Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)
2. Oktober 2025(* )
„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2004/80/EG – Art. 12 Abs. 2 – Entschädigung der Opfer vorsätzlich begangener Gewalttaten – Gerechte und angemessene Entschädigung – Nationale Regelung, wonach die Entschädigung für Schmerzen und Leid ausgeschlossen ist “
In der Rechtssache C‑284/24
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court (Hohes Gericht, Irland) mit Entscheidung vom 12. April 2024, beim Gerichtshof eingegangen am 23. April 2024, in dem Verfahren
LD
gegen
Criminal Injuries Compensation Tribunal,
Minister for Justice and Equality,
Irland,
Attorney General
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter D. Gratsias (Berichterstatter), E. Regan, J. Passer und B. Smulders,
Generalanwältin: L. Medina,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– von LD, vertreten durch C. Donnelly, SC, M. Lynn, SC, J. MacGuill, SC, Solicitor, D. Brady, BL, C. Donald, Solicitor, und E. Martin-Vignerte, Avocate,
– des Criminal Injuries Compensation Tribunal, des Minister for Justice and Equality, Irlands und des Attorney General, vertreten durch M. Browne, Chief State Solicitor, S. Finnegan, A. Joyce und J. Moloney als Bevollmächtigte im Beistand von M. Reilly, SC, und M. Finan, BL,
– der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, A. Pagáčová und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
– der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und P.‑L. Krüger als Bevollmächtigte,
– der niederländischen Regierung, vertreten durch E. M. M. Besselink, M. K. Bulterman und M. H. S. Gijzen als Bevollmächtigte,
– der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Noë und J. Tomkin als Bevollmächtigte,
aufgrund der nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Entscheidung, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80/EG des Rates vom 29. April 2004 zur Entschädigung der Opfer von Straftaten (ABl. 2004, L 261, S. 15).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen LD einerseits und dem Criminal Injuries Compensation Tribunal (Stelle zur Entschädigung der Opfer von Gewaltverbrechen, Irland, im Folgenden: CICT), dem Minister for Justice and Equality (Minister für Justiz und Gleichberechtigung, Irland), Irland und dem Attorney General (Generalstaatsanwalt, Irland) andererseits wegen eines Antrags auf Entschädigung, den LD nach dem Scheme of Compensation for Personal Injuries Criminally Inflicted (Regelung zur Entschädigung strafrechtlich verursachter Personenschäden, im Folgenden: irische Entschädigungsregelung) gestellt hat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2004/80
3 In den Erwägungsgründen 2, 10 und 14 der Richtlinie 2004/80 heißt es:
„(2) Nach dem Urteil des Gerichtshofs [vom 2. Februar 1989, Cowan, 186/87, EU:C:1989:47] ist es, wenn das Gemeinschaftsrecht einer natürlichen Person die Freiheit garantiert, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, zwingende Folge dieser Freizügigkeit, dass Leib und Leben dieser Person in dem betreffenden Mitgliedstaat in gleicher Weise geschützt sind, wie dies bei den eigenen Staatsangehörigen und den in diesem Staat wohnhaften Personen der Fall ist. Zur Verwirklichung dieses Ziels sollten unter anderem Maßnahmen ergriffen werden, um die Entschädigung der Opfer von Straftaten zu erleichtern.
…
(10) Opfer von Straftaten können oft keine Entschädigung vom Täter erhalten, weil dieser möglicherweise nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, um einem Schadensersatzurteil nachzukommen, oder weil der Täter nicht identifiziert oder verfolgt werden kann.
…
(14) Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts bestätigt wurden.“
4 Art. 1 („Recht auf Antragstellung im Wohnsitz-Mitgliedstaat“) dieser Richtlinie lautet:
„Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass in den Fällen, in denen eine vorsätzliche Gewalttat in einem anderen als dem Mitgliedstaat begangen wurde, in dem die Entschädigung beantragende Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, diese berechtigt ist, den Antrag bei einer Behörde oder einer anderen Stelle in letzterem Mitgliedstaat zu stellen.“
5 Art. 12 der Richtlinie, der einzige Artikel in deren Kapitel II („Einzelstaatliche Entschädigungsregelungen“), bestimmt in Abs. 2:
„Alle Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass in ihren einzelstaatlichen Rechtsvorschriften eine Regelung für die Entschädigung der Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten vorgesehen ist, die eine gerechte und angemessene Entschädigung der Opfer gewährleistet.“
6 Art. 18 („Umsetzung“) Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass die Vorschriften, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie nachzukommen, nur auf Antragsteller Anwendung finden, deren Schädigung aus Straftaten resultiert, die nach dem 30. Juni 2005 begangen wurden.“
Richtlinie 2012/29/EU
7 In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) Abs. 1 der Richtlinie 2012/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI (ABl. 2012, L 315, S. 57) heißt es:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
a) ‚Opfer‘
i) eine natürliche Person, die eine körperliche, geistige oder seelische Schädigung oder einen wirtschaftlichen Verlust, der direkte Folge einer Straftat war, erlitten hat;
…“
Irisches Recht
8 Die irische Entschädigungsregelung ist verwaltungsrechtlicher Natur, wurde 1974 eingeführt und ist dazu bestimmt, Opfern von Straftaten die ihnen entstandenen Schäden zu ersetzen. Ihre Anwendung obliegt dem CICT. Wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, sah diese Regelung in ihrer ursprünglichen Fassung die Zahlung eines sogenannten „allgemeinen“ Schadensersatzes (general damages ) einschließlich einer Entschädigung für Schmerzen und Leid (pain and suffering ) vor.
9 Seit einer am 1. April 1986 vorgenommenen Änderung dieser Regelung wird für Schmerzen und Leid keine Entschädigung mehr im Rahmen des allgemeinen Schadensersatzes gewährt, weil gemäß den Ausführungen des vorlegenden Gerichts die Reichweite der betreffenden Bestimmungen vor ihrer Änderung in einer Zeit der tiefgreifenden wirtschaftlichen Rezession schwerwiegende Folgen für die finanziellen Ressourcen des irischen Staates hatte.
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
10 Am 12. Juli 2015 wurde LD, der in Spanien geboren ist und in Irland wohnt, Opfer eines gewalttätigen rechtswidrigen Angriffs, den eine Personengruppe vor seinem Haus in Dublin (Irland) verübte.
11 Am 1. Oktober 2015 stellte LD gemäß der irischen Entschädigungsregelung beim CICT einen Antrag auf Entschädigung.
12 In diesem Antrag gab LD an, er habe bei dem Angriff eine schwere Augenverletzung, die den dauerhaften Verlust eines Teils seines Sehvermögens zur Folge gehabt habe, sowie zahlreiche weitere Verletzungen erlitten, u. a. am Kiefer, an der linken Schulter und am linken Arm sowie an Taille und Brustkorb. Außerdem leide er unter psychischen Problemen und Angstzuständen. Nachdem er infolge des Angriffs nicht habe arbeiten können, sei er von seinem Arbeitgeber entlassen worden und zum Zeitpunkt der Antragstellung arbeitslos.
13 Das CICT stellte fest, dass LD infolge der vorsätzlich begangenen Gewalttat Körperverletzungen erlitten habe, ihm Sachschaden entstanden sei und er keine Entschädigung aus anderen Quellen erhalten habe; daraufhin gewährte es ihm aus Kulanz einen Betrag von 645,62 Euro für die im unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Straftat entstandenen Auslagen (out ‑of ‑pocket expenses ). Nach entsprechender Aufforderung von LD schlüsselte das CICT ihm die zugesprochene Entschädigung wie folgt auf: 44,20 Euro für den Ersatz des Führerscheins, 339 Euro für den Ersatz seiner Brille, 28,82 Euro für Medikamente, 100 Euro für Krankenhauskosten und 133,63 Euro für Fahrtkosten.
14 Am 2. August 2019 erhob LD Klage beim High Court (Hohes Gericht, Irland), dem vorlegenden Gericht, und beantragte zum einen, festzustellen, dass die irische Entschädigungsregelung insofern mit der Richtlinie 2004/80 und/oder den Art. 1, 3, 4, 7 und 9 der Charta der Grundrechte (im Folgenden: Charta) unvereinbar sei, als sie keine gerechte und angemessene Entschädigung vorsehe, weil der allgemeine Schadensersatz, einschließlich für Schmerzen und Leid, ausgeschlossen sei, und zum anderen festzustellen, dass er als Opfer einer Straftat Anspruch auf eine Entschädigung für Schmerzen und Leid habe.
15 Das vorlegende Gericht weist zunächst darauf hin, dass das Urteil vom 16. Juli 2020, Presidenza del Consiglio dei Ministri (C‑129/19, EU:C:2020:566), zwar eine nützliche Orientierungshilfe für die Auslegung von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 biete. Dieses Urteil ermögliche aber nicht die Beantwortung der Frage, ob und inwieweit eine gerechte und angemessene Entschädigung im Sinne dieser Bestimmung vorgesehen sein müsse, um dazu beizutragen, sowohl den materiellen als auch den immateriellen Schaden, der den Opfern vorsätzlich begangener Gewalttaten entstehe, einschließlich der von ihnen erlittenen Schmerzen und des von ihnen ertragenen Leids, zu ersetzen. Insoweit ist der Vorlageentscheidung eindeutig zu entnehmen, dass im irischen Recht Schmerzen und Leid unter die weiter gefasste Kategorie des immateriellen Schadens (non ‑material loss ) fallen.
16 Des Weiteren verweist das vorlegende Gericht einerseits auf das den Mitgliedstaaten in diesem Bereich zustehende weite Ermessen, führt aber andererseits aus, dass es hinsichtlich der Möglichkeit einer Beschränkung des Anwendungsbereichs nationaler Entschädigungsregelungen in Bezug auf immaterielle Schäden Zweifel hege, die vom Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland) geteilt würden. Zwar habe das Urteil vom 16. Juli 2020, Presidenza del Consiglio dei Ministri (C‑129/19, EU:C:2020:566), nicht präzisiert, welcher Schaden oder Verlust als immateriell einzustufen sei. Gleichwohl verstehe es dieses Urteil dahin, dass zum einen die Verwendung des Begriffs „Leid“ durch den Gerichtshof auf eine Pflicht zur zumindest teilweisen Entschädigung für Schmerzen und Leid hindeute. Zum anderen könne der Ausschluss einer solchen Entschädigung kaum für zulässig erachtet werden, wenn gemäß diesem Urteil die Entschädigung im Sinne der Richtlinie 2004/80 die Schwere der Folgen der Straftat für das Opfer berücksichtigen müsse.
17 Schließlich nimmt das vorlegende Gericht Bezug auf den Bericht der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss vom 20. April 2009 über die Anwendung der Richtlinie 2004/80/EG des Rates zur Entschädigung der Opfer von Straftaten (KOM[2009] 170 endgültig), der den Zeitraum vom 1. Januar 2006 bis zum 31. Dezember 2008 betrifft und wonach die Mehrheit der Mitgliedstaaten in ihren nationalen Regelungen eine Entschädigung auch für Krankheit und psychische Beeinträchtigungen vorsah.
18 Unter diesen Umständen hat der High Court (Hohes Gericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Erfordert die den Mitgliedstaaten nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 auferlegte Verpflichtung, Opfern von vorsätzlich begangenen Gewalttaten eine „gerechte und angemessene Entschädigung“ zu gewähren, dass einem Opfer sowohl der materielle als auch der immaterielle Schaden im Sinne des Urteils vom 16. Juli 2020, Presidenza del Consiglio dei Ministri (C‑129/19, EU:C:2020:566), ersetzt wird?
2. Falls Frage 1 bejaht wird, welche Arten von Schäden fallen unter den Begriff des „immateriellen Schadens“?
3. Fallen insbesondere Schmerzen und Leiden eines Opfers unter den Begriff des „immateriellen Schadens“?
4. Falls die Fragen 1 und 3 bejaht werden, in welchem Verhältnis steht unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Mitgliedstaaten die finanzielle Tragfähigkeit ihrer Regelungen sicherstellen müssen, die „gerechte und angemessene Entschädigung“, die einem Opfer gemäß der Richtlinie 2004/80 zuerkannt wird, zu dem Schadensersatz, den dieses Opfer von dem betreffenden Täter nach Deliktsrecht erhielte?
5. Kann die Entschädigung, die für Opfer vorsätzlich begangener Gewalttaten im Rahmen der irischen Entschädigungsregelung vorgesehen ist, als „gerechte und angemessene Entschädigung des Opfers“ im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 angesehen werden, wenn einem Opfer ein Betrag von 645,65 Euro als Entschädigung für eine schwere Augenverletzung, die zu einer dauerhaften Sehbehinderung führt, zugesprochen wird?
Zu den Vorlagefragen
19 Mit seinen Fragen, die zusammen zu beantworten sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung zur Entschädigung der Opfer vorsätzlich begangener Gewalttaten entgegensteht, die in Bezug auf den immateriellen Schaden grundsätzlich jede Entschädigung für die von diesen Opfern erlittenen Schmerzen und das von ihnen ertragene Leid ausschließt.
20 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Gesetzgeber mit dieser Richtlinie eine Regelung über eine Entschädigung vorgesehen hat, die gegenüber der Wiedergutmachung, die Opfer solcher Straftaten vom Täter aus deliktsrechtlicher Haftung erhalten können, subsidiär ist.
21 Wie dem zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/80 zu entnehmen ist, wurde diese nämlich u. a. angesichts der Feststellung erlassen, dass diese Opfer oft keine Entschädigung vom Täter erhalten können, weil er möglicherweise nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, um einem Schadensersatzurteil nachzukommen, oder weil der Täter nicht identifiziert oder verfolgt werden kann.
22 Insbesondere müssen nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 alle Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften eine Regelung für die Entschädigung der Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten vorgesehen ist, die eine gerechte und angemessene Entschädigung gewährleistet.
23 Was den Anwendungsbereich von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 angeht, hat der Gerichtshof ausgeführt, dass diese Bestimmung das Recht, eine gerechte und angemessene Entschädigung zu erhalten, nicht nur den Opfern von im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats vorsätzlich begangenen Gewalttaten in einem grenzüberschreitenden Fall im Sinne von Art. 1 dieser Richtlinie verleiht, sondern auch den Opfern, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats haben (Urteil vom 16. Juli 2020, Presidenza del Consiglio dei Ministri, C‑129/19, EU:C:2020:566, Rn. 55).
24 Was die Festlegung dieser Entschädigung betrifft, so muss – unter Berücksichtigung zum einen des den Mitgliedstaaten durch diese Bestimmung eingeräumten Ermessens sowohl in Bezug auf die „gerechte und angemessene“ Höhe der Entschädigung als auch in Bezug auf die Modalitäten ihrer Festlegung und zum anderen der Notwendigkeit, die finanzielle Tragfähigkeit der nationalen Regelungen sicherzustellen – die Entschädigung nicht zwangsläufig dem Schadensersatz entsprechen, der dem Opfer einer vorsätzlichen Gewalttat zulasten des Täters dieser Tat zugesprochen werden kann. Folglich muss die Entschädigung nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 nicht unbedingt eine vollständige Wiedergutmachung des vom Opfer erlittenen materiellen und immateriellen Schadens sicherstellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. November 2024, Burdene, C‑126/23, EU:C:2024:937, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).
25 In diesem Kontext ist es letztlich Sache des nationalen Gerichts, nach Maßgabe der nationalen Bestimmungen, mit denen die betreffende Entschädigungsregelung eingeführt worden ist, sicherzustellen, dass der einem Opfer einer vorsätzlichen Gewalttat gemäß dieser Regelung gewährte Betrag eine gerechte und angemessene Entschädigung im Sinne von Art. 12 Abs. 2 dieser Richtlinie darstellt (Urteile vom 16. Juli 2020, Presidenza del Consiglio dei Ministri, C‑129/19, EU:C:2020:566, Rn. 61, und vom 7. November 2024, Burdene, C‑126/23, EU:C:2024:937, Rn. 58).
26 Allerdings würde ein Mitgliedstaat sein ihm durch diese Bestimmung eingeräumtes Ermessen überschreiten, wenn seine nationalen Bestimmungen für die Opfer vorsätzlicher Gewalttaten eine in Anbetracht der Schwere der Folgen der begangenen Tat für die Opfer rein symbolische oder offensichtlich unzureichende Entschädigung vorsähen (Urteile vom 16. Juli 2020, Presidenza del Consiglio dei Ministri, C‑129/19, EU:C:2020:566, Rn. 63, und vom 7. November 2024, Burdene, C‑126/23, EU:C:2024:937, Rn. 59).
27 Da die solchen Opfern gewährte Entschädigung nämlich einen Beitrag zur Wiedergutmachung des von diesen erlittenen materiellen und immateriellen Schadens darstellt, kann ein solcher Beitrag nur als „gerecht und angemessen“ angesehen werden, wenn er in adäquatem Umfang das Leid ausgleicht, dem sie ausgesetzt waren (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Juli 2020, Presidenza del Consiglio dei Ministri, C‑129/19, EU:C:2020:566, Rn. 64, und vom 7. November 2024, Burdene, C‑126/23, EU:C:2024:937, Rn. 60).
28 Daher muss eine Entschädigung, die gemäß einer nationalen Regelung für die Entschädigung solcher Opfer gewährt wird, um als „gerecht und angemessen“ im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 eingestuft werden zu können, unter Berücksichtigung der Schwere der Folgen der begangenen Tat für die Opfer festgelegt werden und daher einen adäquaten Beitrag zur Wiedergutmachung des erlittenen materiellen und immateriellen Schadens darstellen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Juli 2020, Presidenza del Consiglio dei Ministri, C‑129/19, EU:C:2020:566, Rn. 69, und vom 7. November 2024, Burdene, C‑126/23, EU:C:2024:937, Rn. 62).
29 Was konkret den Ersatz des immateriellen Schadens solcher Opfer anbelangt, so ist in dieser Bestimmung zwar nicht ausdrücklich von einem solchen Schaden die Rede, doch ihre weite Formulierung beschränkt in keiner Weise den Umfang der darin vorgesehenen Entschädigung hinsichtlich der Schäden, zu deren Wiedergutmachung sie gegebenenfalls beiträgt.
30 Außerdem wird, wie der Gerichtshof in Rn. 48 des Urteils vom 7. November 2024, Burdene (C‑126/23, EU:C:2024:937), ausgeführt hat, die Bedeutung des Begriffs „Opfer“ in Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 durch die Definition dieses Begriffs in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2012/29 erhellt, die „eine natürliche Person, die eine körperliche, geistige oder seelische Schädigung oder einen wirtschaftlichen Verlust, der direkte Folge einer Straftat war, erlitten hat“, erfasst. Aus dem Wortlaut der letztgenannten Bestimmung geht klar hervor, dass es darin sowohl um Opfer geht, die einen materiellen Schaden erlitten haben, als auch um solche, die einen immateriellen Schaden erlitten haben. Insbesondere die Tatsache, dass diese Bestimmung körperliche, geistige und seelische Schädigungen erfasst, bestätigt, dass auch die Schmerzen und das Leid der Opfer unter die von ihnen erlittenen Schäden fallen.
31 Folglich darf gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht danach unterschieden werden, welche Art von Schäden die Opfer von Straftaten möglicherweise erlitten haben oder welchen Folgen sie möglicherweise ausgesetzt sind.
32 Auch wenn im Wortlaut von Art. 18 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 u. a. in der französischen und in der rumänischen Sprachfassung nur von „körperlichen Schäden“ die Rede ist, was eine solche Unterscheidung nahelegen könnte, ist festzustellen, dass in mehreren anderen Sprachfassungen dieser Bestimmung neben dem Begriff „Schädigung“ kein zusätzliches Adjektiv zur Einschränkung seiner Reichweite steht.
33 Nach ständiger Rechtsprechung müssen die Bestimmungen des Unionsrechts indessen im Licht der Fassungen in allen Sprachen der Europäischen Union einheitlich ausgelegt und angewandt werden; weichen diese verschiedenen Fassungen voneinander ab, muss die fragliche Vorschrift nach der allgemeinen Systematik und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört (Urteil vom 17. Januar 2023, Spanien/Kommission, C‑632/20 P, EU:C:2023:28, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
34 Insoweit legt zum einen keine andere Bestimmung der Richtlinie 2004/80 nahe, dass eine Unterscheidung zwischen den Arten von Verlusten oder Schäden vorzunehmen wäre, die die in den Geltungsbereich der Richtlinie fallenden Opfer erlitten haben.
35 Zum anderen ist dem zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/80 zu entnehmen, dass die Maßnahmen, mit denen die Entschädigung der Opfer von Straftaten erleichtert werden soll, zur Verwirklichung des Ziels, Leib und Leben der betroffenen Personen zu schützen, beitragen sollten. Wie es ferner im 14. Erwägungsgrund dieser Richtlinie heißt, steht diese im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere durch die Charta bestätigt wurden. Wie sich aus Art. 3 Abs. 1 der Charta ergibt, hat der Schutz von Leib und Leben einer Person aber sowohl deren körperliche als auch deren geistige Unversehrtheit zu umfassen.
36 Somit muss die Entschädigung im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 gegebenenfalls geeignet sein, zur Wiedergutmachung jeglichen immateriellen Schadens beizutragen, einschließlich des Schadens im Zusammenhang mit Schmerzen und Leid.
37 Insoweit kann ein gewalttätiger rechtswidriger Angriff wie der auf LD verübte, worauf auch das vorlegende Gericht im Rahmen seiner fünften Vorlagefrage hinweist, schwerwiegende Folgen haben, sowohl in Form von materiellen als auch in Form von immateriellen Schäden, u. a. aufgrund von Schmerzen und Leid; dies muss sich in der Höhe des zugesprochenen Betrags widerspiegeln.
38 Somit kann im vorliegenden Fall – unter Vorbehalt einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht – die Entschädigung, die LD für den von ihm erlittenen Schaden gewährt wurde, keine gerechte und angemessene Entschädigung im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 darstellen, insbesondere, wenn ein immaterieller Schaden wie der in der vorstehenden Randnummer geschilderte von dieser ausgeschlossen wäre, da sie die vom Opfer der fraglichen Straftat erlittenen Schäden nur teilweise abdecken würde und daher nicht angenommen werden könnte, dass sie die Schwere der Folgen berücksichtigt, die diese Tat für das Opfer hat.
39 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung zur Entschädigung der Opfer vorsätzlich begangener Gewalttaten entgegensteht, die in Bezug auf den immateriellen Schaden grundsätzlich jede Entschädigung für die von diesen Opfern erlittenen Schmerzen und das von ihnen ertragene Leid ausschließt. Auch wenn die finanzielle Tragfähigkeit der nationalen Entschädigungsregelungen zu wahren ist, so dass es nicht unbedingt Aufgabe der Mitgliedstaaten ist, eine vollständige Wiedergutmachung des von diesen Opfern erlittenen materiellen und immateriellen Schadens vorzusehen, erfordert eine gerechte und angemessene Entschädigung im Sinne dieser Bestimmung, dass bei der Festlegung einer solchen Entschädigung die Schwere der Folgen, die die begangenen Straftaten für die Opfer haben, und die Wiedergutmachung, die solche Opfer vom Täter aus deliktischer Haftung erlangen können, berücksichtigt werden.
Kosten
40 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80/EG des Rates vom 29. April 2004 zur Entschädigung der Opfer von Straftaten
ist dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Regelung zur Entschädigung der Opfer vorsätzlich begangener Gewalttaten entgegensteht, die in Bezug auf den immateriellen Schaden grundsätzlich jede Entschädigung für die von diesen Opfern erlittenen Schmerzen und das von ihnen ertragene Leid ausschließt. Auch wenn die finanzielle Tragfähigkeit der nationalen Entschädigungsregelungen zu wahren ist, so dass es nicht unbedingt Aufgabe der Mitgliedstaaten ist, eine vollständige Wiedergutmachung des von diesen Opfern erlittenen materiellen und immateriellen Schadens vorzusehen, erfordert eine gerechte und angemessene Entschädigung im Sinne dieser Bestimmung, dass bei der Festlegung einer solchen Entschädigung die Schwere der Folgen, die die begangenen Straftaten für die Opfer haben, und die Wiedergutmachung, die solche Opfer vom Täter aus deliktischer Haftung erlangen können, berücksichtigt werden.
Unterschriften