene Ermittlungsmaßnahme, der Anordnungsbehörde mitteilen muss, dass es nicht möglich war, die erbetene Unterstützung zu leisten. Meines Erachtens ergibt sich aus dieser Bestimmung, dass Art. 10 Abs. 5 der Richtlinie der Vollstreckungsbehörde die Möglichkeit gibt, die beantragte Unterstützung nicht zu leisten, wenn es keine andere Ermittlungsmaßnahme gibt, mit der dasselbe Ergebnis erzielt werden kann wie mit der beantragten Ermittlungsmaßnahme, was von den Auswirkungen her wie eine Versagung der Vollstreckung durch die Vollstreckungsbehörde behandelt werden könnte.

52.      Ich bin jedoch nicht davon überzeugt, dass sich die Vollstreckungsbehörde im vorliegenden Fall auf diese Bestimmung hätte berufen können. Zum einen ist nämlich festzustellen, dass eine alternative Maßnahme zu einer Vernehmung per Videokonferenz ohne Weiteres denkbar ist, wie etwa die zeitweilige Überstellung der beschuldigten Person im Sinne von Art. 22 der Richtlinie 2014/41, um sie in einer Verhandlung im Anordnungsstaat zu vernehmen oder zu befragen. Mit dieser Maßnahme hätte sicher dasselbe Ergebnis erzielt werden können wie mit der in der EEA angegebenen Ermittlungsmaßnahme. Zum anderen weise ich darauf hin, dass gemäß Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie zusätzlich zu den Gründen für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung nach Art. 11 der Richtlinie die Vollstreckung einer EEA, die auf eine Vernehmung per Videokonferenz gerichtet ist, versagt werden kann, wenn die verdächtige oder beschuldigte Person nicht zustimmt oder die Durchführung dieser Ermittlungsmaßnahme in einem spezifischen Fall im Widerspruch zu den wesentlichen Grundsätzen des Rechts des Vollstreckungsmitgliedstaats stünde. Meines Erachtens sollen in dieser Bestimmung ihrem Wortlaut nach alle Gründe für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung genannt werden, die bei der Vollstreckung einer EEA zur Durchführung einer Vernehmung einer Person per Videokonferenz geltend gemacht werden können.

53.      Als Drittes und Letztes weise ich der Vollständigkeit darauf hin, dass nach Art. 10 Abs. 3 der Richtlinie 2014/41 die Vollstreckungsbehörde „auch“ auf eine andere als die in der EEA angegebene Ermittlungsmaßnahme zurückgreifen kann, wenn die von der Vollstreckungsbehörde gewählte Ermittlungsmaßnahme mit weniger einschneidenden Mitteln, insbesondere mit weniger stark in die Grundrechte eingreifenden Mitteln(28), das gleiche Ergebnis wie die in der EEA angegebene Ermittlungsmaßnahme erreichen würde. Auch wenn die belgischen Justizbehörden im vorliegenden Fall die Möglichkeit eines Rückgriffs auf andere Ermittlungsmaßnahmen nicht in Betracht gezogen zu haben scheinen, kann eine solche Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, insbesondere insoweit, als eine Überstellung im Sinne von Art. 22 der Richtlinie 2014/41, wie bereits ausgeführt, zum selben Ergebnis geführt hätte und nach der Logik des nationalen Rechts, die sich jedoch nicht von selbst erschließt, einen geringeren Eingriff in die Grundrechte der beschuldigten Person bedeutet hätte.

54.      Nach alledem schlage ich vor, auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 10 der Richtlinie 2014/41 in Verbindung mit Art. 24 dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass eine vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung einer EEA, die auf die Durchführung einer Vernehmung einer Person per Videokonferenz in ihrer Eigenschaft als beschuldigte Person in einer sie betreffenden Verhandlung gerichtet ist, nicht mit der Begründung versagen darf, dass eine solche Maßnahme in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall nicht zulässig wäre.

3.      Zur dritten Vorlagefrage

55.      Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 11 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2014/41 im Licht der Art. 47 und 48 der Charta dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass eine Vollstreckungsbehörde die Vollstreckung einer EEA versagt, die auf die Durchführung einer Vernehmung einer Person per Videokonferenz in ihrer Eigenschaft als beschuldigte Person in einer sie betreffenden Verhandlung gerichtet ist, wenn die für diese Videokonferenz geltenden Verfahrensgarantien, die im Recht des Anordnungsmitgliedstaats vorgesehen sind, die Wahrung der Verteidigungsrechte im Sinne von Art. 48 der Charta und des Grundrechts auf ein faires Verfahren im Sinne von Art. 47 der Charta gewährleisten.

56.      Zur Erinnerung: Art. 11 der Richtlinie 2014/41, der die Gründe für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung einer EEA betrifft, legt die Fälle fest, in denen die Vollstreckung einer EEA versagt werden kann. Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung geht im Grundsatz hervor, dass diese Gründe abschließend sind(29). Dabei erlaubt Art. 11 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie dem Vollstreckungsstaat, die Vollstreckung einer EEA zu versagen, wenn „berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung einer in der EEA angegebenen Ermittlungsmaßnahme mit den Verpflichtungen des Vollstreckungsstaats nach Artikel 6 EUV und der Charta unvereinbar wäre“(30).

57.      Hieraus folgt, dass zwar die Anordnungsbehörde beim Erlass einer EEA in besonderem Maße darauf achten muss, dass die in Art. 48 der Charta verankerten Rechte und insbesondere die Unschuldsvermutung sowie die Verteidigungsrechte uneingeschränkt gewahrt werden(31), es aber dennoch Sache der Vollstreckungsbehörde ist, auf der Grundlage sachlicher und damit objektiver und spezifischer Kriterien zu beurteilen, ob die in Rede stehende EEA gegen Art. 6 EUV oder gegen die Art. 47 und 48 der Charta verstößt(32).

58.      In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, dass die EEA ein Instrument der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen im Sinne von Art. 82 Abs. 1 AEUV ist, die auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen beruht. Dieser Grundsatz, der den „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen bildet, beruht seinerseits auf dem gegenseitigen Vertrauen sowie auf der widerlegbaren Vermutung, dass andere Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die Grundrechte einhalten(33). Gemäß dem 19. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/41 beruht nämlich die Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts innerhalb der Union auf dem gegenseitigen Vertrauen sowie auf der Vermutung, dass andere Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die Grundrechte einhalten. Diese Vermutung ist jedoch widerlegbar. Daher sollte, wenn berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung einer in der EEA angegebenen Ermittlungsmaßnahme einen Verstoß gegen ein Grundrecht der betreffenden Person zur Folge hätte und der Vollstreckungsstaat seine Verpflichtungen zum Schutz der in der Charta anerkannten Grundrechte nicht achten würde, die Vollstreckung verweigert werden.

59.      Hieraus folgt, dass die Schwelle, die erreicht werden muss, damit eine angebliche Verletzung von Grundrechten im Anordnungsmitgliedstaat die Versagung der Vollstreckung im Vollstreckungsmitgliedstaat rechtfertigt, sehr hoch ist(34). Insoweit halte ich es für sinnvoll, auf die Rechtsprechung zu verweisen, die der Gerichtshof im Zusammenhang mit der Auslegung von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Hinblick auf die Versagung der Vollstreckung eines EuHb wegen einer Verletzung von Grundrechten entwickelt hat(35). Der Prüfungsrahmen, den der Gerichtshof in Bezug auf den EuHb aufgestellt hat, könnte nämlich, auch wenn er nicht unmittelbar anwendbar ist, im Wege der Analogie auch auf die Versagung der Vollstreckung einer EEA, die mit einer Verletzung von Grundrechten begründet wird, angewandt werden, da die EEA ebenfalls auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruht(36).

60.      Nach der vom Gerichtshof entwickelten „zweistufigen“ Prüfung müsste die vollstreckende Justizbehörde daher im Rahmen eines ersten Schritts ermitteln, ob es objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben gibt, die nahelegen, dass im Anordnungsmitgliedstaat „aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel in diesem Mitgliedstaat oder aufgrund von Mängeln, die eine objektiv identifizierbare Personengruppe betreffen und der die betreffende Person angehört“, eine echte Gefahr der Verletzung des von Art. 47 Abs. 2 der Charta gewährleisteten Grundrechts auf ein faires Verfahren gegeben ist. In einem zweiten Schritt müsste die vollstreckende Justizbehörde konkret und genau untersuchen, inwieweit sich die im ersten Schritt der Prüfung festgestellten Mängel auf der Ebene der Verfahren gegen die Person, gegen die sich die EEA richtet, auswirken können und ob es in Anbetracht der persönlichen Situation dieser Person, der Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat und des dem Erlass der EEA zugrunde liegenden Sachverhalts ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass diese Person einer echten Gefahr der Verletzung ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren ausgesetzt sein wird(37).

61.      Im vorliegenden Fall lässt sich der Vorlageentscheidung nicht entnehmen, dass die Weigerung der belgischen Justizbehörden, die von dem vorlegenden Gericht erlassene EEA zu vollstrecken, auf „berechtigte Gründe für die Annahme“ der Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 47 der Charta zurückzuführen war. Das vorlegende Gericht bringt nämlich keine Anhaltspunkte für das Bestehen einer solchen Gefahr vor, insbesondere nicht im Hinblick auf die im Recht des Anordnungsstaats anerkannten Garantien(38). Außerdem hat die Staatsanwaltschaft Brügge lediglich erklärt, dass das Erscheinen einer beschuldigten Person in einer sie betreffenden Verhandlung per Videokonferenz gegen das Recht auf ein faires Verfahren verstoße, allerdings im Sinne des nationalen Rechts. Bei der Prüfung der Vereinbarkeit der Vollstreckung einer EEA mit dem Unionsrecht kann der Vollstreckungsstaat meines Erachtens jedoch nicht die Einhaltung seines nationalen Rechts verlangen und die Vollstreckung der EEA verweigern, da dies im Widerspruch zum Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens stünde(39).

62.      Jedenfalls halte ich die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 47 der Charta durch das Erscheinen einer beschuldigten Person in einer sie betreffenden Verhandlung per Videokonferenz für schwer denkbar, und zwar aus folgenden Gründen.

63.      Zunächst ist festzustellen, dass Art. 24 der Richtlinie 2014/41 die Vernehmung einer verdächtigen oder beschuldigten Person, die sich im Vollstreckungsstaat befindet, per Videokonferenz nur unter bestimmten Voraussetzungen und unter Einhaltung bestimmter Regeln für die Vernehmung erlaubt, wobei das Ziel gerade darin besteht, das Recht jeder Person auf Anhörung zu schützen, wenn es sich z. B. um eine verdächtige oder beschuldigte Person handelt. Die in Art. 24 festgelegten Voraussetzungen und Bedingungen, insbesondere die in Art. 24 Abs. 2 Buchst. a vorgeschriebene Verpflichtung, die Zustimmung der zu vernehmenden Person einzuholen, sollen sicherstellen, dass die Vollstreckung der EEA mit dem Schutz der in der Charta verankerten Grundrechte vereinbar ist. Wird eine beschuldigte Person in dem Verfahren von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt vertreten, kann nämlich davon ausgegangen werden, dass sie ihre Zustimmung verweigern wird, wenn sie befürchtet, dass ihre Rechte nicht gewahrt werden.

64.      Sodann ist nach ständiger Rechtsprechung des EGMR, auch wenn der EGMR einräumt, dass die Teilnahme einer beschuldigten Person an einer Anhörung per Videokonferenz nicht mit ihrer physischen Anwesenheit in der Verhandlung gleichzusetzen sei, eine solche Form der Teilnahme an sich mit dem Recht auf eine öffentliche Verhandlung vor einem unparteiischen Gericht nicht unvereinbar(40), sofern die Person in die Lage versetzt werde, dem Verfahren zu folgen, die anwesenden Personen zu sehen und das Gesagte zu hören, aber auch von den anderen Verfahrensbeteiligten, dem Richter und den Zeugen ohne technische Hindernisse gesehen und gehört zu werden(41), und eine effektive und vertrauliche Kommunikation mit ihrem Rechtsbeistand gewährleistet sei(42).

65.      Schließlich erlaubt Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 ein Abwesenheitsverfahren, sofern die betroffene Person über das Verfahren unterrichtet wurde und von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt vertreten wird. Im vorliegenden Fall scheinen diese Voraussetzungen in dem Verfahren des Anordnungsstaats erfüllt gewesen zu sein. Wenn das Abwesenheitsverfahren in Bezug auf die beschuldigte Person mit dem Unionsrecht vereinbar ist, lässt sich nur schwerlich folgern, dass die Vernehmung dieser Person per Videokonferenz gegen ihre Verteidigungsrechte oder den Grundsatz eines fairen Verfahrens verstößt.

66.      Nach alledem schlage ich vor, auf die dritte Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 11 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2014/41 im Licht der Art. 47 und 48 der Charta dahin auszulegen ist, dass die Vollstreckung einer EEA zur Vernehmung einer im Vollstreckungsstaat inhaftierten beschuldigten Person per Videokonferenz von der Vollstreckungsbehörde nicht versagt werden kann, es sei denn, es bestehen auf der Grundlage konkreter und genauer Angaben berechtigte Gründe für die Annahme, dass diese Vernehmung die Grundrechte der beschuldigten Person und insbesondere ihr Recht auf ein faires Verfahren sowie ihre Verteidigungsrechte im Sinne von Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 Abs. 2 der Charta verletzen würde.

4.      Zur vierten Vorlagefrage

67.      Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 24 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2014/41 dahin auszulegen ist, dass die Anwendung des in dieser Bestimmung vorgesehenen Versagungsgrundes, nämlich die Unvereinbarkeit mit wesentlichen Grundsätzen des Rechts des Vollstreckungsstaats, auf eine allgemeine Regelung gestützt werden kann, die im Vollstreckungsmitgliedstaat erlassen wurde und für alle Vollstreckungsbehörden verbindlich ist, oder ob dies eine konkrete Prüfung erfordert, bei der alle relevanten Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden, einschließlich der im nationalen Recht des Anordnungsstaats zur Garantie der Verteidigungsrechte der beschuldigten Person enthaltenen Vorschriften.

68.      Hierzu weise ich darauf hin, dass Art. 24 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2014/41 vorsieht, dass zusätzlich zu den Gründen für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung nach Art. 11 der Richtlinie die Vollstreckung einer EEA, die auf die Vernehmung einer Person per Videokonferenz gerichtet ist, versagt werden kann, wenn deren Durchführung in einem spezifischen Fall im Widerspruch zu den wesentlichen Grundsätzen des Rechts des Vollstreckungsmitgliedstaats stünde.

69.      Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung und insbesondere aus der Formulierung „in einem spezifischen Fall“ ergibt sich ziemlich eindeutig, dass die Anwendung des in dieser Bestimmung vorgesehenen Versagungsgrundes erfordert, dass die Vollstreckungsbehörde eine Prüfung durchführt, bei der alle relevanten Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden. Dieser Versagungsgrund muss daher auf einer besonderen Beurteilung der betreffenden Situation beruhen, bei der alle Umstände beachtet werden, einschließlich der im nationalen Recht des Anordnungsstaats enthaltenen Vorschriften, die die Verteidigungsrechte der beschuldigten Person garantieren. Eine solche Auslegung wird meines Erachtens durch das Erfordernis einer engen Auslegung der in der Richtlinie 2014/41 vorgesehenen Gründe für die Versagung der Vollstreckung gestützt(43).

70.      Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass sich die belgischen Justizbehörden bei der Versagung der Vollstreckung der in Rede stehenden EEA sowohl auf die Rechtsprechung des belgischen Verfassungsgerichtshofs als auch auf die vom Kollegium der Generalprokuratoren (Belgien) herausgegebenen Leitlinien gestützt haben(44). Diese allgemeinen Erwägungen dürften jedoch nicht ausreichen, um den in Art. 24 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2014/41 genannten Versagungsgrund geltend zu machen, der eine besondere Beurteilung durch die Behörden des Vollstreckungsstaats voraussetzt, um festzustellen, ob im vorliegenden Fall die Teilnahme an der Verhandlung per Videokonferenz gegen allgemeine Grundsätze des belgischen Rechts verstoßen könnte, zumal das Urteil des belgischen Verfassungsgerichtshofs selbst ausdrücklich auf die Rechtsprechung des EGMR verweist, nach der die Teilnahme an einer Verhandlung per Videokonferenz nicht zwangsläufig zu einer Verletzung der Verteidigungsrechte führt, sofern eine Reihe von Bedingungen und Garantien beachtet werden(45).

71.      Das Erfordernis der Durchführung einer Prüfung, bei der alle relevanten Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden, schließt meines Erachtens jedoch an sich nicht aus, dass die Mitgliedstaaten allgemeine Regelungen erlassen, um die Anwendung der wesentlichen Grundsätze ihres nationalen Rechts zu erleichtern. Für den Fall, dass die wesentlichen Grundsätze des Rechts eines Mitgliedstaats der Vernehmung einer beschuldigten Person per Videokonferenz in einer sie betreffenden Verhandlung entgegenstehen, steht das Vorhandensein einer allgemeinen Regelung, die in dem Mitgliedstaat erlassen wurde, um den Inhalt dieser wesentlichen Grundsätze und die Konsequenzen festzulegen, die sich hieraus für die nationalen Behörden des Mitgliedstaats bei der Vollstreckung einer EEA ergeben, meines Erachtens nicht im Widerspruch zu Art. 24 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2014/41, sofern die Behörden diese allgemeine Regelung unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Einzelfalls anwenden, ohne dass die allgemeine Regelung rechtlich bindend oder absolut wäre. In diesem Zusammenhang könnte die vorzunehmende Einzelfallprüfung darin bestehen, dass geprüft wird, ob der betreffende Fall der von der allgemeinen Regelung erfassten Situation entspricht.

72.      Nach alledem schlage ich vor, auf die vierte Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 24 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2014/41 dahin auszulegen ist, dass die Anwendung des in dieser Bestimmung vorgesehenen Versagungsgrundes, nämlich die Unvereinbarkeit mit wesentlichen Grundsätzen des Rechts des Vollstreckungsstaats, auf eine im Vollstreckungsmitgliedstaat erlassene allgemeine Regelung, die weder bindend noch absolut ist, gestützt werden kann, sofern die Vollstreckungsbehörde eine Prüfung durchführt, bei der alle relevanten Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden, einschließlich der im nationalen Recht des Anordnungsstaats zur Garantie der Verteidigungsrechte der beschuldigten Person enthaltenen Vorschriften.

5.      Zur fünften Vorlagefrage

73.      Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 in Verbindung mit Art. 3 dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er es einer Justizbehörde eines Mitgliedstaats erlaubt, eine EEA zu erlassen, die auf die zeitweilige Überstellung einer im Vollstreckungsmitgliedstaat inhaftierten Person an den Anordnungsmitgliedstaat gerichtet ist, um sie in ihrer Eigenschaft als beschuldigte Person in der Hauptverhandlung eines sie betreffenden Verfahrens zu vernehmen, um zum einen Beweise zu erlangen und zum anderen der Person die Teilnahme an der sie betreffenden Verhandlung zu ermöglichen.

74.      Hierzu weise ich darauf hin, dass gemäß Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 eine EEA für die zeitweilige Überstellung einer im Vollstreckungsstaat inhaftierten Person zum Zweck der Durchführung einer Ermittlungsmaßnahme zur Erhebung von Beweismitteln erlassen werden kann, bei der die Anwesenheit dieser Person im Hoheitsgebiet des Anordnungsstaats erforderlich ist, sofern die Person innerhalb der vom Vollstreckungsstaat gesetzten Frist zurücküberstellt wird. Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung geht daher hervor, dass eine solche EEA erlassen werden kann, wenn, wie im vorliegenden Fall, eine Person zum Zweck der Beweiserhebung in der Hauptverhandlung vernommen oder gehört werden soll und mit dieser Vernehmung auch der Grundsatz eines fairen Verfahrens und die Verteidigungsrechte der betreffenden Person gewahrt werden sollen.

75.      Da die fünfte Vorlagefrage im Wesentlichen wie die erste Frage darauf abzielt, festzustellen, ob der Umstand, dass die Maßnahme, die die Anordnungsbehörde vom Vollstreckungsmitgliedstaat vollstrecken lassen will, verschiedene Ziele verfolgt, der Möglichkeit entgegensteht, zu diesem Zweck eine EEA zu erlassen, verweise ich auf meine Erwägungen hierzu in den Nrn. 34 bis 47 der vorliegenden Schlussanträge.

76.      Im vorliegenden Fall ist es, da eine zeitweilige Überstellung nicht mittels eines EuHb angeordnet werden kann, Sache der Anordnungsbehörde, zu entscheiden, welche Ermittlungsmaßnahme am besten geeignet ist, um den mit der in Rede stehenden EEA verfolgten Zweck der Beweiserhebung zu erreichen. Praktisch könnte die Anordnungsbehörde daher entweder ihre erste EEA wiederholen, um die betreffende Person per Videokonferenz gemäß Art. 24 der Richtlinie 2014/41 zu vernehmen, oder eine neue EEA erlassen, mit der sie, wie in dem Rechtsgutachten von Eurojust vorgeschlagen, die zeitweilige Überstellung von HG gemäß Art. 22 der Richtlinie beantragt, sofern die für dessen Anwendung notwendigen Voraussetzungen ebenfalls erfüllt sind. Insoweit ist jedoch festzustellen, dass eine Vernehmung per Videokonferenz, sofern alle im italienischen Recht vorgesehenen Verfahrensgarantien eingehalten werden, eine ebenso wirksame, verhältnismäßige und kostengünstigere Maßnahme sein könnte als eine zeitweilige Überstellung(46).

77.      Der Vollständigkeit halber halte ich es für sinnvoll, darauf hinzuweisen, dass nach Art. 22 Abs. 2 der Richtlinie 2014/41 zusätzlich zu den Gründen für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung nach Art. 11 der Richtlinie die Vollstreckung der EEA auch versagt werden kann, wenn zum einen die inhaftierte Person der zeitweiligen Überstellung nicht zustimmt oder zum anderen die zeitweilige Überstellung die Haft der Person verlängern könnte. Anzumerken ist jedoch, dass Art. 22 der Richtlinie keinen Versagungsgrund vorsieht, der mit dem in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie genannten Versagungsgrund vergleichbar ist, der auf der Einhaltung der „wesentlichen Grundsätze des Rechts des Vollstreckungsstaats“ beruht.

78.      Im vorliegenden Fall geht aus den Angaben des vorlegenden Gerichts hervor, dass die belgischen Justizbehörden den Vorschlag einer zeitweiligen Überstellung im Rechtsgutachten von Eurojust allein mit der Begründung abgelehnt haben, dass die Vernehmung der beschuldigten Person im Prozess keine Ermittlungsmaßnahme sei(47). Wie jedoch aus der vorstehenden Nummer hervorgeht, kann dieser Umstand kein Grund für die Versagung der Vollstreckung sein. Außerdem weise ich darauf hin, dass diese Behörden die zeitweilige Überstellung nur dann auf der Grundlage von Erwägungen im Zusammenhang mit der Achtung der Grundrechte hätten ablehnen können, wenn sie sich nach einer Prüfung aller Tatsachen und Umstände des Falles auf Art. 11 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2014/41 berufen und dabei berechtigte Gründe für die Annahme angeführt hätten, dass die Vollstreckung der Anordnung zur zeitweiligen Überstellung der inhaftierten Person mit der Erfüllung der Verpflichtungen nach Art. 6 EUV und der Charta unvereinbar wäre. Eine solche Unvereinbarkeit ist jedoch alles andere als offensichtlich, insbesondere da die Überstellung in dieser Richtlinie ausdrücklich vorgesehen ist.

79.      Nach alledem schlage ich vor, auf die fünfte Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 in Verbindung mit Art. 3 dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er den Erlass einer EEA erlaubt, die auf die zeitweilige Überstellung einer im Vollstreckungsmitgliedstaat inhaftierten Person an den Anordnungsmitgliedstaat gerichtet ist, um sie in ihrer Eigenschaft als beschuldigte Person in der Hauptverhandlung eines sie betreffenden Verfahrens zu vernehmen, wenn die EEA auf die Erhebung von Beweismitteln gerichtet ist, wobei der Umstand, dass die Anordnungsbehörde mit der EEA der beschuldigten Person auch die Teilnahme an der sie betreffenden Verhandlung ermöglichen möchte, für sich genommen dem Erlass der EEA nicht entgegensteht.

V.      Ergebnis

80.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen des Tribunale ordinario di Firenze (Gericht Florenz, Italien) wie folgt zu antworten:

1.      Art. 24 der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen ist in Verbindung mit Art. 3 und im Licht der Erwägungsgründe 25 und 26 dieser Richtlinie

dahin auszulegen, dass

er den Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung zur Vernehmung einer im Vollstreckungsstaat inhaftierten beschuldigten Person per Videokonferenz in der Hauptverhandlung erlaubt, wenn die Anordnung auf die Erhebung von Beweismitteln gerichtet ist, wobei der Umstand, dass die Anordnungsbehörde mit dieser Anordnung der beschuldigten Person auch die Teilnahme an der Verhandlung per Videokonferenz ermöglichen möchte, für sich genommen dem Erlass der Anordnung nicht entgegensteht.

2.      Art. 10 der Richtlinie 2014/41 ist in Verbindung mit Art. 24 dieser Richtlinie

dahin auszulegen, dass

eine vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung einer Europäischen Ermittlungsanordnung, die auf die Durchführung einer Vernehmung einer Person per Videokonferenz in ihrer Eigenschaft als beschuldigte Person in einer sie betreffenden Verhandlung gerichtet ist, nicht mit der Begründung versagen darf, dass eine solche Maßnahme in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall nicht zulässig wäre.

3.      Art. 11 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2014/41 ist im Licht der Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

dahin auszulegen, dass

die Vollstreckung einer Europäischen Ermittlungsanordnung zur Vernehmung einer im Vollstreckungsstaat inhaftierten beschuldigten Person per Videokonferenz von der Vollstreckungsbehörde nicht versagt werden kann, es sei denn, es bestehen auf der Grundlage konkreter und genauer Angaben berechtigte Gründe für die Annahme, dass diese Vernehmung die Grundrechte der beschuldigten Person und insbesondere ihr Recht auf ein faires Verfahren sowie ihre Verteidigungsrechte im Sinne von Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verletzen würde.

4.      Art. 24 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2014/41 ist

dahin auszulegen, dass

die Anwendung des in dieser Bestimmung vorgesehenen Versagungsgrundes, nämlich die Unvereinbarkeit mit wesentlichen Grundsätzen des Rechts des Vollstreckungsstaats, auf eine im Vollstreckungsmitgliedstaat erlassene allgemeine Regelung, die weder bindend noch absolut ist, gestützt werden kann, sofern die Vollstreckungsbehörde eine Prüfung durchführt, bei der alle relevanten Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden, einschließlich der im nationalen Recht des Anordnungsstaats zur Garantie der Verteidigungsrechte der beschuldigten Person enthaltenen Vorschriften.

5.      Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 ist in Verbindung mit Art. 3 dieser Richtlinie

dahin auszulegen, dass

er den Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung erlaubt, die auf die zeitweilige Überstellung einer im Vollstreckungsmitgliedstaat inhaftierten Person an den Anordnungsmitgliedstaat gerichtet ist, um sie in ihrer Eigenschaft als beschuldigte Person in der Hauptverhandlung eines sie betreffenden Verfahrens zu vernehmen, wenn die Anordnung auf die Erhebung von Beweismitteln gerichtet ist, wobei der Umstand, dass die Anordnungsbehörde mit der Anordnung der beschuldigten Person auch die Teilnahme an der sie betreffenden Verhandlung ermöglichen möchte, für sich genommen dem Erlass der Anordnung nicht entgegensteht.


















































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